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I. Der Stand der Forschung.

Es ist eine in hohem Grade auffallende Tatsache, daß unsere protestantische Theologie, die doch gerade auf kirchengeschichtlichem Gebiet in jüngster Zeit durch eine Reihe von Werken ersten Ranges ausgezeichnet ist und insbesondere in der Erforschung der ersten drei Jahrhunderte die glänzendsten Ergebnisse aufweist, dennoch bis jetzt nicht vermocht hat, von der Entstehung des Katholizismus ein deutliches Bild zu geben. Und doch ist das Aufkommen der katholischen Kirche im Laufe des zweiten Jahrhunderts der wichtigste Vorgang in der ganzen Kirchengeschichte! Durch den Katholizismus ist alles Folgende bedingt, auch die Reformation als die Gegenbewegung gegen das katholische Prinzip. Das Hauptproblem der kirchengeschichtlichen Forschung erscheint noch immer als ungelöst.

Es ist zweifellos, daß das Urchristentum nicht katholisch war. Das ist durch die protestantisch-theologische Arbeit unerschütterlich festgestellt. Aber es ist ebenso zweifellos, daß der Katholizismus dennoch eine Hervorbringung des Urchristentums bedeutet, eine Hervorbringung, die nicht ohne Kämpfe, aber doch unbewußt mit der Unwiderstehlichkeit einer naturhaften Entwicklung und darum mit nie abirrender Folgerichtigkeit sich durchgesetzt hat.1) Die Katholisierung des Christentums war mit dem zweiten Jahrhundert keineswegs abgeschlossen. Sie hat sich unaufhaltsam fortgesetzt bis in unsere Tage. Aber immer mit der gleichen Gesetzmäßigkeit, immer ohne Bruch mit der Vergangenheit, immer,


1) So auch Harnack in Haucks Prot. Realenzyklopädie Bd. 20 (1908) S. 509: „Was wirklich geworden ist, ist nicht aus einem im voraus gegebenen Plane entstanden, sondern ist unter den gegebenen Zeitverhältnissen automatisch herausgewachsen.”

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trotz all der großen Persönlichkeiten, die in der Kirchengeschichte hervorgetreten sind, von dem religiösen Bedürfnis der Menge, von einer instinktiv vorangehenden Massenbewegung beherrscht, die unendlich langsame Änderung mit unendlich zähem Festhalten des Überlieferten verbindet und darum ebenso unwiderstehlich wie unmerklich ist.2) So bedeutet noch der Katholizismus der Gegenwart gesetzmäßig fortgebildetes, umgebildetes, verbildetes Urchristentum, und können wir noch an der katholischen Kirche von heute das Christentum des ersten Jahrhunderts ablesen. Ziehen wir das eigentümlich Katholische ab, so bleibt überall das Urchristliche übrig. Auf keinem Gebiet der Geschichte arbeitet die Schlußfolgerung aus den zugrunde liegenden Prinzipien so sicher wie auf dem Gebiet der Geschichte des Katholizismus. Es gibt keinen stilstrengeren Künstler als die unbewußt schaffende Naturkraft der großen Menge.

Der Katholizismus ist folgerichtig aus dem Urchristentum hervorgegangen. Es muß also etwas im Urchristentum gewesen sein, was die katholische Entwicklung in sich schloß. Worin hat dies Etwas bestanden? Wo lag im Urchristentum der Keim, aus dem der Katholizismus hervorgehen mußte? Auf diese Frage hat unsere protestantisch-theologische Forschung keine ausreichende Antwort. Darum


2) Harnack, Dogmengeschichte Bd. I (4. Aufl. 1909) S. 350 meint: „Die Entstehung einer einheitlichen, in Lehre und Verfassung festgefügten Kirche kann ebensowenig wie die Entstehung und Rezeption des neutestamentlichen Schriftenkanons das natürliche und unabsichtliche Produkt der Zeitverhältnisse gewesen sein.” Aber er muß selber hinzufügen, daß eine bestimmte Instanz, die all dies gemacht hätte, nicht nachweisbar ist. Natürlich sind immer einzelne die unmittelbar Handelnden gewesen. Aber durchgesetzt hat sich stets nur das, was das religiöse Bedürfnis der Menge als gegeben forderte, so daß der Geist der Masse als die führende Gewalt auftritt. Das gilt trotz des entgegengesetzten Scheines noch für den heutigen Katholizismus. Niemals hat einer von denen, die handelnd eingriffen, gemeint eine Änderung herbeizuführen. Das Unbewußte ist das Treibende. Das wird auch von Harnack anerkannt, vgl. Anm. 1.

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erscheint das kirchengeschichtliche Hauptproblem als ungelöst.

Die von der gegenwärtig (auf protestantische Seite) allgemein herrschenden Lehre gegebene Antwort auf die gestellte Frage ist durch das bahnbrechende Werk von Albr. Ritschl (Die Entstehung der altkatholischen Kirche, 2. Aufl. 1857) begründet, sodann von Ad. Harnack (in seiner Dogmengeschichte, Bd. I, 4. Aufl. 1909, und in zahlreichen Einzelarbeiten) durch eine Fülle von Geist und Gelehrsamkeit vertieft und anscheinend unerschütterlich festgestellt worden. Das Heidenchristentum, und zwar seine theologisch-dogmatische Art, erscheint als der Quellpunkt des Katholizismus. Als die entscheidende Tatsache für die Entstehung des Katholizismus gilt die Unfähigkeit des vulgären Heidenchristentums (welches ja die führende Großmacht der Kirche wurde), sich den wahren Inhalt des Evangeliums anzueignen. Das Evangelium Christi bedeutete die Aufhebung nicht bloß des alttestamentlichen Zeremonialgesetzes, sondern der alttestamentlichen Religion, d.h. der Gesetzesreligion. Diesen Inhalt der frohen Botschaft hat nicht allein, aber doch vor anderen der Apostel Paulus an sich selbst erlebt und der Welt verkündigt. Aber das Heidenchristentum, obgleich von Paulus zu selbständiger Daseinskraft geführt und grundsätzlich der paulinischen Lehre anhängend, war doch außerstande, den eigentlichen Inhalt des Evangeliums zu begreifen. Dem Heidenchristentum ward das alte Testament, dessen Verständnis nur auf dem Boden des echten Judentums möglich war, nicht der Gegensatz, sondern eine Grundlage der christlichen Religion. Die heidenchristliche Auffassung vom alten Testament wurde durch das hellenistische Judentum der griechisch-römischen Welt bestimmt, welches die jüdische Religion, sie vergeistigend, in eine allgemein-menschliche Moral und eine monotheistische Kosmologie umgedeutet hatte. Das vergeistigte alte Testament ward „von Anfang an” (Harnack,

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Dogmengeschichte I, S. 317 Anm.) in das Evangelium hineingetragen und so die frohe Botschaft ein „neues Gesetz”, zugleich unter Einwirkung der hellenischen Vorstellung, daß der Glaube Erkenntnis sei (Harnack, Dogmengesch. Bd. I S. 161), zu einer neuen Lehre. Der hellenische Moralismus und Intellektualismus bemächtigte sich des Evangeliums. Die Hellenisierung des Evangeliums aber ist der Katholizismus.3)

Die Tatsache also, daß die Idee der Wiedergeburt und die Rechtfertigung durch den Glauben in ihrem echten Sinne dem Heidenchristentum verborgen blieb, war das Maßgebende (Ritschl S. 331, Harnack S. 317 Anm.). Alles andere, die Sicherstellung der rechten Lehre durch die apostolische Lehrgewalt der Bischöfe (im 2. Jahrhundert), die Erleichterung der sittlichen Anforderungen durch die priesterliche Schlüsselgewalt des Bischofs (im 3. Jahrhundert) ist bloße Folgeerscheinung, hervorgerufen durch den Kampf mit der Häresie und durch die Verfolgungen seitens der Staatsgewalt.


3) Harnack, Dogmengesch. Bd. 1 (4. Aufl.) S. 250 (in Anschluß an Overbeck): Die Gnosis ist „die akute”, das katholische System die „allmählich gewordene Verweltlichung bzw. Hellenisierung des Christentums.” S. 349: „Der Katholizismus ist in jeder Hinsicht das Produkt der innigsten Verschmelzung des Christentums mit der Antike.” Gegen diese Formulierung neuerdings Tröltsch, die Soziallehren der christlichen Kirchen, im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (herausgegeben von Sombart und Weber) Bd. 26 (1908) S. 311 Anm. 40. S. 661 Anm. 68: „Die rezipierte Antike ist nicht mehr antike Antike, sondern die spiritualistisch und dualistisch gewordene Antike.” Tröltsch findet (S. 310. 311) das Entscheidende einerseits in der Herausbildung des göttlichen Kirchenrechts (das bestätigt die von mir in meinem Kirchenrecht verfochtene Auffassung), andererseits in dem „exklusiven Wahrheitsbegriff”, der zur „Unifizierung und Zentralisierung” drängt. Es kommt die Tatsache hinzu, daß zwischen der hellenistischen philosophischen Religion und dem Christentum (mit Einschluß des Heidenchristentums) ein das Verhältnis von Gott und Welt betreffender „fundamentaler Unterschied” besteht; vgl. die Ausführung von J. Kaerst, Gesch. d. hellenistischen Zeitalters Bd. 2, 1. Hälfte, 1909, S. 234ff.

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Nicht die Verfassungsentwicklung, sondern die hellenisierende Umbildung des Evangeliums war die das Christentum katholisierende Kraft.

Es ist begreiflich genug, daß unsere theologische Forschung, um die Entstehung des Katholizismus zu erklären, auf theologischem Gebiet, und zwar auf dem Gebiet der den Mittelpunkt des Christentums bildenden Gedanken einsetzte. Es ist ferner gewiß, daß durch die soeben hervorgehobene Ergebnisse dieser Forschung wesentliche Stücke der zum Katholizismus führenden Entwicklung herausgestellt sind. Trotzdem muß behauptet werden, daß das Ziel nicht erreicht ist. Das Wesen des Katholizismus besteht nicht in der „Hellenisierung” des Christentums, d.h. nicht in Intellektualismus und Moralismus. Die intellektualistische und moralistische Art ist ein Bestandteil des Katholizismus, aber nicht der Katholizismus selbst.

Es ist bekannt genug, daß auch in der protestantischen Kirche Intellektualismus und Moralismus die größte Rolle gespielt haben und noch heute weitgreifende Macht besitzen. Man denke an die Orthodoxie und an die Aufklärung! Es ist ebenso bekannt, daß auch im Gebiet des Protestantismus das alte Testament mit seiner Gesetzesreligion in den Mittelpunkt der Christentums hat aufgenommen werden können. Man denke an den heute noch nachwirkenden Puritanismus! Das sind alles katholisierende Strömungen. Und doch ist innerhalb des Protestantismus niemals Katholizismus daraus geworden! Das Entscheidende, was das Wesen des Katholizismus begründet, fehlte. Das lag auf ganz anderem, nicht auf theologisch-lehrhaften, sondern auf praktischem Gebiet. Es fehlte die das religiöse Leben bändigende Kirchengewalt, denn es fehlte das göttliche Recht (Kirchenrecht). Immer blieb, wenn auch oft genug verkümmert und verschüttet, innerhalb der Protestantismus der Grundsatz der religiösen Freiheit des einzelnen von der Kirchengewalt

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und damit das den Katholizismus ausschließende Prinzip.

Es ist bereits von Harnack selber in der dritten Auflage seiner Dogmengeschichte (1894) anerkannt worden, daß „hellenisierender” Intellektualismus und Moralismus dennoch nicht das Wesen des Katholizismus erschöpfen. In Auseinandersetzung mit meinem Kirchenrecht (Bd. 1, 1892) gibt er zu (S. 304 Anm. 1), daß das „göttliche Kirchenrecht”, welches der Katholizismus vertritt, „nahezu sein Wesen ausdrückt,” mit dem Beifügen, daß „das ganze Wesen des Katholizismus in der Vergöttlichung der Tradition überhaupt liegt”, in der „Verschmelzung der ad hoc notwendigen Institutionen der Kirche mit dem Wesen und Inhalt des Evangeliums.” Das ist durchaus zutreffend. Da aber die „Tradition” im Sinn der katholischen Kirche mit dem göttlich gesetzten Kirchenrecht zusammenfällt (das jus divinum umfaßt die ganze Tradition, denn auch die überlieferte Glaubenslehre ist vom katholischen Standpunkt für die Christenheit formal zwingendes Recht, d.h. göttliches Kirchenrecht: alle Glaubenslehre ist in der katholischen Kirche Kirchenrecht und umgekehrt), so ergibt sich, daß Harnack in seiner dritten Auflage (ebenso 4. Aufl. S. 338) sachlich mir beitritt und gleichfalls das „ganze Wesen” des Katholizismus in das göttliche Kirchenrecht setzt. Trotzdem hat er seine gesamte Darstellung in allen Hauptpunkten unverändert von früher beibehalten.4) Das göttliche Kirchenrecht tritt nicht in den Vordergrund. Es fehlt darum auch jetzt noch in dem großartigen Werke Harnacks das Letzte, Entscheidende. Die Entstehung des


4) Darum ist denn auch die herrschende Lehre unverändert die gleiche geblieben. Ein Beispiel bietet v. Schuberts vortrefflicher Abriß der Kirchengeschichte (Grundzüge der Kirchengeschichte, 1904). Hier ist im Abschnitt III („Bildung der katholischen Kirche”) S. 40. 41 von der „Hellenisierung” des Christentums, von „Intellektualismus und Moralismus” die Rede; kein Wort von dem göttlichen Kirchenrecht. — Eine Ausnahme bildet nur Tröltsch, vgl. oben Anm. 3.

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Wesentlichen im Katholizismus ist nicht erklärt. Zwar ist wiederholt bei Harnack von dem „katholischen Traditionsprinzip” die Rede (vgl. z.B. Dogmengesch. 4. Aufl. Bd. 1 S. 181. 182 Anm.). Aber das Prinzip wird in keinen größeren Zusammenhang gerückt. Weshalb es zu solcher Vergöttlichung des Kirchenrechts kommen mußte, das wird nicht gesagt.5) Weshalb war es für die Urchristenheit notwendig, nicht bloß die kirchliche Lehre, sondern ebenso die kirchlichen Einrichtungen, auch wenn diese im letzten Grund durch


5) Dogmengesch. Bd. 1 (4. Aufl.) S. 350 Anm. 3 bemerkt Harnack: „Die Entstehung des Katholizismus kann im Rahmen der Dogmengeschichte nur sehr unvollständig dargestellt werden; denn die politische Situation, in der sich die christlichen Gemeinden im Reiche befanden, ist für die Ausbildung der katholischen Kirche ebenso bedeutungsvoll gewesen wie die inneren Kämpfe.” Harnack will also ein vollständiges Bild der Entwicklung in seiner Dogmengeschichte überall nicht geben. Er könnte daher die im Text geübte Kritik mit dem Hinweis ablehnen, daß der planmäßig in seinem Hauptwerk auf vollständige Erörterung des Problems verzichtet habe. Trotzdem ist gewiß, daß Harnack in seiner Dogmengeschichte die letzten Ergebnisse seiner Forschung über die Entstehung des Katholizismus niedergelegt hat. Das beweisen seine oben angeführten, in seinem Werk oft wiederkehrenden kategorischen Sätze von dem Wesen des Katholizismus als der Hellenisierung, Antikisierung des Christentums. Das wird ferner bestätigt durch anderweitige Arbeiten Harnacks, insbesondere durch seine Abhandlung „Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche” in Hinnebergs Kultur der Gegenwart Teil I Abt. 4 (Die christliche Religion), 2. Aufl. 1909, S. 132-163 und durch seinen neuerdings (1908) in Haucks Realenzyklopädie erschienenen Aufsatz über die Kirchenverfassugn des 1. und 2. Jahrhunderts (oben Anm. 1). An beiden Stellen handelt Harnack ausgiebig von der Entstehung kirchlicher Rechtsordnungen und von der Einwirkung der Beziehungen der Kirche zum römischen Reich. Aber eine Ausführung über das Aufkommen des göttlichen Kirchenrechts (der göttlichen Tradition) als der Quelle für die Entstehung des Katholizismus sucht man auch hier vergebens. Rechtsordnung hat die christliche Gemeinde nach diesen jüngsten Ausführungen Harnacks wenigstens im Grundsatz „von Anfang an” gehabt, ohne daß sie dadurch sofort katholisch geworden wäre! Vgl. über diese zum Teil sich selbst widersprchenden Darlegungen Harnacks die unten (III, 1. 3) folgende nähere Auseinandersetzung.

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ein gegenwärtiges praktisches Bedürfnis bestimmt waren, auf eine von Gott stammende, durch die Apostel überlieferte Weisung zu gründen und den Beweis für solchen göttlichen Ursprung des Tradierten, soweit möglich, durch das alte Testament zu erbringen? Weshalb mußte alles Kirchliche, die Kirchenlehre, die Kirchenordnung, in die Sphäre des Göttlichen (Apostolischen) emporgehoben werden? Darauf fehlt die Antwort.

Es genügt nicht, die göttliche Tradition und das göttliche Kirchenrecht als Tatsache festzustellen. Diese Tatsache spricht die praktisch hervortretende Eigenart des Katholizismus aus, aber nicht zugleich den Grund, der zum Katholizismus führte. Das „ganze Wesen” des Katholizismus liegt noch tiefer, liegt hinter der göttlichen Tradition, hinter dem göttlichen Kirchenrecht. Zu diesem letzten Grunde und damit in Wahrheit zu dem „ganzen Wesen” des Katholizismus gilt es vorzudringen. Damit wird zugleich der Zusammenhang des Katholizismus nicht bloß mit dem Heidenchristentum, sondern mit der gemeinchristlichen Gedankenwelt der Urzeit klar werden und die Notwendigkeit, die den Katholizismus zur Entstehung brachte, von selber an das Licht gefördert sein.