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5. Die Reform des Codex Iuris Canonici als ökumenisches Problem

 

 

Teil I

Die wesentliche Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils liegt darin, daß es in reichhaltigen, nicht in jeder Hinsicht voll aufeinander abgestimmten Aussagen eine dogmatische Lehre von der Kirche entfaltet hat. Ein großer Teil dieser Aussagen ist unmittelbar oder wenigstens mittelbar von kirchenrechtlicher Relevanz. Andererseits wird der Ertrag der Intentionen und Aussagen des Konzils für das Leben der Kirche wesentlich auch davon abhängen, welche verbindliche Gestalt diese im positiven Kirchenrecht finden. Dieser Sachlage entsprechend hat Papst Paul VI. alsbald nach dem Konzil eine Kommission zur Revision des Corpus Iuris Canonici berufen. Den Vorsitz erhielt (nach dem Tode des ersten Präsidenten, des Kardinals Ciriaci, gest. 1966) der als Konzilsmoderator bekannte, ebenso sachkundige wie konservative Kurienkardinal Felici. Die Gründung der Kommission mit diesem allgemeinen Auftrag konnte die Besorgnis erwecken, daß alsbald unter einem immanenten Zeitdruck eine Massenproduktion neuer Canones einsetzen würde. Es wurden auch nach einiger Zeit erschreckende Zahlen über bereits vorliegende Texte genannt. Man kann jedoch eine große Kodifikation nicht unter Zeitdruck erzwingen. Zu einer raschen Vollendung bedürfte es der gesetzgeberischen Genialität Napoleons und seiner andrängenden Energie. Aber eine solche Persönlichkeit hat man nicht immer zur Verfügung. Nun hat jedoch der Papst selbst dieser Arbeit nach einiger Zeit eine neue Wendung gegeben. In einer Ansprache vom 20. November 1965 stellte er der Kommission die Aufgabe, den Entwurf eines Grundgesetzes der Kirche, einer Lex Ecclesiae Fundamentalis zu erarbeiten, welche ausdrücklich auch als Lex Constitutionalis, als Verfassungsgesetz, bezeichnet wurde. Sie sollte sich auf diejenigen Grundsätze beschränken, die der Gesamtkirche oberhalb ihrer unterschiedlichen Rechtstraditionen gemeinsam sind. Damit erledigte sich auch die Frage, ob es primär ein Nebeneinander eines Codex Latinus, Codex Orientalis oder womöglich auch Africanus, überhaupt einer Mehrzahl partikularer Gesetze geben solle. Sekundäre Partikulargesetze muß es selbstverständlich geben. Der Papst begrenzte damit das Arbeitsfeld in erfreulicher Weise.

Im Mai 1968 veranstaltete die Päpstliche Kommission unter Vorsitz des Kardinals Felici eine internationale kanonistische Arbeitstagung in Rom,

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an der ich als einziger evangelischer Kirchenrechtler teilgenommen habe. Im Laufe einer Woche wurden hier in sechs großen und 33 Nebenreferaten die Hauptthemen der Reform erörtert und, wenn auch nur kurz, diskutiert. Am Schluß der Tagung gab Felici einen programmatischen Arbeitsbericht. Im Sommer desselben Jahres kam in der erwähnten Heidelberger Arbeitsgemeinschaft der Text eines ersten Entwurfs des Grundgesetzes, die sogenannte Prima Quaedam Adumbratio Propositionis, auf den Tisch. Sie enthielt neben einem Prooemium nur vier Canones, ließ aber die Grundsatzfragen und Probleme der zukünftigen Gestaltung schon sehr deutlich erkennen. Zu diesem Entwurf hat sich die Arbeitsgemeinschaft alsbald mit Gegenvorschlägen zu Händen der zuständigen römischen Stellen geäußert. Die darauf folgende Secunda Adumbratio ist uns nicht zur Kenntnis gekommen.

Im Januar 1970 veranstaltete die Universität Rom unter dem Vorsitz ihres Rektors, Prof. d’Avack, einen weiteren internationalen kanonistischen Kongreß mit dem gleichen Thema. Auf dieser Tagung habe ich über „Inhalt und Grenzen des Ökumenismus” als kirchenrechtliches Problem vorgetragen (in diesem Buch: S. 15 ff.). Auf dieser Tagung erhielt ich von dem Sekretär der Päpstlichen Kommission, Prof. Onclin (Löwen), mit der Bitte um gutachtliche Äußerung den nunmehr dritten Entwurf der Lex Ecclesiae Fundamentalis, der, vom Mai 1969 datiert, außer dem Prooemium 94 Canones umfaßte. Zunächst habe ich zu ihm gutachtlich Stellung genommen. Die Heidelberger Kommission hat dann in eingehender Diskussion einen Gegenentwurf beraten, der mit Begründung von Prof. Hollerbach (Freiburg), Dr. Mayer-Scheu (Heidelberg) und mir formuliert und ebenfalls an die römischen Dienststellen sowie eine Anzahl weiterer Kardinäle gegeben worden ist. Nunmehr ist ein revidierter, von 1970 datierender vierter Entwurf an sämtliche Bischöfe der gesamten Kirche zur Stellungnahme herausgegangen. Über diesen vorläufigen Endtext soll auf der Ende September stattfindenden Bischofssynode referiert und gesprochen, wenn auch noch nicht beschlossen werden. Auch zu diesem Entwurf hat sich die Heidelberger Kommission inzwischen unter Abänderung ihres früheren Gutachtens an die Adresse der Dienststellen wie eines breiteren Kreises geäußert. Zunächst muß versucht werden, wenigstens im Umriß einen Eindruck von den vorliegenden Texten zu vermitteln. Der Entwurf gliedert sich nach dem Prooemium in drei Hauptteile: Capita. In dem Prooemium ist das ekklesiologische und kirchenrechtliche Selbstverständnis der Kirche entfaltet. Caput I unter dem Titel „De ecclesia seu de populo Dei” behandelt Natur, Bestimmung und Struktur der Kirche, zugleich aber in zahlreichen Canones die Rechtsstellung des einzelnen Christen. Dieser Hauptteil tritt im großen und ganzen an die Stelle des Buches II des geltenden Kodex, der das

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Personenrecht zusammenfaßt. Der zweite Hauptteil trägt den Titel „De ecclesiae muneribus”; er behandelt Aufgaben, Befugnisse und Funktionen der Kirche und übernimmt einen Großteil des Stoffes von Buch III, insbesondere das gesamte Sakramentenrecht. Kardinal Felici hatte in der erwähnten Ansprache im Jahre 1968 mitgeteilt, daß der Entwurf auf der Lehre von den drei munera Christi aufgebaut sein werde. Diese Ankündigung war entweder mißverständlich oder die methodische Absicht ist nachträglich geändert worden. Denn jenes Schema der drei munera regiert zwar den gesamten zweiten Teil, nicht aber das Ganze. Etwas völlig Neues stellt der Hauptteil III dar, der den nicht ohne weiteres einsichtigen Titel „De ecclesia et hominum consortione” trägt. Hier wird die Rechtsstellung der Kirche nach außen in ihrem Verhältnis zu Staat, Gesellschaft und den Weltorganisationen der Menschheit in Rechten und Pflichten entfaltet.

Ich stehe nicht an, diese Stoffgliederung als einen bedeutsamen Schritt und als eine wesentliche Leistung der Kommission zu beurteilen. Sie hat durch die Unterscheidung zwischen den Stoffgebieten der Teile I und II eine einseitige Funktionalisierung vermieden, zugleich aber den Funktionen und Aufgaben der Kirche ihren gebührenden Platz eingeräumt. Dem Stoff von Teil I und II als dem Proprium der Kirche steht sodann in dem neuen Teil III der Inbegriff der Positionen und Aufgaben der Kirche nach außen gegenüber. Diese Doppelung entspricht der Situation, die für die gesamte ökumenische Bewegung auf den Tagungen von Genf und Uppsala hervorgetreten ist: Das Miteinander und Gegenüber von Heilsverkündigung und Weltverantwortung wird hier in thematischer Klarheit herausgestellt. Sekundär ist demgegenüber die Frage, ob die Einzelaussagen innerhalb dieser Gliederung vollständig und zulänglich sind.

Stil und Ausdruck des Textes zeigen eine gewisse Plerophorie des Ausdrucks, unnötige Verdoppelungen und ähnliche Beschwernisse. Eine nähere Beschäftigung mit dem Text läßt jedoch erkennen, daß die Gedankenführung und -verknüpfung mit großer Sorgfalt und Kunst vorgenommen worden ist. Je mehr man im wiederholten Durchgang versucht, mit Korrekturen in das Gewebe des Textes einzugreifen, desto mehr trifft man auf den dichten Kern der Formulierungen. Es sollte also — unbeschadet des sachlichen Urteils — nicht bestritten werden, daß die Verfasser jedenfalls formal auf der Höhe ihrer Aufgabe gewesen sind und eine Leistung vorgelegt haben, die zwar mit derjenigen Kardinal Gasparris, des Verfassers des geltenden Kodex, nicht ohne weiteres verglichen werden kann, aber als solche anerkannt werden muß.

Das Prooemium führt unter Einfügung von Schriftstellen an der Spitze den Gedanken der Kirche als des Volkes Gottes ein. Abschnitt II beschwört die juristische Grundstruktur der Kirche als Stiftung; Abschnitt III spricht —

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ein Novum für kanonistisches Denken — die Dialektik zwischen Bewahrung und Erneuerung der Kirche an.

Für das Prooemium kann ich auf die in diesen Band aufgenommene gesonderte Untersuchung verweisen (siehe S. 39 ff.). Ich beschränke mich hier darauf, die verfassungsrechtlichen Konsequenzen der Vorentscheidungen im Prooemium zusammenzufassen.

Die Tragweite dieser Vorentscheidungen zeigt sich insbesondere in Caput I, in dem vorzugsweise die Verfassungsproblematik enthalten ist. Hier ist zuallererst in Canon 2 jener entscheidende Überschritt aufgenommen, den das Konzil zur Überwindung der Einheitskirche getan hat. Unter dem Titel „De ecclesiae unitate et multiplicitate” werden jene Aussagen übernommen, daß die eine und einzige Kirche „in ecclesiis particularibus et ex iisdem exsistit”. Die Einsicht also, daß die Einheitskirche der Tod der Kircheneinheit ist, ist festgehalten worden. Von da aus entfaltet sich die Verfassungsproblematik in der Bestimmung des Verhältnisses nicht nur zwischen Papst und Kurie einerseits und den einzelnen Diözesanbischöfen andererseits, sondern auch zwischen diesen und den neuen Organen der Bischofsgemeinschaft, den nationalen Bischofskonferenzen und der Bischofssynode in ihren verschiedenen Gestalten und natürlich dem ökumenischen Konzil. Gleichwohl beschränkt sich die Verfassungsgebung als integrative Verhältnisbestimmung zwischen mehreren Verfassungselementen auf die verschiedenen Gestaltungen des Episkopats; verfassungsrechtlich ist die römisch-katholische Kirchen wesentlich eine bischöfliche Kirche. Der niedere Klerus der Presbyter und Diakone entbehrt der selbständigen Stellung; sie werden ausschließlich als Gehilfen der Bischöfe definiert und äußert kurz abgehandelt. Man hat mit einem gewissen Recht gesagt, daß auf dem Konzil die Presbyter (erst recht die Diakone) zwischen dem Episkopat und den Laien zerdrückt wurden. Aber auch die Parochie, die Pfarrgemeinde selbst, ist — entgegen weittragenden Aussagen von Karl Rahner über die theologische Dignität der gottesdienstlich versammelten Gemeinde — nicht als eines der Primärphänomene der Kirche, sondern nur als portio, Abschnitt, Unterteilung der bischöflichen Diözese bezeichnet, ohne daß sie zur Entfaltung kommt. Die Heidelberger Kommission hat die Tatsache respektiert, daß hier konkrete Aussagen über die Gestaltung dieser neuen Verfassungsorgane generell noch nicht gemacht werden können. Sie hat aber mit Entschiedenheit den Gedanken festgehalten, daß heute und in Zukunft in der Konsequenz der Konzilstheologie einem jeden hierarchischen Amt ein entsprechendes deliberatives Organ entsprechen wird und entsprechen muß.

Wir konnten aus den Konzilstexten sehr eingreifende Aussagen übernehmen, die im Kodex-Entwurf vernachlässigt waren und nach welchen die Mitarbeit der Laien für die Ausrichtung der hierarchischen Ämter konstitutiv

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und unentbehrlich sei. Zugleich nehmen wir Papst Paul mit seinem berühmten „una cum” auf dem Konzil beim Wort.

Aber offenbar ist es doch ein weiter Weg, bis eine so starke Wandlung des Stils in Denken und Verfahren sich durchsetzt, die eine Zweigliedrigkeit der Kirchenverfassung zu bejahen und sinngemäß zu praktizieren erlaubt. Entsprechend den Aussagen des Konzils, insbesondere im Dekret über den Ökumenismus, erwähnt der Entwurf im Bereich des Gliedschaftsrechts die getauften Christen, welche von der römischen Kirche getrennten Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften angehören und billigt ihnen (Can. 7 § 2) eine, wenn auch nicht volle Zuordnung zur Kirche zu -- sie werden als Brüder anerkannt. Jedoch erscheinen die getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften selbst nicht als Gegentand kirchenrechtlicher Aussagen. Insofern unterbietet der Text den Stand der ökumenischen Entwicklung. Im Gegensatz dazu formuliert der Entwurf die Voraussetzungen der vollen Kirchengemeinschaft im integralen Sinne (Can. 9) ohne andere Möglichkeiten und Stufen offenzuhalten. Wir haben in den Gegenentwürfen von vornherein eine rechtliche Bestimmung dieses Verhältnisses gefordert. Für diese Frage kann ich auf die Ausführungen meines römischen Referats verweisen (siehe S. 15 ff.), welche die ausdrückliche Zustimmung zahlreicher namhafter Kanonisten gefunden hat.

An die ersten neuen verfassungsrechtlichen Kanones schließen sich in breiter Entfaltung die Aussagen über die Rechtsstellung des einzelnen Christen an. Die hier den Laien vindizierten Rechte und Pflichten der Mitwirkung werden an jeder Stelle und bis zur Peinlichkeit mit Vorbehalten und Einschränkungen abgedeckt.

Caput II ist völlig auf der Lehre von den drei munera Christi aufgebaut. Diese Lehre ist in besonderem Maße in der reformierten Kirche ausgebildet, aber auch, nach sachkundiger Auskunft aus der Fakultät, mit etwas geringerem Gewicht im lutherischen Bereich vertreten worden. In der Kanonistik ist diese Lehre, insbesondere mit der Konsequenz von der drei Gewalten als eine verfremdende Anleihe aus der reformatorischen Theologie bis in die neueste Zeit bekämpft worden. Nunmehr ist sie ohne Rückgriff auf diese Kontroverse übernommen worden, wodurch stillschweigend die Unterscheidung von potestas iurisdictionis und potestas ordinis völlig ausgeschieden worden ist. Diese sogenannte vetus partitio ist bekanntlich auch in Art. XXVIII des Augsburgischen Bekenntnisses übernommen worden. Entfällt sie hier zugleich mit ihren methodischen Schwierigkeiten, aber auch den an diesen anknüpfenden Mißverständnissen, so behält sie doch für das systematische Verständnis und die Lehre des Kirchenrechts ihre kategoriale Bedeutung, welche ich in Kapitel XIII meines Buches „Das Recht der Gnade” dargelegt habe. Caput II ist im Sakramentenrecht über die notwendigen Aussagen

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hinaus weithin der Versuchung erlegen, in diesen juristischen Text die gerade in starker Umbildung befindliche Sakramentenlehre in zugespitzten und problematischen Formulierungen zu übernehmen. Mit diesen unnötigen Festlegungen würde sich die Kirche selbst ebenso viele Probleme schaffen wie den ökumenischen Beziehungen.

Im übrigen haben wir zu Caput II und III noch viele Bedenken und Wünsche angemeldet, die ökumenisch nicht unbedingt relevant sind.

Versucht man nach alledem, den Gesamtertrag dieses Werkes zu beurteilen, so ergeben sich drei Hauptpunkte:

1. Das vorangestellte Leitschema communitas-societas deckt sicherlich nicht in hinreichendem Maße Text und Intentionen der Konzilsdokumente. Die Herausstellung eines solchen Gedankens als Spitzensatz ist schon in sich bedenklich. Aber umgekehrt stellt sich die Frage, ob die Konzilsaussagen selbst hinreichend deutlich und entschieden sind, um den intendierten Übergang in eine neue Form des Selbstverständnisses und der Aussage wirklich zu erreichen und dies mit der für juristische Aussagen notwendigen Stringenz auch zu umreißen. Das Kirchenrecht erzwingt hier die gebotene Klarheit. Es zeigt sich hier ein Element der Unentschiedenheit und des Übergangs, der die Dringlichkeit und das Gewicht der jetzt anstehenden Entscheidungen nur vermehrt.

2. Der Entwurf erfüllt die Aufgabe einer Verfassungsgebung nur formal, indem er sich auf die Ordnung der bischöflichen Kirche beschränkt und die durch den in Entwicklung befindlichen Rechtsbestand angezeigte Gestaltung einer dualen Kirchenverfassung verweigert. Nachdem durch die theologische Reflexion die Kanonistik sozusagen die positivistische Unschuld verloren hat, die der alte Kodex in der einfachen Wiedergabe traditioneller Begriffe an sich trug, haben die Aussagen über die Hierarchie einen regressiven, zuweilen beinahe ängstlichen Charakter angenommen.

3. Der Entwurf ist an keiner Stelle objektiv gegen die Ökumene gewandt. Aber er zieht gleichwohl nicht die rechtlichen Folgerungen aus der auch ohne formelle Bindungen der römischen Kirche an den ökumenischen Rat bestehenden kirchenrechtlichen Situation.

Die deutlichen Grenzen, die sich an diesen Punkt zeigen, lassen sich auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen. Einem individualistischen und spiritualistischen Verständnis des Heils entsprich zugleich eine institutionelle Isolierung der Hierarchie und eine einseitige Objektivierung der kirchenrechtlichen Struktur. Die Kirche ist nicht als Bund, als foedus, als koinonia verstanden und von daher folgerichtig aufgebaut, sondern fällt in diejenigen Elemente auseinander, die sich in dem Ansatz, verdeckt durch die relative Harmlosigkeit der Begriffe, bei genauer Untersuchung abzeichnet. Wir haben im Alternativentwurf nicht die Ersetzung eines a priori durch ein

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anderes zugemutet, sondern durch die Ausscheidung systematischer Sekundärbegriffe unternommen, die Folgerungen aus den vorangesetzten biblisch-theologischen Aussagen freizuhalten. Dadurch bekommen die kirchentrennenden Merkmale einen etwas anderen Platz und werden im Interesse ökumenischer Gemeinsamkeit in ihrem Stellenwert entlastet.

Das Bild wäre unvollständig, wenn wir nicht jenseits der vordringlichen Verfassungsproblematik einen neuen, besonderen Zug des Entwurfs beachteten. Schon in Canon 3 an der Spitze der Normen über die Reche des einzelnen Christen wird die dignitas humana als allgemeiner Rechtsgrundsatz genannt. In Caput I sind in dieser Richtung bemerkenswert der Grundsatz „nulla poena sine lege” (in Entwurf IV nachgebracht und auch von uns angemahnt), und das Recht der Eltern zur christlichen Erziehung der Kinder. Vor allem ist Caput III der Ort bedeutsamer Aussagen, welche alte und tragische Kapitel der Beziehungen zwischen Kirche, Staat und Welt gleichsam zu Ende bringen. An der Spitze (Canon 84) steht die Aussage, daß Christen und Nichtchristen den gleichen necessitudines der innerweltlichen Existenz unterliegen, innerhalb deren die Kirche ihre Mission zu erfüllen habe. Neben ihre geistlichen Mission beanspruche sie kein weltliches Amt, anerkenne zugleich die Autonomie der societas politica — beide Ordnungen seien in ihrer Art die obersten. Mit der Würde des Menschen wird auch die allgemeine Religionsfreiheit, also auch die der Nichtglaubenden, verbürgt. Unter diesen Voraussetzungen nimmt die Kirche aus eigenem Recht die Freiheit zur Erfüllung ihrer Mission und die Benutzung zeitentsprechender Mittel in Anspruch. Mission der Kirche und Autonomie der Welt werden mit Würde und Verbindlichkeit in Korrelation gesetzt. Caput III und der Gesamttext enden mit der Verweisung darauf, daß die Kirche für Gerechtigkeit, Zusammenarbeit, Eintracht und Frieden zwischen den Völkern zu wirken habe. Unbeschadet der Genealogie der hier verwendeten Begriffe und einer Einzelauslegung ist hier deutlich ein neues Kapitel aufgeschlagen. Hier wie in Canon 2 über Einheit und Vielfalt der Kirche ist der Geist des Konzils am unmittelbarsten spürbar.

Eine neue Qualität der Kirche wird auch darin sichtbar, daß im Gegensatz zu Schema III jetzt das Kardinalskollegium in das allgemeine Kirchenrecht einbezogen, nicht mehr als ein Institut des lateinischen Kirchenrechts mit einer Prärogative für die Gesamtkirche behandelt wird. So wird hier fast unvermerkt ein grundsätzlicher Schritt zur Ablösung aus dem Romanismus getan. Dem entspricht die Aussage in Caput III (Canon 87 § 2), daß die Kirche keiner partikularen Kulturform zugeordnet sei. Dieser Universalismus ist zugleich eine Frucht der wirksamen Mission in der Moderne, in Schwarz-Afrika und anderswo.

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Teil II

Die ökumenische Tragweite dieses Entwurfs erschließt sich jedoch nicht allein durch eine immanente, die historische Identität der römischen Kirche grundsätzlich respektierende Kritik — von aller kontroverstheologischen Beckmesserei vollends abgesehen.

Während diese Arbeiten an der Kodex-Reform sich vollziehen, sind bekanntlich Gespräche im Gange, um die kirchentrennenden dogmatischen Gegensätze der großen reformatorischen Konfessionen, der lutherischen und der reformierten Kirche, auszuräumen und den Weg zu einer, nach dem hier gewählten Ausdruck „qualifizierten” Kirchengemeinschaft zu eröffnen. Es liegen „Thesen zur Kirchengemeinschaft” vom 4. 5. 1970 mit der Unterschrift zahlreicher Theologen vor, die sowohl als bekenntnismäßige Grundlage für die Kirchwerdung der Evangelischen Kirche in Deutschland wie für eine Verständigung der konfessionellen Weltbünde dienen sollen. Es handelt sich also nicht nur um ein theologisches Arbeitspapier, sondern um ein Dokument mit kirchengeschichtlichem und kirchenrechtlichen Anspruch.

Diese Erklärung ist als Vorbereitung auf weitere Arbeiten zu verstehen, die dann die Grundlage verbindlicher Erklärungen der beteiligten Kirchen darstellen sollen.

Ich spreche hier nicht in kirchenpolitischer Absicht. Jene Intentionen der Versöhnung zwischen den reformatorischen Kirchen zu hemmen, kann um so weniger meine Absicht sein, als ich einer Gemeinschaft angehöre, die seit 40 Jahren das praktiziert, was hier erst angestrebt wird — die volle Kirchengemeinschaft zwischen den getrennten Bekenntnissen: gelegentlich zum Ärgernis bayerischer Lutheraner. Ich will auch niemand zum Vorwand dienen, der zu seinen eigenen Worten nicht steht. Aber eben darum nehme ich eine theologisch anspruchsvolle Erklärung beim Wort, die mit der Ausräumung kirchentrennender dogmatischer Aussagen zugleich unvermeidlich in den Bereich von Bekenntnisaussagen übergriffen hat. Über einen solchen Gegenstand kann nicht mit dem Vorbehalt unterschiedlicher Qualitäten gesprochen werden.

Wir finden nämlich in diesem Text die gleichen Probleme vor, die sich auf dem Grunde der Kodex-Arbeit abzeichnen. Die Thesen bezeichnen als gemeinsame Grundlage die Rechtfertigungslehre; „Gott nimmt den Sünder, der sich durch den Heiligen Geist seiner Gnade im Glauben erschließt, um Christi willen bedingungslos in die Gemeinschaft seiner Kinder auf”. (Ziff. 3, 1. Abs.)

Im weiteren Fortgang wird gesagt: „Die theologische Ausgestaltung der Rechtfertigungslehre in der reformatorischen Dogmatik stellt die Aufgabe,

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den Glauben an das Evangelium (insbesondere den kommunikativen und eschatologischen Charakter der Rechtfertigungsbotschaft) neu zur Aussage zu bringen.” Daraus ergibt sich, daß der gegebene Grundbestand der Gemeinsamkeit eben diese Elemente bis jetzt nicht zulänglich enthält. Wie in den Grundaussagen des Prooemiums ist hier die communio sanctorum eine rein spirituale, zugleich eine geforderte, aber nicht fundamental wirksame, lebendige Größe. Das abendländische Christentum der großen Konfessionen hat eine Form angenommen, in welchem dem jeweils Einzelnen, sei es sakramental, sei es durch die Wortverkündigung Glaube vermittelt und Heil zugeeignet wird. Über diese Verengung sucht man hinauszukommen; indessen ist dies Postulat, Forderung und Wunsch. So haben auch namhafte evangelische Theologien, wie Ernst Wolf und Jean-Jacques von Allmen, ausgesprochen, daß die reformatorischen Kirchen das von ihnen proklamierte Priestertum aller Gläubigen (ein sogenanntes allgemeines Priestertum ist nicht reformatorisch) nicht haben verwirklichen können. Die Zuerkennung von Mitwirkungsrechten und körperschaftlichen Stimmrechten hat an dieser Tatsache nichts geändert. Jener Überschritt steht also gerade erst noch aus und erfordert tiefgreifende Verwandlungen des Denkens und Handelns.

Im gleichen Text finden wir unter Ziff. 5 zur Kirchenordnung ausgesagt, daß die lutherische Tradition mehr den freien Gehorsam in der Gestaltung betone, während die reformierte Lehre sich mehr an die Botschaft des Evangeliums, gemeint ist: das positiv verpflichtende Vorbild des Neuen Testaments, verwiesen sehe. In dieser unverbindlichen Gegenüberstellung, für welche der Begriff der Dialektik zu schade ist, ist von den Problemen des Amtes — nach gemein-reformatorischer Lehre einem signum ecclesiae — überhaupt nicht die Rede. Es wird also hier nicht die Aufgabe herausgestellt, das Amt und die Ämter als der Kirche eingestiftet unter den geistigen und sozialen Bedingungen der gegenwärtigen theologischen Erkenntnisse neu zu gestalten und sie zu der Gesamtheit der Kirche in Beziehung zu setzen. Wie im Kodex wird auch hier die Chance versäumt, das jetzt anstehende und nicht schon bündig zu lösende Problem der Dualität in der Kirchenverfassung als gegebene Aufgabe zu umreißen. Wie man dort einseitig auf eine noch stärker betonte hierarchische Verfassung zurückgeht, klammert man hier das Problem als solches zugunsten einer völligen Unbestimmtheit der Gestaltung aus.

An der Spitze der Thesen steht der aus dem Artikel VII des Augsburgischen Bekenntnisses entnommene Satz, daß zur Einheit der Kirche die Übereinstimmung in Lehre und Sakramentsverwaltung genüge („satis est”). Dieser Satz als Spitzensatz verwendet, ist völlig in seinem Stellenwert verändert. Denn Rechtfertigung und Amt, Proprium der Kirche und congregatio gehen

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ihm voraus. Auch hier regiert eine Theologoumenon als Deduktionsbasis das Ganze. Aber dieser theologische Satz ist aus seinem entscheidenden Zusammenhang herausgenommen: der sorgfältigen, ebenso klaren wie kunstvollen Verbindung von Rechtfertigung, Kirche und congregatio. Die feinsinnige Genauigkeit der CA wird gegenüber einer sehr viel unbedenklicheren Kritik zur Schwäche. Auch ist hier die ökumenische und gesamtkirchliche Dimension völlig außer Betracht gelassen. Mit keinem Vorbehalt, keinem Ansatz wird um der verpflichtenden Gemeinschaft der universalen Kirche einem Partikularismus widerstanden, historischen Zufälligkeiten und fleischlichen Neigungen unter dem Vorwande der Freiheit Raum gelassen. Das ethische Postulat brüderlichen Zusammenwirkens ist gegenüber der Eigentendenz dieser Partikularitäten nahezu wirkungslos. Wie im Kodex das von Papst Paul selbst proklamierte „una cum” zwar für die Organe des Episkopats als die Bedingung der Wirksamkeit ihrer Beschlüsse betont, die „summa potestas” aber nicht in gleicher Weise auf diese Zusammenarbeit verwiesen wird, so tritt jenem unlimitierten Universalismus ein ebenso unreflektierter und durch nichts gebundener Partikularismus gegenüber.

Wir sehen also, daß die anstehenden drei großen Themen in Kirche und Kirchenverfassung — communio, Dualität der Verfassung und Einheit — in der gleichen Weise, wenn auch spiegelverkehrt, in diesem Dokument, wie im Kodex vorkommen, wie auch ungelöst verdrängt werden. Die nachkonziliare römische Kirche des Kodex und die neue, nachreformatorische Kirchengemeinschaft der Thesen entsprechen sich auch darin, daß sie beide Gesellschaft, societas, sind. Die hierarchisch verfaßte societas, exklusiv in ihren Strukturen, nimmt sich defensiv in sich selbst zurück. Der Kirchenbegriff der Thesen spiegelt unausdrücklich und unbewußt die Gesellschaft von heute ab, die ohne Subjekt und historische Identität, ohne konstituierende Strukturen und Merkmale im Fluß der Geschichte treibt. Der Begriff der Gesellschaft, wie er heute allgemein verwendet wird, ist nicht ein abgegrenzter Begriff unter Begriffen. Er ist in aller Munde, auch der Theologen; aber niemand fragt nach Grund, Inhalt, Stellenwert und Folgen dieser magischen, tabuierten Größe. So ist Gesellschaft alles in allem und eben darum sehr geeignet, der ideellen, allein im Raum des Spiritualen lebenden und vorstellbaren communitas zur Korrespondenz zu dienen. Beide lassen sich in ihrer Faktizität nicht hinterfragen, die eine vermöge Stiftung und Tradition, die andere vermöge ihrer vorfindlichen Evidenz. Soweit recht Aufklärung nicht, daß sie diesen Tatbestand aufklärt. Beide aber entziehen sich gleichermaßen der Probe und Erprobung durch eine antithetisch-dialektische Instanz; so bleiben wahrer und falscher Anspruch ungeprüft und unentschieden.

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Was der eine für den anderen bedeutet, was die getrennten Kirchen sind, bleibt in Kodex und  Thesen stillschweigend unerörtert. Was eine Kirche ohne spezifische Struktur in der Ökumene darstellt, wird allen ökumenischen Erfahrungen, Studien und Beteuerungen zum Trotz hier nicht einmal erwogen. Der exklusiven Hierarchie steht die alles und nichts ermöglichende Kirchengesellschaft gegenüber. Ich kann hier die Gründe der Entwicklung bis zu diesem Ergebnis nicht darstellen: ich muß mich damit begnügen, die parallele Struktur aufzuzeigen und dadurch kritisch anzuregen.

So polarisiert sich in Kodex und Thesen in einer beinahe schizophrenen Weise die Ökumene, ohne sich dessen bewußt zu sein. Integralismus und Minimalismus, Positivität und Negativität stehen sich hier mit gleicher Folgerichtigkeit gegenüber. Der Kodex in seiner Positivität kann, wie aus der maximalen Bestimmung der Bedingungen der Kirchengemeinschaft hervorgeht, nichts anderes als eben dieses Kirchenverständnis festlegen. Die negative Position vermag alles, nur nicht eine verbindliche Konkretion. Die eine ist exklusiv, die andere aber in Wahrheit nicht inklusiv, weil die von ihr vollzogene Relativierung eine absolute geworden ist. Die eine kommt über die erreichte Geschichte nicht aus, die andere hat die Geschichte als irrelevante abgebrochen.

Die ökumenische Dimension der Kodex-Reform liegt also auch darin, daß es sich um analoge Probleme der verfaßten Kirchen überhaupt handelt, wenn sie auch auf diese Fragen entgegengesetzte Antworten geben. Die Ökumene ist ein gemeinsames Spital. Ob man dort liegt, weil man das rechte oder das linke Bein gebrochen hat, macht offensichtlich keinen Unterschied. Es sieht auch nicht so aus, als ob nach dem Sprichwort hier der Blinde dem Lahmen und umgekehrt zu helfen vermöchte. Noch weniger ist geholfen, wenn die Blinden auch noch lahm und die Lahmen kurzsichtig werden.

Was hier geschieht, ist ein anderes: Die Kirchen sind nicht in statu confessionis; sie stehen weder in Worms noch in Barmen. Sie schweigen auch nicht, weder aus Korruption noch unter Zwang. Sie sprechen vielmehr und suchen mit Fleiß auszudrücken, was sie heute aussprechen sollten und worin sie vorwärtszukommen meinen. Tatsächlich jedoch verschweigen sie, wo sie reden. Sie verdecken optima fide die Befunde, die das Röntgenbild der kirchenrechtlichen Strukturanalyse aufdeckt.

Über die Vorurteile gegen institutionelle formen ist ein progressiver Katholik, wie Johann Baptist Metz, längst hinweg, wenn er im Umkehrung der bekannten Frage von Helmut Schelsky seinerseits fragt, ob Dauerreflexion ohne Institutionalisierung überhaupt möglich sei, daß, um die Existenz zu treffen, heute nicht rein existentiell gesprochen werden könne. In der Tat gilt, was ich in meinem römischen Referat gegen die Institutionsscheu

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gesagt habe (siehe S. 18), mutatis mutandis auch gerade für diejenigen, die heute in der verantwortlichen Gestaltung der Dinge am Zuge sind. Affirmative und kritische Vorurteile stehen dem, was heute geschehen muß, gleichermaßen entgegen und es ist fast lächerlich geworden zu meinen, daß das eine vor dem anderen einen Vorrang und eine bessere Chance besitze. Es ist daher nötig, durch Aufdeckung der Tatbestände, Probleme und Möglichkeiten aus dem Nebel hervorzutreten, den die verschweigende Kirche in sich und um sich verbreitet. Dies kann nicht in einem Griff und Wurf geschehen. Aber je mehr wir die hier erforderliche Anstrengung des Begriffs auf uns nehmen, desto mehr werden wir auch aus dieser zone herauskommen.

So ist die Kodex-Reform in doppeltem Sinne von ökumenische Bedeutung. Sie ist es in sich als der weltgeschichtliche Prozeß des Gestaltwandels der einen Hälfte der Christenheit. Sie macht aber zugleich die Probleme und Aufgaben sichtbar, die heute der gesamten Christenheit gestellt sind.

Dem allen wird die ökumenische Kirche dadurch zu begegnen haben, daß sie die ihr vorgegebene communio verwirklicht, gestaltet und bewährt. Niemals ist die exemplarische Existenz der Kirche dringender gefordert gewesen als heute. Die Antithese von Heilsverkündigung und Weltverantwortung von Vertikale und Horizontale würde sich dann von allein lösen. Defensive und Anpassung aber zeigen sich gleichermaßen als Fluchtbewegung.