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Glaube und Geschichte

 

Es liegt im Wesen des Menschen als einer selbständigen, entscheidungsfähigen Persönlichkeit, daß er für sein Handeln einen Sinn, eine Leitlinie und damit eine Rechtfertigung in einem höheren Zusammenhange sucht. Er braucht diese Richtung seines Handelns ebenso wie körperlich eine räumliche Orientierung für jeden Schritt. Wahrhaft problematisch und lebensentscheidend aber ist immer nur das Verhältnis zum Mitmenschen; so geht es dem Menschen immer um die Formen des menschlichen Zusammenlebens, um Staat, Volk, Wirtschaft, um sein Handeln in der Geschichte. Glaubt er auch nicht an einen persönlichen Gott, dem er hier wie jenseits dieser Welt Rechenschaft von seinem Tun schuldig ist, so will er doch mindestens dem Sinn der Geschichte entsprechend, nicht sinnlos gegen das Gesetz ihrer Entwicklung handeln. Dieses Nachdenken zur Sinngebung und Rechtfertigung ist nicht eine müßige Sonntagsbeschäftigung, nicht die Sternguckerei eines Liebhaberastronomen, nicht die Sache der Fachleute, der Theologen und Philosophen allein, sondern eine bitterernste Lebensnotwendigkeit auch für den einfachsten Menschen. Theologie oder Geschichtsphilosophie betreibt auch unbewußt der einfachste Mann, an der Werkbank, auf dem Kontorschemel, hinter dem Pfluge. Auch wer nur einen Bruchteil der geistigen Zusammenhänge zu überschauen vermag, ist dennoch in seinem Denken und Handeln immer nur ein Teil einer bestimmten Geistesrichtung und Gedankenbewegung. Und das ist das Wichtigste: er handelt auch dieser Sinngebung entsprechend. Alle Erscheinungen des sozialen Lebens herab bis zu den scheinbar sinnlosesten Gewalttaten sind nichts Zufälliges. Sie sind die Folgen bestimmter Sinndeutungen, die des Handeln der Menschen bestimmen, sei es, daß sie ihm höchste Selbstaufopferung, sei es, daß sie ihm brutalste Vernichtung anbefehlen.

Woran aber glaubt der Mensch?, der Mensch schlechthin als Träger der verschiedensten gegensätzlichsten Anschauungen? Er glaubt nicht, daß er so oder so gut handeln müsse oder handele, nicht an die Idee des Guten, die sich in irgendeinem höchsten Wert darstelle,

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sondern er glaubt an Tatsachen. Er glaubt, daß Gott in dieser Welt herrscht, eine namenlosen Vernunft oder die selbstgesetzliche Materie, der Bios, die Lebenskraft — er muß glauben, denn ohne eine vielleicht augenfällige, sehr wahrscheinliche und einleuchtende, aber letztlich nicht beweisbare Grundvoraussetzung, ein Prinzip, ist diese Welt nicht erklärbar, vermag er sich nicht in ihr zu orientieren. Diesen Glauben knüpft er an das ihn am augenfälligsten Beherrschende, und dieses Mächtigste erhebt und anerkennt er als Gesetz. Alle Wertbegriffe, alle ethischen Gebote sind nur Folgen dieses Tatsachenglaubens.

Warum aber glaubt letztlich der Mensch? Er weiß, daß er nicht aus sich selbst existiert, daß er schlechthin abhängig ist von einer höheren Gewalt, daß er einer Herrschaft untersteht. Wer aber diese höhere Gewalt ist, wie sie zu denken ist, ist allein die Frage. Von der richtigen Beantwortung dieser Frage aber hängt ab, ob der Mensch dieser Grundtatsache der Welt, diesem herrschenden Prinzip zuwiderhandelt oder nicht — und dies kann nicht ohne Folgen bleiben. Kein Glaube kann daher von dem Triebe zur Selbsterhaltung und insofern von einer individuellen oder kollektiven Nützlichkeit ganz abgelöst werden. Ja, die äußerste geistige und physische Steigerung und eine tiefe Rückbeziehung zum Sexus verknüpft sich mit ihm. Dennoch sind Nutzen und Pflicht (als Beförderung des allgemeinen Nutzens) nur unzulängliche Standpunkte — die Herrschaft, das Prinzip, die Gottheit fordert den ganzen Menschen. Alle bloße Furcht und Nützlichkeitserwägung macht blind, macht kurzsichtig und hindert den Menschen gerade daran, im Sinne des Prinzips richtig zu handeln. Nur die völlige Ineinssetzung mit dem Prinzip, das Denken und Handeln allein von ihm aus, die völlige selbstlose Hingabe ohne Rücksicht auf die Umstände und Folgen sichert dem Menschen die Existenz. — Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, wer es aber haßt, der wird es gewinnen ewiglich. Nur die vollkommene Hingabe bringt und bedeutet in einem höheren Sinne die Erfüllung der Existenz, macht selig, macht frei. In das Zentrum eines solchen Weltverständnisses kann man deswegen immer nur eintreten, wenn man sich auf den Standort des Prinzips stellt, von dort aus mit umgekehrter Blickrichtung die Welt betrachtet. Deswegen bleibt für jeden Glauben der bloße äußerliche Vollzug seiner Forderungen immer bruchstückhaft, unzulänglich, tot. Der Gedanke „sola fide”, „allein durch den Glauben” ist für das

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Christentum dasselbe wie für den Idealisten der kategorische Imperativ Kants, wie für den Marxisten die Generallinie, das bewußte Stellen auf das Prinzip, das Handeln allein von ihm her.

Wie aber vermag der Mensch derart mit dem Prinzip eins zu werden? Dies ist niemals Sache des Willens, auch nicht der äußersten Anspannung und Selbstentäußerung, sondern immer eine Sache des Seins, des Wesen, der Beschaffenheit des Menschen, eine existenzielle Frage. Entweder ist der Mensch von Gott mit Glauben begnadet, zum Heil erwählt, ein guter Baum, der gute Früchte trägt; dann ist das Böse das Herausfallen aus diesem Gnadenstande durch den Ungehorsam gegen Gottes Gebote, oder er ist ein böser Baum, der böse Früchte trägt. Wird der Mensch aber als von Natur gut und vernünftig gedacht, so ist böse das, was dieser Vernunft widerspricht, was ihn verhindert, seiner guten und vernünftigen Natur entsprechend zu handeln. Ist der Mensch das Produkt der sozialen Umwelt, seiner materiellen Lebensbedingungen, so ist böse der Klassenfeind, der Ausbeuter. Ist der Mensch ein Produkt der Natur, der Rasse, so ist böse und schlecht das Artfremde, das biologisch Minderwertige, Entartete gegenüber dem Gesunden, die mindere Rasse gegenüber der höheren.

Was also der Mensch Gutes vermag, schafft nicht er, sondern das Prinzip wirkt durch ihn auch in seiner scheinbaren Freiheit, und so ist das Problem der Willensfreiheit in der Tat, wie Planck sagt, ein Scheinproblem (Scheinprobleme der Wissenschaft, Göttinger Vortrag 1945). „Gott ist es, der da wirkt alles in allem.” (1. Kor. 12. 6). Auch die Weltvernunft verwirklicht sich durch den Menschen, wie Hegel von Napoleon annahm, die Dialektik der wirtschaftlichen Entwicklung benutzt den Menschen, oder der Mensch handelt kraft seiner rassenmäßigen Art. Nichts von alledem kann ihm für gut zugerechnet werden, nur zum Bösen hat er Freiheit, wie der Stein sich nicht erheben, nur nach unten fallen kann. Er kann sündigen, kann unvernünftig handeln, egoistisch wider das Gesetz der Entwicklung auf seinem Stande beharren, dem Gesetz seiner Art untreu werden, überall erscheint das Böse als die Trennung, der Widerspruch, der Gegensatz zum Prinzip der Welt.

Was aber ist die Folge dieses Bösen, dieser Trennung? Der Mensch kann wohl ungehorsam sein, aber das berührt die Herrschaft des Prinzips nicht. Hinge seine

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Wirksamkeit von des Menschen Tätigkeit, seinem Bewußtsein, seiner Bejahung ab, so wäre es nur ein Reflex seines Wesens, ein geistiger Oberbau, nur subjektiv und wandelbar und somit kein wahres Prinzip. Das Prinzip aber herrscht mit gesetzlicher Kraft auch in der Welt des Menschen. Auch der persönliche Gott ist etwas anderes als ein Polizist, der in einem Jahrmarktstrubel wohlweislich nur in der größten Unordnung eingreift, ein Raubtierwärter, der die Bestien sich im Spiel kratzen, aber nicht im Ernst zerfleischen läßt. Das heißt: die vom Menschen immer wieder gestörte Lebensordnung stellt sich mit der Zielstrebigkeit eines Kompasses wieder her, schlägt immer wieder durch, schlägt auf den Störer zurück und vernichtet ihn. Die Vergänglichkeit aller seiner Werke ist die Folge seines Ungehorsams und zugleich immer wieder Antrieb und Rechtfertigung neuen Lebens — der Tod ist der Sünde Sold, — Gewalt und Ungerechtigkeit rufen die Kräfte selbst hervor, die sie vernichten und so fort. So sagt Goethe (Wilhelm Meisters Wanderjahre II/2):

„Der Gehalt der ethischen Religion findet sich in der Weltgeschichte, so wie die Hülle derselben in den Begebenheiten. An der Wiederkehr der Schicksale ganzer Völker wird sie eigentlich begriffen.”

Wer dem Gesetz der Biologie zuwiderhandelt, verfällt dem biologischen Tode, wer das Gesetz der Wirtschaft mißachtet, verfällt dem wirtschaftlichen Untergang.

Wer sich aber gegen diese Herrschaft auflehnt, zerstört nicht nur sich selbst, sondern er stört gerade auch das Ganze; so hat jeder Glaube soziale Verbindlichkeit und Rückwirkung. Ja, er ist gerade die Form, in der der Mensch seine Existenz und Gemeinschaft erfaßt. Solange er nicht auf geistige und praktische Existenz verzichtet, muß er glauben. Er kann seine Existenz als ein Geworfensein in ein Dasein auffassen, in dem er aus dem Dunkel kommt und in das Dunkel eines Abgrundes schreitet. Will er leben — und Zeit und Raum zwingen ihn zu handeln und weiterzuschreiten —, so muß er die Fackel des Glaubens entzünden und seinen Pfad beleuchten, so muß er das Wagnis der Orientierung nach den Sternen auf sich nehmen. Wer aber nicht zu glauben vermag, wer als Skeptiker oder Spießer, als Anbeter einer äußeren Nützlichkeit in den Tag hineinlebt, wird unvermeidlich zum Treibholz, wird im Magnetfeld stärkere Kräfte in deren Richtung gestellt, wird gleichgeschaltet.

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Glaube ist daher niemals Privatsache. Dies kann er nur werden, wenn er nicht mehr ernst genommen wird, wenn er zur Form, zum Fürwahrhalten praktisch bedeutungsloser Gedanken herabsinkt, wenn der eine an Kraft verliert, ein anderer emporsteigt. Ein Glaube kann die rein persönliche Uebung eines anderen Glaubens ohne praktische Folgen als unschädlich dulden; sobald aber dieser mit der Herrschaft seines Prinzips ernst macht, kommen beide in Konflikt. Auch die Gläubigen der Vernunft sind daher sehr intolerante Gegner anderen, insbesondere jedes irrationalen Glaubens, sobald irgendwelche Folgerungen aus ihm gezogen werden. Ein völlig gottloser Staat kann den christlichen Kultus dulden — es wäre schwierig, die einmal vorhandenen Gläubigen zu beseitigen, und unklug, Märtyrer zu schaffen — aber man scheidet dem Christentum planmäßig jede Auswirkung im öffentlichen Leben ab, insbesondere auf die Jugenderziehung, und setzt es auf den Aussterbeetat — nicht ohne hohnvoll das Wort zu zitieren: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!”

Jeder Glaube sieht den Menschen seiner eigentlichen Natur und Bestimmung entfremdet und denaturiert durch das Böse. Der Christ nimmt dies durch die Erbsünde an, der Vernunftgläubige sieht den Menschen unfrei durch atavistische, tierische Macht- und Herdentriebe, durch traditionellen vernunftwidrigen Glaubenswahn und Pfaffentrug, der Naturalist sieht ihn seiner ursprünglichen Wesenheit durch die Zivilisation oder durch artfremde geschichtliche Einflüsse, vor allem das Christentum, beraubt, der Marxist sieht sich geknechtet durch den entwürdigenden ausbeuterischen Zwang des Kapitalismus, die Arbeitsteilung und den Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit.

Jeder Glaube fordert daher den ganzen Menschen und zwar einen neuen — fordert die metanoia — die vollkommene Umkehr des Sinnes und Erneuerung. Alle bloße Morallehre ist daher immer etwas Sekundäres, Abgeleitetes, und in Gefahr, von diesem Quellpunkt jedes Glaubens abzulenken, zu entfernen. Diesen neuen Menschen aber schafft nach christlichem Glauben das Sakrament — und alles Reales, was einen neuen Menschen schafft, ist Sakrament — deshalb kann nur eine auf dem Gedanken der Vorauserwählung sich gründende Glaubenslehre des Sakraments entbehren, es zum zeichenhaften

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Gedächtnisakt herabsinken lassen. Denn der im voraus zum Heil erwählte Mensch bedarf des Sakramentes wohl als geistlicher Nahrung; seine entscheidende Rechtfertigung ist ihm vorweggegeben. Ein Jenseitsglaube nun stellt diese Erneuerung des Menschen als eine freie Gnade Gottes dar, jeder diesseitige aber als einen geschichtlichen Willensakt des Menschen, mit dem eine grundsätzlich neue Epoche, eine neue Zeitrechnung beginnt. Deshalb in jeder Revolution der Versuch, eine neue Zählung der Jahre zu beginnen. So ist ein weiteres Merkmal jeder diesseitigen und Ersatzreligion der Gedanke von der grundsätzlichen Erneuerung der Welt durch einen neuen Menschen auf der Ebene der Geschichte.

Jeder Glaube braucht und sucht eine Erlösung von dem Bösen durch den Eintritt in einen Endzustand. Für das Christentum bedarf dies keiner Darstellung. Der Vernunftgläubige hofft, daß die bösen, unvernünftigen Kräfte in einer unendlichen — leider immer wieder von Rückschlägen unterbrochenen —, schrittweisen Aufwärtsentwicklung der Menschheit überwunden werden.

Marx wiederum sagt kennzeichnend:

„In einer höheren Phase der Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz zwischen körperlichen und geistiger Arbeit überwunden ist, nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktivkraft gewachsen ist, erst dann kann der enge, bürgerliche Rechtshorizont ganz überwunden werden, kann die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen’!”

Und entsprechend sagt Hitler (sinngemäß): „Ein Volk, das die Gesetze der Biologie beachtete, würde binnen weniger Generationen an der Spitze der ganzen Welt stehen.” Bei Beachtung der Gesetze der Biologie fällt nach dieser Auffassung scheinbar für die Völker der Grund ihres Vergehens fort; wenn sie nicht eines gewaltsamen Todes sterben, ist kein Grund vorhanden, weshalb sie nicht unsterblich sein sollten. So wäre zwar nicht der einzelne Mensch, der nur als ein Blatt am Baum erscheint, aber die biologische Einheit vom Gesetz der Vergänglichkeit befreit. So bedeutet diese Erlösung wiederum auch die Freiheit vom Prinzip in seiner diesseitigen

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Auswirkung. Für den Christen heißt es: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!” Diese Vollkommenheit aber erlangt der Christ erst in der Liebe, die ihn frei macht von allen diesseitigen Wertungen und Zwecken und vom Gesetz, die ihm vollkommene Freiheit des Handelns gibt. „Dilige et fac quod vis!” (Augustin). Marx sucht die Befreiung vom Zwange der Oekonomie in der allseitigen Ausbildung der menschlichen Produktivkraft, der Naturalist in der Ausmerzung der Erbkrankheiten, der Vernichtung des lebensunwerten Lebens, der Befreiung von allem nicht Artgemäßen, der Vernunftgläubige in der vollkommenen wissenschaftlichen Erkenntnis und Beherrschung der Gesetze dieser Welt, im freien Schöpfertum des Prometheus. An seinem Beginn steht die Verheißung des Versuchers: ,eritis sicut deus, scientes bonum et malum!

Jeder Glaube — mit oder ohne einen Gottesbegriff — kennt dasselbe, was der Christ als Heiligen Geist begreift. Es ist jener Geist, jene Kraft, die den Gläubigen erleuchtet und durchdringt und ihn befähigt, dem Prinzip gemäß zu handeln — dieser Geist aber führt überall notwendig zur Gemeinschaft der erleuchteten Menschen. Diese ist immer Gemeinschaft im Hinblick auf die endliche Bestimmung und Vollendung des Menschen, Bewegung auf das Ende hin, sie ist nicht denkbar ohne die Enderwartung eines tausendjährigen Reiches — mag dies das Gottesreich sein oder das Friedensreich der Vernunft — die klassenlose Gesellschaft oder das tausendjährige Reich eines Volkes. Sie ist immer Kirch oder Gegenkirche, Bewegung in der hierarchischen Form der Einheitspartei oder Loge, geschlossener, ebenso hierarchisch geführter Bund der Erleuchteten zur Verwirklichung der Ziele des Vernunftglaubens.

Freilich aber kan dieser (heilige) Geist nur wirken und begriffen werden, wo eine allgemein gültige Wahrheit in Erscheinung tritt und behauptet wird. In dem Staatsdenken aller heidnischen Völker decken sich Glaubensgemeinschaft, Volk und Staat. In seinen Göttern begreift ein jedes Volk die Idee Gottes auf seine Weise. In einer noch nicht voll übersehbaren Welt lebt trotz aller Totalität die natürliche Religion des Heidentums in einem unbefangenen Relativismus. Andere Völker — andere Götter, in denen man oft die eigenen zu erkennen glaubt.

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Trotz seines grundsätzlichen Monotheismus fällt auch das alttestamentarische Judentum solange und soweit nicht aus diesem Rahmen heraus, als es von seinen Gläubigen die Uebernahme des nationalen Gesetzes, also den Eintritt in das Volk verlangt. Das ist das Unvermögen und Mißverständnis aller „auserwählten” Völker, das noch den Judenchristen der Apostelgeschichte anhängt, welche die Beschneidung fordern.

Mit dem universalen Gottesbegriff ist ein absoluter Wahrheitsanspruch gegeben. Reine Glaubensgemeinschaft gibt es erst dort, wo mit der Universalität des Gottesbegriffes Ernst gemacht wird; erst von da ab gibt es Kirche. So wird unvermeidlich jede Glaubensgemeinschaft mit absoluten Wahrheitsanspruch zur Kirche oder Gegenkirche. Nachdem aber einmal die Wahrheitsfrage aufgetreten ist, kann sie nicht mehr durch Relativierung der Denkergebnisse, durch Verzweiflung am Geist, durch künstliches Heidentum aus der Welt geschaffen werden. Viele Völker oder vielleicht alle versuchen, sich als auserwählte zu betrachten und ihre nationalen Heroen zur Allgemeingültigkeit zu erheben. Aber sie tun es mit schlechtem Gewissen und versteckt auf Umwegen, weil sie wissen, daß die alten Götter gestorben sind. Wo aber immer versucht wird, bewust antichristliche Glaubensgemeinschaft zu begründen, stehen niemals die alten Götterpersönlichkeiten wieder auf, auch nicht neue, sondern stets nur abstrakte, unpersönliche Ideen und Prinzipien — oder man kommt zur offenen Selbstvergottung des eigenen Volkes.

Weil diese Wahrheitsfrage für alle gestellt ist, bilden die vom christlichen Geist berührten Völker, ob sie wollen oder nicht eine geistige Einheit, innerhalb deren die gleichen Probleme ausgetragen werden müssen. Weil nach der Stellung dieser Wahrheitsfrage auch das Verhältnis von Glaubensgemeinschaft und Staat nicht mehr das der selbstverständlichen Einheit ist, ist auch die politische Einheit der christlichen Völker immer wieder zur Debatte gestellt, beanspruchen auch die großen antichristlichen Revolutionen Allgemeingültigkeit, haben sie zwangsläufig versuchen müssen, Europa, ja die Welt unter ihrem Banner zu einen.

Probleme und Begriffe, die Struktur jeder Theologie und Geschichtsphilosophie ist also genau die gleiche — aller Ueberheblichkeit der Aufklärung zum Trotz hat eine jede auch ihre Dogmatik — mag man sie politische Oekonomie nennen oder wie man will. Nur wer in dieser Welt der Tatsachen nun wirklich herrscht, das allein ist die entscheidende Frage, die

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Wahrheitsfrage schlechthin. Jeder von uns bekennt also einen Glauben, und wenn er die Konsequenzen dieses Glaubens nicht ziehen kann oder will, so ist dies kein Beweis dafür, daß diese notwendigen Folgerungen nicht vorhanden sind, sondern nur für sein geistiges und charakterliches Unvermögen.

Das Prinzip bestimmt auch das Ziel und die Bestimmung des Menschen — „Ich bin das A und O, der Anfang und das Ende.” Das Prinzip aber setzt sich selbst, es herrscht ohne Rücksicht auf Erkenntnis und Bejahung des Menschen schlechthin als Tatsache und bedarf keiner Rechtfertigung. Das Grundgebot jedes Glaubens ist daher das erste: „Ich bin der Herr, Dein Gott, Du sollst keine andern Götter haben neben mir.” Wer aber dem falschen Herrn folgt und Gehorsam leistet, verfällt auch dem Gericht des wahren, gegen den dies erst recht Ungehorsam ist, er kann nicht einwenden, daß er auch treu gewesen sei. Der bloße formale gute Wille allein ohne Rücksicht auf den Inhalt ist niemals gut; es ist das Risiko des Menschen schlechthin, sich inhaltlich zu entscheiden. Die Wahrheitsfrage ist eine Lebensfrage. Wenn die Biologie in der Welt herrscht, so wird der Mensch zum Schädling, wenn er ihrem Gesetz untreu wird; wenn ein persönlicher Gott herrscht, zum Sünder durch Ungehorsam gegen dessen Gebote.

Was aber sind die Folgen? Folgen wir einem falschen Prinzip und handeln dementsprechend, so müssen die Folgen mit den übrigen Tatsachen der Welt im Widerspruch stehen. Jeder Fehler in den Voraussetzungen muß sich in tausendfacher Vervielfältigung im Endergebnis des praktischen Handelns auswirken — an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Jeder Glaube, jede Geschichtsphilosophie steht unter der geschichtlichen Bewährungsprobe, jeder falsche Glaube, er mag sich nennen, wie er will, enthüllt sich als Ideologie, die die menschliche Natur, Menschen wie Völker vergewaltigt, die Gesetze ihres Zusammenlebens, ihre Ordnung zerstört und zerbricht. Was ist die bloße gedankliche Frage nach der Wahrheit gegen dieses stets gegenwärtige weltgeschichtliche Gericht über menschliches Meinen und Fehlgehen?

Sind die Denkformen und Probleme gleich, so sind die Inhalte, die Prinzipien umso verschiedener. Das Prinzip aber, der Anfang bestimmt, wie wir schon sagten, auch das Ende. Kein Prinzip aber vermag

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etwas anderes hervorzubringen und zu geben, als es selbst enthält. Persönlichkeit und unendliche Transzendenz sind die Eigenschaften des persönlichen Gottes. Unpersönlichkeit und endliche Immanenz die Merkmale jedes anderen denkbaren Prinzips. Nicht das bloße Wort „Gott” begründet den Unterschied. Ist dieser nicht in Wahrheit ein persönlicher, sondern nur ein Schlußstein in einem Weltgebäude, den man aus logischen Gründen nicht entbehren kann, eine Antriebskraft dieser sich selbstgesetzlich entwickelnden Einheit, ein logischer Gott, so fällt mit dem persönlichen jenseitigen Gott auf der einen auch der Mensch als Persönlichkeit auf der anderen Seite fort. Er ist nur noch ein Rädchen in einer großen Maschine, ein Blatt am Baum, das jedes selbständigen Sinnes entbehrt. Das Gesetz dieser Maschine oder biologischen Einheit zu erfüllen, ist dann das einzige sinnvolle Gebot. —

Kraft jener Verbindlichkeit des Glaubens aber erscheint als Feind, als Störer, als böse derjenige, der das Gesetz dieser Herrschaft nicht anerkennt, sich ihr nicht unterwirft. Aus dieser Auffassung erschien dem Mittelalter der Türke, der Heide auf der Ebene des bösen Feindes, aus dieser Tatsache sind alle Glaubenskriege zu erklären. Der Christ sieht entsprechen der Unendlichkeit und Transzendenz Gottes auch die Vollendung des Menschen nicht in der Endlichkeit einer gegenständlichen Existenz und Ordnung, sondern in der Aufhebung seiner Trennung von dem unendlichen Gott. Cor nostrum inquietum donec requiescat in te (Augustin). Jedes endliche und immanente Prinzip kann nur auf eine endliche Vollendung des Menschen und der Welt abzielen, zie kann das Böse nicht in einer Trennung, sondern nur in einer gegenständlichen Hemmung erblicken, im Unvernünftigen, das der Vernunft, im Minderwertigen, das dem Hochwertigen entgegensteht, in der ausbeuterischen Arbeitsteilung und ihren Nutznießern. Sie muß das Böse mit allen Mitteln aus der Welt treiben, vernichten und am besten ausrotten. Das Böse im Sinne des Christentums läßt sich nicht aus der Welt schaffen, nicht wegorganisieren und ausrotten, es liegt in der Beschaffenheit des Menschen überhaupt, seiner erbsündigen Trennung von Gott enthalten, sein Endzustand ist kein diesseitiger. Jede andere Auffassung aber verspricht dem Menschen, der nicht ausgerottet wird, einen Zustand diesseitiger Glückseligkeit.

Vor dem persönlichen Gott hat jedes Geschöpf, jeder Mensch, jedes Volk seine Bestimmung, und dieser unendliche

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Wert kann durch keine endliche Nützlichkeit aufgewogen werden. Kraft der Persönlichkeit Gottes ist der Mensch zur Persönlichkeit bestimmt. Böse ist also alles, was diesen Stand des Menschen, die gottgewollte Existenz, diese Bestimmung zur Persönlichkeit verneint. Aus der Zweiseitigkeit des Verhältnisses von Gott und Mensch ergibt sich auch die Zweiseitigkeit des Verhältnisses von Mensch zu Mensch, und zwar nicht als Kollektiv irgendwelcher Gemeinsamkeiten, sondern gerade dort, wo dieses Kollektiv nicht vorhanden ist, allein im Hinblick auf Gott. Auch in der endlichen Gesetzlichkeit dieser Welt herrscht Gott, der sie auch in ihrer Vorläufigkeit in seiner allmächtigen Hand hält. Wir haben ihr Gesetz zu erkennen und zu erfüllen und nicht es aufzulösen. Persönlichkeit und Zweiseitigkeit alles menschlichen Lebens sind nur zwei Seiten ein und desselben. Wo ich die Existenz des anderen um ihrer selbst willen achte, da allein wird sie als Persönlichkeit in ihrem unendlichen Wert geachtet und gewertet, da ist Zweiseitigkeit, da wird Gemeinschaft gebildet.

Persönlichkeit in re, Zweiseitigkeit in actu, Gemeinschaft in statu. Persönlichkeit als Substanz der Welt, als letzter nicht ableitbarer Wert und zugleich als ursprüngliche Entscheidung und schöpferischer Anfang, als forma formans, Zweiseitigkeit in der Einbeziehung auch des Unterliegenden, des Gegners, selbst des Verbrechers, im Sinne der Gerechtigkeit begründet und ermöglicht allein die Gemeinschaft, läßt sie als Zustand, als Status, als Staat entstehen und bestehen. Das gilt für die politische Gemeinschaft wie für die Rechtsgemeinschaft. Nur die Persönlichkeit des Richters vermag in der Zweiseitigkeit des Rechts, der Billigkeit Recht und Gerechtigkeit zu vollziehen und damit Gemeinschaft herzustellen.

Die geheimnisvoll dreifaltige Wesenheit Gottes ist zugleich das Existenzgesetz auch des menschlichen Lebens, der menschlichen Gemeinschaft. Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn (1. Mose 1, 27). Wie ein Kristall, eine Pflanze, jedes Lebewesen sein physisches Bildungsgesetz in sich trägt, unendlich vielfältig und doch sich aus einem Kern entfaltend, so ist das Lebensgesetz des Menschen als eines geistigen Wesens ein Abbild der realen Wesenheit Gottes, seiner Dreifaltigkeit.

Alle Erschütterungen der sozialen Wirklichkeit geschehen als Veränderung des Wertsystems, das seinerseits von Glauben

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oder Nichtglauben abhängig ist” (Brunner, Das Gebot und die Ordnungen [1932]). Aber nicht Glaube und Nichtglaube stehen einander in Wahrheit gegenüber, sondern Glaube steht gegen Glaube. Erst Marx und Hitler haben der europäischen Menschheit wieder die Allmacht, die weltbewegende Kraft des Glaubens bewiesen. Wiederum steht nicht Glaube gegen Glaube als subjektive Triebkraft, sondern wahrer Glaube gegen falschen Glaube. Wo die menschliche Welt einem namenlosen abstrakten Prinzip untergeordnet wird, der Vernunft, der Oekonomie, da stirbt mit der Persönlichkeit die Zweiseitigkeit und damit die Gemeinschaft, da erscheint alles Irrationale, die bewegenden und schöpferischen Kräfte der Persönlichkeit und damit auch die Macht als solche als das Böse schlechthin, das niedergehalten, aus der Welt geschafft, ausgerottet werden muß. Nimmt man die Persönlichkeit zum alleinigen Prinzip und läßt ihre Bewegungskraft sich im Lebenskampf schrankenlos austoben, so stirbt mit der Zweiseitigkeit ebenso Persönlichkeit und Gemeinschaft. Die Fehler sind entgegengesetzte, die Folgen sind die gleichen. Indem man versucht, das gegenständlich Böse in Zuständen und ihren menschlichen Trägern aus der Welt zu treiben, reizt man die Menschen gerade zu den himmelschreienden Greueltaten gegen die verschiedenartigsten Gegner, zu der schrankenlosen Machtanwendung, die man zu bekämpfen vorgibt.

Der gegenwärtige Zustand der Welt ist daher nicht die Folge einer besonderen moralischen Verworfenheit, — denn der Mensch ist in Gut und Böse immer der Gleiche — sondern eine Folge verkehrten Glaubens, verkehrter Sinndeutungen, so erklärt sich, daß neben den größten Gewalttaten und Zerstörungen die größte und hemmungslosestes Aufopferung steht.

Jenem dreifachen Wesensgesetz der geistigen, menschlichen, geschichtlichen Welt Genüge zu tun, ist daher die einzige und politische und soziale Pflicht, heißt Gerechtigkeit üben. Marx und Hitler beweisen die weltbewegende Macht des Glaubens. Das Gericht Gottes über die Welt in ihrer sichtbaren Selbstzerstörung, in der Aufhebung aller Voraussetzungen des menschlichen Zusammenlebens bewies die vernichtende Wirkung falschen Glaubens, der Verdunkelung, der Mißachtung der Herrschaft Christi in der Welt, der Grundwahrheiten des Christentums.