|9|

Einleitung: Warum „Kodex und Konkordie”?

 

 

Die gesamte Kirche befindet sich heute in einem Prozeß des Umbruchs. Diese Feststellung ist banal. Niemand könnte den Stand dieses Prozesses und seine zukünftige Richtung zugänglich darstellen: das Bild wäre bruchstückhaft und willkürlich. Dagegen lassen sich in einem begrenzten Bereich sehr viel konkretere Aussagen machen. Es handelt sich um die Fragen, die beim Ökumenischen Rat der Kirchen in das Gebiet von „Glauben und Kirchenverfassung” fallen: die lehrmäßige und kirchenrechtliche Fortentwicklung der einzelnen Kirchen. Hier zeichnen sich bedeutsame Veränderungen ab, die untersucht und ausgelegt werden können. Sie stehen im Gesamtzusammenhang jener Umbildung und stellen bereits in gewissem Umfange ihren Niederschlag dar.

Dieser Prozeß geht in den getrennten Kirchen in sehr verschiedener Art vor sich: trotzdem konvergieren die Dinge mehr oder minder deutlich. Die Church of England hat in den letzten Jahren ohne viel Aufhebens ihr kanonisches Recht revidiert und überprüft ihr Verhältnis zum Staat. Im Jahre 1969 hat in Aarhus (Dänemark) erstmalig ein skandinavischer Kirchenrechtskongreß stattgefunden, auf dem sowohl die Kirchenverfassung wie das Verhältnis dieser Kirchen zu ihren Staaten umfassend erörtert wurde. Ich habe dort versucht, in einem Referat den Ertrag des Kirchenkampfs und der neueren evangelischen Kirchenrechtslehre einzubringen 1. Seit Jahren ist der französische Protestantismus dabei, das Verhältnis seiner sehr ungleichgewichtigen konfessionellen Teile zueinander neu zu ordnen. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist nach der erzwungenen Trennung von ihren Mitgliedskirchen im Bereich der DDR nunmehr, sehr spät, mit einer Reform ihrer gesamten Ordnung beschäftigt.

Den größten Komplex dieser Neuorientierung bedeutete das II. Vatikanische Konzil. Es hat bedeutsame Aussagen zur Lehre von der Kirche gemacht und auf allen Stufen die Neubildung von Organen der Zusammenarbeit eingeleitet. Folgerichtig hat daher Papst Paul VI. 1963 eine Kommission zur Revision des Codex Iuris Canonici (CIC) berufen, um die rechtlichen Folgerungen aus den Konzilsbeschlüssen zu ziehen.

Die reformatorischen Kirchen in Europa, die lutherische und die reformierte Kirche, samt ihren Konfessionsverwandten, der böhmischen Brüderkirche

|10|

und den Waldensern, führen seit Jahren Gespräche, um durch Aufhebung kirchentrennender dogmatischer Verwerfungen untereinander volle Kirchengemeinschaft herzustellen. Diese Verhandlungen sind unter dem Namen des Tagunsortes als „Leuenberger Gespräche” bekannt geworden.

Auf dem ersten Kongreß der Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen in Wien 1971 kündigte ein orthodoxer Sprecher an, daß auf der nächsten panorthodoxen Synode Arbeiten eingeleitet werden sollen, um zu einem für alle orthodoxen Kirchen gemeinsam geltenden Kodex zu kommen.

Die in diesem Bande zusammengefaßten Studien versuchen einen gewissen Querschnitt durch diese Bewegung zu ziehen, deren Zeuge ich durch Teilnahme an den internationalen kanonistischen Kongressen in Rom 1968 und 1970, an den Tagungen in Aarhus und Wien selbst geworden bin. Die partikularen Vorgänge können hier nicht behandelt werden; das Vorhaben der Orthodoxie ist vorerst noch Programm. Dagegen liegen in Gestalt von Entwürfen einer Lex Ecclesiae Fundamentalis auf der katholischen Seite und einer Konkordie der reformatorischen Kirchen verbindliche Texte vor, die eine Untersuchung ermöglichen und erfordern.

Mit den Entwürfen einer Lex Ecclesiae Fundamentalis hat sich eine in Heidelberg im Hause der Evangelischen Studiengemeinschaft tagende Arbeitsgemeinschaft evangelischer und katholischer Kirchenrechtler, die ich angeregt habe, über einen längeren Zeitraum befaßt; sie hat Alternativentwürfe aufgestellt. Der Hergang dieser Arbeiten ist in dem Beitrag „Die Reform des Codex Iuris Canonici als ökumenisches Problem” (S. 49 ff.) im einzelnen dargestellt.

Zu den einzelnen Entwurfsfassungen der Konkordie von den „Thesen zur Kirchengemeinschaft” vom Mai 1970 bis zu dem jetzt zur Beschlußfassung den beteiligten Kirchen vorgelegten Text habe ich mich, ohne den beratenden Gremien anzugehören, theologisch und kirchenrechtlich geäußert.

An dieser Stelle muß es genügen, den thematischen Rahmen dieses Sammelbandes zu zeigen. Jedoch ist ein Wort zur Publizität dieser Vorgänge erforderlich. Die ersten Entwürfe der Päpstlichen Kommission waren begreiflicherweise intern. Aber auch der erste volle Entwurf wurde nur „sub secretoausgegeben. Die Heidelberger Kommission wie ich selbst konnten daher weder diese Texte noch unsere Stellungnahmen veröffentlichen, ohne die Zusammenarbeit in Frage zu stellen. Freilich hat auch die katholische Öffentlichkeit trotz Abdruck einer Übersetzung des Entwurfs in der „Herder-Korrespondenz” 2 zunächst auffällig wenig Interesse für diese folgenschweren Vorgänge gezeigt. Auch der revidierte Text des Entwurfs (Schema emendatum) wurde nicht publiziert, sondern mit dem Vermerk „Reservatum” den Bischöfen zur Stellungnahme übermittelt. Da diese zugleich angehalten wurden, sich des Rats ihrer Diözesanen zu bedienen, konnte

|11|

nunmehr von einer vollen Internität nicht mehr gesprochen werden. Trotzdem fehlt nach wie vor eine offizielle Publikation. Auch hier ist eine deutsche Übersetzung in der „Herder-Korrespondenz” erschienen 3. Allein die Universität von Navarra in Pamplona hat zugleich mit kritischen Studien den lateinischen Text abgedruckt 4.

Nunmehr hat sich im Gegensatz zu früher ein lebhaftes Interesse gezeigt; eine Fülle von durchgängig kritischen Stellungnahmen ist veröffentlicht worden. Jedoch ist es aus verlegerischen Gründen nicht möglich gewesen, die Öffentlichkeit mit den vollen Texten zu befassen. Der Abdruck ist immer noch nicht freigegeben. Ein Zusammendruck des Originaltextes mit Übersetzung, sodann der Alternativ-Entwürfe mit Begründung und ebenfalls Übersetzung der sämtliche lateinischen Originale wäre doch nur für einen relativ kleinen Kreis von Fachleuten verwendbar. Die Heidelberger Arbeitsgemeinschaft beabsichtigte, in dem Sonderheft einer Zeitschrift sechs erläuternde Aufsätze zusammenzufassen. Selbst eine solche Veröffentlichung erschien noch zu speziell, um hinreichendes Interesse zu finden. So sind nur zwei einzelne Aufsätze von Prof. Steinmüller/Regensburg zum Problem der Ökumenismus und Prof. Hollerbach/Freiburg über das Caput III des Entwurfs, welches sich mit der Stellung der Kirche in der Welt befaßt, in den „Stimmen der Zeit” veröffentlicht worden 5 u. 6. Meine für jenes Sammelheft geschriebene Analyse des Prooemiums konnte ich in diesen Band aufnehmen.

Auf der römischen Bischofssynode ist die Stellungnahme der Bischöfe in Zahlen bekanntgegeben worden. Nur eine sehr geringe Zahl hat den Entwurf bejaht, eine starke Minderheit hat ihn ganz verworfen, die Mehrheit Abänderungen gefordert. Selbst die Verfasser haben ihn meist nur noch mit Vorbehalt verteidigt. Man darf annehmen, daß die Kommission nunmehr versuchen wird, die Fülle der Stellungnahmen in einem weiteren Entwurf zu verarbeiten.

Zu der immer umstrittenen Frage der Opportunität einer solchen Verfassungsgesetzgebung hat die Heidelberger Arbeitsgemeinschaft nicht ausdrücklich Stellung genommen. Sie ging von der — bisher nicht zurückgenommenen — Absicht des Papstes aus, ein solches Gesetz zu erzielen und versuchte, dies zum Besten zu wenden. Einmütig war die Meinung, daß mit Annahme des vorliegenden Entwurfs die Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils preisgegeben worden wären. Aber hinter diesen anstrengenden Bemühungen stand zugleich die Auffassung, daß Geist und Gehalt des Konzils in die verbindliche Ordnung der Kirche übersetzt werden müßten, um auf die Länge wirksam zu bleiben. Ich möchte hier noch schärfer sagen: wird diese Aufgabe nicht gelöst, müßte Verwirrung und Rechtlosigkeit — gerade des Geistes — die Folge sein. Bei aller scharfen Kritik 7 haben aber nur solche

|12|

Vorschläge Sinn, die in das Leben der Kirche übergehen können und deren Folgen verantwortlich bedacht sind. Die polarisierenden Rückwirkungen unzulänglicher Vorschläge sind bekannt. Zwischen den Scylla der Verhärtung und der Charybdis der Auflösung durchzusteuern, ist eine Sache entschlossener Vernunft, nicht der Irenismus.

Die hauptsächlichen hier dargebotenen Abhandlungen gehen von den erwähnten Texten aus. Andererseits werden Kodex und Konkordie durch eine Reihe von Arbeiten zur Ökumenizität des Kirchenrechts in einen größeren systematischen Rahmen gestellt.

Meinen schon zurückliegenden programmatischen Aufsatz zur Kodex-Reform in dem Hampeschen Konzilsbuch 8 habe ich hier nicht noch einmal aufgenommen. Die historisch-soziologische und verfassungstheoretische Frage der Verbindung von hierarchischen und synodal-deliberativen Organen habe ich in meiner Schrift „Hierarchie” 9 abgehandelt. Auf beides kann ich hier verweisen.

Die Alternativvorschläge der Heidelberger Arbeitsgemeinschaft haben, soweit erkennbar, nur an vereinzelten Punkten in dem revidierten Entwurf Berücksichtigung gefunden. Da dieser ohnehin nur wenige Veränderungen brachte, konnte die Arbeitsgemeinschaft darauf verzichten, ihren ebenfalls revidierten Alternativentwurf so ausführlich und im einzelnen zu begründen, wie dies bei dem vorangehenden Entwurf geschehen mußte. Vielmehr konnte die Kritik jetzt zusammengefaßt und auf ihre Schwerpunkte konzentriert werden. Dieser — nunmehr deutsche — Text ist dann den Bischöfen und Laiendiözesanräten des deutschen Sprachgebiets übermittelt worden. Die Begründung des Alternativentwurfs wird hier nunmehr erstmalig veröffentlicht.

Dieser objektiv enttäuschende Gang der Dinge hat zugleich eine unerwartet positive Wirkung gehabt. Die Konzentration der Kritik auf die Hauptpunkte führte dazu, die grundsätzlichen Anliegen schärfer hervortreten zu lassen: ihre Tragweite wurde um viele Grade deutlicher.

Als zweite ebenso unerwartete Folge ergab sich die Einsicht, daß zwischen dem Entwurf einer Lex Ecclesiae Fundamentalis und der Konkordie der reformatorischen Kirchen auffällige Parallelen bestehen. Drei Hauptprobleme hatten sich in der Kodex-Reform herausgeschält: die Grundlagen im Gesamtverständnis von Glauben und Kirche heute („Theologie des Volkes Gottes”), der Fragenbereich der Kirchenverfassung und schließlich der ökumenische Horizont. Es wurde deutlich, daß die getrennten Kirchen, mit denselben Zentralfragen befaßt, analog, wenn auch in umgekehrter Richtung, gleichsam spiegelverkehrt Stellung bezogen hatten. Daß die katholische Seite sich vorzugsweise rechtlich-institutionell, die reformatorische Seite theologisch-dogmatisch äußerte, stand dem nicht entgegen. Die Kritik, auf

|13|

welche diese Analyse hinführte, richtete sich infolgedessen nicht mehr allein gegen die Besonderheiten beider Teile, sondern gerade auf diese auffällige und von den Beteiligten selbst unerkannte Gemeinsamkeit.

Daher sind in diesem Bande, unter Zurückstellung von Materialien zu den eingangs erwähnten partikularen Vorgängen, die optisch getrennten Komplexe, der katholische und der evangelische, einander gegenübergestellt. So erklärt sich die für den Leser auffällige Verbindung: Kodex und Konkordie. Der katholische Leser wird gewiß zunächst in diesem Bande Information über Vorgänge suchen, die seine eigene Kirche betreffen, zumal bisher immer nur Einzelaufsätze zugänglich gewesen sind. Der evangelische Leser wird sich ebenso in seinem eigenen Bereich zu informieren suchen, zumal auch diese Arbeiten bisher allzusehr als Sache der Theologen und der zuständigen Organe der verfaßten Kirche behandelt worden sind. Freilich wäre wünschenswert, daß beide Teile von den Bewegungen und Fragen des anderen, deren Verständnis hier vermittelt wird, gründlicher als bisher Kenntnis nehmen.

Darüber hinaus aber versucht diese Schrift durch die oben formulierte Hypothese eine weitergreifende kritische Besinnung einzuleiten. Denn was sich hier abzeichnet, sind nicht allein und zuerst, wie wir gewohnt sind, unterschiedliche Positionen, die sich dann im ökumenischen Zusammenleben gegeneinander abgrenzen und aneinander stoßen. Er ist vielmehr ein gemeinsames, wenn auch unbewußtes Versagen gegenüber Anforderungen, die der geschichtliche Augenblick deutlich an beide Teile stellt. Sicherlich ist dieses Versagen nicht zufällig, sondern tiefbegründet, obwohl die Beteiligten meinen, das ihnen Aufgetragene, so gut sie es eben vermögen, zu vertreten.

Wenn für manchen Leser die vergleichende Betrachtung, sozusagen in der zweiten Potenz, ferner liegen mag als die sicherlich erwünschte Information, so ist es doch notwendig, diese weitere Perspektive deutlich in den Blick zu rücken und die Verantwortlichen vor diese Tatsache zu stellen. Im ganzen gesehen haben diese Bewegungen in der getrennten Christenheit bisher nicht die Kräfte aufgerufen und freigesetzt, die dem geschichtlichen Rang der heute anstehenden Aufgaben entsprechen. Auch auf diesen Sachverhalt muß mit Besorgnis hingewiesen werden.

Diese Einleitung wäre unvollständig ohne den Hinweis auf zwei ermutigende Erfahrungen: In den Arbeiten zum Kodex zeigte sich eine große und durchhaltende Einmütigkeit im Geiste, die in die Zukunft weist. Je mehr aber jene Hauptfragen hervortraten, desto mehr wuchs — jedenfalls für mich selbst — mit der thematischen Klarheit die Zuversicht, daß diese Arbeit auch in der komplexen Lage der Gegenwart nicht vergeblich, daß fruchtbare Lösungen möglich sein werden.

|14|

Die einzelnen Beiträge enthalten vermöge der thematischen Nähe unvermeidlich gewisse gedankliche Überschneidungen. Ich habe versucht, durch Kürzungen und Beschränkung auf Auszüge dem möglichst zu entgehen. Die Zusammenfassung des gesamten Stoffs in zwei oder drei große Abhandlungen würde jedoch die Unmittelbarkeit der Anlässe verloren haben. Was jetzt Gegenstand ist, wäre Beispiel oder Exkurs geworden. Trotzdem muß der Leser um Verständnis für die verbleibende Schwierigkeit gebeten werden. Die Entstehung der einzelnen Arbeiten nach Anlaß und Zeitfolge ist aus dem Inhaltsverzeichnis zu ersehen, dessen Hinweise daher auch eine gewisse Einführung in den Fortgang der Arbeiten selbst darstellen. Sämtliche Quellen- und Literaturangaben sind am Schluß des Bandes zusammengefaßt.

Der Text der „Thesen zur Kirchengemeinschaft” und der Leuenberger Konkordie ist als Anhang abgedruckt. Leider habe ich vom Ökumenischen Rat der Kirchen nicht die Erlaubnis erhalten, den instruktiven Text des Konkordienentwurfs (Vorkonkordie) aufzunehmen, da dieser als interner Entwurf betrachtet wird.

 

Heidelberg, im Advent 1971

Hans Dombois