III. Versuch einer Auswertung

 

Zu ermitteln war der Bestand an unterschiedlichen kirchlichen Traditionen. Wie schon in der Fragestellung vorausgesetzt, gibt es eine Tradition, die zweilinig etwa in dem Verhältnis von Regel und Ausnahme vorgeht. Die Strenge der biblischen Forderung wird mit beträchtlichen Vorbehalten und Einschränkungen durch gewisse Ausnahmen durchbrochen. Dabei verzichtet die Ostkirche in der Sache auf eine inhaltliche Umschreibung der Gründe, wenn sie auch in der Rechtfertigung ihrer Haltung von Realgründen ausgeht. Diese Haltung schließt also nicht aus, sondern ein, daß über die Realgründe hinaus oder auch quer zu ihnen in einer unbegrifflichen Weise, eben kat’ oikonomian, im Einzelfall geurteilt wird. Freilich kann diese Haltung nur so lange durchgehalten

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werden, als es sich wirklich um konkrete Einzelurteile handelt. Die andere, lateinische Linie macht gewisse definierte Ausnahmen und setzt damit sich selbst mehr oder minder folgerichtige Grenzen, wie insbesondere die gallischen Konzilsbeschlüsse zeigen.

Im zweiten Jahrtausend setzt sich eine einheitliche Behandlung durch, entweder durch die völlige Ausschließung jeder Ausnahme oder durch die Auftragung des Problems auf die Ebene der Frage nach der mehr oder minder objektiven Ehezerstörung.

In der Sache selbst läßt sich das Problem als dasjenige einer doppelten Dialektik definieren.

Eine positive Dialektik besteht zwischen Eingehung und Begründung, also Bestand der Ehe auf der einen und Gehalt auf der anderen Seite. Die Eingehung ist kein Formalakt. Er ist ein wesentliches Moment der Instituierung selbst. Die Übernahme des unlimitierten gemeinsamen Lebensrisikos ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit für das Gelingen der Ehe. Umgekehrt aber kann dieses Instandsetzen den Lebensinhalt selbst nicht gewährleisten.

Eine eherechtliche Judikatur, die also, vollends unter radikaler Formalisierung, nur auf den Bestand blickt, erfaßt nicht das gesamte Problem. Andererseits kann nicht allein von dem erhebbaren Gehalt ausgegangen werden, ohne diesen Tatbestand zu subjektivieren und der Willkür preiszugeben. Ein einseitiges Blicken darauf würde zu Unrecht das Moment der Institutionalität zurückdrängen und aus dem Blick verlieren.

Sodann macht sich aber eine negative Dialektik bemerkbar. Bestand und Gehalt geraten in vollen Widerspruch. Mit diesem Tatbestand befaßt sich ja auch das Neue Testament selbst. Hier wird der eschatologische Charakter des Problems deutlich. Der geforderte Rückgang trotz Zerstörung der Ehe wäre eine Forderung, die nicht nach dem Gesetz, sondern nur nach dem Evangelium erfolgen könnte. Die oben erwähnte begrenzte Freigabe der Wiederverheiratung der sog. Unschuldigen erweist sich so gesehen als eine Lösung nach dem Gesetz. Dies wird nur deswegen nicht erkannt, weil in diesem speziellen Falle das Gesetz einen Freiraum bietet.

In der bezeichneten Lage hat sich, soweit ich sehe, allein die Ostkirche bisher die Vollmacht zugetraut, geistlich zu urteilen, ohne sich an materiale Tatbestände zu binden. So gewiß diese Haltung auch die beschriebenen Bedingtheiten einschließt, scheint sie mir die einzige bisher schlüssige zu sein, die nicht durch die einseitige Aufrollung der Frage von der einen oder anderen Seite das Ganze zugleich aus dem Griff verliert wie auch wiederum

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vergewaltigt. Insoweit haben auch die evangelischen kirchenrechtlichen Bestimmungen für Pfarrer und Kirchenleitungen mit gutem Grund darauf verzichtet, materiale Entscheidungskriterien anzuführen, die entweder aus dem Scheidungsurteil oder aus eigener Ermittlung gewonnen werden müßten.

Erwägenswert scheint mir auch die Tatsache, daß Paulus selbst durch die Proklamation des nach ihm benannten Privilegs mit einer auffälligen Souveränität eine Haltung legitimiert hat, die formallogisch mit dem Herrenwort nicht ohne weiteres übereinzubringen ist. Dies warnt auch vor einer Überinterpretation des Herrenwortes, das unsere Erwägungen zentral veranlaßt hat.

Ich füge ein Beispiel bei, welches die Problematik interessant widerspiegelt.

Ein junger evangelischer aktiver Offizier heiratete während des Krieges, um dienstlichen Nachteilen zu entgehen, ein Mädchen, das er geschwängert hatte. Nach dem Kriege setzt er die Ehe fort und ein zweites Kind wird geboren. Später wird die Ehe geschieden. Um ein katholisches Mädchen heiraten zu können, erwirkt er ein bischöfliches Feststellungsurteil, wonach seine bürgerliche Ehe wegen Zwanges von Anfang an nichtig anzusehen sei. Er heiratet nicht seine katholische Braut, sondern begehrt später die evangelische Trauung für eine Ehe mit einem evangelischen Mädchen und beruft sich hierbei auf das bischöfliche Urteil. Der evangelische Pfarrer versagt die Trauung, weil der Mann bestreitet, verheiratet gewesen zu sein, also die Verantwortung für das Scheitern der ersten, nach dem Kriege durch konkludente Handlung fortgesetzten Ehe auf sich zu nehmen. Dies geschieht meines Erachtens zu Recht. Hier wird zunächst der Formalismus der bloßen Gültigkeitsfrage in der Nichtigkeitserklärung deutlich, weil formaljuristisch die Bestätigung der Ehe durch Fortsetzung außer Betracht gelassen wird. Auch im weitesten Sinne kann andererseits niemals eine Wiederheirat durch die Kirche gebilligt werden, wenn die Verantwortung für die erste Ehe bestritten wird. Dieser grundsätzlichen Haltung entsprechen übrigens auch die liturgischen Formen der Ostkirche bei der Wiedertrauung mit ihrer sehr harten, für uns unvollziehbaren Bußbezeugungen.

Eine nähere Entwicklung dieser Gedanken findet sich in dem theologischen Teil der Scheidungsdenkschrift der EKD, die vom Rat der EKD gebilligt und herausgegeben ist. Sie ist in besonderem Maße theologisch von dem Neutestamentler Professor Heinrich Greeven/Bochum verantwortet worden. Sie bedeutet meines Erachtens eine lehrgeschichtliche Fortentwicklung, die ich

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unter diesem Gesichtspunkt auch für katholische Leser in der Tübinger Theologischen Quartalsschrift interpretiert habe21.

Nicht jedoch ist bisher erörtert der Tatbestand radikaler Emanzipation. Er kann in der Tat nicht radikal genug verstanden und sorgfältig genug beachtet werden. Hier sind alle transsubjektiven Momente im Selbstverständnis des Menschen verdrängt und bestritten. Dies gilt schon für die Eheschließung, die entweder überhaupt nicht mehr vollzogen oder völlig formal verstanden wird. Das auf die Zukunft gerichtete Selbstverständnis kann man als eine säkulare Auslegung des Satzes verstehen „Ich bin, der ich sein werde”. Säkular ist diese Auslegung als Umkehrung der Selbstaussage Gottes, welcher beansprucht, in der Souveränität der Verwandlung auch seine Treue zu bewähren. Eben diese Treue der Kondeszendenz wird in dieser Haltung der reinen Subjektivität verleugnet. Er ist der Anspruch, sein Leben ohne Rücksicht auf eine verpflichtende Vorvergangenheit, also auch ohne Rücksicht auf Ehepartner und Kinder nach freiem Entschluß völlig anders zu orientieren. Es handelt sich nicht nur um ein rein punktuelles Lebensverständnis, wie es eine Zeitlang ein gewisser Aktualismus im Bereich der evangelischen Ethik versucht hat. Vielmehr nimmt der Mensch die Lebensinhalte rein rational und damit gegenständlich, aber eben darum in objektartiger Begrenzung und sucht diese begrenzten Objekte des Handelns und der Beziehungen jeweils auszuschöpfen, nimmt sich darum auch das Recht, zu anderen überzugehen. Diese Haltung ist also auch nicht im Sinne der Kontinuität zielgerichtet, wenn auch ein allgemeiner Zukunftshorizont umfassender Selbstverwirklichung des Einzelnen wie der Menschheit dazugehört. Im bestimmten Sinne bedeutet dies die Aufgabe des bisherigen Identitätsverständnisses in jedem Sinne. Die durchhaltende Identität des einzelnen Menschen, seiner personalen Bindungen, seiner gruppenmäßigen Zugehörigkeit werden rein gegenständlich ausgelegt und ihrer verpflichtenden Bedeutung beraubt. Damit entfällt auch in unserem Bereich weitgehend das Problem der Generationen. Das Langzeitprogramm der Aufziehung von Kindern läßt sich damit nur schwer verbinden. Auch diese Frage unterliegt der reinen Subjektivität der Entscheidung.

Die Forderung einer adäquaten Stellungnahme ist daher ein schwieriges und umfassendes Programm. Der christliche Glaube hat niemals die Fortpflanzung des Volkes Gottes zur religiösen


21 Vgl. K+E, 214ff.

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Pflicht erklärt. Es hat aber gleichzeitig aus der Langmut Gottes und dem Gnadencharakter des Glaubens wiederum die Bereitschaft entnommen, die Fortdauer des menschlichen Geschlechts zu bejahen. Es steht insofern zwischen dem Gesetz und der Negation und Willkür. In dieser Richtung werden sich die Erwägungen bewegen müssen.

Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, daß die Geschichte des kanonischen Eherechts selbst auf dem Wege der Antizipation die heute auftretenden Erscheinungen umfassend vorweggenommen hat. Denn die Einführung und Anerkennung des nudus consensus bedeutete die völlige Herauslösung des Eheschlusses aus allen Bindungen der Familie, des Volkes und jeder Öffentlichkeit22. Die gleichzeitige Ausbildung einer Lehre von den Ehezwecken drängte den Charakter der Ehe als Lebensgemeinschaft zurück und objektivierte und vereinzelte die Lebensvollzüge. Subjektivierung und Objektivierung entsprachen einander. Diese Bildung griff sehr viel weiter als die vergleichsweise harmlose Umbildung der Sippenvertragsehe in die genossenschaftliche Friedelehe zur gleichen Zeit. Ihre emanzipatorische Bedeutung war deutlich, aber sehr gemäßigt. Mit jenen Beschlüssen der Laterankonzile hat die Kirche wie in einem Atommeiler gewaltige explosive Kräfte entbunden und darum diese Kräfte dann wieder auch in einem mächtigen System kirchlicher Sicherungen eingefangen. Denn für sich allein würden sie katastrophale Wirkungen ausgeübt haben. Die Lehre von der Unzerstörbarkeit des Ehebandes (analog zu Ordo und Eucharistie), die Unterwerfung des Ehevollzugs unter die Beichtjurisdiktion und die Fortentwicklung der Lehre vom Ehesakrament aus dem remedium (Petrus Lombardus) zum Gnadenmittel (Thomas) bilden die zusammengehörigen systematischen Mittel, um jene Wirkungen abzudämmen. Die Ausweitung der sakramentalen Interpretation (nicht die ursprünglich patristische Lehre vom Ehesakrament als solche) ist zugleich die notwendige wissenssoziologische Kompensation zu dem vorausgesetzten radikalen Rationalismus des Subjekt-Objekt-Schemas. Sie kehrt heute wieder in der emphatischen Überwertung der gleichzeitig vergegenständlichten Sexualität. Im Vergleich dazu erscheint der lutherische und überhaupt reformatorische Versuch, die Ehelehre in Anlehnung an das mosaische Gesetz und die weltliche Tradition neu zu gestalten, äußerst begrenzt. Jene im scholastischen System eingebundenen Kräfte sind nun durch Fortfall der kirchlichen Bindung


22 Siehe o. Anm. 20.

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autonom und frei geworden und entfalten ihre Wirkungen. Daran wird aber zugleich auch ersichtlich, in welchem Maße dies alles von der Wirksamkeit kirchlicher Bindung abhing und daß es sich hier nicht nur um eine Lehre von der Ehe, sondern zugleich um die Voraussicht möglicher Konsequenzen gehandelt hat. Im Verhältnis dazu sind Programm und Wirkungshorizont der Alten Kirche sehr viel begrenzter gewesen.

Es zeigt sich aber damit, daß die kirchenrechtsgeschichtliche Entwicklung unseres Problems kein bloßes Epiphänomen einer doktrinären Entwicklung, sondern gleichrangig mit dieser zu sehen ist. Die kirchliche Entwicklung selbst ist ein treibendes, ja vorausgreifendes Movens einer wirksamen Verknüpfung geistesgeschichtlicher und sozialgeschichtlicher Prozesse gewesen. Aus der bloßen Vergleichung der Lehrentwicklung kann die Tragweite dieser Tatbestände nicht erhoben werden. Der eschatologische Glaube der Christenheit schließt den nicht säkularisierbaren Begriff der Verantwortlichkeit ein. Binden und Lösen als Alternative müssen unter diesem Gesichtspunkt stehen.

Die ökumenische Begegnung hat begreiflicherweise angesichts der gewaltigen historischen Gewichte keinen einverständlichen Mittelweg als Lösung der Gegensätze hervorbringen können. Die evangelische Seite wird den Rang des Herrenworts nicht verkennen und vergessen dürfen. Die endliche Feststellung, daß die orientalische wie die reformatorische Praxis — deren biblische Intention und Bereitschaft zum Gehorsam offenbar nicht mehr infrage gestellt werden soll — der strikten lateinischen Tradition nicht einfach als fremd gelten könne, stellt den systematischen und historischen Gegensatz der Traditionen auf eine neue Ebene des Verstehens und gegenseitigen Verhaltens.