Das Verhältnis von Theologie und Kirchenrecht in Hans Dombois’ “Recht der Gnade”
1990
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Christian Link
Die Faszination, die das “Recht der Gnade” von Hans Dombois auf den theologischen Leser ausübt, läßt sich wohl nur mit dem verwirrenden und beglückenden Eindruck beschreiben, der einem zuteil wird, wenn sich die vertraute Photographie einer Landschaft durch das Hilfsmittel einer stereometrischen Projektion in ein räumliches Bild verwandelt. Man sieht dasselbe, aber man sieht es von Grund auf neu. Es ist die bisher fehlende dritte Dimension hinzugekommen, die es braucht, um über die Steigungen des Geländes, sein Relief und die Wege, es zu erschließen, nicht nur Mutmaßungen anzustellen, sondern sie in ihrer räumlichen Erstreckung wahrzunehmen und die Schwierigkeiten, sie zu begehen, richtig einzuschätzen. Die Kirchenrechtslehre hat dies wohl immer gewußt, seit sie ihre Anstrengung darauf konzentrierte, die Eigenart ihres Gegenstandes im Vergleich zum weltlichen Recht (also etwa dem Staatskirchenrecht) herauszuarbeiten, seit sie sich also in aller Form der Aufgabe gestellt hat, das Kirchenrecht in derselben Weise theologische zu begründen, wie dies im Blick auf die philosophische Rechtfertigung des weltlichen Rechts eine längst geübte Selbstverständlichkeit war. Daß der Theologie die Tragweite dieses methodischen Schrittes — nicht zuletzt eben für ihr eigenes Aufgabengebiet — bis heute weitgehend verborgen geblieben ist, hat seine Gründe, die Dombois jedenfalls für den protestantischen Bereich mit dem merkwürdigen Phänomen der “Rechtsblindheit” der Kirche der Rechtfertigung genau getroffen hat. Wäre die ökumenische Bewegung nicht auch ein — nun freilich weit verheißungsvolleres — protestantisches Phänomen, so würde dieser Zustand vermutlich noch eine Zeit lang andauern. Angesichts der evidenten Bedeutung des Kirchenrechts für diese Bewegung — man darf hier wohl von einer conditio sine qua non sprechen —, vor allem aber angesichts der
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evidenten Ohnmacht aller Konsensbildungen, die lediglich auf der Ebene der Lehre stehen bleiben, ist die Zeit dieser folgenlosen Blindheit heute unwiderruflich zu Ende gegangen. Ich gestehe jedenfalls, in den letzten Jahren kein zweites Buch in Händen gehabt zu haben, das mit einer vergleichbaren denkerischen Energie den Gründen des “ökumenischen Problems” — des Widerspruhs zwischen dem Bekenntnis zur Einheit der Kirche und dem Faktum einer in sich zerspaltenen Christenheit — nachgegangen ist und zugleich Schritte zu seiner Überwindung gewiesen hat, wie der III. Teil des “Rechts der Gnade”.
Die theologische Herausforderung liegt auf der Hand: Was auf der Ebene der Schuldogmatik nicht gelingt, weil sie immer schon durch “letzte” nicht austragbare Entscheidungen und Stellungnahmen präokkupiert ist — man hat in unseren Tagen den unglücklichen Terminus der “positionellen” Theologie geprägt —, das läßt sich auf der Ebene des Rechts wenigstens als ein konturiertes und insofern handhabbares Problem formulieren: was nämlich die Einheit der Kirche implizieren müßte und was sie dementsprechend bis heute verhindert. Woran liegt das? Offenbar daran, daß erst mit der Frage nach dem Recht der Boden betreten wird, auf dem die Lehre ins Lebens eintritt und sich jenseits bloßer Lehrmeinungen ihre verbindliche, das heißt ihre tatsächliche lebbare und darum verbindende Gestalt schafft. Anders aber ist Universalität (Einheit) nicht zu verwirklichen. So jedenfalls wird man antworten dürfen, wenn man — für Theologen in der Tat ungewohnt! — das Recht mit Dombois als etwas begreift, das aus dem Prozeß erst “entsteht”, mit dem Vorgang des “instituere” erst ins Dasein tritt, statt ihm abstrakt vorauszuliegen, und darum als Kirchenrecht losgelöst von den Handlungsvollzügen der “communio sanctorum” gar nicht entwickelt werden kann. Demgemäß konfrontiert der Entwurf dieses “ökumenischen Kirchenrechts” die Theologie mit der — oft genug defizitären — Realität der communio sanctorum; er nötigt sie, ihre inhaltlichen dogmatischen Aussagen an der Gestalt und Ordnung zu messen, die diese Gemeinschaft haben muß, soll sie ihre konfessionelle Partikularität überwinden und sich auf ihren im Nicaenum maßgeblich formulierten Begriff als “una sancta catholica et
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apostolica ecclesia” zubewegen. Es ist offenkundig, daß damit die geschichtliche Gestalt der Kirche in einem bisher nicht dagewesenen Maß zum Gegenstand und Problem theologischer Sacherörterungen werden muß. Fragt man, worauf der hier erreichte Problemstand beruht, wodurch er sich legitimiert — es könnte sich hier ja auch wieder nur um ein Postulat handeln —, so sieht man sich (und eben das macht die Herausforderung aus, von der ich sprach) unversehens in den Innenraum der Theologie selbst zurückverwiesen, genauer, auf eines der wichtigsten Dokumente ihrer neueren Geschichte, das die von Dombois methodisch geforderte und praktizierte Korrespondenz von verkündigter (geglaubter) Wahrheit und bestimmt verfaßter Wirklichkeit, von “Institution” und “Konstitution”, erstmals bewußt proklamiert hat: auf die III. These der Barmer Theologischen Erklärung (1934).
Die Kirche, so heißt es dort, “hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam (das heißt als weltlich existierende communio), mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung (das heißt mit ihrer als “ius humanum” realisierten Verfassung) mitten in der Welt der Sünde ... zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte”. Karl Barths, von Dombois und Erik Wolf gleichermaßen zum Kriterium ihrer Arbeit erhobene Forderung, das Kirchenrecht müsse in seiner Herkunft und in seinem Vollzug bekennendes und liturgisches Recht sein, ist eine, man darf wohl sagen: unmittelbare Konsequenz dieser These. Ernst Wolf hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, daß die entscheidende Revision der durch R. Sohm bestimmten Auffassung, wonach die äußere Gestalt der Kirche eine rein weltlich-juristische Angelegenheit ist, hier ihren Ausgangspunkt genommen hat.1 Während also der Kirchenrechtler — vielleicht nicht immer mit gleicher Bestimmtheit und Entschiedenheit wie Dombois — von dieser These ausgeht, und bereits mit diesem Ausgangspunkt den durch den Kirchenkampf geschaffenen Problemstand und Ertrag in Geltung setzt, gewissermaßen ratifiziert, wird der
1 Ernst Wolf, Barmen, München 1957, 127.
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Theologe — in die Gegenrichtung blickend — zunächst einmal die Tatsache als solche zur Kenntnis nehmen müssen, daß sein eigenes Bekenntnis nur durch die pünktliche Ausarbeitung eines verbindlichen Kirchenrechtes einzulösen, daß der Test sozusagen auf seine Glaubwürdigkeit sensu stricto nur auf dem Boden der Kirchenverfassung selbst zu erbringen ist, hier allerdings auch gefordert wird. Diese Einsicht ist heute noch durchaus neu.
Es sind wenigstens drie große Themenkreise, in die sich die Anfragen — oder richtiger: die produktiven Herausforderungen — bündeln lassen, die seitens des Kirchenrechtes in seiner hier ausgearbeiteten Gestalt auf die Theologie zukommen. Ich werd sie kurz skizzieren, auf eine systematische Erörterung allerdings verzichten müssen.
Das “Recht der Gnade” demonstriert, daß Kirchenrecht unmittelbar Theologie ist oder doch Theologie sein kann. “Die Grundstrukturen der großen Institutionen des Kirchenrechts”, schreibt Dombois, “sind in der Existenz des Christen angelegt und begründet.”2 Hier geht es — was für den Rechtstheoretiker interessant genug sein mag — nicht schon um die methodische Einsicht, daß ein vom staatlichen Recht unabhängiger Rechtskreis erlaubt, die Grundprobleme des Rechts an einem eigenen Modell zu studieren. Die theologische Zuspitzung des Satzes liegt in der Erkenntnis, daß die besondere christliche Existenz auf eine exemplarische Weise rechtlich verfaßt ist. Schon die Sprache des Glaubens enthält stets rechtliche Implikationen, die anderen Epochen der Kirchengeschichte gegenwärtig waren, von uns aber — merkwürdigerweise — ausgeblendet werden. Dementsprechend interpretiert Dombois die Grundstrukturen des Kirchenrechts als eine ursprüngliche (nicht auf Begriffe reduzierbare) Darstellung der Gehalte des Glaubens. Der Anspruch dieses Entwurfs reicht darum grundsätzlich weiter als der alte Name einer “theologia practica externa”,
2 Hans Dombois, Grundlagen und Grundprinzip der Kirchenrechtslehre, in: Georg Picht (Hrsg.), Theologie — was ist das? Stuttgart 1977, 261-275, hier 262.
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vollends als der faktische Status einer in die juristische Fakultät abgewanderten Nachbardisziplin erkennen läßt. Denn wenn christlicher Glaube es überhaupt mit der Begründung und Ermöglichung von Recht zu tun hat, dann muß sich nicht nur zeigen lassen, in welcher Gestaltung von Recht dieser Glaube sich darstellt (dies intra muros geleistet zu haben, macht den besonderen Rang des “Rechtes der Gnade” aus), dann gehört vielmehr zur Organisation von Kirche unabdingbar, daß sie in einer Gestalt auftritt, die sie befähigt, auch extra muros als Quelle des Rechts zu wirken — etwa auf der Linie des Barthschen Satzes: “Die Kirche hat durch ihr Recht der Welt das Evangelium vernehmbar zu machen.”3 Das Verhältnis des Kirchenrechts zum weltlichen Recht zu klären, scheint mir eine der durch Dombois unnachläßlich gestellten Aufgaben zu sein. Denn zur Verbindlichkeit dieser Rechtsgestalt gehört doch wohl, daß sie vom staatlichen Recht nicht einfach zum Niemandsland erklärt werden kann.
Geht man dieser Frage nach, so stößt man auf eines der schwierigsten Probleme, das Dombois im Innenraum der Theologie selbst nachgewiesen hat und das zugleich den Schlüssel zu der von ihm beklagten Rechtsfremdheit der protestantischen Theologie enthält: das Problem der Subjektivität. Während alles weltliche und staatliche Recht als Souveränitätsrecht auftritt, das heißt seine Legitimität aus dem Willen bestimmter geschichtlich handelnder Subjekte empfängt, muß das Kirchenrecht auf eine solche Begründung verzichten. Die Gemeinde jedenfalls ist in einem vergleichbaren Sinne gerade nicht das Subjekt des in ihr geltenden Rechts. Sie ist — theologisch begriffen — überhaupt nicht Subjekt, sondern, wie Barth unermüdlich betont, lediglich die “irdisch-geschichtliche Existenzform” eines anderen, ihres Herrn Jesus Christus,4 kann also das ihr gemäße Recht nur in den Grenzen entwickeln, in denen sie diesen anderen in und durch ihre eigene Existenz zur Darstellung bringt. Der “Prozeß”, der Lebensvollzug als communio, geht hier tatsächlich jeder Rechtssetzung voraus. Wie
3 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik (= KD), IV/2,
817; vgl. Georg Picht, Antwort (auf Hans Dombois, Grundlagen und
Grundprinzip der Kirchenrechtslehre), in: ders., a.a.O. (Anm. 2),
277-287, hier 287.
4 Barth, a.a.O., 695.
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aber, wenn der Einzelne in ihr sich nun doch als Subjekt zu begreifen beginnt — sei es als Folge der mittelalterlichen Verdienstpraxis, oder, wie Hegel dekretiert, der Freiheit des Gewissens — und sich damit faktisch aus der communio emanzipiert, die, wie in CA VII zu lesen, nun bestenfalls als “congregatio” verstanden werden kann? Dann muß entweder die vorgegebene Rechtsordnung, das Recht der Gnade, seine Maßgeblichkeit verlieren (was die Formen des Vergessens und der “Blindheit” dokumentieren), oder — schlimmer noch — aus dem Recht wird eine eigenmächtige “Setzung” (der Vernunft oder der individuellen Gewissensentscheidung), die, wie es in Barmen III heißt, ungewollt “dem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden ... Überzeugung überlassen” bleibt. Das “geschichtliche Novum des Ich”5, das “Problem der Subjektivität als solches”6 ist in der Tat das Zentralproblem der Reformation und darüber hinaus der härteste geschichtliche Widerstand, mit dem jeder Versuch einer Begründung des Kirchenrechts heute fertig zu werden hat.
Was einer der bedeutendsten Ökumeniker unseres Jahrhunderts, Dietrich Bonhoeffer, vor mehr als 50 Jahren ausgesprochen hat, gilt unvermindert noch heute: “Weil es keine Theologie der ökumenischen Bewegung gibt, darum ist der ökumenische Gedanke ... kraftlos und bedeutungslos geworden.”7 Bonhoeffers eigener Versucht, dieses Vakuum zu füllen, spiegelt sich vielleicht am deutlichsten in dem provozierenden Satz: “Die Kirche darf also keine Prinzipien verkündigen, die immer wahr sind, sondern nur Gebote, die heute wahr sind. Denn, was ‘immer’ wahr ist, ist gerade ‘heute’ nicht wahr.”8 Gemessen an dieser anziehenden Forderung nimmt sich der von Dombois beschrittene Weg, der zwei Jahrtausende Kirchengeschichte verrechnet, geradezu anachronistisch aus. Versucht man
5 Hans Dombois, RdG III, 40.
6 RdG III, 80.
7 Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften I, 2.
Aufl. München 1965, 141.
8 A.a.O., 145.
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jedoch nur in einem einzigen, wirklich strittigen Fall — etwa dem Antirassismus-Programm — einen Konsens darüber zu erzielen, was heute der verbindliche Wille Gottes sein könnte, so zeigt sich, daß diese Forderung, der Dombois zu widersprechen gewiß keinen Anlaß hätte, sehr viel tiefer angesetzt werden muß, um in ihrem theologischen Sinn begriffen und vollends eingelöst zu werden. Sonst scheitert sie unrettbar an der Vielfalt überlieferter Lehrmeinungen der gegenwärtigen Auslegungen.
Es ist, sehe ich recht, keine toto coelo anderer, sondern ein komplementärer Weg, den Dombois einschlägt, der seine besondere Überzeugungskraft freilich dadurch gewinnt, daß er die Partikularität nicht immer neu — angesichts je heute geforderter Entscheidungen — zu überwinden empfiehlt, sondern ihr schon dort Widerstand entgegensetzt, wo sie sich in den Fundamenten der Kirchenstruktur meldet: nämlich im Prinzip der Subjektivität und der ihm korrespondierenden “zweiwertigen Logik”9, die nur ein “richtig” und ein “falsch” kennt (“tertium non datur”; problematische Symmetrie von Wahrheit und Falschheit) und darum wohl zu Recht als der verborgenste (geistesgeschichtliche) Grund der abendländischen Kirchenspaltung namhaft gemacht wird. Die Einheit der Kirche — hinter dieser trockenen Erkenntnis verbirgt sich ein höchst folgenreiches Umdenken! — ist nicht die Einheit des Begriffs, unter der sich verschiedene Vorstellungen subsumieren lassen. Sie kann schon aus diesem Grunde nicht als Einheit der congregatio gedacht werden, die “im wesentlichen oder gar allein als lehrmäßige Konfliktbewältigung”10, das heißt auf dem Wege rationaler Konsensbildung zu erreichen wäre. Daher der für protestantische Ohren nahezu häretisch klingende Einspruch gegen die sola-Formeln der Reformation und deren unifizierende Wirkung, daher die fundamentale Kritik am Kirchenbegriff der CA (VII), die (so sehe ich es) das überlegene Recht und die innere Struktur von Barmen III erst plausibel macht, und daher schließlich der ebenso weitreichende Vorwurf, die CA
9 RdG III, 330.
10 RdG III, 404.
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habe den “Gesamtzusammenhang zwischen Geist, Kirche und neuer Schöpfung”11, also mit dem III. Artikel des Nicaenums insbesondere auch dessen Eschatologie zerstört.
Vorwürfe von dieser Tragweite wollen sorgfältig geprüft werden. Im Blick auf den Protestantismus hätte meines Erachtens zwischen Luther und der CA — ungeachtet der Wirkungsgeschichte der Augustana — distinkter unterschieden werden müssen. Überdies legt sich die Frage nahe, ob das “Recht der Gnade” wider Willen nicht auch seinerseits einem zweifachen reformatorischen “sola” verpflichtet ist: methodisch dem “sola scriptura” (wo anders hätte die Kritik an der CA sonst ihren theologischen Sachgrund?), inhaltlich dem “solus Christus” (daher der als “Endergebnis” formulierte Rat, “es möge die lutherische Theologie von CA IV [der Rechtfertigung] auf CA II [den “Christus pro nobis”] zurückgehen”12).
Mit dieser Kritik ist die Frage nach der Einheit der Kirche so tief angesetzt, daß diese Einheit als eine jeder Lehrbildung, jeder bewußten Selbstdarstellung und jeder aktuellen Problemlösung prinzipiell vorausliegende Einheit sichtbar wird — als eine Einheit, die sich wie die Gottesherrschaft der neutestamentlichen Gleichnisse manifestiert, die aber auf keine Weise “hergestellt” oder durch Konsens beziehungsweise gemeinsame Aktion erzwungen werden kann. (Man wird fragen dürfen, ob dies nicht auch Luther gemeint hat, wenn er in der Disputatio de ecclesia schreibt: “Ita nos in ecclesia sumus unum corpus Christi, sed externum, non natura.”) Der alte Grundsatz der Äquivalenz aller Ekklesien wird in aller Form wieder in Kraft gesetzt, Universalkirche und Ortskirche auf ein- und dieselbe pneumatische Ebene gestellt.13 Dies ist theologisch ein außerordentlich wichtiger Schritt. Anders gesagt: Daß Dombois das Problem der Kirchenverfassung an dieser und keiner anderen Stelle aufnimmt, wird man als die theologisch bedeutsamste Leistung seines Entwurfes zu würdigen haben. Denn mit dieser Entscheidung wird die Einheit der Kirche aus
11 RdG III, 79.
12 RdG III, 315.
13 RdG III, 183.
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dem Status eines bloßen Postulats befreit, sie wird jeder Spiritualisierung entzogen und findet ihren Haftpunkt dort, wo sie ihn in der neutestamentlichen Überlieferung von jeher hatte: nicht als Zusatz, auch nicht als äußere Form für den Begriff der Kirche, sondern als grundlegende Realität des Leibes Christi, die sich in der leibhaften Realität jeder Gemeinde, das heißt im Lebensvollzug der communio als dem Geschehen von Kirche selbst darstellen muß.14 Einheit ist sichtbare, sich darstellende Einheit, oder sie ist überhaupt nicht, sie ist verfaßbare Einheit oder bleibt ein Phantom. Theologisch bedeutet das: Die Kirche hat ihre Einheit nicht als Stiftung, aber auch nicht in der form einer einmaligen (und gar suffizienten) Konsens- beziehungsweise Bekenntnisbildung im Rücken, sie hat sie im Ausgriff auf die in der Eucharistie vergegenwärtigte “eschatologische Grenze”15 — und darum auf dem Weg zu ihr hin — jederzeit vor sich, gemäß dem Wort Joh 16, 13: “Der Geist wird euch in alle Wahrheit führen”. Ihre Einheit ist, so gesehen, keine “vérité de fait”, sondern eine “vérité à faire”. Verfassungsrechtlich — diese Konsequenz zur Kenntnis zu nehmen, wird die protestantischen Kirchen vermutlich noch einige Mühe kosten — bedeutet das die Rehabilitierung des Bischofsamtes als Amt der Einheit,16 die Rehabilitierung des Konzils als Institution der Einheit.
Neu ist nicht so sehr der Inhalt dieser Forderungen als vielmehr die konkrete rechtliche und institutionelle Verbindlichkeit, die Dombois ihnen gibt. Als Lebensform ist die Konziliarität in der jüngeren ökumenischen Diskussion wiederentdekt worden, worauf Wolfgang Huber hingewiesen hat und zwar einschließlich des grundlegenden Elementes der Rezeption durch die Gemeinden: “Konziliarität meint diejenige Lebensform der Kirche, in der Konfliktfähigkeit und Konsensbereitschaft nicht als einander ausschließende
14 Vgl. a.a.O., 183.
15 A.a.O., 412.
16 Ernst Lange, Eingabe an einen westdeutschen
Kirchenführer, in: Wissenschaft in Praxis und Gesellschaft, 63
(1974), 349-354; Lukas Vischer, Der Auftrag der reformierten
Kirche in der ökumenischen Bewegung, in: ÖR 28 (1979), 410-420;
vgl. zum ganzen auch RdG III, 163 ff.
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Alternativen gelten ... Als konziliar gelten diejenigen Verfahren, durch die gegensätzliche Positionen eine faire Chance auf Gehör erhalten und in der Hoffnung auf neue, gemeinsame Wahrheitserkenntnis überprüft werden können ... Zustimmung und Widerspruch durch die Gemeinden sind selbst Teil des konziliaren Prozesses.”17 Die Konvergenzerklärung von Lima hat Ziffer 26 die Übernahme des Bischofsamtes als Amt der “Aufsicht, Kontinuität und Einheit in der Kirche” ausdrücklich gefordert. Was bis heute fehlt, ist die Vereinigung dieser teils pastoralen, teils kirchenrechtlichen Anstöße zu einer gemeinsamen Konzeption.18
Ökumenisch — auch darin wird die Theologie nicht vorbeigehen können — ist der hier vorliegende Entwurf des Kirchenrechts also nicht in einem positivistischen Sinne (als gehe es lediglich darum, dam faktisch geltenden Recht in Darstellung und Auslegung Rechnung zu tragen), sondern in einem normativ-kritischen Sinne: An dem Maßstab rechtlich verfaßbarer bzw. verfaßter Einheit ist das kirchliche Handeln auf seine Legitimität zu prüfen. Das führt auf die schwierige, in der Kirchenrechtslehre offenbar besonders umstrittene Frage nach der Begründung der Formen und der Struktur des Kirchenrechts.
Daß kein Recht und so auch kein Kirchenrecht direkt vom Himmel fällt, daß darum keine kirchliche Rechtsform mit dem biblisch bezeugten “Grundrecht der christlichen Gemeinde identisch war und ist”,19 ist eine alte Einsicht. Sie gewinnt ihre besondere Zuspitzung bei Dombois durch den Rückgriff auf das rechtsgeschichtliche Spätwerk Sohms,20 das die untrennbare Zusammengehörigkeit der Form
17 Wolfgang Huber, Folgen christliche Freiheit,
Neukirchen-Vluyn 19852, 263.
18 RdG III, 404.
19 Barth, a.a.O. (Anm. 3), 814.
20 Rudolph Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und
das Dekret Gratians, 1918, Neudruck 1967.
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des Kirchenrechts und des Geschichtsbildes der Epoche zur historischen Evidenz gebracht hat. Is damit die Frage nach der Geschichtlichkeit des Kirchenrechts zum ersten Mal unausweichlich aufgebrochen (und ineins damit die alte Frage nach dem “Abfall” der Urkirche in die Geschichte gegenstandslos geworden), so mußte im gleichen Atemzug die Infragestellung der gegensätzlichen Geschichtsbilder zur “Frage nach der Geschichte des Ganzen und damit der Einheit selbst”21 führen. Thema und Problem eines ökumenischen Kirchenrechts sind nach dieser Sicht der Dinge bereits durch Sohm selbst gestellt.
Die Stärke aber auch die partielle Anfechtbarkeit des “Rechtes der Gnade” hängen an dieser Voraussetzung. Zunächst einmal gibt sich nun der II. Teil des Gesamtwerkes als Achse und organisierende Mitte des Entwurfs zu erkennen. Er begründet in einer an Hegel erinnernden spekulativen Kraft die Unterscheidung zwischen einer “epikletisch-pneumatischen” und einer “judikalen” Epoche des Kirchenrechts,22 der zwei im Ansatz verschiedene Formen der Verfassungsbildung entsprechen. Dombois spricht von dem sakramental-epikletischen und dem transzendentalen Kirchenrecht. Beruht jenes “auf einem ungebrochenen und, wenn man will, unschuldigen Glauben an den Heiligen Geist”23, der seinen liturgischen Ausdruck in der Epiklese, seinen rechtlichen in der Ausbildung eines eigenständigen “immanenten” Rechtes “im Schoße der gottesdienstlich versammelten Gemeinde”24 findet, so setzt dieses die Erschöpfung, ja den Niedergang des altkirchlichen Geistglaubens voraus und führt — methodisch wie sachlich — zu einer Neubegründung des Rechts aus dem Geist der transzendentalen “Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit legitimen Handelns und Lebens der Kirche”25. Es kommt zur Ausbildung der römischen Jurisdiktionshierarchie, der als protestantische Gegenbildungen das lutherische “Amt” (seine Instrumentalität
21 RdG III, 259.
22 RdG II, 103 ff.
23 RdG II, 105.
24 RdG II, 108.
25 RdG II, 181.
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und seine typische Überlastung) sowie das reformierte Presbyterat und Synodalprinzip (bei gleichzeitiger Ablehnung personaler Vollmacht) entsprechen. Die hohe diagnostische Kraft dieses Periodenschemas scheint mit im Bereich der Kirchenrechtsgeschichte — in Sonderheit bei der Erklärung des Übergangs vom altkatholischen zum neukatholischen Recht — hinreichend unter Beweis gestellt zu sein. Es fragt sich jedoch, ob dieser Schlüssel schon ausreicht, die Konfessionsbildung als solche verständlich zu machen. Denn die Reformation erscheint nun — ex hypothesi — nicht eigentlich mehr als ein theologischer Neuansatz; sie wird vielmehr als ganze auf das Niveau einer bloß dialektischen Gegenbildung innerhalb der mit dem 12. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung der Kirche herabgesetzt. Es fragt sich also, ob es theologisch legitim oder vielleicht doch die Folge eines Systemzwangs sein möchte, wenn Rechtfertigungs- und Gnadenlehre ausschließlich im Spiegel des reichsrechtlichen Dokumentes der CA interpretiert werden. Ist der Verlust altkirchlicher Spiritualität (mögen Kirchenordnungen und Ordinationsformulare noch so sehr dafür sprechen) tatsächlich das entscheidende Formmerkmal, das die von Luther ausgehende Bewegung charakterisiert? In welchem Sinn kann folglich der, wie ich meine, zu Recht in Grund und Boden argumentierte Artikel VII der CA für ein evangelisches Kirchenverständnis beweiskräftig sein? Ist er überhaupt vergleichbar mit der Bekenntnisaussage von Barmen III, oder muß man sagen, daß erst diese Erklärung das reformatorische Kirchenverständnis geltend gemacht hat — und zwar gegen seine (von CA VII ermöglichte) neuprotestantische Auflösung?26 Wie also ist Dombois’ erklärte Aufnahme und Weiterführung von Barths “Ordnung der Kirche”27 theologisch zu beurteilen?
Zunächst einmal kann man — so meine Erfahrung — den III. Teil des “Rechtes der Gnade” durchaus auch ohne die rechtsgeschichtliche These des II. Bandes und deren Implikationen verstehen. Die Stringenz seiner Argumentation scheint mit ihr nicht zu stehen und erst
26 Vgl. Wolf, a.a.O. (Anm. 1), 129.
27 KD IV/2, 765 ff.
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recht nicht zu fallen. Denn sie ist im Blick auf die heute zu lösenden Aufgaben negativ formuliert: Wir stehen am Ende der Epoche des transzendentalen Kirchenrechts, wie der Verzicht des II. Vaticanums auf jegliche Anathemata ebenso belegt, wie auf protestantischem Boden die Krise des Schriftprinzips, also die eingestandene Unmöglichkeit, sich für die Ausgestaltung der Kirchenverfassung auf die “perspicuitas” der Schrift zu berufen. Positive Anweisungen, das Verfassungsproblem zu bewältigen, vollends den Entwurf eines neuen Geschichtsbildes, enthält sie nicht. Das Kirchenrecht, so darf man folgern, steckt in einer Legitimitätskrise (vergleichbar mit dem Stand der Dinge im 12. und 13. Jahrhundert), und auf diese Situation gibt Dombois eine durchaus neue, eigenständige Antwort, die ihre Garantien nicht aus der bisherigen Geschichte entlehnt. Sie lautet in der unüberbietbaren Metaphorik einer kleineren Arbeit: “Das Kamel des Geistes geht nur durch das Nadelöhr der Institution in die Geschichte ein — dazu muß es freilich abgesattelt werden.”28 Wir sollen die naheliegende biblische Assoziation nicht strapazieren, ob es am Ende leichter ist, daß die Welt ins Reich Gottes eingeht, denn daß ein solches Kamel durch dies Nadelöhr kommt. Es ist auch so deutlich, daß der Rückgriff auf die Formen des epikletischen Kirchenrechts den eigenen Entwurf in seinen kritischen wir affirmativen Aussagen bestimmt, deutlich aber auch, daß diese Formen nicht unverwandelt übernommen werden können.
Wichtiger noch für die innere Systematik scheint mir ein zweiter Gesichtspunkt zu sein: Wie dieser Entwurf seinerseits Geschichte verrechnet, und was man hier als “Geschichtsbild” namhaft machen kann, das wird durch den Begriff der Institution vermittelt. Dessen Bedeutung für die Grundlegung und Entwicklung des Kirchenrechts hat sogar Grundmann uneingeschränkt zu würdigen vermocht.29 Hier ist überdies der Problemkontakt mit den Fragestellungen der Theologie am offenkundigsten. Worum geht es? Dombois hat die Institutionen
28 Dombois, a.a.O. (Anm. 2), 273.
29 Siegfried Grundmann, Art. Kirchenrecht I:
Evangelisches Kirchenrecht, in: Evangelisches Staatslexikon,
Stuttgart 19752, Sp. 1206-1224, hier Sp. 1212.
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als “strukturelle Einheit”30 von vorgegebener Stiftung und gestaltender Annahme zu verstehen gelehrt. Dabei ist die Vorgabe der Stiftung menschlicher Verfügung entzogen; ihr Sinn liegt jedoch darin, daß sie dem Willen des Stifters gemäß verwaltet, das heißt als verbindlicher Rahmen angeeignet wird, innerhalb dessen sich der Stiftungszweck verwirklichen, also in sein geschichtliches Dasein treten kann. Es ist wie bei einem Spiel. Kein Spieler verfügt über die Regel oder kann sie nach eigenen Belieben abändern. Es kommt darauf an, daß er sich auf sie einläßt, etwas mit ihr “anfängt”, das heißt unter den mit ihr gegebenen Bedingungen tatsächlich Wirklichkeit, eine neue “geschichtliche” Konstellation, erzeugt. Das nämlich muß er, soll das Spiel zustandekommen. Hier kommt unnachlaßlich seine eigene Freiheit zum Einsatz. Denn daß unter den Möglichkeiten, die jene Regel ihm freistellt, diese eine tatsächlich realisiert, dieser besondere Weg wirklich beschritten wird, läßt sich ihrer Kenntnis allein gar nicht entnehmen, sondern ist — in jedem einzelnen Fall — ein ihrer Kausalität nicht mehr unterliegender neuer Schritt. Er fürht aus der “Universalität” der Regel in die Partikularität ihrer geschichtlichen Verwirklichung. Institutionen sind, so verstanden, Spielfield und Bühne, auf der ein universal gültiges Verhältnis, etwa das der Partnerschaft (Ehe, Bund) oder der Arbeit, in die Geschichte tritt. Geschichte wiederum wird hier begriffen als das offene, auf Gestaltung drängende Feld von Möglichkeiten, das freilich im vorhinein durch den Spielraum jener (universalen) Vorgabe festgelegt und begrenzt ist.
Luther hat diesem Verhältnis von Stiftung und Annahme, von Vorgabe und Verwirklichung mit dem Gedanken der cooperatio hominis cum Deo eine einzigartig prägnante theologische Fassung gegeben. Im Rahmen des vorgängigen, umfassenden Wirkens Gottes, demgegenüber der Mensch radikal passiv und unfrei ist, eröffnet sich ihm ein Raum für seine aktive, freie und verantwortliche Mitwirkung.31
30 Hans Dombois, Art. Institution II:
Juristisch. Rechtstheologisch, in: a.a.O., Sp. 1018-1022, hier
Sp. 1020.
31 Vgl. dazu Wolfgang Huber, a.a.O. (Anm. 17), 124f.;
Ernst Wolf, Sozialethik, Göttingen 1975, 168 ff.
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Diese vorgängige Festlegung und Begrenzung, die dem geschichtlichen Dasein widerfährt, weist die Institution von vornherein als ein rechtliches Gefüge, besser: als einen Rechtsvorgang aus. Wenn ich — im Sinne Dombois’ — hier von einem Vorgang spreche, so meine ich, daß die Stärke der hier nachgezeichneten Struktur genau dort liegt, wo die juristischen Kritiker offenbar die “Hauptschwäche”32 (Grundmann) vermuten: Sie macht es unmöglich, den vorgegebenen institutionellen Rahmen als Norm, das ihm entspringende Recht als eine normative Setzung zu verstehen. Elementar geredet: Es wäre absurd (und ist überdies unbiblisch), den Menschen der Norm der Ehe zu unterwerfen. Heiratet er aber, so ist es vernünftig, von ihm zu verlangen, daß er zu seiner Ehe steht, das heißt sich der negativen Norm “Du sollst nicht ehebrechen” zu unterwerfen. Normen sind etwas grundsätzlich Sekundäres. Sie setzen den geschichtlichen Umgang und die geschichtliche Erfahrung mit kulturellen und sozialen Möglichkeiten voraus, die sie nicht begründen, durch die sie selbst vielmehr begründet werden. Sie sind — im Bilde geredet — die Bedingungen, die das Einhalten der Spielregeln gewährleisten (und insofern, wie wiederum die Ehegesetzgebung, das antike wie das moderne Scheidungsrecht, zeigt, konventionelle Setzungen), nicht aber die Spielregeln selbst. Die Forderung der Norm und deren Anerkennung — das von Dombois sogenannte “Gerechtigkeitsrecht” — sind nur sinnvoll, können einen Menschen nur dann “mit Recht” zugemutet werden, wenn zuvor das zu normierende bzw. normierte Gebiet gegeben ist, sich ihm als ein einleuchtendes Angebot präsentiert.
Man muß ins Alte Testament zurückgehen, um sich Ursprung und ursprüngliche Lebendigkeit dieser Rechtsauffassung, dieses Rechtskreises (Dombois) zu vergegenwärtigen. Aber auch über diesen besonderen Ursprung hinaus wird niemand daran rütteln, daß alles Recht von Haus aus Sakralrecht ist. Was ist mit dieser Formel gemeint? Auch der Kult, das Gebiet des “Sakralen”, ist ja kein Erstes, sondern Ausdruck und Vollzugsform eines Verhältnisses, in das sich der Mensch der Gottheit gegenüber gestellt sah. Dieses Verhältnis, das
32 Siegfried Grundmann, a.a.O. (Anm. 29), Sp. 1212.
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rechtsverbindliche Gemeinschaftsverhältnis des “Bundes”, das Jahwe Israel angeboten hat und in dem sich der Handelnde weit über den besonderen Bereich des Kultus hinaus vorfindet, begegnet im Alten Testament als der — begreiflicherweise äußerst bewegliche — Maßstab, an dem Recht und Unrecht gemessen werden. Die Frage nach einer absoluten ethischen Norm geht hier völlig ins Leere. Es ist bereist Hermann Cremer gewesen, der diesen Fehler der älteren Forschung erkannt hat: “sdq”, so schreibt er im Blick auf den elementarsten und zugleich umfassendsten Terminus der hebräischen Rechtssprache, ist “durchaus ein Verhältnisbegriff ..., und zwar in dem Sinne, daß er sich auf ein wirkliches Verhältnis zwischen zweien ... bezieht, nicht aber auf das Verhältnis eines der Beurteilung unterzogenen Objektes zu einer Idee.”33 Man muß mit Gerhard von Rad sogar noch einen Schritt weiter gehen: sdq scheint in einem fast räumlichen Sinne als ein dem Menschen heilsamer Kraftbereich verstanden zu sein (Ps 69, 28), auf jeden Fall als eine Israel zugewendete Heilsgabe,34 die dieses Verhältnis geradezu konstituiert. Dann erst wird das in unserer Rechtssprache Undenkbare verständlich, daß das Wort “gerecht” tatsächlich als qualifizierendes Merkmal auf Personen (niemals auf Sachen oder Tatbestände) angewandt wird. Es bezeichnet den Status, den einer hat bzw. verliert. Dieser Status ist das Primäre, die Grundfigur sozusagen, an der sich das alttestamentliche Rechtsdenken ausgebildet und orientiert hat. Die Bedingungen, diesen Status zu erhalten bzw. zurückzugewinnen (hier könnte man im modernen Sinne von “Normen” reden), so wichtig sie im Einzelfall sind, sind demgegenüber etwas durchaus Abgeleitetes, Sekundäres.
In diesen Kategorien will Luthers Rechtfertigungslehre, die ja schon exegetisch (Dictata, Operationes, Vorwort zu den Opera Latina) überwiegend am Alten Testament und seiner Vorstellungswelt gewachsen ist, interpretiert werden. Dann verliert sie viel von ihrer bei Dombois notierten Befremdlichkeit.
33 Bibl.-theol. Wörterbuch, 18937,
272-275.
34 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments I,
München 19624, 388 f.
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Ein eindrucksvoller Beleg für die hier geschilderte Rechtsauffassung ist das Zeremoniell der alttestamentlichen Torliturgien, das in der Rede von den “Toren der Gerechtigkeit” fortlebt, durch die nur “Gerechte” eingehen (Ps 118, 19f.; Neues Testament: Eingehen ins Reich Gottes). Man muß sich den äußeren Vorgang als eine Prozession in den vorexilischen Tempel vorstellen: “Die Einziehenden erbitten am Tor des äußeren Vorhofs Einlaß und fragen nach den Vorbedingungen dazu: ‘Wer darf hinaufsteigen auf den Berg Jahwes, wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?’ Darauf antwortet von drinnen das Kultpersonal: ‘Wer rein ist an Händen und lauteren Herzens, wer sein Sinnen nicht nach Bösem richtet, wer nicht trügerisch schwört ...’ (Ps 24, 3f.). Den Einziehenden wird also eine Auswahl aus den Geboten Jahwes vorgehalten ... (Daran) wird deutlich, daß denen, die zum Kultus kamen, so etwas wie eine Loyalitätserklärung dem Rechtswillen Jahwes gegenüber abgefordert wurde. Diese Gebote galten ja durchaus als erfüllbar, ja leicht erfüllbar. Die Frage, ob sich die Eintretenden zu ihnen bekennen und bekannt haben, war also nichts anderes als die Frage nach ihrer sdq.”35 Die Gebote — nur darauf kommt es hier an — sind Einlaßbedingungen. Sie setezen die Institution des Bundes voraus, kodifizieren gewissermaßen dessen selbstverständliche Verhaltensregeln und zwar so, daß sich an ihrer Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung die Kultfähigkeit des Einzelnen entscheidet. Sie haben eine primär statusrechtliche Bedeutung; erst sekundär, rückwirkend, kommen sie als faktisch geltende Normen des Gemeinschaftslebens (als normierende Gebote) in Betracht. Ihr Sitz im Leben aber ist der Kult. Zugleich aber zeigt sich hier, wie das liturgische und bekennende Element zusammengehören. — Der Leitsatz Dombois’: “Das Kirchenrecht beruht nicht auf Normsetzungen, sondern auf der Struktur vorgegebener Lebensvollzüge und personaler Relationen”36, fügt sich nahtlos in das hier umrissene Bild ein. Er darf als ein authentischer Kommentar gelten.
35 von Rad, a.a.O., 389 f.
36 Dombois, a.a.O. (Anm. 2), 266.
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Wenigstens hingewiesen sei darauf, daß auch die elementaren Menschenrechte in eben diesem Sinne Statusrechte sind: Das Freiheitsrecht entspricht der Unverfügbarkeit der Person und ist — theologisch gesprochen — in der Voraussetzungslosigkeit der göttlichen Gnade begründet. Das Gleichheitsrecht korrespondiert der Würde der Person und weist — jedenfalls traditionsgeschichtlich — auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1, 26) zurück. Die Teilhaberechte, die der gemeinsamen Betroffenheit der Menschen durch Schicksal und Verantwortung Rechnung tragen, haben ihr theologisches Analogon in der Vorgabe des Leibes Christi.37 Auf diesem Hintergrund wird man es als einen um so bedeutsameren Schritt zu würdigen haben, daß Rudolf Smend sogar im Bereich des Verfassungsrecht die Vorstellung, als sei dessen Gesamtgefüge normativ zu interpretieren, als einen Irrtum zurückgewiesen hat.38
Nach diesen allgemeinen Erwägungen wende ich mich zwei Themenkreisen zu, die die besondere kritische Aufmerksamkeit des Theologen verlangen.
Der Entwurf des “Rechtes der Gnade” ist so angelegt, daß der gedanklich beschrittene und sachlogisch geforderte Weg von der (vor)gegebenen Institution zur konkreten Rechtsgestalt führt. Von einer einfachen Deduktion freilich, die mit dem Anspruch aufträte, jeden andersgearteten Entwurf zwingend zu widerlegen, kann trotz der mitunter recht militant geführten Polemik, die zu beurteilen ich Berufeneren überlassen muß — “videant consules!” — doch wohl keine Rede sein. Um so mehr drängt sich die Frage auf: Wie wird dieser Weg faktisch beschritten? Welche Kriterien sind für das hier
37 Vgl. Wolfgang Huber, Heinz Eduard Tödt,
Menschenrechte, München 19883, 162 ff.
38 Vgl. RdG III, 269; R. Smend, Staatsrechtliche
Abhandlungen, Berlin 1955, 185.
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erreichte Ergebnis ausschlaggebend? Wie also manifestiert sich in der Verfassung der Kirche deren ökumenische Einheit?
Für den Theologen ist faszinierend und verwirrend zugleich die Kontamination zweier zunächst grundverschiedener Ansätze. Keinem Leser entgeht die Maßstäblichkeit der Barthschen Entscheidung: das Kirchenrecht habe liturgisches und bekennendes Recht zu sein. Keinem Leser aber bleibt auch verborgen, daß die auf Osiander zurückgehende (in der Orthodoxie zur Herrschaft gelangte) Lehre vom munus triplex — eine hier jedenfalls lutherisch interpretierte Lehrbildung — den Schlüssel zur Lösung des Verfassungsproblems liefert. Dombois hat überzeugend gezeigt, daß beide Ansätze einander nicht zu widersprechen brauchen. Es ist aber deutlich, daß sie kirchenrechtlich zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen führen, wie einerseits Dombois’ herbe Kritik an der “apodiktischen Fundamentalaussage” der “bruderschaftlichen Christokratie” belegt — in der Tat eine Spitzenaussage Barths, die hier als “in der Ökumene nicht konsensfähig”39 abgewiesen wird —, andererseits Barths spürbare Reserve gegen den “schon sprachlich fatalen Begriff” des “Amts”, der durch den “auf alle Christen anzuwendenden Begriff des Dienstes zu ersetzen”40 sei. Barth beschränkt sich darauf, die “verbindlichen Voraussetzungen für alles Kirchenrecht” aufzuweisen und erklärt dementsprechend: “Es gibt aber kein allgemeines Kirchenrecht”, dieses müsse vielmehr je verschieden entfaltet werden.41 Dombois ist es programmatisch um den Entwurf eines ökumenischen, also “allgemeinen” Kirchenrechts zu tun. Die Spannung schärft sich zu einem wirklichen Gegensatz, wo die Frage nach dem personalen Charakter des Amtes, der personalen Repräsentation, gestellt wird. Formelhaft ausgedrückt: Betont Barth die “Einheit und Universalität des kirchlichen Dienstes” und zwar jenseits der “falschen Grenzziehungen” zwischen Predigt, Diakonie, Lehre usf.,42 so betont Dombois die Einheit und Universalität des Amtes in getrennten Funktionsbereichen
39 RdG III, 276.
40 KD IV/2, 787.
41 KD IV/2, 781.
42 KD IV/2, 787, 784f.
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(Barth bestreitet wohlgemerkt nicht die personale Repräsentation als solche, ihr Daß — Dombois zitiert ihn mit Recht43 —; er bestreitet ihr Wie in der Form des römisch-katholischen wie des lutherischen Amtes).
Worin haben diese Divergenzen ihren sachlichen Grund? Vordergründig geurteilt in einer unterschiedlichen Auslegung (inhaltlich: in einer unterschiedlichen Reichweite) der Dreiämterlehre. In dessen Hintergrund aber liegt ein deutlich differentes Verständnis von Repräsentation — der Barthsche Terminus lautet: “vorläufige Darstellung”44 — das freilich zum Teil durch das dezidiert geschichtliche Verständnis von Joh 14, 6 (“Weg”, “Brücke”)45 wieder ausgeglichen wird. Die kritische Anfrage also lautet: Wird der hier vorliegende Entwurf eines “liturgischen” und “bekennenden” Kirchenrechts der von Barth gemeinten Entsprechung zwischen dem der Gemeinde vorgegebenen Christuszeugnis und ihrer Gestalt und Ordnung, das heißt ihrer Verfassung gerecht?
1. Dreiämterlehre
Dombois folgt dem Vorschlag Gloeges,46 die aufgedeckten Schäden der reformatorischen Kirchen — die Schwäche des Kultes und die Preisgabe der eigenständigen Kirchenleitung — zu heilen, indem er sie energisch auf die Lehre vom dreifachen Amt Christi verweist. Diese Lehre ist die theologische Basis der Defizienztheorie, an ihr werden funktionale und methodische “Häresien” gewissermaßen verifiziert.47 Das schließt eine sehr bestimmte Auslegung der tria munera ein, die insbesondere an Act 2, 42 veranschaulicht wird:48 das munus regale manifestiert und spiegelt sich im Amt der Leitung (“Weg”, Joh 14, 6), das munus sacerdotale im Kult (“Leben”), das munus propheticum in
43 KD I/1, 99, 328f.
44 KD IV/2, 695.
45 RdG III, 411, 416.
46 Gerhard Gloege, Heilsgeschehen und Welt, Göttingen
1965, 200 ff.
47 Vgl. RdG III, Kap. XIX, 310 ff.
48 RdG III, 305.
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Verkündigung und Lehre (“Wahrheit”), wobei Dombois den problematischen reformatorischen Primat der Lehre (Gloege: “Wahrheit”) zurückweist.
Barths Systematik ist von Grund auf anders gebaut. Der grundlegende Abschnitt über die “Ordnung der Gemeinde” erhebt sich allein auf der Basis des “munus regale”, dieses eine christologische Amt hat sozusagen die Beweislast für die drei notwendigen Lebensäußerungen der Kirche — Verfassung, Kultus und Lehre — zu tragen. Die Extensität der drei Ämter, ihre “Kompetenzbereiche” gewissermaßen, werden hier gan anders beschrieben und zwar so, daß in jedem einzelnen die der Kirche “fundamental wesentliche Beziehung ... nach außen — eben zur Welt hin”49 sichtbar wird. Was in der Sammlung, Erbauung und Sendung der Gemeinde geschieht (so Barths Titel für die den Ämtern korrespondierenden Grundvollzüge von Kirche), geschieht jeweils zeichenhaft, exemplarisch und in diesem Sinne “vorläufig”, das heißt vorlaufend für die “ganze Menschenwelt”. Dementsprechend hat der Abschnitt über die Ordnung der Gemeinde seine unverkennbare Pointe in der Behauptung der Vorbildlichkeit des Kirchenrechts für alles weltliche Recht,50 einer Behauptung, die die These der frühen Schrift “Rechtfertigung und Recht” aufnimmt und verstärkt (und im übrigen ein indirekter Hinweis darauf ist, weshalb Barth zu episkopalen, vollends monarchischen Formen der Kirchenverfassung auf keinen Fall zurückkehren kann, — er müßte sonst schon der Welt ein analoges verfassungsrechtliches Vorbild empfehlen!). Diese im Sinne Barths zwingende Folgerung aus dem Ansatz des “liturgischen” Kirchenrechts findet in dem gelegentlich apostrophierten “Monismus” Dombois’ eine formale Entsprechung, ist aber im III. Band des “Rechts der Gnade” — leider! — nicht eigens ausgearbeitet.
Eine regionale Trennung innerhalb der notwendigen Lebensäußerungen der Kirche wie sie Gloege zwischen Verfassung, Kultus und
49 KD IV/3, 877.
50 KD IV/2, 815 ff.
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Lehre vornimmt, läßt sich Barth zufolge daher allenfalls pragmatisch, nicht aber rechtstheologisch begründen. Auch hier ist die Architektonik eine andere. Nicht einmal eine Dualität von bekennenden und liturgischem Recht hat an Barth einen Anhalt (auch bei Dombois scheint das “gottesdienstliche Recht”51 der übergeordnete Begriff zu sein). Vielmehr entfaltet sich das Kirchenrecht in seiner horizontalen Erstreckung unter vier Aspekten, denen seine Ausarbeitung gleichermaßen gerecht werden muß: Es ist als Dienstrecht, als liturgisches Recht und darin als lebendiges und vorbildliches Recht zu entwickeln. Man könnte die beiden erstgenannten Merkmale als Materialprinzipien, die beiden letzteren als Formalprinzipien bezeichnen. Dementsprechend blickt der “etwas gewagte Ausdruck” ‘liturgisches Recht’ auf “das ganze Leben der Gemeinde”, das in dem besonderen Geschehen des christlichen Gottesdienstes seine Mitte hat.52 Hier kann und muß unterschieden werden — allerdings nicht im Sinne regional trennbarer “Lebensäußerungen” der Kirche, sondern in der Weise, daß verschiedene, wechselseitig aufeinander bezogene “Konstitutionsakte” herausgestellt werden, in denen die Herrschaft Christi “in seiner Gemeinde Ereignis wird”53, in denen also “das Gesetz der sanctorum communio (als) das für sie gültige Recht real gegenwärtig ist”54. Barth nennt: Bekenntnis, Taufe, Abendmahl und Gebet (Kirchenrecht ist demnach nicht liturgisches und bekennendes Recht, sondern als liturgisches Recht ist es notwendig zugleich bekennendes beziehungsweise sakramentales Recht). Diesen Elementen lassen sich vielleicht im Sinne der alten Appropriationslehre unterschiedliche Sachbezüge christlicher Existenz zuordnen (Verkündigung und Lehre, Freiheit in der Gemeinschaft; eschatologische Ausrichtung ...); die Trias Verfassung — Kultus — Lehre ist auf dieser Basis jedoch kaum zu begründen.
51 Vgl. RdG I, 52; und 434f.
52 KD IV/2, 787.
53 KD IV/2, 801f.
54 KD IV/2, 792.
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2. Vorläufige Darstellung (Repräsentation)
Daß eine unterschiedliche theologische Systematik zu verschiedenen rechtstheologischen Konsequenzen führt, ist kaum verwunderlich. Man könnte sogar sagen, hier handele es sich lediglich um zwei ihrer Herkunft nach verschiedene konfessionelle Profile. Zudem endet jede Vergleichbarkeit, sobald man auf den unterschiedlichen Charakter beider Entwürfe reflektiert. Barths Aussagen sind Dombois gegenüber auf einer Metaebene formuliert (wie übrigens auch Barmen III). Sie liefern bewußtermaßen nur die Bedingungen und Grundsätze, an denen jedes Kirchenrecht sich soll messen lassen, nicht aber einen “konkret” ausgeführten Entwurf. Andererseits hat Dombois it der programmatischen Übernahme der Formel vom “liturgischen Kirchenrecht” diese Metaebene als verbindlich anerkannt — nicht zwar in ihrer dogmatischen Systematik (also der reformierten Fassung der munera-Lehre), wohl aber in ihrem Grundgedanken, der Entsprechung von Verkündigung und Gehorsam, von Botschaft und Ordnung, also, wie das “Recht der Gnade” formuliert: von Institution und Konstitution. In der Institution ist “virtuell die Eigenart jeder Einheit vorgezeichnet, die in der Verfassung ihr Wesen hat”55. Wie also ist der Gedanke der Entsprechung hier und dort “durchgeführt”?
Gegen zwei Einwände wird man Barth vorweg in Schutz nehmen müssen: Daß er den “wesentlichen Tatbestand der communio” — genauer: “das, was als geistliche Existenz und communio sanctorum zwischen Grund (Taufe) und Folge (Glauben) liegt”56 — “übersprungen” habe,57 wird man angesichts des prononciert herausgestellten Ereignis-Charakters der Gemeinde doch kaum behaupten können — gerade nicht in Sachen ihrer liturgisch begründeten Ordnung. Ebensowenig leuchtet mir ein, daß die Rechtsform der christokratischen Bruderschaft an der Frage scheitern könnte, “in wessen Person nunmehr die notwendigen Entscheidungen als legitime
55 RdG III, 318.
56 RdG III, 63.
57 RdG III, 46.
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vollzogen werden”58. Die Pointe kirchenrechtlicher Entscheidungen liegt doch darin, daß die Frage “quis iudicabit” durch die Ausschließlichkeit der Autorität Christi grundsätzlich bereits beantwortet ist, also nur im Sinne der Delegation an ein “sekundäres Rechtssubjekt” hier überhaupt zur Debatte steht.
Stellt man diese Einwände beiseite, so fällt es schwer, in der Struktur der Argumente eine wirkliche Differenz namhaft zu machen, im Ergebnis freilich wird sie manifest (aber setzt nicht auch Barmen IV unbefangen die Existenz der “Ämter” voraus?). Fragt man zunächst im Sinne Barths, was hier einander entsprechen soll, so stehen sich Jesus Christus als das “primär handelnde Subjekt” und die “ebenfalls handelnde menschliche Gemeinschaft ... als sekundäres gegenüber”59. “Recht”, so lautet daraufhin der Basissatz, “ist in der Kirche das, was nach Maßgabe jenes Verhältnisses richtig ist.”60 Dieses Verhältnis nun beschreibt die “nota praevia” in der Weise, daß sie die Gemeinde als Jesu “eigene irdisch-geschichtliche Existenzform” einführt, die durch die belebende Macht des Geistes “zur vorläufigen Darstellung der in Christus geschehenen Heiligung der ganzen Menschenwelt” tauglich gemacht wird, die also als Repräsentant der neuen Menschheit angesprochen sein will.61 Damit steht alles Kirchenrecht von vornherein in einem eschatologischen Horizont, es ist wie bei Dombois einer auf eine letzte Erfüllung zugehenden Geschichte zugeordnet und dadurch — auch hier ist kein Unterschied! — von allem Staatskirchenrecht au fond geschieden. Übereinstimmung besteht daher auch darin, daß die Kirche ihr “Grundrecht” (Leib Christi zu sein) im Vollzug ihrer eigenen Geschichte realisiert. Sie ist nicht einfach “Hinterlassenschaft und Stiftung” Jesu; vielmehr wird dessen “besondere Geschichte ... in ihrem Leben wirksam und erkennbar” und qualifiziert sie als ein ausgezeichnetes “irdisch-geschichtliches Ereignis”62. Dombois spricht von der “Identifizierung Christi mit dem
58 RdG III, 227.
59 KD IV/2, 768.
60 A.a.O.
61 KD IV/2, 695.
62 KD IV/2, 788f.
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Menschen” und deren “ständiger Erneuerung in der communio sanctorum”63. Die “sakramentalen Lebensformen” der Kirche werden “in einem ursprünglichen Sinne als Vorgänge ... verstanden, durch welche Identität immer neu begründet ... wird”64.
Der Gleichklang scheint, von der unterschiedlichen Terminologie einmal abgesehen, vollkommen zu sein. Verbaliter läßt eine Differenz sich kaum fassen. Und doch sind wenigstens die Akzente spezifisch anders gesetzt. Den eschatologischen Charakter der Kirche beschreibt Dombois mit dem augustinischen Bild der peregrinatio: Sie “geht auf ein Ziel hin, in dem (ihre) eigene Aufhebung ein Bestandteil ihres Selbstverständnisses ist”65. Hier redet Barth anders: Eschatologie bestimmt sich nicht erst vom futurischen Ziel her, auch nicht von dessen Vergegenwärtigung im Abendmahl, sondern ist mit der Aufgabe zeichenhafter Vorausdarstellung des in Christus bereits erreichten Zieles auch extra cultum in jedem geschichtlichen Augenblick der Gemeinde sozusagen “gegeben”. Damit hängt ein Zweites zusammen: Dombois interpretiert die paulinische Definition der Ekklesia als Leib Christi im Einklang mit der gesamtkirchlichen Tradition durch die Vorstellung der Präsenz des erhöhten Christus. Hier hat die munera-Lehre ihren theologischen Ort. Barth verfährt ebenso, allerdings mit einer charakteristischen, seine gesamte Ekklesiologie bestimmenden Wendung und Zuspitzung: Die Erhöhung muß in einer dialektischen Einheit mit der Erniedrigung begriffen werden. Der erhöhte Menschensohn ist Christus als der erniedrigte Gottessohn;66 er herrscht als Knecht. Das erst gibt der theologischen Bestimmung der Kirche als irdisch-geschichtliche Existenzform ihre von Barth gemeinte Schärfe, der vorläufigen Darstellung (Repräsentation) ihren unverwechselbaren Akzent. Denn nun muß alles legitime menschliche Handeln der Kirche sich an der Niedrigkeit Christi messen lassen — auch das sakramentale Handeln! Barths primäres Interesse, das sich in dem Begriff “Entsprechung” artikuliert,
63 RdG III, 320.
64 RdG III, 322.
65 RdG III, 320.
66 KD IV/2, 782.
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liegt — er redet auf einer Metaebene! — offenkundig an einer anderen Stelle als das Interesse Dombois’. Er reflektiert in einer ganz anderen Intensität auf den Konstitutionsakt der Gemeinde, also auf die Legitimität ihrer Lebensvollzüge, und überläßt das Problem ihrer Konstitutionsform, ihrer rechtlichen Verfaßbarkeit und Verfassung kommentarlos den Kirchenrechtlern. Dombois — wie jeder Kirchenrechtler vom Verfassungsproblem in Atem gehalten — reflektiert den Weg von der Institution zur Konstitution in einer bisher ungekannten Intensität durch, überläßt aber dafür die Frage, welche Lebensvollzüge der vorgegebenen “liturgischen” Einheit entsprechen, dem Konsens der Geschichte. Er übernimmt von Gloege das Schema der drei Ämter und Grundverrichtungen der Kirche, das sich in der Tat mühelos als eine historisch wirksame Trias nachweisen läßt, bildet es auf die triadische Selbstaussage des Herrn (Joh 14, 6; Weg, Wahrheit, Leben) ab und interpretiert es als den geschichtlichen, jederzeit der Erneuerung bedürftigen Grundvorgang beziehungsweise Prozeß, der zur sichtbaren Kirche führt und als solcher dem in ihr geltenden Recht begründend vorausliegt.
Das ist nicht zuletzt deshalb eine hochbedeutsame Leistung, weil das hier wirksame Verständnis personaler und sozialer Institution die ökumenische Einheit — statt Resultat eines nur theoretischen Ausgleichs höchst unterschiedlicher Lehr- und Verfassungsbildungen zu sein — als das Ziel eines Weges sichtbar macht, der im Lebensvollzug der noch getrennten Kirchen gegangen sein will. Die gleichwohl unerledigte Herausforderung des Barthschen Entwurfs liegt demgegenüber in der Frage, ob wir jenseits der geschichtlich eingeübten Lebensäußerungen der Kirche, auch jenseits dessen, was wir faktisch für ökumenisch konsensfähig halten, schon mit hinreichender Deutlichkeit wissen, was denn die dem Evangelium entsprechenden Lebensvollzüge der Kirche eigentlich sind und was sie von uns fordern; mehr noch: ob wir es vielleicht erst dann zu wissen bekommen, wenn wir mit der biblischen Überlieferung die Kirche als Vorausdarstellung der neuen Menschheit und darum ihr Recht als das vorbildliche, auch extra muros ecclesiae anziehende und relevante Modell einer weltlichen Rechtsordnung zu begreifen lernen. Hier wird das
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ökumenische Gespräch — namentlich mit den Kirchen und Kirchenrechtlern reformierter Herkunft — noch ein gutes Stück weiter zu führen sein.