II. Das Wesen des Katholizismus.

Wir sind heute gewohnt, die Kirche als rechtlich verfaßte Größe (Kirche im Rechtssinn) von der Kirche Christi, der Kirche im religiösen Sinn (im Sinn des Glaubens, im theologisch-dogmatischen Lehrsinn) zu unterscheiden. Die Kirche im Rechtssinn ist eine menschliche Hervorbringung, die Kirche im religiösen Sinn eine Schöpfung des Gottesgeistes, der durch Christum in die Welt gekommen ist. Das Leben der Kirche im Rechtssinn ist bürgerliches Leben, ein Teil des Lebens der Menschen mit den Menschen; das Leben der Kirche im religiösen Sinn ist geistliches Leben, Leben der Gläubigen durch Christum mit Gott.

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Über das Verhältnis dieser beiden „Kirchen” zueinander herrscht noch vielfach Unklarheit. Aber die Unterscheidung ist da, und sie erscheint uns heute als selbstverständlich, für alle Zeiten gültig. Sie ward zur Geltung gebracht durch die Reformation. Luther setzte (gegen Alveld 1520) die Kirche Christi als die „geistliche, innere Christenheit” der rechtlich verfaßten „leiblichen, äußerlichen” Christenheit (der katholischen Kirche seiner Zeit), die als solche nicht die Kirche Christi darstellt, gegenüber.5a) Im Gebiet der lutherischen Reformation ist infolgedessen die Kirche für lange Zeit als selbständiges rechtliches Gebilde überhaupt vollständig verschwunden, denn einer Kirche im Rechtssinn bedarf es nicht.

Den uns heute geläufigen Sinn hat die uns beschäftigende Unterscheidung unter dem Einfluß der kalvinischen Kirchenverfassung und der Aufklärung gewonnen. Hier erscheint (für Deutschland zunächst nur in der Theorie) als Erzeugnis und zugleich als Gegensatz der Kirche im Lehrsinn die Kirche im Rechtssinn, ein besonderes, vom Staat sich abhebendes, aber doch in der Bereich des Staats gehörendes rechtliches Gebilde. Der Aufklärung ist die Kirche im Rechtssinn eine Religionsgesellschaft (Kirchengesellschaft), insbesondere die vom Staat privilegierte Religionsgesellschaft. Auf diesem Kirchenbegriff der Aufklärung beruht das gegenwärtige Staatskirchenrecht der gesamten Kulturwelt. Noch mehr. Dieser Kirchenbegriff der Aufklärung erscheint uns als ein naturrechtlicher, ewiger, für alle Zeiten selbstverständlicher Begriff. Infolgedessen beherrscht er auch unsere Wissenschaft der Geschichte. Daher die unerschütterliche, bei (protestantischen) Kirchenrechtslehrern und Theologen noch heute ausnahmslos verbreitete Meinung, daß auch


5a) In demselben Sinne unterscheidet Luther bereits 1518 (Sermo de virtute excommunicationis) die fidelium communio interna et spiritualis von der communio externa et corporalis, Hermelink, zu Luthers Gedanken über Idealgemeinden, in der Zeitschr. für Kirchengeschichte Bd. 29 Heft 3 (1908) S. 270.

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das Christentum der Urzeit sich in der Form einer Religionsgesellschaft (eines „Kultvereins”) „organisierte”. Selbstverständlich hatten die Christen der Urzeit bereits den Kirchenbegriff der Aufklärung!

Der Ertrag der Unterscheidung ist, daß wir das Rechtliche (das Kirchenrecht) scharf vom Religiösen sondern: im Grundsatz wenigstens (keineswegs immer in der Tat). Das Kirchenrecht betrifft nur den rechtlichen Verband, nicht das Evangelium (die Kirche Christi). Darum ist das Kirchenrecht der freien menschlichen Entwickelung anheimgegeben. Es kann an dem einen Orte so, an dem anderen Orte anders sein. Immer ist es (nach der allgemein verbreiteten Auffassung) notwendig, daß Kirchenrecht, Recht um der Kirche Christi willen, da sei, als „Hilfe und Stütze” für das auf Erden stets in unvollkommener Gestalt erscheinende Gottesreich.6) Das Kirchenrecht kann und soll sich demnach mit dem Evangelium verbinden, aber (nach protestantischer Auffassung) immer nur so, daß es dem Evangelium diene, indem es vom Evangelium sich unterscheidet. Das Kirchenrecht ist kein Teil der Lehre vom Evangelium. Auch diese Vorstellungsreihe erscheint uns heute als naturrechtlich, selbstverständlich, für alle Zeiten gültig. Sie muß folglich nach der ausnahmslos herrschenden Ansicht bereits für die erste Christenheit dagewesen sein. Eine „Organisation” rechtlicher Art war praktisch notwendig.7) Sie mußte sein und sie konnte sein (so nimmt man an), ohne daß das Wesen des Christentums dabei in Frage gekommen wäre, denn bereits die erste Christenheit


6) So z.B. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts, Bd. 1 S. 76. Kahl gibt damit (in Anschluß an v. Scheurl) nur die ausnahmslos herrschende Meinung wieder. An Kahls Ausführungen übt treffende Kritik Friedr. Wandschneider in dem Mecklenburg. Kirchen- und Zeitblatt 1894 S. 492ff., 529.
7) Vgl. z.B. Friedberg in seiner Deutschen Zeitschr. f. Kirchenrecht Bd. 8 (1898) S. 1: „Sobald die christliche Glaubensgemeinschaft sich auf die Dauer einzurichten begonnen hatte, war eine Organisation unumgänglich geworden, und Organisation ist Rechtsbildung.”

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unterschied (natürlich!) den rechtlichen Verband von der Kirche als religiöse Größe. Schon die urchristlichen Gemeinden standen (es war nach allgemein verbreiteter Ansicht nicht anders möglich) auf dem Boden der Aufklärung!

In Wahrheit ist die Gegensätzlichkeit des rechtlichen Verbandes und der Kirche Christi zuerst von dem tiefen Geiste Luthers wirklich begriffen und in Kraft gesetzt worden. Sein Ausgangspunkt war das Wesen der Kirche als einer religiösen Größe. Sein Satz von der Unsichtbarkeit der Kirche des Glaubens ist mit der Unterscheidung der (im Katholizismus vor ihm stehenden) rechtlich verfaßten Kirche von der Kirche Christi gleichbedeutend. Harnack8) hat die Idee von der unsichtbaren Kirche eine „verzweifelte Idee” genannt. Aber seine Worte können unmöglich so gemeint sein, wie sie lauten. In Wahrheit ist der Gedanke der Unsichtbarkeit der Kirche Christi die größte und mächtigste Idee gewesen, die überhaupt in der Geschichte der Kirche aufgetreten ist. Was rechtlich verfaßt ist, das ist für den Verstand und darum für jedermann (die Welt) sichtbar und kann deshalb (als solches) kein Gegenstand des Glaubens, kann (als solches) niemals die heilige christliche Kirche sein, von welcher das christliche Glaubensbekenntnis redet. So die zwingende Logik Luthers. Die Kirche Christi, die Tatsache, daß es auf Erden ein durch Christum erlöstes, durch den Glauben aus der Gottesknechtschaft zur Gotteskindschaft geführtes, Leben aus Gott in sich tragendes „heiliges christliches Volk” gibt, kann nur geglaubt, nicht gesehen werden. Die Kirche Christi ist ein Gegenstand des Glaubens. Darum ist sie notwendig für den Gläubigen sichtbar (in Wort und Sakrament), aber ebenso notwendig für die Welt (das Recht) unsichtbar.9)


8) Dogmengesch. Bd. 1, 4. Aufl., S. 415, Anm. 5.
9) Vgl. den Aufsatz von E. Rietschel, Luthers Anschauung von der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit der Kirche, in Theol. Studien und Kritiken, Jahrgang 1900, S. 404ff.

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Die Unsichtbarkeit der Kirche Christi entrückt sie mit Notwendigkeit dem Gebiet der Rechtsordnung. Die rechtlich verfaßte Kirche kann als solche niemals die Kirche Christi sein, kann darum niemals im Namen der Kirche Christi sprechen, kann nie ihre Ordnungen als die Ordnung der Kirche Christi, als die Ordnung des Lebens der Christenheit mit Gott zur Geltung bringen, denn die Kirche Christi ist jenseits aller Rechtsordnung. Die Macht des Kirchenrechts über die Kirche Christi ist zerbrochen. Durch die Unterscheidung der unsichtbaren (nur dem Gläubigen sichtbaren) Kirche Christi von der rechtlich verfaßten Kirche befreite Luther sein religiöses Leben von dem römisch-katholischen Kirchenrecht, von der geistlichen Macht der kirchlichen Organisation. Er befreite zugleich die Christenheit, den Staat, die Wissenschaft, die Welt. Die geistliche Zwangsgewalt und mit ihr die Weltherrschaft der rechtlich verfaßten Kirche brach in Trümer. Sie hat niemals, auch in der katholischen Kirche selber nicht, ihre alte Macht zurückgewinnen können.

Luther war der erste, dem der Gegensatz der Kirche Christi zu der rechtlich verfaßten Kirche zur religiösen Gewißheit wurde, so daß er sein Leben für die Verteidigung dieser Wahrheit und die Durchführung ihrer Folgesätze hinzugeben gesonnen war. Schon lange vor Luther war die Idee einer unsichtbaren Kirche der Prädestinierten dagewesen — man braucht nur die Namen Augustin und Wiklif zu nennen —, und die mittelalterlichen Reformparteien hatten bereits von dieser Idee aus bitterste Kritik an der entstellten sichtbaren Rechtskirche geübt. Aber keiner, auch nicht die beiden soeben genannten Großen, hatte vermocht, sich von der sichtbaren Kirche innerlich zu befreien, sein Heil allein auf den Glauben zu stellen und nicht auf die Kirche: sie begehrten trotz alledem ohne Ausnahme nach dem Priester der sichtbaren Kirche und seinem Sakrament. Auch der jüngst viel zu hoch gepriesene Erasmus nebst seinen

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Anhängern ist trotz allen Geistes und aller Aufklärung in religiöser Abhängigkeit von der überlieferten Kirche geblieben. Luther war der erste, der den Glauben an die rechtlich verfaßte Kirche aus seinem Herzen riß, der auf die Sakramente der Priesterkirche verzichtete, der die sichere Arche verließ, um allein an Christi Hand auf den wilden Wogen einherzugehen. Kein anderer hat dazu vor ihm den Mut gehabt. Kein anderer hat darum vollbracht, was er vollbrachte. Es gab für ihn und durch ihn für die kommende Weltgeschichte keine autoritäre Kirche mehr. Die protestantische Idee war auf den Plan getreten. Sie entkräftete überall die Macht der katholischen Kirche.9a) Das religiöse, überhaupt das geistige, auch das politische Leben der Christenheit ward aus der babylonischen Gefangenschaft hinausgeführt. Luther hat zuerst die Tür zur Freiheit aufgetan. Darum steht Luther, nicht Erasmus, auch nicht die Aufklärung an der Wende der Geschichte der Christenheit.

Bis auf Luther aber war der Gegensatz zwischen der Kirche Christi und der rechtlich verfaßten Kirche für das Leben der Christenheit nicht vorhanden. Die ganze alte Zeit, vom ersten Jahrhundert bis zum Ausgang des Mittelalters, hat nicht vermocht, zwischen der rechtlich verfaßten Kirche und der Kirche Christi den rücksichtslos scharfen Trennungsstrich zu machen. Die Durchsetzung der Unterscheidung bedeutete das (heute die Kulturwelt beherrschende) protestantische Prinzip. Damit ist von selbst gesagt: der Mangel der Unterscheidung bedeutet das katholische Prinzip.

Das Wesen des Katholizismus besteht darin, daß er zwischen der Kirche im religiösen Sinn (der Kirche Christi) und der Kirche im Rechtssinn nicht unterscheidet. Die Kirche im Lehrsinn ist ihm zugleich Kirche im Rechtssin,


9a) Die Macht der Kirche über das gesamte Leben war das eigentümlich Mittelalterliche. Diese Macht ist durch Luther gebrochen worden. Das war das Entscheidende. Vgl. Th. Brieger, Reformation, in Weltgeschichte herausg. von J. v. Pflugk-Harttung, Neuzeit Bd. 1 (1908) S. 191ff.

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und umgekehrt. Die Kirche Christi ist ihm eine rechtlich verfaßte Organisation: das Leben der Christenheit mit Gott ist durch das katholische Kirchenrecht geregelt.

Aus dieser einen grundlegenden Tatsache folgt mit zwingender Notwendigkeit alles andere: die Ansprüche des Katholizismus, seine Macht und seine Schwäche.

Es gibt selbstverständlich nur eine Christenheit auf Erden, nur eine Kirche im religiösen Sinne, nur eine durch Christum mit Gott lebende Menschheit. So folgt für den Katholizismus, daß nur eine der rechtlich verfaßten Kirchen die Kirche Christi darstellt. Welche Rechtskirche wird das sein? Antwort: die legitime Rechtskirche, diejenige, welche als Verfassungskörper die ununterbrochene Fortsetzung der Urkirche, der apostolischen Kirche, der Schöpfung Christi darstellt. Der Zusammenhang mit der aus dem Urchristentum entsprungenen „apostolischen” kirchlichen Rechtsordnung bedeutet danach den Zusammenhang mit der Kirche Christi. Und in Wahrheit, keine andere als die katholische Kirche hat diesen äußeren Zusammenhang. Alle anderen Rechtskirchen beruhen auf einem Abfall von dem aus dem Urchristentum stammenden rechtlichen Verband und darum vom katholischen Standpunkt auf einem Abfall von Christo. Allein die katholische Rechtskirche ist die legitime Fortsetzung der Urkirche. Sie allein ist darum die durch Christum den Geist Gottes besitzende Kirche, die Kirche Christi. Es gibt keine „Schwesterkirche” neben ihr.

Nur wo die katholische „apostolische” Verfassung ist, da ist Christus, da ist Christentum. Und umgekehrt: wo Christentum ist, da ist notwendig die katholische Verfassung. Außerhalb des katholischen Verfassungskörpers gibt es kein Leben durch Christum mit Gott: die katholische Kirche ist die „allein seligmachende”. Und wer durch die Taufe in die Kirche Christi aufgenommen ist, gehört damit der katholischen Rechtskirche an, ist ihrer geistlichen Regierungsgewalt

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unterworfen, denn die katholische Rechtskirche ist die Kirche Christi.

Zum andern: der Verfassungskörper der katholischen Rechtskirche hat Christum zum Oberhaupt. Christus regiert durch eine rechtlich wirkende Organisation. Die Kirche Christi (Gottes) ist sichtbar in der katholischen Rechtskirche. Die Sichtbarkeit der Kirche Christi, der durch Christum mit Gott lebenden Menschheit ist mit der Ununterscheidbarkeit der der Kirche im religiösen Sinn von der Kirche im Rechtssinn gleichbedeutend. Darum ist die Lehre von der Sichtbarkeit der Kirche Christi, obgleich in dieser präzisen Form erst nach der Reformation und in Gegenwirkung gegen die Reformation bewußt ausgebildet, das Grunddogma, auf welchem von vornherein die ganze Geschichte des Katholizismus ruht.

Das Regiment der katholischen Rechtskirche ist Christi (Gottes) Regiment. Es fällt mit dem Regiment der Kirche im religiösen Sinne, d.h. mit der Führung, Erhaltung des religiösen Lebens der Christenheit, des Lebens mit Gott zusammen. Darum ist Gewalt des Staates über das katholische Kirchenregiment, Gesetzgebung des Staates in Sachen des katholischen Kirchenregiments (staatliche Kirchenhoheit) unmöglich. Wie könnte der Staat dem religiösen Leben Gesetze geben?! Die Freiheit der Kirche Christi (des religiösen Lebens) von aller Staatsgewalt nimmt die katholische Kirche für ihren Rechtskörper in Anspruch. Sie ist nach ihrer Grundidee ein „vollkommener Verband” (societas perfecta), d.h. eine Gemeinschaft, die auch als Rechtsgebilde auf eigener, selbständiger Wurzel ruht. Alle anderen Verbände stehen auf dem Boden des weltlichen Rechts und sind darum in der Gewalt des Staates, des Herrn über alles weltliche Recht. Nur der Rechtsverband der katholischen Kirche stellt sich anders. Er trägt seinen Rechtsgrund in außerweltlichen, dem Staat unerreichbaren Kräften, in dem Dasein der christlichen Religion. Es ist ausschließlich geistlichen Ursprungs

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und geistlichen Wesens, — was von der Kirche Christi, dem Leben der Gotteskinder mit Gott gilt, gilt von ihm —, er kann darum von keiner weltlichen, irdischen, sondern nur von religiöser, geistlicher Gewalt regiert werden. Da die geistliche Gewalt höher, mächtiger ist als alle irdische Gewalt, muß das Regiment der katholischen Rechtskirche aller irdischen Gewalt, auch der Staatsgewalt übergeordnet sein.

Die Macht aber, durch welche Christus seine Kirche (die Kirche im religiösen Sinne, das geistliche Leben seiner Gläubigen) regiert, ist das Wort. Das Wort Gottes bedeutet die Schlüssel des Himmelreichs: es öffnet den Weg zu Gott. Die Gabe der Verkündigung des göttlichen Wortes ist die Schlüsselgewalt. Sie bedeutet die Gabe der Seelsorge, geistliche Macht über die Seelen, Führung der Seelen zu Gott. Die Seelsorgegewalt fällt zusammen mit der Schlüsselgewalt. Sie ist die einzige Gewalt über die Kirche Christi (über das religiöse Leben der Christenheit).

So muß in der rechtlich verfaßten katholischen Kirche die Regierungsgewalt (jurisdictio) rechtlich geartete Gewalt Christi, d.h. rechtlich geartete Seelsorgegewalt (Schlüsselgewalt) sein: Gewalt, im Geiste Christi Gottes Wort zu verkündigen. Gerade darum ist sie von der Staatsgewalt unabhängig, kann sie unmöglich durch Staatsgesetze zugeteilt, bestimmt, geleitet werden.

Die rechtliche Zuständigkeit der Seelsorgegewalt bestimmt den Verfassungsorganismus der katholischen Kirche. Seelsorge ist Vertretung Christi. Nur Einer ist in der katholischen Kirche Statthalter Christi, nur Einer führt in der katholischen Kirche das Regiment Christi kraft eigenen Rechts: der Papst. Soll die Kirche Christi eine rechtlich verfaßte Größe sein, so muß auf die Frage: wer ist der sichtbare Statthalter Christi? eine unzweideutige Antwort gegeben werden. Der römische Katholizismus hat das getan, während der griechische Katholizismus auf einer älteren Stufe der

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Entwickelung stehen geblieben ist. Der Papst ist für den römischen Katholiken der einzige Statthalter Christi auf Erden. Dem Papst, dem Nachfolger Petri, und ihm allein, sind „die Schlüssel des Himmelreichs” gegeben. Auf diesem Rechtsgrunde beruht seine ganze Macht. Seine Gewalt ist Schlüsselgewalt (Seelsorgegewalt). Er ist (unter Christus, Gott) der einzige Hirte, Seelsorger der Christenheit (pastor universalis, episcopus universalis), der Vertreter des einen Hirten der einen Herde. Er hat Macht über das Wort Gottes. Er ist der Priester Gottes (pontifex maximus), durch dessen Mund, sobald der Priester von seinem priesterlichen Stuhle (ex cathedra) zur Kirche Christi redet, Gott selber spricht. Er hat Gewalt über das Leben der Christenheit mit Gott.

Mit solcher geistlichen Gewalt ist äußere Rechtsgewalt verbunden, denn die Seelsorgegewalt (Schlüsselgewalt) ist in der katholischen Kirche darauf angelegt, sich durch Zwang zu verwirklichen. Nur dadurch ist sie imstande, jurisdictio, Regierungsgewalt zu sein, die Kirche Christi zu einem Rechtskörper zu gestalten. Nach katholischer Auffassung ist zwangsweise Seelsorge (Verkündigung des göttlichen Wortes) möglich, ja das Wesen der Seelsorge fordert den Zwang. Gerade darum muß die Kirche Christi Rechtskirche, muß das religiöse Leben durch Rechtsordnung geregelt sein. Glaube ist nach katholischer Auffassung an erster Stelle Gehorsam: gehorsame Annahme einer göttlich geoffenbarten Lehre und gehorsame Unterwerfung unter eine göttlich geordnete Gewalt (die Kirchengewalt). Hier greift der zum Wesen des Katholizismus gehörige Intellektualismus und Moralismus ein: der Glaube ist Gehorsam gegen das „neue Gesetz” Christi. Gehorsam aber kann erzwungen werden, und auch der erzwungene, bloß äußere Gehorsam ist von religiösem Wert, denn er ist als solcher Gehorsam gegen Christus, den Herrn der Kirche, und damit gegen Gott. Weil also auch der erzwungene Gehorsam eine religiöse Leistung, tatsächlich bewährtes Christentum darstellt,

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muß Zwang geübt werden im Interesse des eigenen Seelenheiles des Gezwungenen. Wenn Christentum durch Zwang gefördert werden kann, so ist die Übung des Zwanges sittliche Pflicht. So ist die Seelsorgegewalt (Schlüsselgewalt) vom katholischen Standpunkte notwendig rechtliche Zwangsgewalt (jurisdictio), ganz anderes aber geartet, ganz anderer Wurzel als die Staatsgewalt. Sie ist geistliche Zwangsgewalt (Schlüsselgewalt) über das Leben der Menschheit mit Gott, eine Zwangsgewalt, die darum im Namen Gottes gehandhabt wird, d.h. sie ist hierarchische Zwangsgewalt, wie von keiner irdischen Machtstelle abgeleitet, so keiner irdischen Machtstelle untertan. Der Träger der Schlüsselgewalt (der Papst) ist Obrigkeit, Inhaber einer höchsten, in sich selbst ruhenden Rechtsgewalt (die Papstkirche ist eine societas perfecta). Neben der weltlichen Obrigkeit erscheint die geistliche, neben dem weltlichen Schwert das geistliche Schwert; die Schlüssel des Himmelreichs wandeln sich unter den Händen des Katholizismus in ein Schwert.

Das weltlich Recht hat über all diese Machtbefugnisse in der Kirche Christi keinerlei Zuständigkeit. So muß die Rechtsordnung, nach welcher die Kirche Christi lebt, welche ihre Verfassung und ihrem Leben Gestalt und Kraft gibt, anderer Art sein als das weltliche, d.h. als alles sonstige Recht. Sie hat ihren Ursprung in derselben Quelle, aus welcher die Kirche Christi hervorgegangen ist. Sie ist ein Teil der göttlichen Offenbarung durch Christum, so daß Christentum ohne diese Ordnung der Kirche Christi unmöglich ist: die Rechtsordnung der katholischen Kirche ist göttliche Rechtsordnung. Weil es sich um Ordnung der Kirche Christi, um das Leben des Volkes Gottes mit Gott handelt, tritt alles Kirchliche in die Sphäre des Religiösen, des Göttlichen ein.9b) Alle grundlegenden Verfassungssätze (Papsttum,


9b) Vgl. oben S. 6-8. Daraus folgt denn auch der Satz, in dem Sell, Katholizismus und Protestantismus (1908) S. 86 das Wesen der Katholizismus ➝

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Bischoftum, Priestertum) sind unmittelbar göttlichen Ursprungs, jus divinum im engeren Sinn, und darum zugleich Glaubenssätze, zum Inhalt des Evangeliums, zum unveränderlichen Wesen des Christentums gehörig. Andere Teile der katholischen Rechtsordnung sind veränderlich, sind keine Glaubenssätze, sondern nur Rechtssätze um der äußeren Ordnung willen. Sie werden jus humanum genannt. Aber auch das „menschliche” Recht der katholischen Kirche ist mittelbar durch die göttliche Offenbarung, durch das Evangelium gegeben, ist Recht im Sinne des Evangeliums, ist Recht, dessen Inhalt durch Folgerung aus dem Evangelium gewonnen wird. Auch die Gewalt, das jus humanum zu setzen und zu ändern, ist Bestandteil der Schlüsselgewalt. Nur wer die Gewalt der Lehre des göttlichen Wortes (die Seelsorgegewalt) besitzt, hat Macht wie über den Inhalt des jus divinum zu belehren, so über Dasein und Inhalt des jus humanum zu entscheiden. Souveräne Macht über das eine wie über das andere hat in der katholischen Kirche nur der Papst, denn er allein hat die Schlüssel des Himmelreichs. Auch das katholische jus humanum entspringt aus keiner irdischen Quelle, sondern aus der christlichen Religion. Es gilt — das ist die Hauptsache — ebenso wie das jus divinum um des christlichen Glaubens willen (aus religiösem Grunde), wenngleich es nicht unmittelbar einen Gegenstand des Glaubens darstellt. Es ist verbindlich kraft des Gehorsams, welcher der von dem berufenen Lehramt ausgehenden Lehre des Evangeliums geschuldet wird. Darum ist auch das jus humanum geistliches Recht. Denn geistliches Recht is das nicht kraft weltlicher Quelle, sondern aus Glaubensgründen geltende Recht.10) Das gesamte


➝ ausgedrückt hat: „Die  Religion, das Verhältnis zu Gott, ist im Katholizismus bestimmt durch die Kirche.”
10) Nach der allgemein bei katholischen wie bei protestantischen Kirchenrechtslehrern verbreiteten Ansicht ist das „menschliche” Recht der katholischen Kirche mit dem protestantischen Kirchenrecht im Wesen gleichartig. ➝

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kanonische Recht, jus divinum und jus humanum ohne Unterschied, ist geistlicher Natur, ist göttliches Recht im weiteren Sinn des Wortes11), ist Belehrung über das Evangelium, über Inhalt und Folgesätze des Christentums. Gerade darum kann das kanonische Recht niemals durch irgendeine weltliche Machtquelle bestimmt, aufgehoben, verändert werden. Die geistliche Obrigkeit allein hat Macht über das geistliche Recht. Die Gesetzgebung der katholischen Kirche ist souveräne, vom Staat unabhängige Gesetzgebung, weil sie Gesetzgebung über den Inhalt der Religion, d.h. geistliche, im Namen Gottes redende Gesetzgebung bedeutet. Der doppelte Obrigkeit entspricht (vom katholischen Standpunkt noch heute) das doppelte Recht, das geistliche und das weltliche Recht. Wenn es aber ein geistliches Recht gibt, wer kann zweifeln, daß es gegenüber dem irdischen weltlichen Recht die höhere, im Konfliktsfall den Vorrang behauptende Rechtsordnung darstellt?

Alle Herrschaftsansprüche der katholischen Kirche, ihrer Organe und ihrer Rechtsordnung, sind logisch notwendige Folgerungen aus der Gleichsetzung ihres Rechtskörpers mit der Kirche Christi, mit der Kirche im religiösen Sinn, mit dem durch Gottes Geist regierten „Volk” (Ekklesia). Aus derselben Tatsache entspringt die Macht, die ihr zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche dient. Das Verlangen des natürlichen Menschen ist, das Religiöse zu veräußerlichen. Der natürliche Mensch fordert die sichtbare Kirche Christi, eine Kirche, welche zweifellos göttliche Antwort auf all die bangen Fragen des Menschenherzens gibt, welche durch überwältigende Formen ihren übersinnlichen Ursprung den


➝ Über die Grundbegriffe sowohl des katholischen wie des protestantischen Kirchenrechts herrscht, wie man hier deutlich sieht, mannigfache Unklarheit.
11) Die Grenzen zwischen jus divinum und jus humanum sind deshalb fließende. Das bemerkt zutreffend bereits Tröltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen (oben Anm. 3) S. 310.

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Sinnen offenbart und durch einen die Welt umspannenden Verfassungsbau das Wesen der völkersammelnden Kirche Gottes zu unzweideutiger Erscheinung bringt. Noch mehr, das religiöse Leben der Masse will autoritär regiert sein. Es begehrt um der religiösen Gewißheit willen eine Machtstelle, die über das religiöse Leben gebiete, eine rechtlich verfaßte Kirche, die im Namen Gottes zu sprechen berechtigt sei. Es verlangt nicht bloß für die äußere kirchliche Organisation, sondern für das Religiöse selber die „Hilfe und Stütze” der Rechtsordnung, auf daß die religiöse Wahrheit mit Zwangsgewalt auch äußerlich sich durchsetze und das Göttliche seine innere Macht durch rechtliche, sichtbare Übermacht über alles, was von dieser Welt ist, behaupte und bewähre. Das katholische Prinzip entspricht dem brennenden Verlangen der Menschenseele nach Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Darum wurzelt die katholische Kirche so tief in der breiten Volksmenge. Darum zählt sie auch in den oberen Schichten unter denen, die äußere Bürgschaft der religiösen Wahrheit fordern, eine große Zahl entschiedener Anhänger. Die religiösen Antriebe sind die stärksten Kräfte des gesamten Volkslebens. Untrennbar sind sie im Katholizismus mit den rechtlichen Gewalten des kirchlichen Verfassungskörpers verbündet, und diese Verschmelzung des Religiösen mit dem Rechtlichen, welche Kirchendienst zu Gottesdienst erhebt, ist die Macht, welche den Organismus der katholischen Kirche emporträgt.

Aber in derselben Tatsache liegt mit unentrinnbarer Notwendigkeit zugleich die Schwäche des Katholizismus begründet. Was die katholische Kirche als die sichtbare Kirche Christi (Gottes) behauptet und behaupten muß, ist ihre Unfehlbarkeit als Trägerin der religiösen Wahrheit. Sie muß ihren Geist (den in ihren rechtlichen Formen sich durchsetzenden Geist) mit dem Geist Gottes, ihre Verfassungsentwickelung, ihre Lehrentscheidungen mit der Entfaltung der göttlichen Offenbarung gleichsetzen. Das ist die Vergöttlichung

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der Tradition, die zwar nicht das letzte Wesen des Katholizismus, aber doch die alles übrige beherrschende oberste Folgeerscheinung seines Wesens ausmacht. Als Kirche Christi schafft die katholische Kirche ihren Gläubigen formale (in ihrer Rechtsordnung begründete) religiöse Gewißheit, — das ist ihre Stärke, — aber nur indem sie zugleich das religiöse Leben der Christenheit (gemäß ihrer Rechtsordnung) bindet, — das ist ihre Schwäche. Sie unternimmt es und muß es unternehmen, dem Leben der Christenheit mit Gott ihre Rechtsordnung als Gesetz aufzuerlegen, — ein Widerspruch in sich selbst. Sie unternimmt es und muß es unternehmen, eine Herrschergewalt (die Schlüsselgewalt im katholischen Sinn) aufzurichten, welche die religiösen Überzeugungen, den Glauben der Christenheit durch formal zuständige Befehlsgewalt bestimmt, — ein Ding der Unmöglichkeit. Die hierarchische Regierungsgewalt der katholischen Kirche (jurisdictio) vernichtet das geistliche Eigenleben aller Glieder der Christenheit, um einem Einzigen, dem Papst, die Freiheit eines Christenmenschen, das freie Leben in und mit den Kräften des göttlichen Wortes zuzusprechen. Einer hat ein unmittelbares Verhältnis zu Gott und seinem Wort, Einer kann ein Christ sein im vollen Sinn des Worts: der Papst. Alle übrigen sind Christen zweiter Klasse: das Wort des Papstes muß ihnen das Wort Gottes, der Geist des Papstes den Geist Gottes vermitteln. Das Wesen der Christenheit ist zerstört!

In demselben Maß, in dem der Katholizismus dem Bedürfnis nach religiöser Autorität entgegenkommt, ist er mit dem ebenso unaustilgbaren Freiheitsbedürfnis des religiösen Lebens in Widerspruch.

Die intellektualistische Art des katholischen Christentums kommt hinzu. Der Glaube erscheint als das Führwahrhalten einer bestimmten Lehre, der von der katholischen Kirche entwickelten Lehre, die das Evangelium in untrennbarer Verbindung mit einem aus der Vergangenheit stammenden

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Geschichtsbild und Weltbild darbietet. Die katholische Glaubenslehre hält ein weites Gebiet besetzt, das zugleich in den Machtbereich der wissenschaftlichen Forschung fällt. Darum bedeutet der Katholizismus die Bindung nicht bloß des Glaubens, sondern zugleich der Wissenschaft. Da die katholische Kirche sich selber als die Kirche Christi, Gottes setzt, muß sie ihre gesamte Glaubenslehre als göttliche, unfehlbare Lehre aufrecht halten, d.h. sie muß es unternehmen, auch die Wissenschaft, die frei geborene, unter die Herrschaft ihrer Schlüsselgewalt zu beugen. Freie Wissenschaft duldet der Katholizismus nicht, er kann sie gar nicht dulden, er muß in Anspruch nehmen, die Grenzen der Wissenschaft durch seine obrigkeitliche Befehlsgewalt zu bestimmen. Als ob das möglich wäre! Die Wissenschaft, die mächtige Tochter des Menschengeistes, kennt wie keine weltliche so keine geistliche Obrigkeit. Sie trägt urständige Kraft in sich, die aller Befehlsgewalt spottet. Mag ihr der Fortschritt von wem es auch sei verboten werden, sie „bewegt sich doch”! Und ihre Bewegung wirkt mit Naturgewalt auf alles Überlieferte, sofern es auf den Sand vergangener „intellektualistischer” Erkenntnis gebaut ist. Der Protestantismus gibt ihrem Fortschritt grundsätzlich freie Bahn. Der Katholizismus hat den Kampf mit ihr aufgenommen, und er muß ihn aufnehmen. Aber es ist ein Kampf ohne Sieg, ein Kampf mit einem auf dem Erkenntnisgebiet überlegenen Gegner. Der „Modernismus” kommt: die Wissenschaft der Gegenwart, an erster Stelle die protestantisch-theologische Wissenschaft berührt das Herz der katholischen Kirche. Der Modernismus wird verurteilt. Aber er kehrt wieder. Er wird immer wieder kommen, die Grundvesten des Katholizismus zu erschüttern.

Weil die rechtlich verfaßte katholische Kirche sich mit der Kirche Christi gleichsetzt, muß sie in Feindschaft treten mit der Freiheit des christlichen Glaubenslebens und mit der Freiheit der Wissenschaft, mit den beiden Großmächten, welche die Führer der Menschheitsgeschichte sind. Der Punkt,

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an welchem der Angriff dieser dem Katholizismus gegnerischen Gewalten einsetzt, ist das Wesen des Katholizismus selbst, der Anspruch der katholischen Kirche, daß sie in dieser ihrer rechtlichen Verfassung, mit dieser ihrer rechtlich festgestellten Lehre die Offenbarung göttlicher Kräfte, die allem Irdischen überlegene Kirche Christi sei. In demselben Augenblick, in welchem die Unterscheidung der Kirche im Rechtssinn von der Kirche im religiösen Sinn sich durchsetzt, ist die Macht des Katholizismus gebrochen.