Grundlagen und Grundzüge der Kirchenrechtslehre
Genre: Literatuur
1977
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Hans Dombois
Die Kirchenrechtslehre ist unter dem Titel „Kanonistik” als selbständige Disziplin zusammen mit der universitären Wissenschaft im 12. Jahrhundert entstanden — in der Ostkirche besonders mit dem Namen des Theodorus Balsamon von Byzanz, im Westen mit dem Magister Gratian in Bologna verbunden. Die Reformation hat diese Tradition nicht abgebrochen, sondern sie durch fortschreitende kritische Erforschung der Kirchenrechtsgeschichte erweitert.
Auf reformatorischem Boden gibt es eine Kirchenrechtslehre allein im deutschen Sprachgebiet im weitesten Sinne, in den Niederlanden und bei den Waldensern. Von dem Sonderfall der in der Tradition verbliebenen anglikanischen Kanonistik abgesehen, ist dieses Kirchenrecht aber partikular auf Konfessionen oder Nationen beschränkt. Daß sich gleichwohl in diesem Raum eine Reflexion auf das Problem des Kirchenrechts durchgehalten hat, ohne vergleichbare Bestrebungen in Skandinavien oder Nordamerika, begründet die ökumenische Bedeutung und Verantwortung der evangelischen Kirchenrechtslehre, die sowohl den kritischen wie den geschichtlichen Anspruch der Reformation nicht preisgeben kann.
In dem gleichen Raum aber hat sich eine tief verwurzelte Rechtsfremdheit der Theologie ausgebreitet. Namhafte Theologen, von Friedrich Karl Schumann und Ernst Wolf bis zu Heinz Dietrich Wendland, haben dies ebenso ungeschminkt ausgesprochen wie führende evangelische Juristen, Smend, Scheuner, Raiser. Es handelt sich um eine endemische Rechtsneurose, die sich mit der Lautlosigkeit einer Virusinfektion ausbreitet. Ich kann diese Erscheinungen mit der Freiheit eines Christenmenschen nicht übereinbringen. Eine selbstkritische Bemühung der Theologie um dieses Phänomen habe ich noch nicht angetroffen.
An den Universitäten beherbergt die Juristische Fakultät die
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Kirchenrechtslehre zu eigenem Nutzen aus zwei Gründen. Denn diese bewahrt einen ungeheuren rechtsgeschichtlichen Stoff auf, da kaum ein Rechtsgebiet ohne tiefgreifende Einflüsse des Kirchenrechts geblieben ist. Sodann bietet das Kirchenrecht methodisch-didaktisch den Vorteil, daß ein vom staatlichen Recht unabhängiger Rechtskreis erlaubt, die Grundprobleme des Rechts an einem eigenen Modell zu studieren. Der Versuch des Wissenschaftsrats, in der Gesamtplanung als eine Art Modellversuch die Kirchenrechtslehre schwerpunktmäßig in einzelne theologische Fakultäten hineinzubringen, ist jedoch gescheitert.
Wie die Theologie als praktische Wissenschaft verstanden wurde, so wurde die Kirchenrechtslehre als theologia practica externa definiert. So trete ich hier nicht ohne ein Element der Ironie als Externer in der Vorstellung der theologischen Lehrfächer auf. Ich behandle mein Thema in zwei Teilen, einem systematischen und einem geschichtlichen.
Die erste systematische These lautet:
Die Grundstrukturen der großen Institutionen des
Kirchenrechts sind in der Existenz des Christen angelegt und
begründet.1
Der Mensch, der ein Christ wird, tritt in einen universalen Zusammenhang. Indem er nach Paulus samt Christus durch die Taufe in den Tod begraben wird, wird er mit ihm „syssomos”, er wird ein Freigelassener des Herrn, er wird ein Miterbe, er erwirbt ein politeuma, ein Bürgerrecht. Dies sind nicht Allegorien, sondern konkrete rechtliche Qualifikationen. Das Evangelium meint die ganze Menschheit, ihre ganze Geschichte im Blick auf ihre endzeitliche Vollendung. Es hat auch von vornherein kosmische Dimensionen; denn wir „harren eines neuen Himmels und einer neuen Erde”. Diese universalen Dimensionen können weder aus dem Selbstverständnis des einzelnen Christen noch aus der Struktur der Kirche ausgeblendet werden. Der einzelne Christ vermag in den Christen früherer Zeiten, etwa denjenigen, von denen Plinius spricht, seine eigenen Brüder wiederzuerkennen, wie unsere eigenen Nachfahren eines Tages uns — „Erkennt euch in dem Herrn”, heißt das in der Liturgie. Es gibt daher in der Kirche auch keine damnatio memoriae, wie der Kaiserkult in die Tilgung des Gedächtnisses umschlägt oder in der Sowjet-Enzyklopädie die Geschichte immer wieder umgeschrieben wird. Dabei geht der christliche Glaube in seiner Universalität
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im vollen Sinne in das schlichtest Gemüt ein und gibt zugleich den größten Denkern, von Augustin bis Hegel und Kierkegaard, einen unerschöpflichen Gegenstand. Dieser Universalität entspricht der ständige Versuch, die Gesamtheit der Kirchen auch repräsentativ und konkret zu verfassen. Die ökumenischen Konzilien sind vorbereitet durch die vorkonstantinische Kirchenverfassung und wären ohne diese unmöglich gewesen. Sie halten sich als Rechtsform über alle Zeiten durch in der lateinischen, in der orientalischen Tradition, wie in der Lambeth-Konferenz der Anglikaner. Der Ökumenische Rat, der mit der Vielfalt der getrennten Kirchen zu tun hat, hat in der letzten Zeit die Einsicht gewonnen, daß die Struktur der Kirche, gerade auch wo sie nicht im theologischen Konsens lebt, das Moment der „Konziliarität” enthält. Dieser Gedanke des ständigen Austausches und der verantwortlichen Verbundenheit ist noch nicht näher ausgeführt, erklärt sich aber einigermaßen von selbst.
Der Mensch, der ein Christ wird, wird einer Vereinzelung und Ausgesetztheit entnommen, die sich radikal und exemplarisch in der Passion Christi zeigt. Indem der Christ diese neue Existenz gewinnt, wird er auf diejenigen verwiesen, die wie er betroffen sind. Dabei gilt der Satz: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.” Der Christ kann sich daher seine Mitchristen nicht aussuchen. Diese Existenz ist zugleich kein Besitz, sondern ein Weg, eine eröffnete Möglichkeit — sie muß gelebt und bewährt werden und bedarf dafür der Gemeinschaft. Dies kommt schlicht in Apg 2, 42 zum Ausdruck, wo es heißt: „Sie blieben zusammen in der Apostel Lehre, in Brotbrechen und im Gebet.” Hier ist also alles vorhanden, wessen der Christ bedarf, um mit Paulus „vom Glauben zum Glauben” fortzuschreiten. Dies ist der Ort der Gemeinde, deren erst sekundäre Gestalt — mit deutlicher Differenz — die Parochie ist. Die Tatsache, daß hier alles zum Heil Erforderliche vorhanden ist, steht in einer Spannung zu jener Universalität. Die Universalität der Kirche und die Partikularität der Gemeinde in ihrer Suffizienz sind als primäre Daten zu verstehen, die zugleich aufeinander verwiesen sind. Dieser Widerspruch wird vermittelt durch die Partikularkirche, welche die Realität der Gemeinde in die Allgemeinheit des Glaubens und die Allgemeinheit des Glaubens in die partikulare Gemeinde zu vermitteln hat. Sie ist also ein notwendiges, aber prinzipiell sekundäres Institut. Sie kann sich daher nicht als die Trägerin souveräner Letztentscheidung über eine partikulare Tradition verstehen. Das Kirchenrecht schließt den Begriff der Souveränität aus. Es beruht vielmehr auf den ständigen Austragung produktiver Widersprüche.
Diese Widersprüche erscheinen sodann auf einer zweiten Ebene.
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Der Christ ist aus der Welt herausgenommen und in Freiheit gesetzt, um den Mitmenschen zu dienen. Nicht umsonst steht aber der Satz, daß die Gemeinde sich nicht mit der Welt gemein machen sollte. Es besteht eine unübersteigbare, nicht leicht definierbare Grenze der Identifikation. Da aber die Kirche für jedermann offen sein muß, muß sie ihm auch in seinen Konditionen verdeutlichen, wie er in dieser Lage ein Christ sein kann. Diese Offenheit bedeutet die ständige Beziehung auf das, das man heute „gesamtgesellschaftliche Gegebenheiten” nennt. Daraus entsteht die Volkskirche, die in weitem Umfange sich mit der obengenannten Partikularkirche deckt. Die Dialektik des Weltverhältnisses jedoch erzeugt notwendig auch das Gegenbild der Volkskirche. Die Spannung in dem „In der Welt, aber nicht von der Welt” hat Paulus in der Formen „Haben, als hätte man nicht” ausgedrückt. Aber man kann nicht gleichzeitig verheiratet und ledig sein. Es gibt diejenigen, die sich nach den Herrenwort um des Himmelreiches willen verschnitten haben — aber: wer heiratet, sündigt nicht, wie Paulus gegen alles Mißverständnis deutlich sagt. Auf Grund dieser Spannung bilden sich notwendig Gruppen, die das Herausgenommensein aus den allgemeinen Bedingungen der Existenz als Lebensform verwirklichen. Beide Lebensformen sind aufeinander verwiesen. Die eine bedeutet etwas für die andere. Die Verantwortung des konkreten sozialen Lebens steht der Herausnahme, der Askese gegenüber. Der Starze, der in Gebet und Meditation lebt, wird zum Seelsorger und Berater, wie Nikolaus von der Flühe Vermittler für die streitenden Kantone. Die Verantwortung für das konkrete Leben aber steht einer falschen eigengesetztlichen Heiligkeit entgegen. Die katholische Kirche unserer Zeit verdankt den großen Orden, den Dominikanern und Jesuiten als Träger der rationalen Theologie im Gegenüber zur Großkirche, zum wesentlichen Teil die Antriebe der Reform. Was hier unter dem Begriff des Ordens und an dem handgreiflichen Beispiel der großen historisch wirksamen Ordensbildungen verdeutliche wird, gilt aber grundsätzlich für alle frei gebildeten Gemeinschaften, die aus einer besonderen Berufung und inneren Verpflichtung entstehen, aber nicht Sache jedes Christen sind. Man könnte also den Begriff Orden in denjenigen der „besonderen Dienstgemeinschaft” ausweiten. Sie sind nicht einfach Gliederungen einer als einheitlich verstandenen Kirche, in der er sonst immer nur monotone Lebensformen geben würde. Sie besitzen eine notwendige Autonomie. Aber in dem Maße dieser Autonomie sind sie zugleich der Kirche verbunden, auf sie verwiesen und ihr verantwortlich verpflichtet. Beide Lebensformen sind als sekundäre Formen ineinander verschränkt wie die primären Formen
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der Universalität und der Partikularität. Diese vier Formen: universale Kirche, Gemeinde — Partikularkirche und Orden, machen den Grundbestand der großen Institutionen des Kirchenrechts aus. Sie sind aber, wie ersichtlich, in den getrennten Kirchen in unterschiedlichem Maße und verschiedener Weise ausgebildet.
Zweite These:
Das Kirchenrecht ist liturgisches und bekennendes
Recht2 (Karl Barth, Ordnung der Gemeinde,
Kirchliche Dogmatik IV, Teil 2): Seine Grundformen sind durch
die Struktur des gottesdienstlichen Handelns
bedingt.3 Das Kirchenrecht ist insofern eine
Handlungstheorie der Kirche.
Ich habe bei der Einführung der ersten These den Kunstgriff gebraucht, von dem schon vorhandenen Christen zu sprechen. Wir greifen eine Schicht tiefer, wenn wir nach den modi der Begründung dieser Existenz fragen. Sie zeigt sich schon im Präskript des Römerbriefes. Paulus beschreibt seine Bekehrung und Berufung mit den Worten: „Aphorisménos elábomen chárin kaí apostolén.” Was der Apostel nicht weiß und nicht zu wissen braucht, ist die Tatsache, daß es sich hier um einen institutionsrechtlichen Vorgang handelt. Er wird zunächst herausgenommen und dann eingeordnet. Dies ist die Grundstruktur personaler Institution, wie sie sich in den liturgischen Formen der Taufe und Ordination notwendig abspielt und auch rechtstheoretisch interpretierbar wird. Es ist einerseits die Erwählung und Berufung, die eine bestimmte Person ergreift, eine bestimmte Entscheidung trifft, dann aber den so Ergriffenen in einen Zusammenhang stellt, in den er eingefügt wird. Hieraus ergeben sich zwei Grundbegriffe des Kirchenrechts: Jurisdiktion und Ordination. Die Gliederung der Kirchengewalt in die potestates iurisdictionis et ordinis ist von Melanchthon in Art. 28 des Augsburgischen Bekenntnisses ausdrücklich als sogenannte vetus partitio rezipiert. Das für Sie mißverständliche Wort „Jurisdiktion” bedeutet nicht eine angemaßte Gerichtshoheit, sondern die notwendige Entscheidung jedes Handelnden in der Kirche über die Angezeigtheit seines geistlichen Handelns, in Taufe, Ordination, Trauung usw. Diese Entscheidung kann als eine pneumatische durch kein Gesetz, auch kein Kirchengesetz in concreto präjudiziert werden. Sie ist in jedem Akte der Entscheidung der Kirche im Bereich der ecclesia proprie dicta enthalten. Für den Begriff der Ordination brauchen wir weder den ordo-Begriff der römischen Spätantike noch die metaphysische Spekulation auf eine intelligible göttliche Weltordnung. Das Wesentliche ist in der Vorstellung enthalten, daß der Leib Christi, die
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Gemeinde, immerfort durch lebendige Bausteine auferbaut und der Einzelne in ein solches Ganzes integriert wird. Er besagt nicht mehr als die notwendig integrative Funktion und Aufgabe kirchlichen Handelns.
Ein zweites Begriffspaar im Bereich des gottesdienstlichen Handelns finden wir in Tradition und Rezeption. Traditio ist die aufgegebene missio. Tradition heißt hier nicht die Repetition vorgeprägter Formeln, sondern die notwendige Vermittlung der apostolischen Lehre (siehe Apg 2, 42) in der viva vox evangelii, auch in unterschiedlichen Denkkategorien und im Bezug auf sich wandelnde Situationen, in denen sowohl durchhaltende wie flexible Elemente miteinander verbunden sind. Der Tradition steht die Rezeption gegenüber, die ihrerseits ein geistlicher Akt der Annahme durch die Adressaten der Verkündigung ist. In der alten Kirche bestand der Grundsatz, daß die Beschlüsse der Bischofskonzilien nicht aus sich, sondern nur durch die Rezeption, sei es partikularen, sei es der universalen Kirche, in Kraft traten. Liturgisch vollzieht sich dies in den Akklamationen, dem Ruf axios, dem Amen usw.
Das Problem der pneumatischen Anerkennung habe ich in einem Referat vor dem internationalen Kanonisten-Kongreß der Universität Rom 1970 interpretiert. Ives Congar als Theologe der nouvelle théologie hat diesem Phänomen wichtige Untersuchungen gewidmet. Man erkennt das Gewicht der Frage angesichts des Beschlusses des Ersten Vatikanischen Konzils, daß gewisse Aussagen des Papstes nicht auf Grund des Konsenses der Kirche, sondern aus sich selbst unfehlbar seien. Was diese umstrittene Entwicklung rechtssoziologisch bedeutet, habe ich in meiner Schrift über die Hierarchie zu interpretieren unternommen.
Tradition und Rezeption bilden wie Jurisdiktion und Ordination kategoriale Begriffe des Kirchenrechts, deren Sachgrund sich in den Strukturen gottesdienstlichen Handelns überall und auch dort wiederfinden, wo auf sie nicht reflektiert wird. Sie sind also nicht vorgängige Normen, die man zunächst kennen muß, um sie einzubringen, sondern sie sind umgekehrt sinngemäße Strukturen, die hier theoretish und insbesondere auch rechtlich interpretiert werden. Das Kirchenrecht beruht nicht auf Normsetzungen, sondern auf der Struktur vorgegebener Lebensvollzüge und personaler Relationen.
Haben Sie sich einmal diese beiden antinomischen Grundschemata der großen Institutionen und des kirchlichen Handelns wie Deklination und Konjugation angeeignet und mit den konkreten Gestaltungen gesättigt, so vermögen Sie sozusagen die Sprache des Kirchenrechts zu verstehen, die kein Geheimkode ist.
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Dritte These:
Die Kirche ist in ihrer sichtbaren Rechtsstruktur
grundsätzlich defizient. Sie hört jedoch auf, Kirche zu sein,
wenn sie nicht mindestens zwei der eingangs genannten
antinomischen Hauptstrukturen ausbildet und gegeneinander
vermittelt.4
Die Defizienz der Kirche beruht nicht primär auf der unbestrittenen Unvollkommenheit und Menschlichkeit ihrer Träger. Ein Abheben darauf führt in die bekannte Sackgasse des Donatismus. Ihre Defizienz beruht darauf, daß innerweltlich der Mensch genötigt ist, auch den Aufbau der Kirche in seinem Handeln an einem Ausgangspunkt festzumachen, anzuschließen. Geht man von der Universalität der Kirche aus, so treten unvermeidlich die Formen der Partikularität in den Schatten. So hat das Recht der lateinischen Kirche, vom Gedanken des Primats und der Einheit getragen, keinen expliziten Gemeindebegriff, den erst Karl Rahner theologisch wiederentdeckt hat. Geht man von der Gemeinde aus, so fallen die Lebensformen der Universalität dahin. Confessio Augustana VII sagt nichts darüber aus, wie der erforderliche Konsens der Kirche über Verkündigung und Sakramentsverwaltung überhaupt herzustellen ist. Es fehlt ersichtlich hier jeder Anschluß an die ökumenische Problematik. So kann heute Bischof Harms über Confessio Augustana VII sagen: „Satis est non satis est.”
Die positive Verwiesenheit der einzelnen Lebensformen aufeinander als produktiver Widerspruch führt in concreto nach dem Gesetze der Komplementarität zu Verdrängungen. Auch hier kann man Korpuskel und Welle nicht gleichzeitig beobachten. In dieser Lage gab es bisher zwei verschiedene Handlungsrichtungen. Man versuchte, alle notwendigen Merkmale der Kirche integral zu verwirklichen, und täuschte sich idealistisch darüber, daß die oben beschriebene Begrenzung immer nur eine defiziente, unvollkommene Verwirklichung zuläßt. Dies ist eine maximalistische Kirchenrechtstheorie, die sich teilweise im Begriff der societas perfecta widerspiegelt, obwohl dieser Begriff noch anderes meint. Sie ist im allgemeinen typisch für die lateinische Tradition des Katholizismus. Die umgekehrte Richtung ist der minimalistische Versuch, durch eine Einschränkung der kirchenrechtliche Formen sich auf das Notwendige, aber auch biblisch ganz Gewisse zurückzuziehen. Damit fallen aber ersichtlich gewisse Dimensionen, wie etwa der Gesamtkirche und der Orden, völlig aus. Obwohl es — wie Ernst Wolf nicht müde wurde zu betonen — kein reformatorisches „Gemeindeprinzip” gibt, setzt man doch als Primärbegriff die Gemeinde und als zweites eine immer halbverdächtige Partikularkirche — obwohl unbestritten ist, daß die isolierten
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Einzelgemeinden für sich allein nicht leben können. Aus dieser Beobachtung ergibt sich der oben formulierte erste Satz und die korrespondierende Behauptung, daß die Kirche nur Kirche bleibt, wenn sie mindestens an einer Stelle durch die Ausbildung korrespondierender, aufeinander nicht reduzierbarer Lebensformen ihr Lebensgesetz des produktiven Widerspruchs aufrechterhält und manifestiert. Eine nur auf einem Element beruhende Kirche wäre häretisch. Es ist ein gutkatholischer Satz, daß auch der unfehlbare Papst ohne die Bischöfe ein Häretiker wäre. Mit Recht haben umgekehrt die reformatorischen Kirchen die Einlinigkeit des Independentismus isolierter Gemeinden immer abgelehnt und übergemeindliche Verfassungsforen durchgebildet. Die vorfindlichen getrennten Kirchen unterscheiden sich also dadurch, welche und wie viele der beschriebenen Grundstrukturen sie in ihren Verfassungsentwürfen miteinander vereinigen und in welcher Tendenz, der maximalistischen und minimalistischen, sie sich bewegen. Die Einsicht in die Untauglichkeit dieser beiden Prinzipien, sowohl in Gestalt der historischen Affirmation wie der historischen Kritik, ist jedoch in den Kirchen nicht vorhanden, weil sie sich durchgängig auf der Ebene der zweiwertigen Logik bewegen. Sie unterscheiden immer nur richtig oder falsch, notwendig oder überflüssig, heilsam oder verderblich, evangelisch oder gesetzlich. Die so sich verstehende und entfaltende Ekklesiologie ist daher außerstande, die in ihrer eigenen geistigen Struktur enthaltene Begrenzung aufzudecken und zu überschreiten. Affirmation und Kritik sind in dem gleichen begrenzten Maße leitstungsfähig und in dem gleichen Maße über ihre eigenen Grenzen unaufgeklärt.
Es zeigt sich hier die Ambivalenz des kritischen Bewußtseins, welches sowohl aufklärt wie im gleichen Zuge Wirklichkeit verdrängt. Ich habe früher das Kirchenrecht einmal als eine Art Oberrechenkammer der Kirche bezeichnet. Es wäre schon viel, wenn es in dieser Funktion angenommen würde. Das heute hier Gesagte reicht aber wesentlich weiter. Es hat etwa mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis zu tun.
Das Kirchenrecht muß sich also in einer Verbindung von Affirmation und Kritik verstehen, welche beide nach innen zu konvergent sind. Kirchenrecht kann daher mindestens heute und in der Zukunft nur ökumenisch, das heißt unter Einbeziehung aller in diesem eigenständigen Rechtskreise erwachsenen Gestaltungen behandelt und verstanden werden. Konfessionelles Kirchenrecht bleibt — wenn es nicht rein positivistisch-pragmatisch beschränkt wird — vor leeren Postulaten, Selbsttäuschungen und Beckmesserei nicht bewahrt.
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Eine vergleichende Übersicht der konfessionell differenten Gestaltungen ergibt im übrigen einen erheblichen Bestand von Sätzen gemeinsamen Kirchenrechts, den ich zu erfassen versucht habe. Dieser Erkenntnis hat bisher die Annahme entgegengestanden, daß die Konfessionen einen durchweg wirksamen a-priorischen Charakter („Ansatz”) darstellten.
Der dreieinige Gott, den die allgemeine Kirche in den altkirchlichen Symbolen bekennt, in der großen Liturgie anbetet, ist ein geschichtlicher Gott, der in sich eine Geschichte für sich hat, die sich durch die Aussagen Jesu Christi und das Gesamtzeugnis beider Testamente für uns erschließt, und ebenso eine davon unterschiedene Geschichte für uns. Der evangelische Glaube ist sowohl der Glaube wie die Erfahrung, daß hier etwas für uns geschieht. Das Evangelium jedoch konvertiert die Geschichte: Der Mensch geht von der Geburt zum Tod. Der christliche Glaube geht vom Tauftod zum Leben: Die Christen sind jene Sekte, die mit Fleiß ihre jungen Kinder in einer umgekehrten Sintflut ersäuft.
Mit alledem aber entsteht erst recht für die historisch-institutionelle Kirche das Geschichtsproblem.5 Entgegen der bisherigen Unbefangenheit gegenüber der Kirchengeschichte wurde das Geschichtsproblem manifest in den Auseinandersetzungen der Reformation über Primat, Konzil usw. Auf diesem Wege haben sich Kirchengeschichte und Kirchenrechtsgeschichte miteinander entwickelt. Den vollen Stoff hat dann erst der Historismus zutage gebracht. Angesichts der vielfältigen Anstöße, welche die sichtbare Kirche bot, aber auch auf Grund eines Mißverständnisses des Kichenbegriffes selbst hat die liberale Geschichtsschreibung die Kirchenrechtsgeschichte als eine Folge von Entlehnungen aus den weltlichen Rechtsordnungen zu verstehen versucht. So wurde die Kirche ein Lebewesen ohne definierbare Eigenschaften mit dem einzigen Vermögen, die Bodenfarbe seiner Umgebung anzunehmen. Hier blieb immer ein unaufgeklärter Tatbestand, der Widerspruch herausforderte.
Faith and Order ist neuerdings in den Thesen von Accra angesichts dieser Frage auf den fatalen Ausweg verfallen, in der Geschichtsphilosophie Arnold Toynbees eine Lösung des Problems zu suchen. Hier wird erklärt, die Geschichte der Kirche bestehe aus den biblischen Grundlagen, den Herausforderungen der Umwelt und den Antworten, welche die Kirche auf diese gebe. So wird im Gegensatz
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zu einer nur rezeptiven Geschichtstheorie der Kirche eine gewisses Maß eigenständiges Gestaltungsvermögen zugestanden, dieses aber als wesentlich reaktives zugleich wieder aufgehoben. Der elementare Denkfehler liegt darin, das in dem Schema von Toynbee beide Partner des Geschichtsprozesses sich gegenseitig herausfordern und auf die Herausforderung antworten. Demnach müßte also auch die geschichtliche Kirche ihrerseits mit ihren eigenen Bildungen die Herausfordernde sein. Tatsächlich hat das Kirchenrecht auf fast allen Rechtsgebieten eine unermeßliche Auswirkung auf des Leben der betroffenen Völker gehabt. Mit diesem Schema ist um so weniger erklärt, als an vielen Stellen die Bildungen des Kirchenrechts denjenigen des weltlichen Rechts antizipatorisch vorausgegangen sind, so daß in einer analogen rechtssoziologischen Entwicklung die Kirche selbst der Motor gewesen ist.
Sodann ist Ihnen allen die These Rudolph Sohms von der Unvereinbarkeit von Kirche und Recht sicherlich bekannt. Wissenschaftlich ist sie überholt. Alfred Adam kann in der RGG schlankweg sagen, daß die Entgegensetzung von Charisma und Recht ein modernes Mißverständnis der frühchristlichen Situation sei. Auch rechtstheoretisch und rechtssoziologisch würde kein heutiger Jurist die These von Sohm vertreten. Trotzdem wirkt sie als ein bleibender Stachel und wird von Theologen vertreten, die in ihr ihr ohnehin vorhandenes Mißtrauen gegen Kirchenrecht nicht so sehr begründet als vielmehr bestätigt sehen. Die heutigen Vertreter der Sohmschen These, in der Linie noch Emil Brunner über das „Mißverständnis der Kirche” geschrieben hat, haben Sohm aber immer nur halb gelesen. Sie gleichen Germanisten, welche über Goethe schreiben, ohne von dem Vorhandensein des zweiten Teiles des „Faust” Kenntnis zu besitzen. Denn Sohm selbst hat gegen Ende seines Lebens seine These in seinem Werk über das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians zwar nicht formell widerrufen, aber, wie Andreas Bühler in Erinnerung gebracht hat, im wesentlichen aufgehoben. Er gesteht zu, daß das sakramentale Recht der alten Kirche als ein offenes System des Geistglaubens dem Evangelium nicht grundlegend widerspreche. Was ist hier passiert? Die Exegese hat sich lang und oft mit den paulinischen Gemeinden beschäftigt, in denen die verschiedenen Geistesgaben miteinander im Widerstreit liegen und vom Apostel mühsam zusammengeführt werden. Ernst Käsemann hat festgestellt, daß diese Gemeinden sich nichtgeschichtlich fortgepflanzt haben. Wie Sohm aber selbst gezeigt hat, hat gerade der Geistglaube der alten Kirche nicht schwärmerisch auflösend, sondern strukturbildend gewirkt.6 Es handelt sich überall um Vorgänge
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pneumatischer Begegnung. In den Grundsätzen der relativen Ordination, der Bindung des Gemeindebischofs an die Gemeinde, der Gemeindewahl der Bischöfe, durch die Rezeptionsbedürftigkeit aller Beschlüsse ist überall ein Miteinander und Gegeneinander der Geistträger die Grundlage dieses Rechtes. Dieses Recht in seiner inneren Folgerichtigkeit hat Sohm nicht nur beschrieben, sondern er hat am Ende seiner Entwicklung dem Vater der lateinischen Kanonistik, dem Magister Gratianus von Bologna attestiert, daß er imstande gewesen ist, die innere Schlüssigkeit dieses Kirchenrechts in seiner Concordantia discordantium canonum unübertrefflich zutage zu bringen. Von diesem Forschungsergebnis hat die Kirchengeschichte bisher keine Kenntnis genommen, zumal sie gewohnt ist, ihre Gegenstände in tendenzieller Vereinzelung zu verstehen. Die Tragweite dieser Erkenntnis aber liegt darin, daß hier ein nicht grundsätzlich anfechtbares Gesamtsystem des Kirchenrechts bezeugt worden ist. Damit ist aber die ewige Frage nach dem Übergang oder Abfall der Urkirche in die Geschichte gegenstandslos geworden. Für sich allein besteht sie fort. Aber in der ihr bisher zugeschriebenen grundsätzlichen Tragweite ist sie überholt: semel historia — semper historia. Man kann also die Abfalltheorien selbst zum Abfall werfen. Sohm selbst aber stellt fest, daß im Moment der Darstellung dieses große System bereits geschichtlich überholt war. Damit aber stellt sich recht eigentlich erst die Frage nach der Geschichtlichkeit des Kirchenrechts. Denn einer kohärenten Konzeption kann und muß dann eine weitere folgen. Dann genügt es nicht mehr, die berühmte Abfallthese nur um tausend Jahre hinauszuschieben. Auch Sohm hat hier dann wieder die These vertreten, wonach sich die Kirche durch die Annahme weltlich-rechtlicher Traditionen verfremdet habe. Ein Romanismus freilich in der Hoch-Zeit des deutschrechtlichen Feudalismus muß schon dem Rechtshistoriker problematisch erscheinen. Noch weniger ist ein Abfall verständlich, wenn die lateinische Kirche nach Jahrhunderten handgreiflichen Niedergangs durch Korruption und Pornokratie sich ein einem neuen Verfassungsrecht, einer Theologie ersten Ranges, in großen Ordensgründungen und einer markanten künstlerischen Stilbildung manifestiert. So wenig dies nun ein goldenes Zeitalter ist, wie Ortega y Gasset gemeint hat, so wenig kann die eigenständige Geschichtsmächtigkeit einer solchen Epoche übersehen werden. Den Schlüssel hierzu bildet nicht die Dogmengeschichte, sondern die Interpretation der institutionellen Formen, in denen sich dieser Prozeß vollzogen hat. Die Kirche geht in dieser zweiten Epoche aus einer pneumatologischen Konzeption
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in eine judikale über. Die erstere Epoche habe ich als die epikletische bezeichnen müssen, weil sie von der ständigen Anrufung des verheißenen Geistes her zu verstehen ist. Die judikale Epoche hat sich schon Mitte des ersten Jahrtausends in deutlichen Differenzierungen angemeldet, kam aber erst nach der Kirchenspaltung und dem Ausgang des alten Kirchenrechts zur institutionellen Wirkung.
Den Einstieg zum Verständnis bietet hier die Vorschrift des IV. Laterankonzils von 1215, wonach jeder Christ zu Ostern zu beichten habe und nur unter dieser Bedingung zu den Sakramenten zugelassen wird. Dies stellt die bisherigen Grundsätze der kirchlichen Bußdisziplin auf den Kopf. Das Mittel für eine solche allgemeine Beichtjurisdiktion bietet aber die Ausbildung eines umfassenden Systems judiziabler Sätze de fide et moribus in der scholastischen Theologie, die also wesentlich einen instrumentalen Charakter besitzt. Die Einheit dieses Systems wird durch einen höchsten Richter gewährleistet, der zugleich in der Tradition des Petrus die apostolische Legitimation verkörpert. Den Anstoß zur Ausbildung eines so umfassenden Systems bildet aber eine grundlegende Legitimitätskrise am Ausgang des ersten Jahrtausends. Strukturell ist es die Frage nach der transzendentalen Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Christen und der Kirche coram deo. Diese transzendentale und zugleich judikale Struktur hat sich dann auch in der Reformation durchgehalten.7 Der Spitzensatz der 95 Thesen von 1517 verweist ebenfalls auf die ständige Buße. Im lutherischen Bereich ist es die immer erneute Verkündigung des Gnadenurteils und dessen Annahme im Glauben. Die gleiche Strukturform zeigt der Calvinismus, dessen Theologie nach Barth von der vorausgeschalteten Prädestinationslehre umgriffen ist. Von hier aus erklären sich die markanten unverwechselbaren strukturellen Eigenarten der beiden reformatorischen Konfessionen: bei den Lutheranern Instrumentalität und Überlastung des Amtes, Schwäche der Synoden, Partikularität der Kirchen; bei den Reformierten die Ablehnung personaler Vollmacht, Presbyterat und Synodalprinzip.
Diese verschiedenen Formen transzendentalen Kirchenrechts unterscheiden sich nach den modi der Zeit. Der Schatten, den der Mensch auf seinem Wege wirft, fällt anders, wenn er die Sonne im Rücken, im Zenit über sich oder vor sich hat.8 Die Aufdeckung dieser Grundstruktur erlaubt es, die innere Folgerichtigkeit der Verfassungsbildungen ebenso zu zeigen wie die Gründe für die Vernachlässigung und Verdrängung anderer, häufig theoretisch sogar bejahter Formen, die Postulate bleiben. Diese gemeinsame Struktur der lateinischen Theologie liegt also der Dogmatik wie dem Kirchenrecht
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voraus, unbeschadet der Frage, wieweit sie ins Bewußtsein gehoben wird.
Aus dem Charakter der geglaubten Heilsnotwendigkeit ergibt sich das hohe Maß innerer Folgerichtigkeit der unterschiedlichen Entwürfe des Kirchenrechts, welche die subjektive Konsequenzfähigkeit der Theologie überschreitet. So gewiß dem Kirchenrecht wie allem Recht die Idealität versagt ist so gewiß gibt es doch in diesen Bildungen so etwas wie Stilreinheit und Stilechtheit. Das Verständnis dafür wäre eher vorhanden, wenn nicht durch die Bindung an die Subjektivität literarischer Zeugnisse das Verständnis für die Gestalthaftigkeit personaler und sozialer Relationen in solchem Maße zurückgebildet worden wäre.
Daß wir diese Formen heute so klar erkennen, beruht darauf, daß diese Voraussetzungen sich ebenso erschöpft haben wie nach Sohm das von Gratian dargestellte System im Augenblick seiner Formulierung. Dies zeigt sich darin, daß das Zweite Vatikanische Konzil keine Anathemata mehr ausgesprochen hat, die Judizialilität dogmatischer Sätze also rückläufig ist. Nicht weniger hat Bultmann — darin liegt seine kirchenrechtliche Bedeutung — der These von der perspicuitas der Schrift ebenso ein Ende bereitet wie Karl Barth tendenziell die Prädestinationslehre durch eine anthropologische Universalisierung ihres kritischen Charakters entkleidet hat. Damit verlieren zugleich die transzendental begründeten Rechtsformen ihre Basis, ohne sich alsbald aufzulösen. Aber wir können heute den großen Bildungen des konfessionellen Christentums volle Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Wir stehen am Ende einer großen Epoche. Auch hier sind tausend Jahre wie ein Tag und wie eine Nachtwache. Wir wenden uns entschlossen einem neuen Tage zu. Die Arbeit, die hier zu leisten ist, kann nicht durch ein Projekt spekulativ vorweggenommen werden, das im gleichen Augenblick schon verbraucht wäre. Es lassen sich heute nicht mehr als Fluchtlinien aufzeigen. Gewiß erscheint mir, daß das Kirchenrecht einer künftigen Epoche in jedem Betracht universale Züge wird tragen müssen. Auch in Zukunft ist das Kirchenrecht die Antwort auf Existenzfragen, die mit äußerster Radikalität als Fragen der Legitimität und Legitimation gestellt und notwendig institutionell beantwortet werden müssen. Das Kamel des Geistes geht nur durch das Nadelöhr der Institution in die Geschichte ein — dazu muß es freilich abgesattelt werden.
Kolakowski hat nach Durchschreitung des Marxismus die Auffassung vertreten, das die mythologisch-symbolischen und die technologisch-kognitiven Formen des Geistes in einem unaufhebbaren
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Widerstreit die Freiheit hervorbringen. Er sagt zugleich: „Die fraglose Dekadenz des religiösen Lebens, die man in den letzten Jahrzehnten fast mechanisch mit den Fortschritten der Urbanisierung und der öffentlichen Bildung verknüpft hat, verdient nicht, zu einem linearen Gesetz der Geschichte erhoben zu werden … Für Zeugen, die sich den alten Werten verbunden fühlten, mochten diese Krisenmomente stets Symptome des endgültigen Welkens dieser Kulturformen darstellen, die nächsten Generationen kannten sie jedoch bereits als unumgängliche Zerfallsphasen, die neuen Formen vorangegangen sind.”9
Ich bin der guten Überzeugung, daß durch einen anstrengenden Prozeß hindurch sich die Wahrheit des Evangeliums in neuer Klarheit und neuer Gestalt herausstellen wird.
Der Glaube ist ein Liebesverhältnis. Theologie erfordert eine Leidenschaft des Herzens und die kühle, entschlossene Klarheit des Offiziers in der Schlacht. Ihre Perversion wäre der heiße Kopf und das kalte Herz. Ich wünsche Ihnen, daß Sie diesen geistlichen Kampf mit Ehren bestehen.
Anmerkungen:
RdG = Hans Dombois, Das Recht der Gnade, Bd. I 19692, Bd.
II 1974.
1 RdG II/2.
2 RdG I/1, Ziff. 3.
3 RdG I/13.
4 RdG II/5.
5 RdG II/1.
6 RdG II/6.
7 RdG II/7.
8 RdG II/8, Ziff. 3.
9 Leszek Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos,
München 1973.
Einschlägige Haupttexte
1 Die altkirchlichen Konzilien (Textausgabe von Lauchert)
von Elvira 306 bis Nicaea II 787 (Nachdruck Frankfurt 1961).
2 Hoi hieroi canones, gesammelt von Alivisatos, Athen 1949
(gültige Normen des heutigen orthodoxen Kirche).
3 Rudolph Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret
Gratian, 1918/1967.
4 Corpus Iuris Canonici, beginnend mit dem Decretum Gratiani
(versch. Ausgaben).
5 Der geltende, in Reform befindliche Codex Iuris Canonici von
1917 (versch. Ausgaben).
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6 Schema Legis Ecclesiae Fundamentalis — Textus emendatus,
Rom 1971.
7 Alternativ-Entwurf zu 6 — von der Heidelberger
Kirchenrechtlichen Arbeitsgemeinschaft vorgelegt, in: Dombois,
Kodex und Konkordie, Stuttgart 1972.
8 Lex Charitatis (die Kirchenrechtslehre Luthers) von Johannes
Heckel, 2. Aufl, Köln/Wien 1973.
9 Dietrich Pirson, Universalität und Partikularität der Kirche
(Ius ecclesiasticum 1), München 1965.
10 Erik Wolf, Die Ordnung der Gemeinde, Frankfurt 1961.
11 Herbert Frost, Strukturprobleme evangelischer
Kirchenverfassung, Göttingen 1972.
12 D. Nauta, Verklaring van de Kerkorde van de Gereformeerde
Kerken in Nederland, Kampen 1971.
13 Ausführungen zu einzelnen Abschnitten des Vortrages in:
Dombois, Das Recht der Gnade, Band I, Zweite Auflage 1969, Band
II, Bielefeld 1974.
14 Zitierte Schriften:
Hierarchie, Freiburg 1971.
Kodex und Konkordie, Stuttgart 1972.
Recht und Institution I, Witten 1956.
Recht und Institution II (Forschungen und Berichte der
Evangelischen Studiengemeinschaft, 29), Stuttgart 1972.