Planer-Friedrich, G.

Ökumenisches Kirchenrecht und “Kirche im Sozialismus”

1990

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Götz Planer-Friedrich

 

Ökumenisches Kirchenrecht und “Kirche im Sozialismus”

 

Vorbemerkung

Seit Oktober 1989 hat sich die politische Szene in der DDR rapide gewandelt. Die evangelischen Kirchen haben einen erheblichen Anteil an der Vorbereitung dieser Veränderungsprozesse. Es war gerade der unklare staatskirchenrechtliche Charakter dieser Kirchen, der sie dazu befähigte. Daß das auch zu innerkirchlichen Spannungen geführt hat und zukünftig noch zu heftigen Diskussionen über die Identität der Kirchen innerhalb der Gesellschaft führen wird, ist anzunehmen.

Wer interessiert sich in dieser bewegten Zeit für die kirchenrechtliche Begründung einer “Kirche im Sozialismus”? Die Formel wirkt nur noch obsolet; der schon immer vermutete Opportunismus des DDR-Kirchenbundes scheint darin im Nachhinein seine Bestätigung zu finden. Doch wie reimt sich damit die Rolle der Kirche beim spontanen Abräumen der ideologischen Staffage des DDR-Regimes im Herbst 1989?

Der Autor des vorliegenden Beitrages hat seinerseits bereits im Sommer 1988 im Blick auf die “Kirche im Sozialismus” vom Ende einer Kompromißmetapher gesprochen (Evang. Kommentare 21/1988, S. 503-505). Inzwischen ist sogar fraglich, ob es in der DDR in Zukunft noch so etwas wie Sozialismus geben wird. Dadurch gewinnt der folgende Aufsatz schon einen historischen Charakter. Das ist das Schicksal jeder Konkretion theoretischer Überlegungen.

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Daß der theoretische Vergleich it dem sozialistischen Rechtsverständnis unter Umständen hinfällig wird, liegt durchaus auf der Linie der hier verfolgten Argumentation. Die Analogie dient ja nicht der Legitimation, sondern soll das eigenständige Kirchenrecht in einer besonderen gesellschaftlichen Situation konkretisieren. Es geht dabei um die Ausgestaltung des Freiraums für den kirchlichen Dienst und das christliche Zeugnis. Wie groß dieser Freiraum ist, hängt von den staatskirchenrechtlichen Bedingungen ab. Das ekklesiale Bewußtsein, aus dem der Inhalt des Kirchenrechts gespeist wird, ist davon nicht (oder nur sehr bedingt) betroffen. Im Schnittpunkt der gesellschaftlichen Bedingungen für die kirchliche Praxis mit dem ekklesialen Selbstverständnis der Kirche entscheidet sich die konkrete Gestaltung des eigenständigen Kirchenrechts. Das ist auch weiterhin die These des Autors. (27 Januar 1990)

 

I. Die Selbständigkeit der evangelischen Kirchen in der DDR

In einem Vortrag vor dem Theologischen Ausschuß der EKU, der sich mit der 3. Barmer These beschäftigte, sagte Axel von Campenhausen, daß “die praktischen Auswirkungen des Kirchenkampfes und des neuen Kirchenrechts bei allerlei nützlichen Korrekturen im einzelnen und im Kirchenverfassungsrecht im Detail doch bescheiden geblieben” seien.1 Das trifft auf die evangelischen Kirchen im Bereich der DDR in einer noch eklatanteren Weise zu, als im Bereich der EKD. Denn in der BRD gab es in den Jahrzehnten nach dem Krieg immerhin eine akademisch anspruchsvolle und auch literarisch produktive Phase in der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft, an der Hans Dombois einen erheblichen Anteil hat. Bis zur organisatorischen Trennung zwischen EKD und Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR haben die kirchenrechtlich Interessierten in unserem Raum an diesem Prozeß geistig partizipiert. Noch kurz vor seinem Tod hat Heinrich Ammer den 2. Band des großen Dombois’schen Werkes “Das Recht der Gnade” in der Theologischen Literaturzeitung


1 In: Kirche “als Gemeinschaft von Brüdern”. Barmen III, Bd. 1, hrsg. von Alfred Burgsmüller, Gütersloh 1980, 65.

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rezensiert.2 Doch die Entwicklung der kirchlichen Strukturen und der Ordnung des kirchlichen Lebens erfolgte unabhängig und kaum beeinflußt von solchen wissenschaftlichen Bemühungen.

Nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Herrschaft sahen sich die Kirchen gezwungen, in den unklaren politischen Verhältnissen umgehend eine solide Ordnung für das zerrüttete Kirchenwesen herzustellen. Sie konnten einfach nicht warten, bis die Kirchenrechtswissenschaft dafür eine neue theoretische Grundlage erarbeitet hatte. Unwillkürlich gerieten sie dabei in den Sog der politischen Restauration. Die neuen Kirchenrechtsentwürfe von Erik Wolf (Rechtsgedanke und biblische Weisung 1948; Ordnung der Kirche 1960), Johannes Heckel (Lex charitatis 1953) und Hans Dombois (Das Recht der Gnade I, 1961) kamen zu spät.

Die Ablösung der evangelischen Kirchen in der DDR von der EKD erfolgte aus pragmatischen Gründen und unter dem Druck politischer Verhältnisse. Bis dahin hatten die evangelischen Kirchen auf dem Territorium der DDR am kirchenrechtlichen Selbstverständnis der EKD teilgehabt; jetzt sahen sie sich umsomehr auf ihr landeskirchliches Selbstbewußtsein zurückgeworfen. Daneben mußte aber auf die neue Situation insofern gemeinsam reagiert werden, als das spezifische Verhältnis von Kirche und sozialistischer Gesellschaft einer Klärung bedürfte. Mit der Formel “Kirche im Sozialismus” wurde diese gemeinsame Standortbestimmung umschrieben. Diese vorläufige gemeinsame Selbstverständnis resultiert also aus der Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umfeld. Vorläufig ist es schon deshalb, weil es interpretationsbedürftig ist. Seine Auslegung und Präzisierung hat den Bund der Evangelischen Kirchen seit seinem Bestehen beschäftigt.

Im Bund wird die Partikularität landeskirchlicher Selbstorganisation pragmatisch durch Föderalismus ergänzt. Und das nicht auf Grund eines theologischen oder kirchenrechtlichen Konsenses, sondern


2 ThLZ 101 (1976), Sp. 621-625.

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aus kirchenpolitischen Nützlichkeitserwägungen. In der “Zeugnis- und Dienstgemeinschaft” — eine Selbstbezeichnung des Kirchenbundes — wird handlungsorientierte Gemeinsamkeit bei organisatorischer und kirchenrechtlicher Eigenständigkeit der Gliedkirchen angestrebt. Das Gemeinsame dieser Föderation ist ein latenter Konsens über die Ortsbestimmung der Kirchen als “Kirchen im Sozialismus”. Diese Formel kann das kirchenrechtliche Selbstverständnis des Kirchenbundes nicht ersetzen.

Die mangelhafte kirchenrechtliche Begründung des Kirchenbundes resultiert jedoch nicht aus staatskirchenrechtlicher Restriktion. Manfred Stolpe — langjähriger Leiter des Bundes-Sekretariats — ist in seinem Beitrag “Anmerkungen zum eigenständigen Kirchenrecht evangelischer Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik” zu dem Schluß gekommen, “daß die Rechtsordnung der Deutschen Demokratischen Republik einem eigenständigen Kirchenrecht Raum läßt und ihm auch rechtliche Relevanz beimißt”3. Auf Grund des sozialistischen Rechtsverständnisses sind dafür nicht nur die einschlägigen Artikel (20 und 39) der Verfassung heranzuziehen,4 sondern auch die “Beschlüsse und Erklärungen der führenden Partei” (SED)5 und schließlich das Spitzengespräch zwischen Erich Honecker und dem Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen am 6. März 1978.6

Diese staatskirchenrechtliche Ermöglichung eines eigengearteten Kirchenrechts stellt noch einmal die Gemeinsamkeit der Gliedkirchen des Bundes von der kirchenpolitischen Situation her vor Augen. Ob es aber auch eine gemeinsame theologische beziehungsweise ekklesiologische Basis für die Notwendigkeit eines eigenständigen Kirchenrechts gibt, ist wenig reflektiert worden. 1974 sagte Heinrich Ammer auf einer Kirchenrechtstagung des Bundes-Rechtsausschusses:


3 Manfred Stolpe, Anmerkungen zum eigenständigen Kirchenrecht evangelischer Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Wägen und Wahren, FS Werner Hofmann, München 1981, 186.
4 Vgl. a.a.O., 185.
5 A.a.O., 183.
6 Vgl. a.a.O., 184.

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“Wir sind bisher bei aller Gestaltung des Kirchenrechts von dem selbstverständlichen souveränen Recht der einzelnen Landeskirchen ausgegangen, Recht zu setzen und Recht zu gestalten.”7 Daran hat sich bis heute nichts geändert.

 

II. Theologischer Konsens und kirchenrechtliche Dignität

Bei der Gründung des Bundes wurde die kirchenrechtliche Insuffizienz dieses organisatorischen Gebildes zumal von seiner theologischen Begründung her deutlich empfunden. Deshalb wurde eine Lehrgesprächskommission eingesetzt, die zunächst die Gemeinsamkeit im Zeugnis theologisch fundieren sollte.8 Die 2. Lehrgesprächskommission beschäftigte sich mit der Vereinbarkeit von Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi (= Kirchengemeinschaft und politische Ethik, Berlin 1980). Hinzu kam noch ein gemeinsamer Ausschuß, der die Bedingungen für die Kirchwerdung des Bundes und die Bedeutung der Bekenntnisbestimmtheit der Kirchen untersuchte.9 Diese oft mühevollen aber mit beachtlichen Ergebnissen abschließenden Gespräche wurden in der stillschweigenden Übereinkunft geführt, die Kirchwerdung des Bundes sachgemäß voranzutreiben. Solche Erwartungen bestärkte die Leuenberger Konkordie (LK), die von allen Gliedkirchen angenommen wurde.

Die sogenannten Eisenacher Empfehlungen unternahmen den Versuch, aus dem Erfolg der theologischen Gespräche die kirchenrechtliche Konsequenz zu ziehen. In der Reihenfolge der hier als bestimmend aufgeführten Faktoren für eine gemeinsame Kirche steht daher nicht zufällig der theologische Konsens obenan.10 Im Entwurf der Grundartikel von 1980 ist schließlich gleich im ersten Satz die


7 In: Kirchenrecht und Ökumene. Bericht von einer Tagung, Berlin o. Jg., 28.
8 “Wie verkündigen wir heute die Rechtfertigung?” — Mitteilungsblatt des Bundes 1974/75.
9 Zwischen Konkordie und Kirche, in: Kirche als Lerngemeinschaft, Berlin 1981, 13-47.
10 Vgl. in: Kirche als Lerngemeinschaft, a.a.O. (Anm. 9), 55.

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Defizienz der ekklesiologisch-kirchenrechtlichen Vermittlung offensichtlich. Er lautet: “Der Zusammenschluß von bekenntnisbestimmten und rechtlich selbständigen Gliedkirchen in der Vereinigten Evangelischen Kirche ist Kirche als Gemeinschaft von Kirchen.” Der vorläufig unterbrochene Prozeß zur Institutionalisierung einer vereinigten evangelischen Kirche in der DDR hat bewiesen, daß der theologische Konsens für sich noch keine kirchenrechtliche Dignität besitzt. Das scheint auch die Leuenberger Konkordie mit der Ziffer 42 vorauszusetzen, wenn sie die “kirchenrechtlichen Regelungen” als noch zu lösende Aufgabe den einzelnen Kirchen überläßt. Der theologische Konsens jedenfalls hat keine die Ekklesialität einer Zeugnis- und Dienstgemeinschaft begründende Qualität.

Nicht anders steht es um die Bekenntnisfrage! Hubert Kirchner hat in einem Beitrag der Theologischen Studienabteilung unter dem Titel “Ökumenische Erwägungen zu einer Vereinigten Evangelischen Kirche”11 einerseits darauf hingewiesen, daß bereits der neutestamentliche Kanon unterschiedliche Bekenntnisaussagen nebeneinander gelten läßt, ohne daß damit die Einheit der Kirche gefährdet erscheint. Andererseits stellt er fest, daß die an der Bekenntnisbestimmtheit festhaltenden Gliedkirchen des Bundes selbst in ihrem eigenen Rahmen keine Bekenntnisgeschlossenheit aufweisen.12 Damit erhebt sich die Frage, welchen Stellenwert Bekenntnisse für die kirchenrechtliche Struktur einer Vereinigten Evangelischen Kirche in der DDR überhaupt haben können; wie weit der Bekenntnischarakter in die kirchenrechtliche Struktur hineinreicht. Wenn wir hier einen Konsens benötigen, dann über die Bekenntnisbestimmtheit und nicht über das Bekenntnis als solches. Nach Auffassung des mecklenburgischen Oberkirchenrats-Präsidenten Peter Müller haben Bekenntnisse “nicht eine Kirche gründende, sondern eine Kirche bewahrende Funktion”13. Bekenntnisse sind ihrerseits ein Produkt der Kirche; Gemeinsamkeit im Kirche-Sein schließt unterschiedliche Bekenntnisaussagen also nicht aus.


11 Beiträge C 10, Berlin 1981.
12 A.a.O. 11 A 3.
13 In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, 25 (1981), 383.

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Wenn damit zunächst negativ festgestellt ist, daß die Existenz der Kirche weder in der Theologie noch im Bekenntnis gründet, dann ist die bisherige Debatte um eine vereinigte Kirche in der DDR noch gar nicht zum Kern einer “lex ecclesiae fundamentalis” vorgedrungen. An dieser Stelle wird das Defizit eigener kirchenrechtlicher Theoriebildung evident. Aber gerade hier ist die gesellschaftspolitische Determination kirchlicher Existenz am wenigsten durchschlagend, so daß einer Rezeption des Dombois’schen Entwurfs für eine ökumenische Kirchenrechtsbegründung aus dem Wesen der Kirche selbst heraus nichts im Wege steht.

 

III. Gnade und Recht

Hans Dombois hat mit der Hervorhebung der statusgründenden Akte kirchlichen Handelns auf jene elementare Vorgänge aufmerksam gemacht, die ihrerseits erst Kirche, Theologie und Bekenntnis möglich machen. Taufe und Abendmahl, Amt der Verkündigung und Gottesdienst gehen auf Jesu eigenes Wirken und seine Einsetzung zurück. Die kirchenrechtliche Relevanz dieser Akte liegt — wie Dombois in seinem großen Werk erläutert hat — in der statusgründenden Wirkung, die ihnen eigen ist. Das Kirchenrecht expliziert die rechtlichen Folgen; es kann diese, die Kirche selbst begründenden Akte nicht zur Disposition stellen. Dombois leitet die Bedingung der Möglichkeit von Kirchenrecht aus einem Kirche und Theologie selbst erst ermöglichenden, ihnen also gleichsam apriorischen Geschehen ab. Und er qualifiziert diese Begründung als ökumenische, weil sie an den Urdaten der Kirche anknüpft, die allen historischen Erscheinungsformen von Kirche vorausliegen, ihnen von daher gemeinsam sind.

Das rechtshistorische Problem, dem Dombois in seinem Werk so große Aufmerksamkeit zuwendet, ob nämlich Status-Recht im Vergleich zum normativen Recht überhaupt als Recht anzusehen ist, kann aus der Sicht des Theologen als zweitrangig betrachtet werden

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gegenüber der fundamentalen Grunderkenntnis Dombois’. Sie besteht darin, daß die Eigenständigkeit des Kirchenrechts nicht aus der Theologie (und damit auch unabhängig von konfessionellen Differenzen) ableitbar ist, sondern auf elementare Akte der Verleihung, der Ein- und Zuordnung zurückgeht, die geistliche Qualität und das Siegel der Unmittelbarkeit zu Jesu Christi Leben, Sterben und Auferstehen besitzen. Und somit gründet das kirchliche Recht im Evangelium selbst. Oder — um Dombois zu zitieren: “Es ist vom Rechte her das Evangelium der Gnade leichter zu begründen als Gebot und Gesetz.”14

Da die evangelischen Kirchenrechtler in der DDR das Kirchenrecht bisher nur pragmatisch der sozialistischen Rechtsentwicklung angepaßt haben, konnte eine bemerkenswerte Parallele zu dieser Dombois’schen Kirchenrechtsbegründung in der sozialistischen Rechtstheorie noch keine Beachtung finden. Es war Friedrich Engels, der die Ableitung des positiven Rechts aus abstrakten — ewig gültigen allgemeinen — Ideen abgelehnt hat. Recht ist für ihn auch nicht nur Herrschaftsinstrument der jeweils herrschenden Klasse. Es ist vielmehr “Ausdruck der bestehnden ökonomischen Verhältnisse”15, ist die in juristischen Gesetzen formulierte Reflexion gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Das gesellschaftliche Sein wird im Bewußtsein gespiegelt. Das Recht ist eine besondere Form solcher Widerspiegelung.16 Diese rechtliche Widerspiegelung hat zwar verschiedene Aspekte; entscheidend ist nur, daß das sozialistische Recht letztlich “durch die materiellen Gesellschaftsverhältnisse bedingt” sei und wiederum “deren Existenz im Sozialismus mit herbeizuführen und zu schützen” habe.17


14 RdG I, 190.
15 Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage (1872/73), in: MEW Bd. 18, Berlin 1962, 209-287, hier 277.
16 W. Grahn, Recht als eine besondere Widerspiegelung der Gesellschaft, in: Staat und Recht, Berlin-DDR 31 (1982), 159f.
17 Ebd., 161.

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Recht begründend sind nach diesem Verständnis also weder theoretische Systeme und Ideologien noch allgemeine Ideen über Gerechtigkeit, sondern reale Beziehungen; in marxistischer Terminologie: die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Veränderung solcher Verhältnisse ist nicht als ein Rechtsakt zu verstehen, sondern als geschichtlich-revolutionärer Seinsakt. Insofern läßt sich die sozialistische Umgestaltung einem statusgründenden Akt vergleichen, durch den die Relation von Anspruch und Anerkennung18 objektiv neu begründet wird.

Es mutet den evangelischen Christen sicher etwas befremdlich an, die Kirchenrechtsbegründung in Analogie zur sozialistischen Rechtstheorie aufzufinden. Wo allerdings die Berührungsangst mit dem Sozialismus schwindet, eine Kirche ihre Standortsbestimmung als “Kirche im Sozialismus” ernst nimmt und dabei nicht nur pragmatische Anpassung meint, da gewinnt eine solche Analogie positive Bedeutung. Der Wert dieser Analogie läßt sich hinsichtlich der Eigenständigkeit des Kirchenrechts in dreierlei Hinsicht entfalten:

(1) Die Analogie zwischen Kirchenrecht und sozialistischem Recht hat theoretische — wenn man so will: rechtsphilosophische Bedeutung. Materialiter sind Gnadenrecht und sozialistisches Recht zwei sehr verschiedene Phänomene. Aber die historischen Modelle des Feudalrechts19 erwecken ihrerseits auch nicht gerade heilsgeschichtliche Assoziationen. Im Kontext sozialistischer Ideologie wirken sie sogar reaktionär und würden das Gespräch mit den Rechtswissenschaftlern nur unnötig belasten. — Aufs Ganze gesehen werden rechtshistorische Vergleiche für das Kirchenrecht immer unbefriedigend bleiben. “Eigenständigkeit” meint also nicht historische Besonderheit.

(2) Eine “Kirche im Sozialismus” hat allen Grund, sich bei der Begründung ihres eigenständigen Rechts mit den rechtstheoretischen


18 RdG I, 165.
19 RdG I, 200.

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Erkenntnissen ihrer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Auch die theologische Theoriebildung hat sachlich an den sozialen Strukturen, sprachlich an der Rechtsentwicklung durch Analogiebildung und Äquivokation immer partizipiert. Zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge hat nicht zuletzt Hans Dombois einen wichtigen Beitrag geleistet.20 “Eigenständigkeit” meint also nicht Analogielosigkeit.

(3) Schließlich hat das positive Kirchenrecht nicht nur seine eigenständige Begründung, sondern auch eine gesellschaftlichen Rechtsgestalten analoge Ausprägung. Man könnte daher von einer Vermittler- oder Brückenfunktion des Kirchenrechts sprechen: es muß die Wirklichkeit des Evangeliums — in seiner jeweiligen theologischen Gestalt — mit der Wirklichkeit der Welt — in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Situation — vermitteln. Das kann nur gelingen, wenn neben der theologischen Erkenntnis auch die Kenntnis der gesellschaftlichen Regelungen im Kirchenrecht zur Geltung kommt. “Eigenständigkeit” meint also die besondere Funktion des Kirchenrechts als Vermittlung zwischen Theologie, Kirche und Gesellschaft.

 

IV. Donum und Datum

Klaus-Peter Hertzsch21 hat, anknüpfend an die Selbstbezeichnung des DDR-Kirchenbundes als “Zeugnis- und Dienstgemeinschaft”, von einer Vermittlung von Donum und Datum gesprochen: Von Donum in seinem Gnadencharakter läßt sich mit dem johanneischen Christus sagen: “Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt” (Joh 15, 16). Das Datum ist die historisch-gesellschaftliche Situation, in der wir uns vorfinden. Das gesellschaftliche Datum ist nicht fatum, sonden factum; es ist als gemachtes auch veränderbar durch verantwortliches Handeln des Menschen. Hertzsch sieht die Aufgabe der Kirche darin, “die Gabe auf die Gegebenheit” zu beziehen, “in


20 Vgl. Evangelium und soziale Strukturen, Witten 1967.
21 Klaus-Peter Hertzsch, Zeugnis und Dienst evangelischer Christen und Kirchen in der sozialistischen Gesellschaft der DDR, in: Beilage zu Standpunkt 9/1979.

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unserem Falle das Geschenk unseres Christseins auf die Gegebenheit der sozialistischen Gesellschaft in der DDR”.22 In diesem — immer unabgeschlossenen, weil dynamischen — Prozeß hat auch das Kirchenrecht seinen ekklesiologischen Ort. Geht man zudem mit der 3. Barmer These davon aus, daß die Kirche mit ihrer Botschaft und mit ihrer Ordnung Zeugnis vom Evangelium zu geben hat, dann gewinnt die Unterscheidung von Donum und Datum eine besondere Bedeutung für die Selbstprüfung der Kirche angesichts der geglaubten Universalität und der gelebten Partikularität. Das läßt sich abschließend wenigstens in zweierlei Richtung andeuten:

1. In bezug auf die Funktion der Theologie gegenüber dem Kirchenrecht: Die Unterscheidung von Lehre und Ordnung, von Theologie und Kirchenrecht läßt sich dann nicht mehr auf den Gegensatz geistlich-weltlich reduzieren. Denn die theologische Reflexion selbst unterliegt der Differenz zwischen Donum und Datum, verwandelt das Donum in theoretische Daten. Die Rechtfertigungslehre ist mit dem rechtfertigenden Handeln Gottes nicht identisch. Die jeweils verwendeten Rechtstermini bringen’s an den Tag.

2. In bezug auf Universalität und Partikularität der Kirche: Kirche und Recht verhalten sich zueinander nicht wie Gabe und Aufgabe. Versteht man die Universalität der Kirche als Donum, dann ist diese Donum in der Partikularkirche bereits mit dem Datum vermittelt. In diese Vermittlung ist das Kirchenrecht einbezogen. Als ökumenisches Kirchenrecht ist es zuvor auf den Donum-Charakter der ecclesia universalis bezogen und gewinnt damit seine Begründung (nicht anders als die Theologie) aus dem Donum selbst. Als positives Kirchenrecht ist es jedoch für die Gestaltung der Partikularkirche verantwortlich, die ihre Legitimität aus dem Donum und ihre Legalität in der Beziehung des Donum auf das Datum gewinnt.

Nur weil in unseren Kirchen in der DDR die Legitimität des Kirche-Seins ohne Rückgriff auf eine ökumenische Kirchenrechtstheorie


22 A.a.O., 5.

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postuliert wird, kann die Rechtskompetenz weiterhin allein aus der partikularkirchlichen Souveränität abgeleitet werden. Daraus resultiert dann wiederum das Festhalten an der partikularkirchlichen Eigenständigkeit trotz theologischer und bekenntnismäßiger Gemeinsamkeiten. Erst wenn es gelingt, auch die Theologen wieder für die ökumenische Dimension und die theologische Dignität kirchlichen Rechts zu sensibilisieren, werden die Diskussionen um eine Vereinigte Evangelische Kirche in der DDR eine neue Qualität bekommen. Hans Dombois hat uns dafür mit theoretischen Erkenntnissen ausgestattet; jetzt kommt es darauf an, sie für unsere kirchliche Praxis zu rezipieren.