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Werdet müde nicht im Werke,
Der Gott des Rechts ist unsre Stärke,
Und seinem Lichte weicht die Nacht.
Hagenbach, Gedichte.
Wenn die Verbindung der Gläubigen in der Kirche mit gutem inneren Grunde die Art des rechtlichen Wollens verwendet, so erheben sich nun zwei weitere Fragen:
1. Wie verhält sich dieses Kirchenrecht zu den übrigen rechtlichen Möglichkeiten? In welcher Weise fügen sie sich ineinander ein, und was hat bei Unstimmigkeiten unter ihnen zu geschehen?
2. Wie weit hat die rechtliche Ordnung kirchlicher Fragen in grundsätzlicher Berechtigung zu gehen? Gibt es da nicht notwendige Grenzen, und in welchem Verfahren sind sie zu bestimmen und festzulegen?
Die erste dieser Fragen kann man in unseren Zuständen auch die nach dem Verhältnisse von Staat und Kirche nennen. Freilich ist das nur annähernd
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genau und erschöpft nicht das Problem in seiner Gesamtheit. Das folgt aus der Vorstellung von dem Staate und seiner notwendigen Abhängigkeit von dem Gedanken des Rechtes.
Es hat zwar nicht an Äußerungen gefehlt, die das Recht seinem Wesen nach von dem Staate ableiten wollen. Aber diese Meinung ist nicht haltbar.
Immer hat es rechtliches Wollen gegeben, ohne daß dabei auf ein staatliches Gemeinwesen im heutigen Sinne zurückgegangen würde. Das letztere nimmt man nur an, wenn ein bestimmtes Staatsgebiet vorliegt. Als die Kinder Israel vierzig Jahre lang in der Wüste umherzogen, standen sie zwar unter strengen Rechtsregeln, bildeten aber keinen Staat. Das Gleiche gilt von den germanischen Stämmen in der Völkerwanderung. Und so schreibt man auch heute fahrenden Horden, Nomaden, staatlosen Zigeunern nicht die Eigenschaft einer staatlichen Verbindung zu.
Aber vielleicht könnte eingewandt werden, daß dieses willkürlich angenommen sei und auf einen Namensstreit hinauslaufe. Das würde richtig stehen, wenn unsere letzten Angaben mehr bedeuten sollten, als konkret erläuternde Beispiele. Der sachliche Nachdruck liegt auf folgender Erwägung: Wie immer einer einen Begriff von dem Staate sich machen mag, das steht sicher, daß er ihn als eine besonders geartete rechtliche
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Einrichtung beschreiben muß. Läßt er die Vorstellung rechtlicher Verhältnisse unter den Menschen in Gedanken gänzlich weg, so kann er niemals zu einer solchen von einer staatlichen Verbindung gelangen. Das rechtliche Wollen können wir in seinen einheitlich bedingenden Merkmalen genau angeben und in seinem sachlichen Unterschiede von Moral, Sitte, Willkür feststellen, ohne im geringsten auf eine staatliche Verfassung irgendwelcher Art einzugehen, — mit nichten aber ist das Umgekehrte möglich. So ist der Gedanke von dem Rechte die logische Bedingung für den Staatsbegriff.
Allerdings ist seit langem, und in unseren Tagen vor allem, das Überquellen der staatlichen Einrichtungen so stark geworden, daß die tatsächliche Anwendung des rechtlichen Wollens sich fast ausschließlich auf jene beschränkt. Wenn man im Mittelalter noch weittragende autonome Rechtssatzungen in Familie und Stand, in Gemeinde und Gau hatte, unabhängig von den staatlichen Zentralgewalten des Reiches und seiner Territorien, so ist das jetzt außerordentlich zusammengeschrumpft. Was heutzutage als neues Recht von Seiten der Gemeinden und sonstigen kommunalen Verbände geschaffen wird, ist als Polizeiverordnungsrecht nur zur Ergänzung des staatlichen Rechtes bestimmt. Es leitet sich in den Grenzen und
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der Kraft seines Auftretens von dem Staate wieder ab; und es steht von vornherein fest, daß es staatlichen Gesetzen nicht widersprechen darf und sie nicht zu ändern oder aufzuheben vermag.
Als Besonderheit kommt in der Gegenwart neben dem staatlichen Rechte — wenn wir von dem Problem des Völkerrechtes absehen — eigentlich nur das kirchliche Recht bedeutsam in Betracht. Da es ganz und gar den bedingenden Merkmalen des Rechtsbegriffes entspricht, so ist eine Auseinandersetzung zwischen den beiden genannten Anwendungen des rechtlichen Wollens unausweichlich. Wie ist sie zu vollziehen?
Nun folgt aus dem selbstherrlichen Charakter des Rechtes, daß bei allem seinem Wollen die Frage auftreten kann: wer dort das letzte Wort der Entscheidung abzugeben berufen ist. Einmal muß dieses der Fall sein, sonst würde keine selbstherrlich durchgreifende Ordnung im wechselseitigen Verbinden der Zwecke geschehen können. So folgt die erwähnte Frage aus dem Gedanken des Rechtes selbst. Aber sie folgt aus ihm auch nur als Frage, — dagegen kann die Antwort darauf in Mannigfaltigkeit verschieden sein. Und sie tritt dann im modernen Staate, wie Bodinus (1577) zuerst genau gelehrt hat, als Souveränität auf, die je nach der einzelnen dortigen
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Verfassung diesem oder jenem in Einzahl oder als Mehreren zukommt. Es läßt sich also durchaus nicht a priori sagen: wem die Souveränität in einem gegebenen Staatswesen eigene oder zuzustehen habe; sondern dieses ist eine bedingte Erörterung, die nur als Beschreibung geschichtlicher Vorgänge einen Sinn hat.
Es ist das letzte Wort der Entscheidung, über das in den Schicksalen der Menschen und Völker auch zwischen Kirche und Staat stark gerungen wurde. Betrachtet man den Verlauf und Ausgang solchen Ringens, so steht — wie eben schon angedeutet — nicht mehr eine systematische Erwägung von allgemeingültiger Bedeutung in Frage, sondern eine historische Deskription von bedingten Ereignissen. Das erklärt sich folgendermaßen.
Der Begriff des rechtlichen Wollens und die tatsächliche Geltung eines nach dem Rechtsbegriffe bestimmten Strebens sind genau zu unterscheiden. Jenes besagt eine erkenntniskritische Erwägung, das andere ist eine psychologische Frage. Das erste gibt die einheitliche Gedankenrichtung an, in der wir die rechtliche Art des menschlichen Wollens von anderen Arten methodisch trennen, das zweite erörtert es, ob ein also logisch geordnetes Wollen in einer geschichtlich gegebenen Lage einen wirklichen
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Einfluß auf die von ihm Angeredeten ausübe oder nicht. Wenn wir für den Begriff des Rechtes als notwendige Bedingung die selbstherrliche Art des Verbindens festgestellt haben, so hat das sonach nichts mit irgendeinem drückenden Einfluß zu tun: die Vorstellung der Selbstherrlichkeit ist eine einheitliche Denkweise, sie gibt eine logische Ordnungsart wieder und enthält an und für sich noch gar nichts von diesem oder jenem Grad eines psychologisch beobachteten Erfolges in irgendeinem stofflich vorgelegten Tatbestand.
Man kann es auch dahin ausdrücken: Recht und Macht sind weder ein und dasselbe, noch auch stehen sie sich gegnerisch gegenüber; — sondern: sie ergänzen sich. Jeder der beiden Begriffe — der des Rechtes und der der Macht — ist in eigener methodischer Bestimmung für sich getrennt klarzustellen, — der erste, wie wir betonten, erkenntniskritisch, der zweite dagegen in psychologischer Beobachtung. Und dann hat jedes dem andern sich zur Seite zu stellen, um in dem Getriebe des praktischen Lebens ein begründetes Ergebnis zu erhalten. Die Macht muß im Sinne des Rechtes ihren Einfluß ausüben, um sich sachlich zu begründen, — und das Recht nimmt die Macht zu Hilfe, um seine Absicht bestimmter sozialer Ordnung in die Tat umzusetzen.
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Und dann treten auch gar manches Mal verschiedene rechtliche Bestrebungen in Widerstreit und Kampf miteinander. Es ist nicht immer außer Zweifel, welches von mehreren Rechten, die gelten möchten, dieses in Wahrheit tut. Wir haben in unseren Tagen reichlich Gelegenheit, derartiges zu gewahren. Überall, wo ein Umsturz stattfindet und Bürgerkrieg wütet, besteht eine Unsicherheit über dasjenige Reche, das in Geltung sei. Dasselbe Schauspiel hat sich lange Zeit im Streite von Staat und Kirche ereignet. Jetzt ist dieser Kampf entschieden. Das letzte Wort der Entscheidung ist dem Staate, dem weltlichen Rechte, zugefallen. Das kirchliche Recht gilt jetzt nur unter der Obhut und dem Schutze, aber auch nur unter dem letzten Spruche, den das staatliche Recht zu geben hat.
Immer aber ist hierbei festzuhalten, daß in diesen letzten Sätzen nicht etwa eine notwendige und allgemeingültige Einsicht ausgesprochen sein soll. Eine solche ist in dem Sinne der aufgeworfenen Frage nicht möglich. Es handelt sich nicht darum, ob das geschilderte Ergebnis etwa grundsätzlich berechtigt oder verwerflich sei, nicht um eine kritische Betrachtung methodischer Richtlinien, die unbedingt feststehen müßten, — sondern lediglich um die konkrete Schilderung gewisser geschichtlicher Ereignisse und Zustände. Der Zweifel, ob diese prinzipiell
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gerechtfertigt seien, bleibt für jetzt noch unerledigt, und die Möglichkeit einer Änderung jederzeit offen: wir haben es in dieser jetzigen Darlegung eines näher beschriebenen Befundes mit einer quaestio facti, nicht mit dei quaestio iuris vorerst zu tun.
Der soeben geschilderte Zustand gilt durchgängig für die Landeskirchen, die sich in ihrem Aufbau an das Gefüge des Staates oder seiner Abteilungen anlehnen, sowie auch da, wo als Unterlage des kirchlichen Lebens die Gemeindeverfassung genommen wird. Es ist aber auch nicht anders gegenüber der katholischen Kirche, die sich als Einheit über die verschiedensten Staaten erstreckt. Sie hat sich in dem Codex iuris canonici gerade jetzt ein neues Gesetzbuch gegeben, das Pfingsten 1918 in Kraft getreten ist. Es stellt das dar, was wir Juristen ein gemeines Recht nennen, das ist das Recht eines Ganzen, das aus Teilen mit rechtlichen Unterschieden besteht. So sind die Gesetze des Deutschen Reiches gemeines Recht gegenüber dem Landesrecht der einzelnen Bundesstaaten. Allein auch das kanonische Recht kann sich heute nur innerhalb der Staaten durchsetzen, in denen es auftritt. Ob es zur Durchführung gelangt, behält sich jetzt jeder Staat für sich vor.
In der angegebenen schroffen Weise ist damit jedoch nur die allgemeine Lage wiedergegeben. In der
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besonderen Durchführung hat das staatliche Recht gar vielfach Nachgaben machen müssen.
Ich führe zunächst einige Einzelfragen an.
Die Regelung der Ehe stand in ihren persönlichen Voraussetzungen, nach Eingehung und Endigung, in Deutschland bis in die neue Zeit unter kirchlichem Rechte. Während in sonstigen Rechtsfragen regelmäßig das römische Recht, in der Gestalt, die es durch die Kompilation des römischen Kaisers Justinian (527-565) erhalten hatte, seit dem späteren Mittelalter die Grundlage des gemeinen deutschen Rechtes geworden war, so war in den erwähnten Fragen des Eherechtes das kanonische Recht an die Stelle des römischen getreten.
Die Ehe war in der katholischen Kirche zum Sakrament erhoben worden. Für ihre Eingehung war zwar dei Satz des römischen Rechtes stehen geblieben: consensus facit nuptias, die freie Eingehung durch die Verlobten begründete die Ehe. Die Einsegnung durch den Priester war kein wesentliches Erfordernis der Eheschließung. Fehlte sie, so war eine also geschlossene Ehe gültig, wenngleich unwürdig. Das Tridentinum (1545-1563) setzte statt dessen die Erklärung der Verlobten vor dem zuständigen Priester und zwei Zeugen. Nun waren die Beschlüsse des Tridentiner Konzils im ganzen durch päpstliche Bulle genehmigt,
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aber der die Ehe betreffende Abschnitt, nach seinem Anfangsworte Tametsi genannt, sollte nach seiner eigenen Angabe nur da gelten, wo er besonders nach dem Brauche der Kirche publiziert war. Stand dieses nicht fest, so war es bei dem alten Konsensprinzip geblieben, woraus namentlich folgte, daß in jenen Gegenden die Ehen der Protestanten als rechte Ehen nach kanonischer Auffassung angesehen wurden. Für Mischehen auf Tridentiner Gebiet hätte eigentlich die neue Form gelten sollen, doch wurde seit Papst Benedikt XIV. (1741) die Gültigkeit solcher Ehen von jener Form nicht abhängig gemacht.
Dieser kanonische Rechtszustand blieb im wesentlichen unverändert bis auf Pius X. Er erließ am 18. Januar 1906 das Dekret Provida sollersque, wodurch das Tridentinum ohne räumliche Beschränkung Geltung haben sollte, aber nur für Katholiken; und änderte weiterhin durch das Dekret Ne temere vom 2. August 1907, rechtsgültig von Ostern 1908 an, die Form der Eheschließung in Einzelheiten ab, von denen besonders die zu erwähnen ist, daß der Pfarrer zur Entgegennahme der Erklärungen der Brautleute eingeladen und zu dieser Entgegennahme bereit sein müsse. Als Personen, die dieser kanonischen Ehegesetzgebung unterworfen sein sollen, nennt das Dekret Ne temere alle, die in der katholischen Kirche getauft oder aus der Häresie oder
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dem Schisma zu ihr zurückgekehrt sind. Es bezieht sich also nicht auf protestantisch Getaufte, wohl aber gilt die katholische Form der Eheschließung für die Mischehen.
Der neue Codex iuris canonici, den Papst Benedikt XV. Pfingsten 1917 erlassen hat, und der Pfingsten 1918 in Kraft getreten ist, hat diese Sätze des katholischen Eheschließungsrechtes aufgenommen. Die Streitfrage, ob katholisch Getaufte, aber nicht katholisch erzogene Abkömmlinge Nichtkatholischer der katholischen Eheschließungsform unterworfen seien, ist von dem Codex bejahend entschieden.
In der Augsburgischen Konfession ist bekanntlich die Ehe als eine Einrichtung des weltlichen Rechtes festgestellt worden. Allein es wurde das Interesse der Kirche an religiöser Weihe des ehelichen Bandes und Lebens in der evangelischen Christenheit stets stark betont. Es bildete sich ein in seinen Grundzügen übereinstimmendes kirchliches Eherecht in den Kirchenordnungen der vergangenen Jahrhunderte aus. Die Eheschließung geschah durch Kopulation seitens des Geistlichen. Dabei bildete sich vielfach im 17. und 18. Jahrhundert die Möglichkeit der Zwangstrauung für Brautleute aus, gestützt auf die von Luther geäußerte Ansicht, daß (wie im alten Rechte) in der Verlobung eigentlich schon das Eingehen der ehelichen Lebensgemeinschaft liege. Auch wurde in der evangelischen
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Kirche das Ehescheidungsrecht ausgebaut, die Gründe der Scheidung festgelegt und bestimmt, daß die Ehe dem Bande nach geschieden werden könne. Zuständig waren in Scheidungssachen die landesherrlichen Konsistorien, bis dies vom 1. Oktober 1879 ab allgemein den Landgerichten übertragen wurde.
In der Sache hatte inzwischen die staatliche Gesetzgebung bei Gelegenheit der großen Kodifikationen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eingegriffen und vielfach Abweichungen von dem kirchlichen Rechte geschaffen. Das galt besonders von dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, das das Eherecht rein von Staatswegen ordnete, dabei sich aber stark an das damalige evangelische Kirchenrecht anlehnte. Insbesondere entnahm es diesem die Art der Eingehung der Ehe. Die Scheidungsgrunde wurden außerordentlich erweitert, insbesondere für die Möglichkeit des bösen Verlassens oder sogar der einseitigen Abneigung; nur sollte im letzten Falle derjenige Ehegatte, der ohne eigentlichen gesetzmäßigen Grund, gegen den Willen des andern, auf der Scheidung beharrt, für den schuldigen Teil erklärt und ihm eine Abfindung mit dem sechsten Teile seines Vermögens auferlegt werden.
Das französische Gesetzbuch von 1804 kennt ausschließlich bürgerliches Eherecht. Die Ehe wird vor
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dem Zivilstandesbeamten geschlossen, durch staatliche Gerichte auf ihre Gültigkeit geprüft. Die Scheidung war nach dem Code civil durch formelle Erklärung des zuständigen Standesbeamten zulässig; sie erfolgte aus bestimmten gesetzlichen Gründen oder durch beiderseitige Einwilligung. Im Jahre 1816 wurde in Frankreich durch Gesetz die Ehescheidung abgeschafft. Es gab weiter eine Trennung von Tisch und Bett aus den Gründen, die bis dahin als Scheidungsgründe gegolten hatten. Durch Gesetz vom 17. Juli 1884 wurde die Ehescheidung wieder eingeführt, indem die Bestimmungen des Code civil Art. 229 ff. in abgeänderter Gestalt hergestellt wurden.
Endlich kann bemerkt werden, daß das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 in §§ 75 ff. das kanonische Recht im wesentlichen als staatliches Recht übernommen hat, und zwar im Sinne des Tridentinum. Im Jahre 1868 wurden aber zwei österreichische Gesetze erlassen, die teilweise im Gegensatze zu dem kanonischen Rechte stehen. Es wurde am 25. Mai 1868 die sogenannte Notzivilehe eingeführt, nämlich eine Eheschließung vor der staatlichen Behörde, wenn die kirchliche Behörde aus Gründen, die in den Staatsgesetzen nicht enthalten sind, sich weigert, die Eheschließung vorzunehmen. Durch Gesetz vom 31. Dezember 1868 wurde bestimmt, daß gemischte
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Ehen von Angehörigen verschiedener christlicher Konfessionen in Gegenwart von zwei Zeugen vor dem ordentlichen Seelsorger eines der beiden Brautleute abzuschließen sind.
Als nun nach der Gründung des Deutschen Reiches die Aufgabe eines Bürgerlichen Gesetzbuches auftrat, so fand sich dieses gegenüber dem überlieferten kirchlichen und staatlichen Recht über die Ehe in besonders schwieriger Lage. Die Auffassungen in diesen verschiedenen Rechten gingen grundsätzlich zu weit auseinander. Das Reich führte zunächst bekanntermaßen die obligatorische Zivilehe durch Gesetz vom 6. Februar 1875 ein. Die Ehe wurde durch den Standesbeamten geschlossen, die Scheidung sollte nur dem Bande nach geschehen können; über die Scheidungsgründe wurde in jenem Gesetze nichts bestimmt.
Unser Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896, in Kraft seit dem 1. Januar 1900, ist durch kirchliches Recht in unmittelbarer Weise mannigfach bestimmt worden. Es ordnet nach seinem eigenen Ausdruck die Bürgerliche Ehe und behält für diese die obligatorische Zivilehe bei. Seinen Inhalt entnimmt es dem seitherigen Rechte derartig, daß in den einzelnen Fragen bald der Einfluß des kanonischen, bald der des protestantischen Eherechtes hervortritt. Besonders sind hier in den Neuerungen des Bürgerlichen Gesetzbuches
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zwei Punkte zu erwähnen, bei denen es der Lehre des kanonischen Rechtes eine Nachgabe macht.
Einmal erfolgt die Schließung der Ehe durch die Erklärungen der Verlobten, daß sie miteinander die Ehe eingehen wollen. Der Standesbeamte muß zur Entgegennahme der Erklärungen bereit sein und soll danach die Erklärenden als Eheleute verkünden, die nach dem bürgerlichen Gesetze nun ehelich verbunden sind. Diese seine Erklärung ist jedoch für den Eheschluß nicht wesentlich. Unterbleibt sie aus irgendeinem Grunde, durch Versäumnis oder durch Unglücksfall, so ist die Ehe auch ohne sie rechtsgültig zustande gekommen.
Zum anderen bewilligt das Bürgerliche Gesetzbuch die Möglichkeit einer Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft, ohne die Ehe dem Bande nach zu trennen. Allerdings kann dieses nicht gegen den Willen des einen Teiles geschehen; verlangt dieser es, so ist über die Scheidung dem Bande nach zu erkennen. War dagegen nur jene Aufhebung der Gemeinschaft erfolgt, so können die also getrennten Ehegatten sich jederzeit wieder zusammenfinden, ohne irgendwelche Genehmigung einzuholen oder Förmlichkeiten zu beobachten; nur soll für ihre Vermögensverhältnisse, die nach der Aufhebung der Gemeinschaft ebenso, wie nach einer Scheidung auseinander zu setzen waren, nunmehr Gütertrennung gesetzlich eintreten.
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Wenn hierin den Wünschen des kanonischen Rechtes entgegengekommen ist, so liegt eine noch stärkere Beachtung des kirchlichen Lebens überhaupt in dem bekannten § 1588: Die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe werden durch die Vorschriften dieses Abschnittes nicht berührt. Der Satz knüpft an das Zivil-standsgesetz an, das in § 82 sagte: Die kirchlichen Verpflichtungen in Beziehung auf Taufe und Trauung werden durch dieses Gesetz nicht berührt; — eine Bestimmung, die damals auf Wunsch von Kaiser Wilhelm I. eingesetzt wurde.
Der zitierte § 1588 ist erst von der Kommission des Reichstages für das Gesetzbuch vorgeschlagen und danach von den gesetzgebenden Faktoren beschlossen worden. Über Sinn und Bedeutung der Vorschrift und ihre daraus zu ziehenden praktischen Folgen herrscht nicht volle Einstimmigkeit. Es ist geradezu behauptet worden, daß der angezogene Paragraph gar keine juristische Bedeutung habe, sondern nur den Leuten habe an das Herz legen wollen, daß sie sich doch auch kirchlich trauen lassen möchten. Das ist gewiß unrichtig. Wenn unser Gesetzbuch Verpflichtungen feststellt, so meint es das in Wahrheit auch als eine rechtliche Satzung.
Es genügt aber auch nicht, wenn man die so bestimmten kirchlichen Verpflichtungen als staatlich
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bedeutungslos bezeichnet. Denn es sind ja in dem eingeführten Gesetzesworte jene Pflichten gerade von dem staatlichen Gesetzgeber bestätigt worden. So schwebt über dem kirchenrechtlichen Bande das staatliche Recht. Dieses hat die Pflichten jenes kirchlichen Rechtes aufgenommen und muß sie nun auch durchführen. Hier steht es genau so, wie im Sachsenspiegel (III, 63, § 1) allgemein gesagt wurde: Alsus sal daz werItliche gerichte und geistliche über ein tragen, swaz so deme einen widerste, daz man ez mit deme andern twinge, gehorsam zu wesene unde rechtes zu phlegene.
Das ist zweifellos, sobald es sich um rechtliche Ansprüche der Kirche gegenüber ihren Mitgliedern handelt, z.B. um Zahlung von Gebühren für die Trauung. Man könnte sagen, daß dieses schon aus dem allgemeinen Vertragsrecht folge; allein die Anerkennung der Verpflichtung durch § 1588 entrückt diese Frage der Notwendigkeit, auf die vertragsmäßige Auffassung solcher Verpflichtungen zurückzugehen. Hat man nur das letztere, so sind auch schon die Voraussetzungen der Wirksamkeit von Verträgen, vor allem die Geschäftsfähigkeit der Beteiligten nach bürgerlichem Rechte jeweils zu fordern, während jetzt die Frage des Bestehens kirchlicher Verpflichtungen nach objektivem Kirchenrecht, beispielsweise durch Vornahme der Konfirmation von Minderjährigen, zu entscheiden ist.
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Vor allem können aber kirchliche Verpflichtungen in Ansehung der Ehe unter den Eheleuten selbst auftreten und nach § 1588 für das staatliche Recht und seine Durchsetzung Folgen haben. Hier sind Streitigkeiten deshalb erlebt worden, weil der eine Teil sich weigerte, die kirchliche Trauung auf Wunsch des anderen Teiles vorzunehmen.
In diesen Angelegenheiten ist folgender Unterschied zu machen: Die staatliche Gesetzgebung hat ihre Sätze über das Eherecht entweder als zwingende Satzung aufgestellt oder als nachgiebiges Recht.
In dem ersten Falle können natürlicherweise widersprechende Lehren des kirchlichen Rechtes für den Staat keine Bedeutung haben. Das kann auch in anderen Fragen in ähnlicher Art vorkommen. Wenn beispielsweise das kirchliche Recht fordert, daß ein Geistlicher zur Annahme der Wahl für den Reichstag die Zustimmung seiner kirchlichen Oberen nötig habe; so kann dies wegen Reichsverfassung Art. 21 nach dem staatlichen Rechte nicht beachtet werden. Entsprechendes gilt nach unserem Rechte für die Eingehung der Ehe. Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt nur fünf Nichtigkeitsgründe der Ehe. Wenn das kirchliche Recht auch die Nichtigkeit einer in ordnungsmäßiger Form eingegangenen Ehe wegen etwaigen Mangels des ernstlichen Willens zum Eheschluß fordert oder gar, wie das katholische
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Eherecht, die Nichtigkeit der Ehe annimmt, wenn der eine Teil den heimlichen Vorbehalt (Mentalreservation) macht, die Ehe gar nicht zu wollen, — so kommt das für das staatliche Eherecht gar nicht in Betracht.
Nun gibt es aber Sachlagen, bei denen auch im Eherecht die- staatliche Gesetzgebung bestimmt, daß in gewissen kommenden Streitigkeiten die Beteiligten und dann das erkennende Gericht selbst auswählen sollten, welche Entscheidung in der gerade gegebenen Lage das grundsätzlich richtige Ergebnis liefert. Das kommt bei der Ehe mit Rücksicht auf unsere Frage dreimal in Betracht. Zum ersten kann eine Ehe angefochten werden, wenn der eine Ehegatte durch arglistige Täuschung über solche Umstände bestimmt worden ist, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden (§ 1334). Sodann gilt die Regel, daß die Ehegatten einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet sind. Es braucht aber keiner dem Folge zu leisten, wenn das Verlangen des anderen Teiles sich als Mißbrauch seines Rechtes darstellt (§ 1353); insbesondere braucht unter dieser Voraussetzung die Frau dem Mann nicht in dessen Wohnort und Wohnung zu folgen (§ 1354). Endlich ist es ein Scheidungsgrund, wenn der eine Ehegatte durch schwere Verletzung der durch die Ehe begründeten
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Pflichten oder durch ehrloses oder unsittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses verschuldet hat, daß dem anderen Teile die Fortsetzung der. Ehe nicht zugemutet werden kann (§ 1568). In allen diesen Fällen ist es möglich, daß die Vernachlässigung kirchlicher Verpflichtungen den Tatbestand liefert, aus dem die vom Gesetze vorgesehenen Rechtsfolgen für den anderen Teil gezogen werden können. Wenngleich also eine Erzwingung der kirchlichen Trauung nun nicht durch Gerichtsurteil und Zwangsvollstreckung mit den Mitteln der Zivilprozeßordnung (§ 888) in unmittelbarer Weise zulässig erscheint, so sind doch die in § 1588 genannten kirchlichen Verpflichtungen im Sinne eines auch vom Staate anerkannten rechtlichen Wollens aufzunehmen und zu bewähren.
Und nun die zweite Frage, die wir am Eingange dieses letzten Abschnittes unserer Betrachtungen aufgeworfen haben.
In welchem bestimmenden Gedankengange wird nun hier die Vornahme der kirchlichen Trauung als richtiges Recht erkannt? Wie beschaffen ist der Maßstab, an dem das Eingreifen des Rechtes in die religiös begründeten Handlungen des Einzelnen als prinzipiell berechtigt dargelegt werden kann? Ja, welches ist überhaupt die zutreffende Formel, in
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der ein positives Kirchenrecht seine innerlich gerechtfertigte Grenze findet?
Alle solche Fragen sind einheitlich. Sie zielen sämtlich auf eine und dieselbe Aufgabe: über die durchgreifende Methode, in der sich menschliche Satzung mit ihrem bedingten Inhalte allgemeingültig begründen läßt, eine klare Einsicht in kritischem Bedenken zu erhalten.
Unsere seitherigen Darlegungen richteten sich zuerst auf den Begriff des Rechtes. Wir sahen, daß es ein selbstherrlich verbindendes Wollen ist. Daran mußte sich das Bedenken schließen, ob dieses eine rechte Form für die Kirche sei; was wir bejahten, weil die Verwendung des Rechtsgedankens die notwendige Bedingung ist, um die religiös geartete Vereinigung dem bloßen Subjektivismus zu entziehen, sie vielmehr auf eine feste Unterlage zu gutem Ausbau zu stellen. Nunmehr schließt sich der Kreis der Betrachtung mit der Erwägung: Wie weit kann sich ein kirchliches Recht in seinem Inhalte über die Einzelnen stellen?
Es ist somit die Aufgabe nach der inneren Gesetzmäßigkeit des Kirchenrechtes überhaupt, die hier gestellt ist. Darum ist auf die Gesetzmäßigkeit alles Wollens, und danach eben des rechtlichen Wollens. zurückzugehen: auf die Idee der Willensreinheit.
Wir unterscheiden, wie wir früher darlegten, die
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Verbindung von der Gemeinschaft. Jene besagt nur die Vereinigung der Zwecke verschiedener Menschen als Mittel füreinander; sie gibt den Begriff des sozialen Wollens. Die Gemeinschaft dagegen bedeutet eine Verbindung, die nach der Idee des reinen Wollens gerichtet, von dieser in ihrem Inhalte geleitet ist. Sie, die den idealen Endzweck alles menschlichen Zusammenwirkens abgibt, hat nun auch dem Kirchenrechte seine Richtlinie und seine Grenze zu weisen.
Ehe wir dieses in feste Fassung bringen, sei eine allgemeine Erinnerung an das Ganze des hier notwendigen Gedankenganges gestattet.
Es geht nicht an, das Zusammenleben von Menschen des gleichen Glaubens im Sinne von lauter vereinzelten Existenzen endgültig vorzustellen. Insbesondere würde das das gerade Gegenteil des Christentums sein. Die Einzelnen, von denen sich jeder für sich als gläubiger und überzeugter Christ fühlt, haben sich in diesem ihrem Innenleben ebenso gut zu fördern und zu unterstützen, wie in ihrer äußeren Lage. Nicht um ein getrenntes Dasein kann es sich für sie handeln, sondern um das Beobachten eines verbindenden Wollens, das die jeweiligen Ziele ihres religiösen Lebens als Mittel füreinander wechselseitig einsetzt.
Wenn sonach ein religiös geartetes Zusammenleben logischer Weise auch nur unter der Bedingung
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eines verbindenden Wollens verständlich ist und nicht eine Summe von bloßen Subjektivitäten vorliegen kann, so erinnern wir des weiteren an den oben erörterten Unterschied, daß das Recht sich als die bleibende Art des Verbindens an und für sich gibt, die Konvention dagegen nur von Fall zu Fall besteht. Nur jenes bietet sonach eine Gewähr, den Inhalt des dortigen verbindenden Wollens objektiv richtig auszugestalten; — die konventionale Regel läßt den Bestand der fraglichen Verbindung in jedem Augenblick von der subjektiven Willkür der Beteiligten abhängen. Dem Wunsche nach einer allgemeinen Gemeinschaft der im Glauben Verbundenen kann sie, der Strenge nach, gar nicht nachkommen; sie löst das Zusammenleben im Grunde doch wieder in eine Reihe von persönlichen Zufälligkeiten und Entschlüssen auf.
Man würde steh von ernster religiöser Seite auch gar nicht so stark gegen das Einsetzen einer rechtlichen Verbindung der Glaubensgenossen erklärt oder gewehrt haben, wenn zweierlei dabei schärfer bedacht wäre: Einmal, daß der Begriff des Rechtes an und für sich nichts mit äußerer Gewalt zu tun hat; — zweitens, daß die Idee des Rechtes genau die Grenze bezeichnet, bis zu der ein innerlich begründetes Einsetzen einer rechtlichen Verbindung in Dingen des religiösen Lebens und Erlebens behauptet werden kann.
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Für die erste Frage nehmen wir auf die oben gegebenen Ausführungen Bezug. Der Gedanke des Rechtes besagt hier zunächst den Gegensatz zu einem gänzlich vereinzelten Leben, das überall in folgerichtigem Denken nur vorläufig und vorübergehend einmal vorgestellt zu werden vermag, als Erfüllung der Aufgabe christlicher Nächstenliebe aber gar nicht angesprochen werden kann; — sodann bedeutet er die bleibende Art des Verbundenseins, die von bloß subjektiver Laune sich entfernt hält und darum die einzig berechtigte Unterlage des menschlichen Zusammenlebens abgibt. Eine rohe Gewalt kann auch ein willkürliches Gebot nach sich ziehen, einen äußeren Druck auch die bloß konventionale Regel ausüben. Das ist gar nicht dem Wesen des Rechtes zu eigen. Das Vorliegen äußerer Macht gehört — wie oben näher dargelegt — als. eine wechselnde und zufällige psychologische Betrachtung von einzelnen Fällen keineswegs zu den bedingenden Merkmalen des Begriffes von dem rechtlichen Wollen.
Er ist in seiner logisch ordnenden Weise selbstredend in erkenntniskritischer Methode zu bestimmen. Ein jeder Begriff wird erst vollendet klar, wenn man sich sein Gegenteil im einheitlichen Denken deutlich vorstellt. Dann zeigt sich, daß die Gegenüberstellung des rechtlichen Verbindens und des
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konventionalen Regelns hier auf das Schärfste und Genaueste zu betonen ist. Die bleibend bedingenden Merkmale eines jeden der beiden Klassen des Verbindens haben wir hier nun oft genug hervorgehoben. Und nun halte man sich vor, daß die Mahnung des Apostels: Habt die Brüder lieb! — doch nicht in Gedanken mit dem Zusätze versehen werden darf: nämlich von Fall zu Fall — nach subjektivem Belieben — im Sinne einer konventionalen Regel! Gerade umgekehrt ist der selbstverständliche Sinn jenes Satzes in dem Hinweis auf ein bleibendes und fest dauerndes Verbinden der Brüder gerichtet, — und damit ist das hier durchgreifende und wesentlich bestimmende Merkmal der rechtlichen Art des Zusammenlebens erneut getroffen!
Wenn wir nun diese erste Frage, die sich in dem jetzigen Zusammenhange auftut, durch eine Wiederholung der allgemeinen Gedanken über rechtlich verbindendes Wollen beantworten, so ist die zweite Erwägung, die vorhin als Aufgabe gestellt wurde, nunmehr neu aufzunehmen. Sie geht auf die Grenze, bis zu welcher allein ein kirchliches Recht grundsätzlich berechtigt sein kann. Und sie ist dahin zu lösen, daß wir den idealen Gedanken reiner Gemeinschaft auf die kirchliche Verbindung leitend und richtend anwenden.
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Daraus folgt alsbald, daß es unbedingt verfehlt sein würde, einem Menschen den Inhalt seines religiösen Empfindens selbstherrlich beschaffen zu wollen. Denn alle Religion wurzelt in dem eigensten Innern eines jeden. Es ist ein Widerspruch in sich, das Innenleben des Menschen durch eine äußere Einwirkung hervorrufen zu wollen. Die Hingebung an das Richtige ist, als Lenkung seiner Gedanken, überall des Menschen eigenes Tun. Verlegt man die Frage nach dem Gehalt des religiösen Glaubens nach außen, so ist nie zu wissen möglich: ob jemand die von ihm geäußerten Gedanken, über die er sich mit seinem Gott auseinanderzusetzen hat, in Wahrheit auch hege und besitze. Und mutet man ihm zu, solche in gewisser Art zur Schau zu tragen, so macht man sein Wollen zum Gegenstand der Willkür anderer und vergeht sich so gegen den Gemeinschaftsgedanken. Hier gilt mit Fug allein das Wort Luthers: Wir zwingen niemand, auch zur Wahrheit nicht.
Es wird also eine kirchenrechtliche Verbindung soweit grundsätzlich berechtigt sein, als sie dem Zwecke dient, einem jeden in seinem eigenen Streben nach religiöser Vervollkommnung, in seinem Suchen nach dem Frieden der Seele in Gott hilfreich und fördernd zur Seite zu stehen. Denn dieses stellt sich dann als ein gemeinschaftliches Wollen dar, das die Pflicht, die es dem Einzelnen auferlegt, durch
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volle Gegengabe wett macht, — das in seinen jeweiligen Besonderheiten der Idee eines reinen Verbindens folgt und darum objektiv richtig sein kann, soweit nur in Menschenhand steht.
Freilich, wie überall: so bleibt das Vollbringen auch hier eine Einzelfrage. Dem Menschen ist das Los dahin gefallen, daß er die eine höchste und unzerstörliche Aufgabe — seine Vervollkommnung zum richtigen Wollen — allezeit vor sich sieht, ohne sie endgültig und restlos jemals lösen zu können. Jeden Tag neu beginnt die Frage und Sorge, — wir kennen das Wort: Leben heißt ein Kämpfer sein! So werden wir es nicht verwunderlich finden, wenn über die Anwendung des Prinzips, das wir methodisch einsehen, Zweifel und Unstimmigkeiten erlebt worden sind.
Wie schwierig hat sich nicht die Frage nach der religiösen Erziehung von Kindern, vorab aus Mischehen herausgestellt! Sie untersteht dem formellen Zweifel, ob sie als Angelegenheit des öffentlichen oder, wohl mit mehr Recht, des bürgerlichen Rechtes zu ordnen sei; nur bei der Entscheidung für das letztere hat die Gesetzgebung des Reiches gegenüber der Regelung durch die einzelnen Landesrechte eine einwandfreie Zuständigkeit. Das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich hat das offen gelassen. Es zog vor, bei der inhaltlichen Schwierigkeit des Gegenstandes
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die Frage dem Landesrechte zu überweisen (EG. 134; dagegen BGB. 1801). Bekanntlich gilt da für Altpreußen noch die Deklaration vom 21. November 1803 (für Rheinland und Westfalen vom 17. August 1825). Die Kinder sind danach in der Religion des Vaters zu erziehen; übereinstimmender Wille der Eltern kann davon abgehen. Hatte der Vater ein Jahr lang vor seinem Tode das Kind in dem Bekenntnisse des anderen Ehegatten unterrichten lassen, so soll es dabei sein Bewenden haben. Nach dem vierzehnten Lebensjahre steht es lediglich in der Wahl der Kinder, zu welcher Religionspartei sie sich bekennen wollen. — Wer in der Praxis steht, weiß, welche bitteren Folgen diese Regelung manchmal nach sich zieht. Es kann danach sein, daß der früh verstorbene Vater sein Kind kaum oder vielleicht gar nicht gekannt hat; aber nach dem sechsten Lebensjahre wird es der Mutter, die einem anderen Glaubensbekenntnisse als der Verstorbene angehört, für die religiöse Erziehung genommen. Die weiteren Landesrechte in Deutschland sind außerordentlich verschieden, die Ansichten der Schriftsteller, trotz gründlicher und scharfsinniger Bearbeitung nicht minder. Noch ist es nicht gelungen, eines Vorschlages habhaft zu werden, der die Erziehungspflicht des Staates mit der der Eltern und mit den Interessen der Kinder im Sinne des Gemeinschaftsgedankens befriedigend im Einklänge hält.
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Aber wir hätten als Beispiel für ungelöste Schwierigkeiten vor allem auf die Verfassung und Verwaltung der Kirche überhaupt verweisen können. Hier erscheinen die Konkordate, die die Staaten mit der Kurie abgeschlossen haben, hier ist auch die Stelle, da sich in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Kulturkampf abspielte. Die katholische Kirche erkennt den Anspruch des modernen Staates, das letzte Wort im Rechte zu führen, in den Fragen nicht an, die sie vor ihr kirchliches Forum und in den Bereich ihrer Gesetzgebung gezogen hat.
Andererseits gehört es zum Wesen der evangelischen Kirche, daß schlechterdings jeder berechtigtes Mitglied darin ist, der den ernsten Willen hat, sich in die Lehre von Christus zu versenken und ihr sich hinzugeben. Einen Ausschluß eines solchen Mitgliedes kann sie nicht kennen. Das vielbesprochene preußische Kirchengesetz vom 16. März 1910, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen, widerspricht dem nicht. Bei diesem handelt es sich um die Stellung dessen, dem ein geistliches Amt anvertraut ist und um dessen pflichtmäßige Rücksichtnahme auf die Überzeugung anderer bei der Verwaltung dieses Amtes. Die Reibungen, die da nicht ausgeblieben sind, müssen auf Rechnung eines Zwiespaltes zwischen Wünschen einer einzelnen Gemeinde und zwischen der
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überwiegenden Auffassung der Landeskirche gesetzt werden.
Mancher möchte wohl denken, daß er allen derartigen Fragen entrinnen würde, sobald eine Trennung von Kirche und Staat erfolgte. Aber er würde damit sich in einer Täuschung befinden.
Kahl hat in mehreren trefflichen Ausführungen klargestellt, daß es eine absolute Trennung der beiden genannten Vereinigungen weder irgendwo gibt noch jemals geben kann. Es kann sich immer nur um eine bestimmt geartete, rechtliche Beziehung unter ihnen handeln. Der Satz, daß Religion Privatsache sein müsse, .hat nur insoweit einen Sinn, als die staatliche Rechtsordnung nicht den Versuch machen soll, jemanden zu einem bestimmten Religionsbekenntnis zu zwingen und es ihm gegen seinen Willen in Lehre oder Ausübung aufzuerlegen. Aber um eine Stellungnahme izu der Religion, wie sie in geschichtlicher Weise gerade auftritt, kommt auch der Staat nicht herum.
Denn Religion ist die Krönung einer jeden Weltbetrachtung, ist die Erfüllung des Zuges nach unbedingter Einheit des Bewußtseins, ohne welchen Einheitszug kein Streben nach absolut gleichartiger Zusammenfassung der Einzelerlebnisse möglich ist. Dann aber kann auch die soziale Ordnung als solche, in ihrem Bemühen nach objektiver Richtigkeit des
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Zusammenlebens, an der religiösen Frage nicht einfach vorbeigehen, ohne sich selbst zu einem inkonsequenten Stückwerk zu verurteilen.
Sonach hat das Bestreben, die staatliche Fürsorge für kirchliches Leben in ihrer überkommenen Weise aufzulösen, auch einen positiven Sinn. Es entspringt einer gewissen Grundanschauung über die letzte Bestimmung -des Menschen. Und nur das ist hier merkwürdig, daß der Ruf nach einer Änderung des seitherigen Verhältnisses von Staat und Recht ebensowohl von der Seite der Gottesleugnung oder der religiösen Gleichgültigkeit wie von Bekennern des Glaubens an das Reich Gottes auf Erden erhoben worden ist.
Unter allen Umständen bleibt aber die allgemeingültige Kernfrage unserer Betrachtungen als Aufgabe unverändert bestehen.
Es bleibt die Notwendigkeit eines Rechtes der Kirche. Es ist in folgerichtigem Ausdenken erforderlich, daß auch für das religiöse Leben eine bleibende Verbindung unter den Glaubensgenossen besteht, die etwas anderes und mehr ist, als eine Summe subjektiver Begehrungen, in beliebigem Vornehmen von Fall zu Fall.
Und wir behalten stetig alsdann das Bedenken des grundsätzlich berechtigten Umfanges dieses kirchlichen
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Rechtes. Auch wenn die Kirche dann im Sinne eines regelmäßigen Vereins sich aufbaut, und die Beziehungen der Gemeindemitglieder durch Vertrag sich regeln, so bleibt die Frage nach den Grenzen dieser Vertragsfreiheit. Die vertragsmäßige Bindung und die Satzung des Vereins darf, nach der Sprechweise unserer Gesetze, nicht gegen die guten Sitten sein. Ob das aber vorliegt, das ist methodisch zu entscheiden durch die Anwendung der Idee reiner Gemeinschaft auf die Besonderheiten des kirchlichen Lebens, wie solches oben in näherer Fassung von uns dargelegt worden ist.
Dabei ist es möglich, daß man über diese Grenzen begründeter rechtlicher Bindung in verschiedener geschichtlicher Lage ebenso verschiedener Ansicht ist, wie über die Art und den Umfang des Eingreifens seitens des allgemeinen staatlichen Rechtes. Es kann auch sehr wohl das, was zu der einen Zeit und in besonders gegebenen Schicksalen richtig erschien, bei veränderten Verhältnissen nicht mehr grundsätzlich gerechtfertigt sein; und es ist möglich, über eine im wesentlichen unveränderte Sachlage ein neues und richtigeres Urteil zu gewinnen. Hier steht als unumstößlich feste Leuchte nur der Blickpunkt des sozialen Ideales, als der Anwendung der Idee des reinen Wollens auf die Verbindungen der Menschen. Nach ihm ist der wechselnde Stoff historischen Erlebens
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zu richten. Dieser Stoff aber ist notwendig unstet und beschränkt, und es ist niemals möglich, zu unbedingt gültigen Sätzen zu gelangen, die einen stofflich bedingten Inhalt in sich tragen. Nur die formale Methode des Leitens und Richtens, die wir nannten, besitzt absolute Bedeutung für alle Völker und Zeiten.
Es ist dieser Gedanke, der sich im Apostelwort ausspricht: Man soll Gott mehr gehorchen, als den Menschen. Die Nichtachtung der Idee der Willensreinheit ist unter allen Umständen verwerflich. Was ihr jedoch in besonderer Lage entspricht, darüber mögen auch die Ansichten verschieden sein können. Aber wie in allen Aufgaben des Strebens der Menschen, darf man auch hier auf einen Fortschritt hoffen.
Worin vermag nun aber ein Fortschritt zu bestehen? Offenbar nur in der Weise, daß immer sicherer, immer zahlreicher und stärker ein Richten der gegebenen Lage nach der Idee des reinen Wollens geschieht. Ob das sein wird, dafür läßt sich freilich, wie für eine zweifellos eintretende Tatsache, ein exakter Beweis mit Einzelgründen nicht erbringen. Aber wir gewahren doch im ganzen Leben und in der Geschichte der Menschen den durchgreifenden Zug nach dem Richtigen. Der göttliche Funke in der Menschenbrust läßt sich nie ganz auslöschen. So glauben wir an einen
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Fortschritt der Menschheit im Sinne des gemeinschaftlichen Wollens.
Nicht als an eine Naturtatsache. Wenn die grundsätzliche Vervollkommnung vorwärts gehen soll, so bedarf es der Einsicht in ihre Möglichkeit und des festen und immerwährenden Wollens, in allen bedingten Aufgaben unseres Daseins das Rechte zu beschließen und zu tun. So wird es auch angehen, für die Fragen, die uns hier beschäftigt haben — das Problem des kirchlichen Rechtes nach seinem eigenen Ausbau, wie nach seinen Beziehungen zum Gemeinschaftsleben überhaupt — auf eine Minderung erlebter Reibungen und Kämpfe und auf eine Hebung und Förderung des religiösen Lebens den erwartenden Blick in vertrauensvollem Glauben und in getesteter Hingebung zu richten.