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IV.

Calvin und das Zivilprozeßrecht in Genf.

 

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Am 21. November 1541 wurde Calvin beauftragt, gemeinsam mit dem Sekretär Claude Roset, Porralis und Herrn Johann Ballard die „ordonnances sus le regime du peuple” auszuarbeiten. Nach der Verfügung des Rates vom 12. Oktober 1541 sollten zunächst die Edikte über die Staatsverfassung und die Aemter des Leutnants und seiner Beisitzer in Angriff genommen werden 1). Der Arbeitsausschuß wurde dann am 15. Mai 1542 dahin geändert, das neben Calvin und Roset Dr. Fabri in der Kommission saß. Nachdem auch dieser aus dem Ausschuß ausgeschieden war, blieb die Arbeit in den Händen Rosets und Calvins. Der letztere wurde für die Zeit seiner Verfassungsarbeit von der Verpflichtung, an den Wochentagen zu predigen, befreit 2).

Daß Calvin die ihm zugewiesene Arbeit mit Energie in Angriff nahm, bezeugen die Fragmente, die die Herausgeber der Opera Calvini im I. Teil des 10. Bandes veröffentlicht haben. (Op. 10/1, 126-146: Fragments de travaux de Calvin relatifs a la legislation civile et politique). Da sie sämtlich mit der Hand Calvins geschrieben sind, steht die Autorschaft des Reformators außer Frage. Inwieweit einige von seinen Gedanken durchaus originell und inwieweit sie auf Roset zurückgehen, läßt sich selbstverständlich nicht entscheiden. Dies ist aber gleichgültig, wenn man bedenkt, daß Calvin, auch wenn er in diesem oder jenem Punkte von Roset abhängig sein sollte, doch


1) Az este ordonné que le srs. comys deputes az fere et mecstre en avant quelque edisct sus le regime du sr. lieutnant et aultres Offices, non pas tant seulement en ce, mes sus tous aultres il doybgen suyvre.
2) R.C. 36,117ff. affin que ung chascun aye moyennant de vivre en bonne amitie: Resoluz que lon suyvre a fere des esdyct et la Charge de commence a icyeulx donne a M. Calvin et au Sr. Sindique Claude Roset et que ledit Sr. Calvin doybge estre exempt de prescher synon une foys les dymenches.

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während seiner juristischen Studienzeit ein umfangreiches juristisches Wissen sich erworben hatte 3).

Während die bisherige Forschung Calvins Arbeiten über die Verfassung im engeren Sinne, d.h. über die Obrigkeit und ihre Organe, ausführlich gewürdigt hatte 4), ist sein Entwurf über das Zivilprozeßverfahren fast unbeachtet geblieben. Nur Kampschulte 5) geht in 5 Sätzen auf Calvins Leistung ein, wobei er sich auf die Wiedergabe der Ueberschriften der einzelnen Abschnitte, und zwar in einer höchst unsymmetrischen Reihenfolge, beschränkt. Wertvoll ist seine Bemerkung, daß Calvins Entwurf die spätere Gesetzgebung beeinflußt hat, eine Beobachtung, die aber wesentlich an Kraft verliert, da Kampschulte in den Edits von 1568 nur eine erweiterte Form der Calvinischen Ordonnanzen erblickt. Doumergue 6) gibt nur in einigen Zeilen die Sätze Kampschultes wieder.

Und doch verdient der auf die Reform des civilprozeßverfahrens sich beziehende Vorschlag Calvins eine besondere Beachtung. Das bisherige Zivilprozeßverfahren in Genf stand wesentlich unter dem Einfluß des kanonischen Rechtes. Die constitutiones et status nove reformacionis curie Geben(ensis) vom 1. Okt. 1450 bestimmen ausdrücklich: (quod) officiales et eorum locatentes libros juris canonici ordinarios continue secum habere teneantur 7). Der erwähnten Kommission war aufgetragen worden, bei der Ausarbeitung ihrer Reformvorschläge die Franchises und die alten Edits zu berücksichtigen. Die Aufgabe war nicht leicht. Die Franchises enthalten nur sehr wenige Bestimmungen über den Zivilprozeß; die am 28. November 1529 vom Rat der Zweihundert beschlossenen articles de la justice du sr. lieutenant 8) stehen noch teilweise unter dem Einfluß des kanonischen Rechtes. Calvin hat aber damals seine Abneigung gegen das kanonische Recht und das Amt


3) So richtig die Herausgeber: a.a.O. S. 125. ses grandes connaissances dans tout le domaine de la jurisprudence.
4) Vergl. nämlich Fazy, Les constitutions de la république de Genève, S. 12 ff.
5) Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf, I,417.
6) Jean Calvin, Bd. VI, S. 35.
7) Les Sources du droit du Canton de Genève, publ. par Emil Rivoire et Victor van Berchem I,367.
8) abgedruckt in „Sources” II,394ff.

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der Offizialen, denen die Gerichtsbarkeit in Zivilsachen oblag, deutlich bekundet 9). Die offiziellen Kreise in Genf haben sich zwar damals nicht so energisch gegen das kanonische Recht ausgesprochen, wie einige Jahrzehnte später, als der kleine Rat 1604 die Drucklegung des kanonischen Rechtes wegen der darin enthaltenen „impiétés” verweigerte 10). Es liegt nur ein anläßlich der Wahl von Claude Richardet zum Leutnant in der Generalversammlung vom 15. November 1925 gefälltes abfälliges Urteil über das verflossene Amt des Vicedoms vor: dictum nomen Vicedomp-ni deperdatur, actento quod istis retro temporibus sub umbra dicti officii Vicedompnatus passi fuimus plurima mala 11). Wir dürfen aber vermuten, daß in der Frühlingszeit der Reformation unter der Autorität Calvins auch der Widerwille gegen das kanonische Recht sich einstellen konnte, umsomehr, als es in der Bischofszeit nicht an Konflikten zwischen der freien Bürgerschaft und den auf das kanonische Recht sich stützenden Bischöfen gefehlt hatte 12).

Für die Gestaltung des Prozesses auf einer neuen, den veränderten Verhältnissen entsprechenden Grundlage eröffneten sich zwei Möglichkeiten. Man konnte versuchen, bei der Ausarbeitung des neuen Prozeßverfahrens die schädigenden oder überflüssigen Bestandteile des römisch-kanonischen Prozesses auszumerzen und auf die Quellen des römischen Rechtes zurückzugreifen. Man konnte aber auch das französische Prozeßrecht in Betracht ziehen, dessen Einwirkung auf die Genfer Praxis wegen der räumlichen Nachbarschaft und geschichtlichen Zusammenhänge fast selbstverständlich war. In dem französischen Prozeßrecht hat gerade um diese Zeit eine Reformbewegung eingesetzt. Die Ordonnance de Villers-Cotterets von 1539 13)


9) Bereits in der Institutio von 1543 (op. 1,621) findet sich ein scharfes Urteil: Decretales epistolae a Gregorio nono congestae: item, Clementinae et Extravangantes Martini apertius adhuc, et plenioribus buccis immanem ferociam, et veluti barbarorum regum tyrannidem ubique spirant. (Vergl. Op. 24,570; über die Offizialen Op. 1,651 und später 49,390).
10) Flammer, Le Droit Civil de Genève, S. 32.
11) Edits, gesammelt von Mallet 3,89 (im Genfer Staatsarchiv).
12) Siehe unten Seite 217.
13) Siehe über diese noch unten Seite 247ff.

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verlangt die Abschaffung vieler mittelalterlicher Fristen, die Vereinfachung des Verfahrens in Versäumnisfällen, die Aufhebung verschiedener, dem kanonischen Prozeß entliehener Schriftsätze bei der Beweisführung und die Erleichterung des Vollstreckungsverfahrens.

 

1

Die Blickrichtung auf das römische Recht war historisch begründet 14).

Vermutlich war Genf eine römische Provinzialstadt und wurde durch ein Kollegium von sextunviri, die die Gerichtsbarkeit nach den römischen Gesetzen ausübten, verwaltet 15). Unter der römischen Herrschaft blieb die Stadt fast 500 Jahre. Anfangs des 5. Jahrhunderts geriet Genf unter die Burgunder 16). Einer ihrer Herrscher Gondebaud erließ in Genf die bekannten leges Burgundorum (les lois Gombettes), in deren Vorrede es ausdrücklich heißt, daß die unterjochten romanischen Völker der Gerichtsbarkeit der römischen Gesetze unterworfen werden, wie die siegreichen Burgunder den burgundischen 17). Im Rechtsstreit eines Burgunders gegen einen Römer 18) muß die Entscheidung nach römischem Recht erfolgen 19); in Erbschafts- und Güterangelegenheiten wird es den Burgundern überlassen, nach burgundischem oder


14) Die folgende geschichtliche Darstellung kann selbstverständlich nur die Hauptgedanken hervorheben; eine genauere quellenmäßige Schilderung will der Verfasser dieser Zeilen in seiner späteren Studie „Das römisch-kanonische Zivilprozeßverfahren in Genf und die Edits von 1568” bieten, in der die Darstellung auf Grund der Zivilprozeßakten versucht werden soll.
15) Vgl. I.A. Gautier, Histoire de Genève I,36ff. — Es muß ein eigenartiges Spruchgerichtskollegium gewesen sein; denn sonst kommen nur Hundertmänner und in der späteren Zeit die decemviri vor. Vgl. Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozeßrechtes, S. 58.
16) Vgl. Secretan, Le premier royaume de Bourgogne in „Memoires et documents publikes par la Societe d’histoire de la Suisse romande” XXIV, 1-175.
17) Inter Romanos, sicut a Parentibus nostris statutum est, Romanis legibus praecipimus judicari. Vgl. Bouhier, Les coutumes du duché de Bourgogne avec les anciennes coutumes tant générales que locales 1742-46 I,223. Bethmann-Hollweg, Der germanisch-römische Zivilprozeß I,156ff.
18) Unter dem Namen Romani sind alle Einwohner von Gallien zu verstehen, soweit sie ihrem Ursprung nach Römer waren oder die durch die nordischen Völker besiegten Gallier (Bouhier, a.a.O. I,201,223).
19) iubemus causam legibus Romanis terminari (Lois Gombettes, tit. 55 § 2).

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römischem Gewohnheitsrecht zu verfahren 20). Nach der Vertreibung der Burgunder durch die fränkischen Könige wurde auch Genf fränkisch bis zum Tode Karls d. Gr. Die fränkischen Könige haben den besiegten Völkern ihre bisherigen Rechte belassen 21). Chlothar I. bestimmte in einem Edikt vom Jahre 560: Inter Romanos negotia causarum Romanis legibus praecipimus terminari; und in einem andern: Nec quid quum aliud agere aut judicare quam ut haec praeeeptio secundum legum Romanarum seriem continet vel juxta antiqui Juris constitutionem 22). — So blieb auch in Genf das römische Recht in Geltung, wie in der nachfolgenden Aera der zweiten Burgunderherrschaft 23). Nach dem Heimfall Burgunds an das Deutsche Reich unter Konrad II. 1032 erstarkte in Genf die Macht der Bischöfe, die von Friedrich von Barbarossa zu alleinigen Herren der Kirche nach dem Kaiser erklärt wurden 24). Ihre Herrschaft bedeutet nicht Untergang des römischen Rechtes. Daß dieses im 10. und 11. Jahrhundert seine alte Kraft nicht entfalten konnte, liegt vornehmlich in dem tieferen Stand der Wissenschaft, die erst durch die Schule von Bologna Anfang des 12. Jahrhunderts in neuem frischem Glanz erstrahlte. Trotzdem war es nicht vergessen und verloren. Es gab allerdings ganze Gebiete, wo das einheimische Gewohnheitsrecht das römische Recht zurückgedrängt hatte. Ihnen stehen aber Gebiete gegenüber, die man „Gebiete des geschriebenen Rechtes” nennt, d.h. diejenigen, in denen die weitaus größte Zahl von römischen Gesetzen in Kraft blieb. Die Gewohnheitsrechte wurden als Ergänzung oder Neugestaltung des ursprünglichen ältesten allgemeinen christlich-europäischen Rechtes angesehen. Wenn die


20) Lois Gomb. tit. § 1: si quis Barbarus (Nichtrömer) testari voluerit vel donare, aut Romanam consuetudinem aut Barbaricam esse servandam sciat.
21) Godefroy schreibt in seinen Prolegomena im Codicem Theodosianum: Franci rerum totiusque Galliae domini, subactis tandem Gothis anno 507 et Burgundionibus anno 532 quum Salicis legibus Francos suos regi vellent, suas non tantum ipsis Gothis et Burgundioribus, sed et Romanis reliquere Leges.
22) Bouhier, a.a.O., I,201. Ueber das Privatiecht und der Zivilprozeß in dieser Periode vgl.: Jarriand, La succession coutumiere dans les pays de droiet ecrit in „Nouvelle Revue historique de droit français et etranger” III. Serie 14,32ff. und Alauzet, Histoire de la possession et des actions possessoires en droit français, S. 13ff;
23) Gautier, I,82ff.
24) Gautier, I,99f. 107.

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Juristen vom 7. bis zum 13. Jahrhundert von dem „Recht” sprechen (legis auctoritas), so meinen sie eben das römische Recht 25). Gehört nun Genf auch zum „Gebiet des geschriebenen Rechtes”, so ist der in den Akten und Registern immer wieder vorkommende Satz, daß die gerichtlichen Entscheidungen in Genf secundum leges et canones getroffen wurden, ein direkter Beweis dafür, daß auch in der Bischofszeit zwar das römische Recht gepflegt wurde, zwar nicht das römische Recht der klassischen Zeit, sondern das mit dem kanonischen vermengte romanische Recht der Glossatoren und Postglossatoren (Konsiliatoren). Dabei war der Blick auf die praktische Wirklichkeit gerichtet. Denn es handelte sich in Genf in erster Reihe um die Verwertung und Anwendung des Rechtes im römisch-kanonischen Zivilprozeßverfahren, dessen Ausgestaltung, das heißt die Weiterbildung des römischen Rechtes im Sinne des kanonischen, die Glossatoren und — Konsiliatorenschule besorgte. Daher werden nur die praktischen Schriftsteller benutzt; soweit wir in den Akten des Zivilprozesses 26) sporadisch wissenschaftlichen Erörterungen begegnen, so betreffen diese nur die Theorie der Rechtsanwendung. Offiziell stand in Genf die seinerzeit berühmte Summa artis notariae von Rolandinus (mit dem Zunamen Passagerii), dem Praktiker aus der Schule von Accursius und Azo 27) in Gebrauch. Bedenkt man, daß die wichtigsten Partien dieser Summa in das Speculum judiciale des Guilielmus Durantis, der die ganze bisherige praktische Literatur der Glossatoren aufnimmt und abschließt, fast wörtlich übergingen 28), so kann man auf den Charakter des Prozeßrechtes in Genf in der Bischofszeit schließen, der auch durch die Protokolle des Zivilprozesses bestätigt wird. Das reine römische Recht, das mit seiner Ursprünglichkeit das wissenschaftliche Leben der ersten Glossatoren bestimmt


25) Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Bd. III. 83ff. 87. 92ff. Bouhier, a.a.O. I,200ff., Jarriand, a.a.O., 34ff.
26) Diese im Genfer Staatsarchiv aufbewahrten Akte sind leider noch nicht katalogisiert. Es wäre ihnen zu wünschen, daß sie bald eine so gründliche und umsichtige Sichtung und Ordnung erfahren, wie die Urkunden des Strafprozesses.
27) näheres über ihn: Bethmann-Hollweg a.a.O. III,175ff.
28) Vgl. Savigny, a.a.O. 5,542ff.

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und bedingt, muß der Glossa ordinaria des Accursius und seiner Schüler weichen. Statt die Rechtsfälle in den Rechtsprinzipien zu verankern und damit zu vergeistigen, sucht man sie scholastisch und kasuistisch zu zergliedern und zu verknüpfen.

Nun hatten die Genfer aber auch ihr heimisches Gewohnheitsrecht, ihre „libertes, franchises, us et coutumes”, die 1387 zum ersten Mal in einer Urkunde zusammengefaßt, von Bischof Ademar Fabri als unveräußerliche und unveränderliche Rechtsartikel bestätigt und beschworen wurden: quas libertates, franchesias, immunitates, usus et consuetudines per Nos approbatas, confirmatas datasque et concessas . . . . promittimus . . . in futurum rata grata, valida et firma habere perpetus et tenere, et inviolabiliter observare. Die Franchises enthalten aber einzelne Bestimmungen, die in Widerspruch zum kanonischen Recht stehen, so die Artikel 33, 34 und 39 über die Wucherer und das Erbfolgerecht der Unehelichen — Bestimmungen, die infolgedessen später der Papst Felix V. nicht bestätigen wollte. Mußte er schließlich doch nachgeben, so ist diese Tatsache sowie die nachfolgenden Kämpfe der Genfer für die Aufrechterhaltung anderer Gesetzesartikel ihrer Freiheiten 29) ein Beweis dafür, daß in Genf ein Zwiespalt zwischen dem dem römischen Recht entsprechenden Gewohnheitsrecht der Genfer und dem kanonischen Recht entstand, ein Zwiespalt, der auch in anderen Stücken des materialen Rechtes sich auftut. Dazu kam, daß als Niederschlag der Kämpfe zwischen den Bischöfen und den Prinzen von Savoyen um die Herrschaft in Genf zwei Tribunale errichtet wurden: das bischöfliche Gericht mit einem Offizial an der Spitze und das Gericht des Prinzen von Savoyen, verwaltet durch seinen Stellvertreter, den Vicedom. Die begreiflicherweise aus dieser Lage sich ergebenden Kompetenzstreitigkeiten 30) wurden anläßlich der Kämpfe um die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Genfs in den letzten 20 Jahren des 16. Jahrhunderts dadurch beendet, daß der Bischof auf seine


29) Mémoires et documents de la societé d’histoire et d’archeologie de Genève 2,354.
30) Ebenda I,92ff.

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Ziviljurisdiktion verzichtete, die Stelle des Vicedoms aufgehoben und statt der bisherigen ein neues städtisches Tribunal errichtet wurde mit dem Justizleutnant (lieutenant de la justice ou de police) an der Spitze 31).

 

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Die für dieses neue Tribunal aufgestellten, vom Rat der Zweihundert am 28. Februar 1529 angenommenen Grundlinien 32) findet Calvin vor, als er sich anschickt, eine neue Zivilprozeßordnung zu entwerfen 33). Den Verordnungen des Tribunal du lieutenant (Sources II,272) entnimmt Calvin das Prinzip des beschleunigten Prozeßverfahrens, wie dieses bereits in § 1 der Franchises für das Gericht des Vicedoms verlangt wurde. Das Edikt schreibt vor: nous havons faict et redigy les edictz et Statuts et ordonances pour laz justice sommaire sans figure de plaitz, selon scens et raisons naturelles, toutes cautelles, difficultes et solempnitez de groitz hors mises, par monsieur le lieutenant et auditeurs a ce deputez, selon le text du premier chapitre de nos franchises, et libertes, hus et coustumes anciennes de laz cité . . . . sans havoir regard à laz rigeur du droit, mais tant seulemen hayant regard à laz droit verité). Calvin wird der Vergangenheit mehr gerecht als das Edit. Hatte das Tribunal des Vicedoms über leichtere, einfache Streitfälle summarisch, mündlich, in französischer Sprache, nach dem Gewohnheitsrecht und nicht nach dem strengen Recht zu entscheiden, während die schwereren Fälle dem bischöflichen Gericht überlassen blieben 34), so mußte für Calvin die Frage entstehen, wie nach der Vereinigung der beiden Tribunale in dem städtischen Gericht des Leutnants


31) Ebenda II,371, 393 und Mallet, Edits 3,84ff.
32) Sources 11,271ff.
33) Die Herausgeber der Opera drucken nur zwei diesen Stoff behandelnde Fragmente ab (Op. 10a,132ff). Es ist ihnen entgangen, daß das von ihnen unter der Ueberschrifft: premier fragment d’un projet d’ ordonnance sur la procédure civile nach dem Manuskript in Gotha abgedruckte Entwurf fast wörtlich übereinstimmt mit einem in dem Staatsarchiv aufbewahrten in den Sources II,394 abgedruckten Edit du Lieutenant v. 15. Nov. 1542. (Mallet, Edits 3,132-137).

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dieses auch wichtigere Rechtsfälle in einem beschleunigten Verfahren erledigen könnte, ohne mit dem Interesse an einer klaglosen, gründlichen Untersuchung und Entscheidung in Widerstreit zu geraten. Die Statuten von 1529 sehen die Beschleunigungsmaßregeln für die wichtigeren Fälle (de grosse importance) vornehmlich in der Abkürzung der Fristen nach der Litiskontestation bis zur Veröffentlichung des Beweisstoffes, (so bei den Einreden und Gegenäußerungen des Beklagten und bei dem Beweis) und beachten nicht, daß bereits die Statuta nove reformacionis curie officiliatus Gebenn(ensis) Abschnitt V 35) dieses Beschleunigungsverfahren für das bischöfliche Verfahren nachdrücklich festgestellt hatte. Bedeutet diese „Reformation” eine Vereinfachung des ordentlichen mit prozessualischen Formen und Feierlichkeiten belasteten Verfahrens, wie dieses in jedem kanonischen ordo iudiciarius in scholastischer Ausführlichkeit vorgeschrieben und in Genf bis zum Jahre 1450 im Gebrauch war, so biegt sie und mit ihr Calvin, der sie zweifellos übernimmt 36), in die römisch-rechtliche Verfahrensart zurück.

 

3

Wir greifen aus dem „projet d’ordonnance sur la procedure civile” nur die wichtigsten, auf das summarische Prinzip eingestellten Bestandteile heraus.

Die Fristen für die erste Ladung (adjournement, évocation) und die späteren durch die Nichtbefolgung der ersten veranlaßten drei Ladungen werden nicht näher fixiert, während das bisher geltende kanonische Recht einen Zwischenraum von 20 Tagen bis 3 Monaten feststellte, um die Grundlage für das Versäumnisverfahren (deffault) zu gewinnen 37).


33) Sources I. 365ff.
34) Mém. et doc. 1/2,25,92.94ff.
35) Sources I.
36) Vgl. Op. 10,/1,136 mit Abschn. V. der Constitutiones et statuta (de abbreviacione causarum et litum, Sources a.a.O. 369ff.
37) Endemann, Zivilprozeßverfahren nach der kanonistischen Lehre in der Zeitschr. für deutschen Zivilprozeß XV, S. 202f. Vergl. dagegen Calvin a.a.O. 132ff, Statuta V, (Sources I 369) und Statuts et ordonnances 4 (Sources II,272f.).

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Die Vorschriften für die erste Ladung und das Versäumnisverfahren stimmen wesentlich mit dem römisch-kanonischen Recht soweit dieses die diesbezüglichen Bestimmungen des letzteren übernommen hat, und ebenfalls mit dem französischen Recht überein 38).

Dementsprechend wird auch bei der Klage des Ausländers gegen den Genfer Bürger ganz allgemein ein summarisches Verfahren gefordert mit denselben Bedingungen, wie bei dem Prozeß zwischen zwei Bürgern. Das entspricht wohl der am 24. Januar 1528 in dem Rat der Zweihundert beschlossenen Bestimmung: Item concluditur quod unusquisque petitus ad comparendum coram Dominis sindicis ad instantiam quarumcunque personarum debent comparere et hoc sub poena trium grossorum et interesse missione partis facientis de contrario pro qualibet vice cum fuerient petiti ad instantiam extraneorum et de Burgense ad Burgensem lapsis tribus vicibus debeat solvere supra dictam poenam. Nur darf der Bürger, wenn er sonst eine Kaution leisten will, nicht ins Gefängnis gesetzt werden.

Was nun den Gang des eingeleiteten Verfahrens betrifft, so muß man zunächst die persönlichen, das persönliche Recht gegen einen bestimmten Schuldner geltend machenden Klagen ins Auge fassen. Wo es sich um Eintreiben von auf einmal zu zahlenden Schuldbeträgen (debtes a paier pour une fois) handelt, muß man mit Rücksicht auf die finanziell schwache Bevölkerung und zur Vermeidung von Weitschweifigkeiten und Verdruß der Parteien bei Klagen, deren Streitgegenstand die Summe von 5 Gulden nicht überschreitet, ein summarisches Verfahren einleiten, bei dem die Behauptungen und Gegenäußerungen der Parteien (propositions et responses des parties), die Aussagen der Zeugen nur mündlich entgegengenommen und


38) Vergl. Bethmann-Hollweg, Der römische Zivilprozeß Bd. III, 303ff. Steinwenter, Versäumnisverfahren 192; über die Missio in bona (bei Calvin gaiger en ses biens) Hollweg ib. 304; Hartmann, Kontumazialverfahren 48: über die Folgen des Nichterscheinens des Klägers (si le demandeur ne comparoissoit 10/1; 134: Bethmann-Hollweg II, 613ff. Steinwenter a.a.O. 50,70ff. 132. Für das römisch-kanonische Verfahren: Münch, Das kanonische Gerichtsverfahren und Straf recht I 256ff.320ff; für das französische Verfahren: Imbert, Institutiones forenses cap. 2ff.

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alle Zwischenurteile (sentences interlocutoires) nicht protokolliert werden. Es ist nur erwünscht, daß der Gerichtssekretär den Fall in sein Memorialbuch einträgt. Es entspricht ferner dem Charakter des beschleunigten Verfahrens, daß bei geringeren, 10 Gulden nicht überschreitenden Schuldforderungen die Appellation abgeschnitten und nur bei höheren Beträgen bewilligt wird. Durch diese Einschränkung der Appellation wird die Praxis des kanonischen Rechtes: c 18 C 2 qu. 6 39), wonach man gegen alle Zwischenurteile berufen konnte, im Sinne des diese Appellation ausschließenden römischen Rechtes (c 1 C Th 11, 36; c 2 Th 11, 30) beeinflußt.

Calvin glaubt, mit seinem Entwurf der alten Genfer Gewohnheit (nostre ancienne coutume) zu folgen (ib. 135). Doch bestimmen die Statuta von 1450, daß bei geringfügigen Forderungen (in modicis causis) die Offizialen summarisch und mündlich verfahren und die Fälle in das Memorialbuch eintragen sollen, wobei es ihnen auf der einen Seite frei gelassen wird, ob sie nicht außerdem noch andere Feierlichkeiten beobachten oder nicht beobachten 40), auf der anderen Seite die Beobachtung von Feierlichkeiten, namentlich die Litiscontestation, untersagt wird 41). Befolgen die Statuta zweifellos die Vorschriften der Clementina Saepe von 1306 und den dieser vorangehenden von Innozenz IV. gegebenen Erklärungen der Begriffe: de piano und sine figura judicii 42), die aber wiederum in der Hauptsache mit den Bestimmungen des summarischen Verfahrens des römischen Rechtes übereinstimmen (Befreiung von der strengen Forderung des Litiscontestationsaktes, Beschränkungen der Zwischenappellationen, Fristenkürzung), so ergänzen sie die Vorschriften der Clementina Saepe durch die ebenfalls im römischen Recht ausgesprochene Forderung, daß der sonst in einzelnen Abschnitten des Verfahrens nicht protokollierte Fall in


39) Vergl. Marante, de ordine jud. speculum aureum, fol. 282, nr 29.
40) III,8, Sources 368: aliis solemnitatibus juris uno contextu servatius vel non servatis.
41) VI, 17, Sources 370: statuimus . . quod . . in causis modicis et miserabilium personarum hujusmodi. nullus strepitus judicii seit quevis alia judicialis solemnitas aut litis contestatio reqtiiratur, sed summarie et plano procedi debeat.
42) Briegleb, Einleitung in die Theorie der summarischen Prozesse. S. 35ff.

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das Memorialbuch des Officials einzutragen sei 43). Wenn Calvin die Bestimmungen der Statuta hinsichtlich der „modicae causae” übernimmt, so beseitigt er gleichzeitig das Schwanken der Statuta in der Frage der Litiscontestation. Diese wird von ihm beibehalten als die von Seiten des Klägers mündlich ohne alle Feierlichkeit und Frist erfolgende Beantwortung (en affimant ou niant pour contester la cause) der Forderung („demande”) des Klägers. (Vgl. die Formeln: peto litem contestando — litem contestando nego narrata, prout narrantur et dico petita fieri non debere) 44).

Die Beibehaltung der Litiscontestation geht wohl auf die im Mittelalter weithin verbreitete Anschauung zurück, daß die Litiscontestio als Erklärung der Streitabsicht (bei Calvin S. 135: „intention”) das fundamentum und der lapis angularis des Prozesses sei, eine Anschauung, die Calvin umsomehr teilen konnte, als die mittelalterlichen Juristen in der Einverleibung der litis contestatio in den Prozeß eine Erneuerung der justinianischen Formel (narratio des Klägers und contradicitio des Beklagten) sahen 45).

Die Litiscontestation geschieht in den letzteren Fällen unmittelbar (directement) nach dem Erscheinen des der Ladung Folge leistenden Beklagten, in der bereits dargelegten Form der Bejahung oder Verneinung der Streitsache. Wenn es sich um die Tat eines Dritten handelt, derentwegen der Beklagte belangt wird 46), so wird diesem ein Aufschub von zwei oder mehreren Tagen bewilligt, je nach dem, ob sich der Dritte in der Stadt oder außerhalb aufhält. Den Beweis für seine „Intention”, d.h. die eigentliche Prozeßfrage, um die sich alles dreht und von deren Beantwortung die Entscheidung abhängt (in dem römischen Recht: ea pars formulae, qua actor desiderium suum


43) Im römischen Recht: adnotatio (Vgl. Bethmann-Hollweg a.a.O. 3,349).
44) R. Sohm Jr., Die Litiscöntestatio 1914, S. 192.
45) Vergl. R. Sohm, a.a.O. 194. Hier allerdings auch der Nachweis, daß diese Anschauung irrtümlich und ein Erzeugnis des von der Theorie ausgehenden Strebens nach der antiken, vermutlich unveränderlichen litis contestatio war.
46) Dem von den Herausgebern überlieferten Text: pour lequel neant il soit tenu ist die andere von Maltet a.a.O. 3,143 mitgeteilte Lesart: neaulmoings il soit tenu vorzuziehen. Es handelt sich um das in der mittelalterlichen Prozeßordnung erörterte factum alienum. (Vergl. Durantis, Speculum juris, de probatione § 5, Nr. 18.19.

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concludit, Gaius Inst. IV, 41), kann der Kläger entweder durch eine geschriebene Urkunde, die er an Ort und Stelle vorzuzeigen hat, oder durch Zeugen liefern. Im letzteren Falle wird ihm je. nach dem Wohnsitz des Zeugen eine entsprechende Frist eingeräumt.

Bei den Klagen über Beträge, die die Summe von 5 Gulden überschreiten, wird sofern der Tatbestand durch einen Schuldschein klar erwiesen ist, auch ein summarisches Verfahren am Platze sein, sonst muß die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens einer schriftlichen und komplizierteren Prozedur weichen. Im ersten Termin, auf den die Ladung lautet (au premier jour de lassignation) legt der Kläger eine schriftliche Klage in duplo vor. Das eine Schriftstück wird dem Beklagten auf seine Kosten ausgehändigt, mit dem Ersuchen, den Klagelibell innerhalb 8 Tagen mit einer ausdrücklichen Litiscontestation zu beantworten. Geschieht dies, so steht es dem Kläger frei, seine Sache wiederum innerhalb einer weiteren Frist von 8 Tagen in einer artikulierten Schrift, d.h. in einem, die Beweisartikel enthaltenden Instrument, in einem artikulierten Klagelibell zu begründen und die notwendigen Beweisurkunden beizufügen. Der Beklagte ist dann verpflichtet, innerhalb der gleichen Frist die Artikel zu beantworten. Er kann außerdem Zeugenbeweis anbieten, wozu ihm eine weitere Frist von einer Woche eingeräumt wird, in der die Zeugen vernommen werden können. Dann erfolgt wieder nach einer Woche die Veröffentlichung der Zeugenaussagen (die publicatio attestationum, nach dem geläufigen Ausdruck des ordo iudiciarius). Für den Fall, daß die Parteien nach der Veröffentlichung der Zeugenaussagen noch einige der Aufklärung der Sachlage dienliche Beweisdokumente nachzutragen wünschen, wird ihnen eine Frist von einer Woche zugestanden.

Uebertrifft diese präzise Darstellung der einzelnen Phasen des Prozesses die entsprechenden Schilderungen desselben Gegenstandes in den Statuta VI, 17,18 und Statuts et Ordonnances 10,11 und 12 47), von denen sie offenbar ausgeht, an Klarheit und Vollständigkeit, so könnte man


47) Sources I,370f. und II,274f.

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zunächst bemängeln, daß Calvin nicht deutlich auseinandersetzt, was geschehen soll, wenn der Beklagte die Klage verneint. Er spricht ganz allgemein von den Einreden (exceptions), die der Beklagte vorschützt, wobei der Unterschied von peremptorischen und dilatorischen Einreden nicht weiter erwähnt wird; denn die Wendung: sie alleguoit Solution ou chose semblable, kann wenigstens nach der römisch-kanonischen Theorie von beiden Arten verstanden werden. (Defensiones, quae ipso jure tollunt, ut solutio; quae solutionem differunt) 48). Ebenso allgemein ist die Bestimmung, daß man verschiedene Einreden in demselben Streitobjekt vorschützen kann, je nach dem Wunsch der Parteien und je nach den Beweisgegenständen, und zwar so, daß eine Einrede die andere nicht auszuschließen braucht. Es läßt sich nicht entscheiden, ob hier Calvin hauptsächlich an die peremptorischen Einreden denkt, die man nach dem römischen und dem ihm darin folgenden kanonischen Recht zwar in der Regel schon bei der Litiscontestatio vorschützte, die man aber auch nach der Litiscontestatio bis zum Urteil anbringen konnte 49).

Immerhin scheint Calvin mit diesen allgemeinen Bestimmungen zunächst die Freiheit und Beweglichkeit in dem Beweisverfahren hervorkehren zu wollen. Dies wird begreiflich, wenn man bedenkt, daß in dem bisherigen kanonischen Prozeß eine formalistische, mechanische, in unzähligen Einzelvorschriften sich erschöpfende Behandlungsweise vorherrschend war. Der Richter war Schritt für Schritt gebunden durch Vorschriften, die mit ihrem Formalismus jede freiere Bewegung erdrücken und damit das Augenmerk von der Herstellung materieller Wahrheit vollständig ablenken mußten 50). Dazu kommt, daß Calvin die Verworrenheit, die in der Lehre von den Einreden herrschte, nicht mitmachen wollte. (Beispiele: Zu den prozeßhindernden Einreden gehören denn auch


48) Vgl. Durantis a.a.O. II,1, de except et repl. § 1 nr. 4,5: vgl. Innozenz IV. in seinem „Apparatus ad decretale”, ad c. 4. X. II,25.
49) c. 8 Cod. VIII.36, c 2 C. VII, 50: peremtorias exceptiones omissas in initio antequam sententia feratur opponi posse perpetuum ed. manifeste declarat. Durantis a.a.O. § 3, nr. 1,3.
50) Endemann, a.a.O. 272ff.

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diejenigen, die actionem nullam esse darstellen, sogar die dilatoria solutionis; es herrscht Unstimmigkeit darüber, ob nach der Veröffentlichung der Zeugenaussagen noch Einreden oder Repliken statthaft seien) 51). Im Interesse eines schleunigen Verfahrens würde Calvin schwerlich die Anschauung des kanonischen Rechtes gutheißen, wonach die zahlreichen dilatorischen Einreden in dem Zeitraum zwischen Einreichung der Klage und der Litiscontestatio vorgeschützt werden konnten, was beim Fehlen einer ausdrücklichen Vorschrift, die Einreden zusammenzudrängen, eine Belastung des Verfahrens bedeutet 52). Daher ist es als ein Zeichen der Vereinfachung zu begrüßen, daß Calvin im Unterschied vom kanonischen, aber auch dem römischen Recht, die eine triplicatio, ja sogar quadruplicatio vorsehen, dem Beklagten eine zweite und dem Kläger eine dritte Entgegnung nicht gestattet.

Man könnte einwenden, daß Calvin durch Aufstellung einer Reihe von Verhandlungsterminen nach der Litiscontestatio sich von dem römischen Recht entfernt, nach dem ein Termin alle mündlichen, nach der Litiscontestatio wenn auch nacheinander, nicht miteinander erbrachten und zu beweisenden Tatsachen einschließt 53), und damit dem beschleunigten Verfahren mehr gerecht wird. Demgegenüber muß festgestellt werden, daß Calvin in der Aufstellung von verschiedenen Terminen an die Vorschriften der Statuts von 1529 gebunden war. (vgl. die Beschlüsse vom 7. und 21. November 1541 und 15. September 1542) 54), die aber bei Aufstellung von Terminen die möglichste Abkürzung ihrer Dauer verlangen (pour abrevier que sera possible), die Calvin sogar von 10 Tagen auf 8 herabsetzt (im Falle des Beweises des Klägers).

Entsprechen die verschiedenen Termine allerdings denjenigen des kanonischen Rechtes, so hat diese Abweichung von dem römischen Recht keine prinzipielle Bedeutung. Die Stellung des Beweisverfahrens ist dieselbe wie


51) Vgl. Rau, das Beweisverfahren im ordentlichen Prozeß im Archiv für die zivilistische Praxis 38,417ff; Endemann, a.a.O. 217ff.
52) Endemann, a.a.O. 212, ff.
53) Rau, a.a.O. 422; Bethmann-Hollweg a.a.O. 3, S. 372.
54) R. C. 35,408; 36,122ff.

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im römischen Recht. Das Beweisverfahren wird nämlich nicht, wie im deutschen gemeinen Zivilprozeß, von dem ersten Hauptverfahren durch ein Beweisinterlokut streng abgesondert, es tritt hier nicht, wie im deutschen Prozeß, der Gegensatz zwischen Behauptung und Beweisführung hervor, ja es kann die Partei ihre Gegnerin von Anfang der Verhandlung an bis zum Tage der Veröffentlichung der Zeugenaussagen immer wieder im Rahmen der rechtlichen Verordnungen den Beweis vorbringen lassen (op 10/1; 136). Es fehlt auch das im kanonischen Recht im Ansatz vorhandene, in dem deutschen Prozeßverfahren ausgebildete, dem römischen Recht noch fremde sogen. Eventualprinzip, nach dem alle Verteidigungsmittel, die in einem bestimmten Stadium vereinbart werden, zugleich und miteinander geltend gemacht werden können. Im übrigen darf man nicht, um das calvinische Beweisverfahren an das römische anzugleichen, darauf hinweisen, daß auch dieses Fristen kennt, die auf Antrag einer Partei oder nach Gutdünken des Richters den streitenden Parteien bewilligt werden, die sog. dilationes instrumentorum causa. In diesem Falle würde nämlich der Partei, die nicht von vornherein wissen konnte, was vom Gegner angefochten und von ihm vorgebracht werden wird, die Möglichkeit gegeben, in bestimmten Fristen die notwendigen Beweismittel zu sammeln 55). Die dilatio instrumentorum causa war aber nicht eine Frist zur Führung des Beweises und eine Verlängerung der Litisdenunziationsfrist, sondern eine von dieser ganz unabhängige völlige Aussetzung des Rechtsstreites. Während des Verlaufes dieser Frist ruhte die Tätigkeit des Richters, sodaß die Parteien erst nach Ablauf dieser Aufschubszeit wieder erscheinen konnten 56). Dieser Aufschub des Prozesses stand allerdings im Gesichtskreis Calvins. Die Ueberschrift am Schluß des Fragmentes „pour quel temps une action est interrompu (143)” beweist dies. Leider sind seine diesbezüglichen Ausführungen nicht mehr aufzufinden.


55) Rau, a.a.O. 230; Planck, die Lehre vom Beweisurteil 120ff.; Bethmann-Hollweg, a.a.O. 3,274.
56) Dig V 1,36 Cod. III 11,3 Vgl. Bethmann-Hollweg a.a.O. II,177, III,194 und Kipp „Zur Geschichte des römischen Zivilprozesses und des interdictum quorum bonorum” in der Festgabe U. Bernh. Windscheids 50 jährigen Doktorjubiläum 165ff.

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Um einen erschreckenden Eindruck von der Weitläufigkeit des kanonischen Verfahrens zu bekommen und den Abstand des calvinischen von diesem ermessen zu können, muß man wissen, daß die maßgebenden kanonischen Prozessualisten 24 kasuistisch unterschiedene dilationes aufgestellt haben, in denen die dilatio probatoria 3—6—9 Monate umfassen konnte! 57).

Es entspricht ferner dem Beschleunigungsprinzip, wenn bei geringfügigen Streitsachen das Urteil acht Tage nach dem Abschluß des Verfahrens gefällt werden soll (vgl. Statuts et ordonnances 10 Schluß) 58). In wichtigen Fällen, die eine eingehende Beratung erfordern 59), ist die Frist nicht genau vorgeschrieben. Es wird nur den Richtern nahegelegt, ihre Beratungen zu beschleunigen und die Frist von einem Monat möglichst nicht zu überschreiten. Die Dauer des Prozesses, die in der spätrömischen Zeit die Tendenz zeigte, sich in die Länge zu ziehen 60) und in Genf früher sich öfter 2—3 Jahre öfter hinschleppen konnte — noch im Jahre 1470, also nach der Erscheinung der die Beschleunigung des Prozesses energisch fordernden Statuta wird in den „acta honesti viri Jacobi de Fontana” von einer zweijährigen Dauer berichtet —, wird auf 4½ Monate bemessen, ausgenommen die Fälle, in denen die Heranziehung der außerhalb Genfs wohnenden Zeugen mehr Zeit in Anspruch nehmen mußte (ib. 137). Aeußerst schleunig (plus sommairement) müssen die außergewöhnlichen Prozesse erledigt werden (ib. 138), d.h. die Rechtsstreitigkeiten, die keinen Fristaufschub vertragen, so die Alimentenklagen, für die auch das römische Recht eine rasche Untersuchung fordert 61).

Calvin hat eingesehen, daß das Prinzip des summarischen Verfahrens mit dem Geist der Scholastik, der in den peinlich kasuistischen Distinktionen der kanonischen Lehre sich erschöpft und damit die Weiterungen des


57) Endemann, a.a.O. 214: Rau, a.a.O. 416.
58) Sources II,274.
59) Ob zu dieser Beratung auch außeramtliche Autoritäten, wie das kanonische Recht vorsieht (Durantis II, 2 rubr. de. requis. consilii), herangezogen werden können, wird nicht gesagt.
60) Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozesses 291.
61) Wenger, a.a.O. 315; Briegleb, a.a.O. 245ff.

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Prozesses verursacht, brechen muß. Wenn er trotzdem einzelne Fristen nach der Litiscontestatio einführt, so schränkt er sie durch eine feste, zeitlich genau begrenzte Ordnung zwischen Behauptung und Beweisführung ein. Bei seinem Ringen um die Vereinfachung des Prozesses kommt aber das eine Prinzip nicht zur Auswirkung, nämlich die Ueberzeugung, daß das Verfahren bei aller Beweglichkeit doch eine gewissen Straffheit aufweisen muß. Dem calvinischen Entwurf fehlt das feste Beweisinterlokut. Das Beweisthema wird von den Nebensachen getrennt und als selbständige Hauptsache hingestellt. Es wird nicht dem Richter, sondern den Parteien überlassen, was sie als eigentlich streitige Hauptsache ansehen wollen. So kann es geschehen, daß die Partei bei der ihr eingeräumten Beantwortung der gegnerischen Artikel immer die einzelnen ihr als wichtig erscheinenden Behauptungen herauszugreifen und zu widerlegen versucht. Es ist im Grunde ein Inzidentverfahren. Zwar liegt bei Calvin ein Versuch, sich dem Beweisinterlokut zu nähern, nämlich das Zugeständnis, daß die Partei während des ganzen Prozesses ihre Zeugen schwören lassen kann, was nur verständlich ist, wenn einer oder mehrere Mitglieder des Gerichtes diese Handlung leiten. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß ein solches Rechtsmittel leicht mißbraucht werden kann, um den Gang des Prozesses zu unterbrechen und ihn hintanzuhalten, wie dies bereits in der französischen Gesetzgebung seit der Einführung der dem kanonischen Recht entlehnten „interrogatoires sur faits et articles” durch die Ordonnance von 1539 der Fall war. (Vgl. § 37 de se faire interroguer, l’une l’autre, pendant le proces, et sans retard d’iceluy, par le juge de la cause 62). Hat nun Calvin diese Bestimmung der Ordonnance übernommen, so hat er es zweifellos in der Ueberzeugung getan, daß durch die verstärkte Einflußnahme des Gerichts auf den Gang des Beweisverfahrens die Möglichkeit geboten werde, die Parteien auf das Hauptthema, die eigentlich strittige Sache, hinzulenken und die abwegigen Artikel und Beweismittel auszuscheiden, wie ja tatsächlich die interrogatoires


62) Warnkönig und Stein, Französische Staats- und Rechtsgeschichte III,640ff.

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das frühere Verfahren, die beiderseitigen Artikel nach ihrem Gewicht zu ordnen, (concordare articulos) ersetzen sollten 64). Calvin hat aber übersehen, daß die Ordonnance von 1539 durch die Einführung der interrogatoires die bisherige Praxis, wonach die Parteien die artikulierten Satzschriften (rubricae) zu wechseln hatten, beseitigen wollte. Wenn er aber auf der einen Seite die früher in Genf gebrauchte Methode der artikulierten Satzschriften beibehält und damit die Freiheit der Parteien bei der Aufstellung ihrer Beweispunkte nicht beschränkt, auf der anderen Seite aber dem Gericht die Einflußnahme bei den interrogatoires zugesteht, so verbaut er sich damit den Weg zu einer restlosen Durchsetzung des Beweisinter-lokuts. Er setzt in dieser Hinsicht einfach die alte Genfer Praxis fort.

Stand aber diese, wie die Zivilprozeßakten beweisen, stets in einem lebendigen Zusammenhang mit der französischen Praxis, vorzugsweise in der Zeit, da das römisch-kanonische Recht das Gericht beherrschte, so will auch Calvin mit dieser Tradition nicht brechen. Tatsächlich sind die Voraussetzungen für die Anwendung der Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei persönlichen und dinglichen Klagen auf den französischen Einfluß zurückzuführen. Bereits du Breuil hat in seinem maßgebenden Stilus curiae cap. 17 und 19 diesbezüglich ein förmliches System ausgebildet. Die im Falle einer fremden Handlung 65) vom Beklagten gewünschte Frist ist die dilatio consilii (jour de conseil oder d’advis), die die französischen Prozessulation in Fällen des Erbschaftsbesitzes oder der Erbschaftschulden einräumen 66). Dagegen fehlt bei Calvin ein deutlicher Hinweis auf die von dem Beklagten für die Ladung eines Gewährsmannes erbetene Frist, die die französischen Prozessualisten dilatio garendi, jour de


63) Er hat die Ordonnance von 1539, ebenfalls die Institutiones forenses von Imbert, die die königlichen Bestimmungen anführen, vielfach, wie wir später sehen werden. berücksichtigt.
64) Vgl. Beaumanoir (der Verfasser der Coutume de Beauvoisis VI,15: Les rebrices doibvent estre fetes et accordées par le seigneur et par les hommes qui doibvent jugier).
65) Siehe oben Seite 222.
66) Vgl. Warnkönig und Stein, a.a.O. 538; Schaffner, Geschichte der Rechtsverfassung Frankreichs Bd. III, S. 510.

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garand genannt haben. Calvin spricht nur davon, daß der Kläger nicht vor dem Gericht erscheinen kann, wenn er nicht mit den nötigen Beweisurkunden versehen ist oder die Zeugen nicht vorführen kann 67). Eine Anspielung auf die französische dilatio garendi könnte höchstens darin gefunden werden, daß auch die Zeugen in der ältesten französischen Rechtssprache Gewährsmänner (garants) genannt werden 68). Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß der Satz nicht am richtigen Ort steht und daß er sich ursprünglich auf den von dem Beklagten nominierten Gewährsmann bezogen hat; dafür würde sprechen, daß die Edits von 1568, denen der Entwurf Calvins zweifellos als Vorlage diente 69), Titl. III,8 in diesem Zusammenhange den Gewährsmann erwähnen: pour évoquer garand, ou soit auteur, quand il sera allegué avoir interet en la Cause sera donne delay competent ayant esgart au lieu dont il doit estre evoqué, et sauf de donner autre delay, si la necessité le requiert.

In der Begriffsbestimmung der Litiscontestation folgt Calvin zwar der Auffassung der mittelalterlich-französischen Prozessualisten, namentlich Bouteillers 70). Die später durch Imbert vertretene Deutung der Litiscontestatio bezw. contestation en cause ist ihm fremd, nämlich die Auffassung, die contestation sei erst dann vollzogen, wenn der Richter sie als solche anerkennt 71). Calvin meidet diese Deutung, nicht um dem Richter eine übermäßig betonte Wichtigkeit zu geben, sondern zweifellos aus der Ueberlegung heraus, daß vor einer definitiven Besiegelung der Streitsache durch den Richter der Angeklagte nach seinem Belieben verschiedene Verteidigungsakte vornehmen konnte, ohne zum


67) Sinon estant garny. Diese Lesart, die Mallet, Edits 143 (Sources II,400), bietet, ist entschieden der vom Archivar Th. Heyer vorgeschlagenen: sinon estant guarant vorzuziehen; denn für wen sollte der Kläger bürgen?
68) Schaffner, a.a.O. 531.
69) vgl. unten S. 271ff.
70) Somme rural I,17,18: litiscontestation est nyer la demande de partie par ung nyer pour toutes deffenses.
71) Imbert, a.a.O. I,14.3, setzt seine Deutung der gewöhnlichen Auslegung des römisch-kanonischen Rechtes entgegen: ils disent la cause estre contesté quand le defendeur a defendu seulement; mais nous prenons la contestation en cause, quand le defendeur a defendu, et le juge baillé son appoinctement par dessus.

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Kern des Streites durchzudringen, wie es in Frankreich tatsächlich der Fall war.

War die Annäherung des Genfer römisch-kanonischen Prozeßrechtes an das französische durch allgemeine territoriale und kulturelle Beziehung gegeben, so durfte sie Calvin auch wohl aus inneren Gründen naheliegen, da er in dieser Zusammenfassung keine innere Heterogenität des römischen und französischen Rechtes zu sehen brauchte. Es war damals noch nicht, bis auf einzelne Ausnahmen 72), die Anschauung durchgedrungen, daß zwischen dem französischen Gewohnheitsrecht und dem römischen Recht eine Kluft besteht. Es hält noch damals im wesentlichen die Meinung an, daß das römische Recht fähig ist, das Rechtsbewußtsein zu stärken, und daß dieses nicht bloß in den inzwischen abgeschafften Lehensgerichten lebendig war 73).

 

4

Von diesen persönlichen Klagen, die sämtlich Rechtsverhältnisse betreffen, die sich auf die Leistung einer Person beziehen, unterscheidet Calvin mit dem römischen und dem mit diesem ganz übereinstimmenden kanonischen Recht 74) die dinglichen Klagen oder Vindikationen: de actions reales ou vendications). Die Gleichsetzung soll aber nicht etwa bedeuten, daß seine diesbezüglichen Ausführungen sich nur mit der Vindikation, der Eigentumsklage, beschäftigen wollten, bei der der nichtbesitzende Eigentümer dem besitzenden Nichteigentümer den Herausgabeanspruch (vindicatio rei) geltend macht. Wäre dies der Fall, so hätte Calvin nur ein Petitorium 75) im Auge und könnte daher das ihm vorgeschriebene Prinzip eines summarischen Verfahrens gar nicht verwirklichen, da die damalige Theorie und Praxis ein Petitorium summarium (summariissimum) nicht


72) S. unten S. 256.
73) Vgl. Warnkönig u. Stein, a.a.O. 599ff.
74) Diese Unterscheidung ist bekanntlich rein römisch-rechtlich und den Gewohnheitsrechten der „Barbaren” fremd.
75) Die beiden Ausdrücke Petitorium und Possessorium sind Calvin bekannt. Vgl. unten S. 237.

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kennt. Denn nur die possessorischen Klagen eignen sich zu einer summarischen Verhandlung. Das Possessorium summariissimum der Postglossatoren und des usus modernus ist bekanntlich eine Umbildung der beiden im justinianischen Recht bereits vereinigten Interdikte: uti possidetis und utrubi, eine „portio interdicti Uti possidetis” 76). Wie in der nachklassischen römischen Zeit, so wurden auch in Genf die possessorischen Klagen ex causa interdicti angestellt; auch die Edits von 1568 haben die Ueberschrift: (tit. 2) Des matieres possessoires et inerdits. Die Interdiktsformel ist nicht mehr ein selbständiges Prozeßmittel. Die Klagen werden, wie andere gewöhnlichen Klagen, ohne Erteilung des förmlichen Interdikts eingeleitet und begründet; es wird auf den materiellen Inhalt des Interdikts gesehen und die Klagen nach dem materiellen Grundsatz entschieden 77).

Wenn außerdem Calvin in dem Abschnitt über die Vindikationen auch ausgesprochen possessorische Klagen behandelt, so entspricht die mit der Vindikation identische actio in rem dem Sprachgebrauch der klassischen römischen Juristen, nach denen die actio in rem jede Klagformel zum Schutz eines dinglichen Rechtes bedeutet, eine Auffassung, die dann in der prozessualen Theorie der neueren Zeit wiederkehrt 78). Die Aufgabe, den wahren Charakter der actiones restlos richtig zu bestimmen und die einzelnen Prozeßphasen zu schildern, wird allerdings wesentlich erschwert, da das zweite Fragment im Unterschied von dem ersteren verderbt und außerdem viele stilistische Unebenheiten aufweist, ein Zeichen, daß es sich hier um einen primitiven, die glättende Hand erheischenden Entwurf handelt 79). Schon der erste allgemeine Satz: Quiconque vouldra intenter querele de maison, terre ou


76) Bruns, Das Recht des Besitzes im Mittelalter, S. 260ff.
77) Bethmann-Hollweg, a.a.O. 3, S. 46 — Der summarische Charakter des Interdiktenverfahrens ist allerdings öfter, namentlich von Savigny (Recht des Besitzes § 35) bestritten worden; heutzutagen ist man geneigt, diesen Wesenszug doch anzuerkennen. Vgl. Wenger, a.a.O. S. 316ff und die hier angeführte neueste Literatur.
78) Wlassak in ,,Real-Encyklop. d. klass. Altertumswissenschaft” (Pauly-Wissowa) s. v. Actio.
79) Vgl. die Anmerkung der Herausgeber, ebenda 128, Anm. 9.

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aultre possession, qu’il procede par requeste, pour estre mis en possesion, inserant le droit quil y veult pretendre, fordert die Frage heraus: Will hier Calvin nur die erforderlichen, den Prozeß einleitenden Modalitäten angeben, will er einschärfen, daß beim Beginn jedes Besitzstreites (querelle) ein Klagegrund angegeben werden soll, wobei das „droit” mit dem Klagegrund identisch wäre; oder soll die Hinzufügung des Rechtes, das der Kläger vorschützen will, auf die petitorische Klage hinweisen? Gegen die erste Annahme würde sprechen, daß Calvin bereits vorher einschärft, jede Klage müsse eine bestimmte Bezeichnung des Klagegrundes und Klagegegenstandes und einen bestimmten Antrag enthalten 80). Es soll hier die Forderung unterstrichen werden, daß in jeder Klage die Streitsache genau festgestellt werde und der Klageantrag sich auf die den Besitz des Klägers beweisenden Tatsachen stützen muß. War die erstere Forderung hauptsächlich in dem römischen Recht begründet, das allerdings ausnahmsweise die expressa causa verlangte 81), so tritt die Betonung der Tatsachen, aus denen der Klageantrag begründet wird, hauptsächlich in dem Mittelalter hervor: dabis mihi factum, dabo tibi jus. Es wird daher die Annahme zulässig sein, daß Calvin an unserer Stelle den Rechtsgrund (droit) von dem Klagegrund (cause) unterscheiden will. Der Rechtsgrund stützt sich aber auf den Erwerbsgrund des Eigentums, den Titel (titre): Erbschaft, Kauf, Schenkung (tiltre dheritage, vendition et donation) — zweifellos entsprechend dem römischen-rechtlichen titulus pro herede, pro emptore, pro donato 82). Tritt der Kläger mit der Anführung dieses


80) 10/1, 139: que en toute demande tant de parole comme par escript, que après narre le faict, il y ait certaine conclusion. Cestadire que l’acteur exprime ce quil veut demander. Das war übrigens die allgemein anerkannte Forderung des mittelalterlichen Prozeßverfahrens. Der Klagelibell muß klar die causa (factum) bezeichnen, dann die obligatio inde descendens und die actio, quae ex obligatione tanquam ex matre oritur (Durantis IV).
81) Daß diese expressae causae nicht unbedingt erforderlich waren, sondern daß der Kläger sich zunächst auf einen bestimmten Rechtsgrund berufen und dann hiervon abgehen und sich auf einen anderen Rechtsgrund stützen konnte, steht fest. Vgl. die Belegstellen und den Streit um die causa expressa Rhein. Museum Bd. 2,222ff. 251ff und Voigt, Ueber die conditiones ob causam, S. 148ff.
82) Voigt, a.a.O. S. 195ff.

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Titels in der Klageschrift (lettres 83)) den Beweis seines Besitzrechtes an, so könnte man vermuten, daß dies nur in dem Petitorium, wie dies auch die spätere Genfer Praxis vorsieht 84), geschehen könnte. Calvin läßt aber auch bei dem Possessorium den Kläger seinen Titel geltend machen, wenn auch dieser „tiltre apparent” nicht ganz evident bewiesen werden kann. Hat damit Calvin offenbar die bisherige Genfer Praxis nicht verlassen, so denkt er zweifellos an ein Petitorium, wenn er den Besitzanspruch des Klägers auf eine vakante Herrschaft durch den Erbfolgetitel (tiltre de succesion) begründen läßt 85.

Dagegen hat die ausführliche Beschreibung des Verfahrens zwischen dem Kläger und der Gegenpartei, die sich bereits im Besitze eines angeblich durch Erbschaft oder Kauf oder Geschenk erworbenen Besitzes befindet 86), entschieden das Possessorium im Auge. Die erhobene Klage, der der Kläger einen schriftlichen, zwar nicht vollständigen Beweis, aber wenigstens eine Bescheinigung seines Rechtsanspruches zugrunde legen muß, wird dem augenblicklichen Besitzer (eines Hauses oder einer Scheune) zur Kenntnis gebracht; sind sie selbst nicht Besitzer (Calvin denkt vermutlich an Pächter), so haben sie den Fall dem Besitzer mitzuteilen. Befindet sich dieser in einer anderen Gegend, so muß der Bewohner des streitigen Besitzstückes oder ein Anderer dem Gericht darüber Mitteilung machen, um gegebenenfalls eine Frist zu erwirken, in der die Ladung des Besitzers erfolgen und dieser sich in den Rechtsstreit, wenn er will, einlassen kann. Wird der Wunsch nach einer bestimmten Frist für den Besitzer nicht geäußert, oder erhebt dieser keinen Widerspruch


83) In den Akten der bischöflichen Zeit litterae oder cedula; dementsprechend auch der Ausdruck: copia litterarum, copiae cedulae partis supplicantis.
84) Vgl. die Loi sur la procedure civile vom 29. September 1819, tit. XIX, art. 260.
85) Es ist zu bedauern, daß der von Calvin ausgearbeitete Entwurf über die Erbfolge (il est dict au titre des successions, comment il y faut proceder, vgl. 10/1,131: de mectre en possession d’heritage, item quel ordre en y doict tenir), uns nicht erhalten ist. — Es ist hier nicht der Ort, das Erbfolgerecht der bischöflichen Zeit zu erörtern; es sei nur auf eine interessante vom kleinen Rat getroffene Entscheidung über die Vacantia bona vom 20. März 1459 verwiesen (Reg. du Cons., herausgegeben von Rivoire 1,279).
86) Es handelt sich hier offenbar, soweit die Erbfolgefrage in Betracht kommt, um eine Partei, die pro haerede, nicht aber pro possessore besitzt. Denn derjenige, der pro possessore besitzt, braucht keinen „titre” anzugeben.

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(telle denuntiation faicte sil ny (est) nulle Opposition faicte, ne declaration, ne demande davoir terme pour le notifier a qui il appartiendra), so verfügt der Richter die Einweisung des Klägers in den Besitz, die sofort in Kraft tritt (que le mandement ait sa vigueur sans contredict). — Calvin gibt hier im wesentlichen Grundzüge eines summarischen Verfahrens wieder, wie sie uns in dem justinianischen Recht begegnen. Es schweben ihm offenbar die Bestimmungen der 1.2 C ubi in rem act. 3,19. Imp. Constantinus 87) vor, wobei er in der statt zweier angeordneten Ladungen an den dominus nominatus nur eine einzige vorsieht. Das Summarische besteht nicht darin, daß dem Kläger der Besitz eingeräumt wird, den der bisherige Inhaber unverteidigt aufgibt, d.h. wenn er keinen Widerspruch gegen die Klage erhebt; denn diese Regel findet sich in jeder vindicatio in re. Wenn der Beklagte, der nicht gezwungen wird, sich in den Streit einzulassen (entsprechend dem römisch-rechtlichen: nemo rem cogitur defendere D 50,17, 156 pr.) und vom Kläger überführt wird, daß er sich im Besitz einer unbeweglichen Sache befindet, muß die Einweisung des Klägers in den Besitz sich gefallen lassen, die in diesem Fall eine unbedingte ist. Das Summarium äußert sich vielmehr darin, daß in diesem Fall der Kläger nicht einen vollständigen Beweis seines Eigentumsrechtes zu liefern braucht 88). Das beweisen die Ausdrücke apparent und: encore qu’il ne soit point suffisant.


87) Es soll hier zur Vergleichung der Wortlaut der betreffenden Stelle aus dem Codex angegeben werden: Si quis, alterius nomine quolibet modo possidens immobilem rem, litem ab aliquo per in rem actionem sustineat, debet statim in judicio dominum nominare, ut, sive in eadem civitate degat, sive in agro, sive in alia provincia sit, certo dierum spatio a Judice definiendo eoque ad notionem eius producendo vel ipse in loca, in quibus praedium situm est, perveniens, vel procuratorem mittens, actoris intentiones excipiat. Si vero post huius modi indultum tempus minime hoc, quod dispositum est, facere maluerit, tamquam lite, quae ei ingeritur, ex eo die quo possessor ad Judicium vocatus est, ad interrumpendam longi temporis praescriptionem contestata, judex, utpote domino possessionis nec post huiusmodi humanitatem sui praesentiam faciente, edictis legitimis nec ponendis eum citare curabit, et tunc, in eadem voluntate eum permanente, negotium summatim discutiens in possessionem rerum actorem mitti non differet, omni allegatione absenti de principali quaestione servata.
88) Vgl. D 6,1,80: in rem actionem pati non compellimur, quia licet alicui dicere se non possidere, ita ut si possit adversarius convincere, rem ab adversario possideri, transferat ad se possessionem per judicem, licet suam esse non comprobaverit.

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Calvin folgt hier der von dem italienischen Juristen Johannes Faxioli zum ersten Male ausgebildeten, in das Speculum von Durantis aufgenommenen und anfänglich auch von Bartolus und einem Teil der Glosse vertretenen Bescheinigungstheorie, die nach ihrer Auffassung im römischen Recht verwurzelt war 89). Es ist wegen des Verhältnisses Calvins zu Alciat nicht belanglos festzustellen, daß der große Renaissancejurist Anhänger der Bescheinigungstheorie war 90) Daß dieser Beweis bei einer haereditatis petitio nicht genügt, die vielmehr eine erschöpfende Begründung des Erbrechtes verlangt, war nach dem römischen und Glossatorenrecht selbstverständlich 91). — Man kann aber noch eine engere Beziehung zwischen diesem summarischen Possessorium Calvins und dem justinianischen Recht feststellen. Das Streitobjekt kann eine Erbschaftssache sein (soit par tiltre d’heritage). Wir wissen nun, daß das justinianische Recht dem den Besitz einer Erbschaft anstrebenden Kläger in dem Interdikt quorum bonorum ein Rechtsmittel gewährte, um die missio in possessionem vor der endgültigen Erledigung des Erbrechtes zu erlangen. Dieses Rechtsmittel war aber ein summarisches, wie 1.22 C Theod. quorum appellation non recipiuntur 11,30 (in interdicto Quorum bonorum cessat licentia provocandi, quod beneficio celeritatis inventum est, subdantur iniuriis tarditatis) und 1. un. § 2 C Theod. 4,21, das Justinian als 1.3 C Quorum bonorum 8,2 in seine Kompilation aufgenommen hat 92), beweisen. Dementsprechend hat auch die Glosse zu 1.3 C quorum bonorum ausdrücklich dieses Rechtsmittel als summarisches bezeichnet. So glossa II


89) Die Bescheinigungstheorie hat bekanntlich auch unter den modernen Romanisten Anhänger gefunden, so bei Savigny, Vermischte Schriften. 242ff.,252. Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses. § 29. Wenn man vielleicht geneigt sein muß, mit Briegleb, Einleitung in die Theorie der summarischen Prozesse, S. 375ff, das Prinzip des summarischen Prozesses in der „prima facie-Kognition” unter Zulassung nur „in continenti liquidierlicher Verteidigungsbeweise” zu erblicken, so ist es doch unrichtig, in der Glosse Jeden Anflug einer Bescheinungslehre zu leugnen. Vgl. Wach, Der italienische Arrestprozeß, S. 137ff.
90) Responsiones 389, n. 5.
91) Ubbelohde, die Interdikte des römischen Rechtes I,120ff, I,50ff, II,495f.
92) Jubemus ut omnibus frustrationibus (Verzögerungsmittel) amputatis per interdictum quorum bonorum in petitorem corpora transferantur secunda actione proprietatis non exclusa.

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(Gl. petiturus), und ihr folgend Bartolus (in interdicto Quorum bonorum plenae probationes non requiruntur, immo fit cognitio summaria), der sie summa cognitio übrigens auf alle possessorischen Interdikte ausdehnte, und Maranta (De ordine judiciorum IX. dist. 43: similiter in interdicto Quorum bonorum, quod modici praeiudicii, unde sufficiunt semiplenae probationes secundum Bartolum in 1.1 in col. fin. C. quor. bon. 93). Außerdem wissen wir aus einem Erbschafststreit im Jahre 384 n. Chr., daß in nachdiokletianischer Zeit das interdictum quorum bonorum ein provisorisches Mittel zur Erlangung des Besitzes der körperlichen Erschaftssachen geworden war, ohne endgültige Erledigung der Frage nach dem Erbenrecht 94).

Anders gestaltet sich die Sache, wenn der Gegner gegen die Klage Widerspruch erhebt, d.h. nach dem Zusammenhang, daß die gegnerische Partei das Besitzrecht des Klägers ableugnet und in ihrem gegenwärtigen Besitz mittels des remedium retinendae possessionis geschützt werden will. Der Streit wird dann in einem ordentlichen Gerichtsverfahren ausgetragen.

Dagegen wird von Calvin in den Abschnitten: „des possessions” und „des possessions doubteuses” das Verfahren über Streitfälle besprochen, in denen es sich um die Zusammenfassung des Petitoriums mit dem Possessorium handelt (que le possessoire et le petitoire se vuident ensemble). Calvin kennt also bereits die Unterscheidung von Petitorium und Possessorium, die den italienischen und französischen Theoretikern und Praktikern geläufig war 95), und die die französische Gesetzgebung am Anfang des 16.


93) Vgl. zu dem Gegenstand Briegleb, a.a.O. S. 208ff, Ubbelohde, a.a.O. II, 493ff, 495, 499.
94) Kipp, Ein Erbschaftsstreit aus dem Jahre 384 n. Chr. in der Festgabe zu Bernh. Windscheids 50 jährigem Doktorjubiläum, S. 67ff; dort auch die einschlägige neuere Literatur. Kipp nimmt an (S. 93), daß die Ablehnung des possessorischen „Besitzungsanweisungsantrages” nicht korrekt war, da der letztere trotz seines hinsichtlich der endgültigen Entscheidung provisorischen Charakters doch ein formrichtiges Endurteil hätte sein müssen.
95) So namentlich Beaumanoir; vgl. Glasson, De la possession et des actions possessoires au moyen age in „Nouvelle Revue historique de droit francais et étranger, Bd. 14, S. 600ff.

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Jahrhunderts mit vollem Nachdruck betonte 96). Die Zusammenfassung von Petitorium und Possessorium ist nach Calvin gegeben, wenn die eine der streitenden Parteien früher im Besitze eines Sachgutes war oder beide zum Teil 97), also wo es sich um die possessio plurium in solidum handelte. Wegen der bereits von den römischen Juristen empfundenen Schwierigkeit des Problems 98), ist es zu beklagen, daß die diesbezüglichen Ausführungen Calvins nur in einem verderbten Text 99) erhalten sind. Da aber die meisten Stichworte (attenter, de bailler caution, rendre fruits) in den Edits von 1568 vorkommen, die Verfasser der letzteren vermutlich den Entwurf Calvins im wesentlichen umso mehr übernehmen konnten, als sie wie Calvin, die Vorlage des französischen Rechtes ihrer Gesetzgebung zugrunde legten 100), wird man den Entwurf Calvins nach dem Wortlaut der Edits wieder herstellen dürfen 101).

Demnach denkt sich Calvin das Verfahren folgendermaßen: Wenn eine der beiden Parteien die Klage erhebt, wird der Richter zunächst ein Zwischenurteil fällen (comme par sentence interlocutoire). Der Inhalt des Zwischenurteils läßt sich allerdings nicht genau angeben. Die Worte des verderbten Textes lassen zwei Möglichkeiten zu.


96) Der Ausdruck le petitoire vidé scheint ein terminus technicus gewesen zu sein. Er wird noch später in dem Reformgesetz vom 29. September 1819 Titre XIX, Art. 266 gebraucht.
97) Als Objekt dieser Klage schwebten Calvin ursprünglich namentlich die „possessions contigues” vor; er dachte offenbar an die Grenzscheidungsklage, die actio finium regundorum, die zwar nach dem römischen Recht eine actio in personam ist, da sie aber an Stelle der Vindikation tritt (D, 10,1,1), unter die dinglichen Klagen einbezogen werden darf. Später hat Calvin die beiden Worte possessions contigues ausgestrichen, vermutlich, da die Grenzscheidungsklage ihm nur als Beispiel dienen sollte für die Behandlung des gemeinsamen, von den beiden Streitteilen nach Bruchteilen beanspruchten Eigentumsrechtes an der gemeinsamen Sache. — Ob Calvin auch den Superfiziar Emphyteuta und Nutznießer als zur Vindikation berechtigt ansieht (D 10,1,4,9), ist aus dem Wortlaut nicht festzustellen.
98) Vgl. Savigny, Das Recht des Besitzes, S. 173ff.
99) Die Seite des betreffenden Blattes ist abgerissen (vgl. 10/1, 141, Anm. 2).
100) Siehe unten S. 271 ff.
101) Die betreffende Bestimmung der Edits lautet (tit. II, 4): Si deux parties contendent et maintiennent avoir le droict possessoire et que le cas soit douteux, sera procedé à sequestration de la chose contentieuse pour estre regie par un tiers à ce commis pendant le procez possessoire, sauf à adjuger ladite jouissance par Provision apres la preuve et verification faite à celuy qui auroit le plus apparent droit pour retenir ladite jouissance par ladite provision en attendant le dit jugement definitif, et s’il y a appel le ladite provision sera neantmoins executé sans prejudice du dit Appel en baillant de rendre les fruits.

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Entweder der Richter spricht einstweilen den Besitz der Partei zu, die nach seinem Gutdünken einen größeren Anspruch auf ihn hat, und veranlaßt diese bis zur endgültigen Regelung des Streites die Bürgschaft zu geben, daß sie im Fall des Sieges der anderen Partei die entgangenen Früchte der obsiegenden zurückerstattet (en baillant caution, rendre les fruits). Oder der Richter läßt das Streitobjekt beschlagnahmen, verpflichtet aber diejenige Partei, der er einstweilen den Besitz zugesprochen hat, zur Hinterlegung der Kaution 102). Die zweite Möglichkeit scheint ausgeschlossen zu sein, da Calvin die Beschlagnahme erst bei der Behandlung des (zweifelhaften) Besitzes offenbar als eine neue Maßnahme in Betracht zieht 103). Ueber die wichtige Frage, die bereits das römische Recht (Gai. IV 148, §. 4; I 4,15) auf wirft, ob bei dem Anspruch der beiden Parteien auf den Besitz zunächst entschieden werden muß, wer Besitzer und wer Eigentümer sei, also über die Feststellungsklage, schweigt sich der Entwurf Calvins aus. Das eine geht aber klar aus der Schilderung des Verfahrens hervor, daß der Reformator die in die justinianische Kompilation aufgenommene Regel, wonach ein ausschließliches Eigentumsrecht mehrerer unmöglich ist, als Voraussetzung der gerichtlichen Entscheidung anerkennen und die bereits von Labeo, Paulus und Ulpian getadelte Theorie, die eine gleichzeitige possessio des possessor justus et possessor injustus annimmt, verwerfen würde.

Klar ist der zweite von Calvin erwähnte Rechtsfall, in dem es sich im Unterschied vom letzteren um eine gewaltsame Besitzentziehung handelt. Bei einer


102) Daß es sich hier um die römisch-rechtliche iudicialis stipulatio, die das Resultat des anhängigen Rechtsstreites sichern sollte, handelt, geht aus dem Wortlaut der Edits von 1568 und ihrer Vorlage, dem französischen Recht (siehe unten) klar hervor.
103) Das der Ueberschrift des ersten Abschnittes possession hinzugefügte Adjektivum „doubteuses” wird später ausgestrichen. Die Edits von 1568 führen die Sequestration als provisorisches Rechtsmittel in jedem Fall ein, in dem die beiden Parteien ihr Eigentumsrecht behaupten, also nicht bloß in dem zweifelhaften Streitfall: sie deux parties contendent et maintiennent avoir le droict possessoire et que le cas soit douteux sera procedé à sequestration de la chose contentieuse. Calvin unterscheidet daher, wie später die Edits von 1713 (tit. II, art. 2) den Fall, wo die beiden Parteien ihr Besitzrecht behaupten, von dem zweifelhaften Fall (si deux parties prétendent ... le droit le plus apparent ... ou, si le cas est doubteux, elle sera sequestré). Die Edits von 1713 kehren daher zu der Auffassung Calvins zurück.

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gewaltsamen Besitzentziehung veranlaßt der Richter nach einer vorherigen Untersuchung (en face information) den Verdrängenden, dem Beraubten sofort seinen Besitz zurückzuerstatten, unter Leistung des vollen Interesse für begangene gewaltsame Störungen und mit dem ausdrücklichen Verbot, bis zum endgültigen Abschluß des Gerichtsverfahrens keine weiteren Störungen gegen den Besitzer zu unternehmen.

Und schließlich der dritte Fall. Ist der Besitzstand zweifelhaft, so beginnt der Richter mit Beschlagnahme des fraglichen Sachgutes, die bis zur Entscheidung der Hauptklage „(cause principalle)” andauert und erst nach dem definitiven Urteil aufgehoben, d.h. die Sache dem Sieger im Hauptprozeß herausgegeben wird 104).

In allen drei Fällen betrifft die endgültige Entscheidung, die in den beiden letzten Streitfällen einer vorläufigen gegenübergestellt wird, zweifellos die Regelung des Besitzrechtes; sie ist daher ein Abschluß des Petitoriums. Das die Klage einleitende summarische Verfahren bezweckt nämlich in erster Linie die Entscheidung der Besitzfrage; diese ist also mit Rücksicht auf die cause principalle 105) vorläufig.

Durch den gewährten, während der Dauer des Streites bestehenden einstweiligen Schutz des auf Grund des Zwischenurteils anerkannten Besitzers, und durch das an die


104) Die Anordnung der Sequestration (on commence par sequestre et que le se-questre tienne jusque a sentencc definitive, affin que cela ne soit occasion de pro-longer la cause principalle, si on s’arrestoit sur la delivrance) ist ein Rechtsmittel, das bei dem zweifelhaften Besitz nicht immer allgemein angewandt wurde. Einige Glossatoren (so Rogerius) empfahlen die Entscheidung des zweifelhaften Besitzes durch Los, die anderen waren der Meinung, daß der Richter von der Voraussetzung ausgehen könne, als ob keine von den Parteien besäße, und nach seinem Gutdünken die Entscheidung treffe. Schließlich gab es Prozessualisten, die die Streitsache nach dem Interdictum uti possidetis entscheiden wollten (Haenel, Dissensiones dominorum sive controversiae veterum iuris romani interpretum qui glossatores vocantur S. 176). Calvin folgt aber dem Vorschlag von Cynus, Baldus und Salicet (vgl. deren Auslegung der 1. unica Cod. de prohib. seq. pecu.), die die Sequestration empfehlen (vgl. Jacob Menochus, Commentaria de adipiscenda. retinenda et recuperanda possessione S. 176 und 279).
105) Die causa principalle ist gleich der principalis causa in 1.3 C. de edicto D. Adri-ani tollendu: non solum missionem sed etiam principalem causam esse sopitam. Vgl. weiter Symmachus lib. X, ep. 48. principalem vero causam (sc. proprietatis causam) salvis allegationibus partium futuro examini reservari. — Auch das französische Recht unterscheidet die „sentences de provision von den sentences principales (Schaffner, a.a.O. III, 543).

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Gegenpartei ergangene Verbot, fernere Störungen zu unterlassen, sowie durch die ihr auferlegte Pflicht, den Schadenersatz zu leisten, wird noch nicht präjudiziert, wer der wirkliche Eigentümer ist.

In dieser Vereinigung des summarischen Verfahrens mit dem Hauptverfahren tritt ein eigentümlicher Wesenszug zum Vorschein, dessen Eigentümlichkeit deutlich wird, wenn wir ihn mit dem Prinzip der Postglossatoren vergleichen 106). Durch die Glossatoren vorbereitet, bildet sich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, namentlich durch Paulus de Castro, die Lehre heraus, daß bei allen petitorischen und possessorischen Prozessen der Richter für die Dauer des Prozesses (lite pendente) gegen die Störungen eines Besitzes durch den Gegner schützen müsse, und daß er daher, wenn der Besitz zweifelhaft sei, eine summarische Untersuchung darüber anstellen und darnach seine Entscheidung treffen müßte, die aber nur für die Dauer des Streites wirksam war und der endgültigen Entscheidung über den Besitzstand nicht vorgreifen durfte. Der nächste Zweck des Rechtsmittels war daher nur die Herstellung eines bestimmten Besitzstandes für die Dauer des Prozesses, und der Schutz des Besitzes gegen die Störung. Konnte früher, im 14. Jahrhundert, der Richter aus Gründen des öffentlichen Friedens im Falle einer unmittelbar bevorstehenden Waffengewalt von Amtswegen einschreiten und de piano nach summarischer Untersuchung des Streitfalles die Besitzfrage vorläufig entscheiden, entweder der einen Partei den Besitz zuweisen oder diesen beschlagnahmen lassen, so durfte jetzt nur auf Anrufen einer Partei das possessorium summariissium verfügt werden. Das Summariissimum ging dem Hauptprozeß voraus. Der Richter konnte mit dem Dekret über das Summ, zugleich auch einen Termin zur Einleitung des ordentlichen Verfahrens ansetzen; das Summariun durfte aber auch im Laufe eines Prozesses als Vorbereitung zu diesem angestellt werden. Diese in der italienischen Praxis üblich gewordene und teilweise von der Theorie befürwortete Einrichtung dauerte in der italienischen Praxis fort.


106) Vgl. zum Folgenden Bruns, Das Recht des Besitzes im Mittelalter, S. 264ff.

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Nach Castro 107) gibt es zwei Phasen in dem possessorium: die summarische, in der entschieden wird, welche von den beiden Parteien im Besitz sei, und der nichtbesitzenden die Störung verboten wird; und die ordentliche, in der noch einmal die Besitzfrage erörtert wird. Den Unterschied der beiden Phasen faßt Castro selbst zusammen: Das in der ersten Phase gefällte Urteil ist ein Zwischenurteil und verfolgt vor allem (principaliter) den Zweck, dem Besitzer den Schutz gegen die Störung zu gewähren und in zweiter Linie die Besitzfrage zu entscheiden. In dem possess. ordinarium wird in erster Linie die Besitzfrage verhandelt und als Folge davon das Verbot der Störung erlassen. Das gefällte Urteil ist definitiv. Seine Wirkung dauert aber bis zur engültigen Entscheidung des Besitzrechtes. — Diese Unterscheidung der beiden Arten des possessorium wird schwerlich als eine Vereinfachung bezeichnet werden können. Denn würde es bei der ersten Art nur auf eine gewöhnliche Feststellungsklage ankommen, also auf das „summatim cognoscere, quae pars esset in possessione”, so könnte man das Zwischenurteil in seinem Unterschied von dem „definitiven" der zweiten verstehen. Aber die beiden Urteile verfolgen dasselbe Ziel, nach der Feststellung des possessor das Störungsverbot zu bewirken: ne alteri molestiam vel turbationem faciat lite pendente . . . non habebit effectum nisi quousque lis durabit super proprietate vel possessione. An dem Effekt wird nichts geändert, wenn in der ersten Art vornehmlich die Unterlassung der Störung, in der zweiten die Besitzfrage verhandelt werden. Dazu kommt, daß in der zweiten Phase dieselben Beweisgründe vorgebracht und dieselben Zeugen vorgeführt werden. (Castro, ib.: utrum in dicto ordinario monendo produci possent illae attestationes quae fuerunt productae in isto summario. Resp.: sic, si erunt publicatae quia sunt inter easdem personas . . . . si dicatur istae attestationes fuerunt receptae in iudicio summario ergo non faciunt fidem in ordinario . . . hoc esset verum, si summarie fuissent receptae puta parte absente vel non insufficienti numero. Sed hie secus quia tamquam in plenario iudicio


107) Consilia et allegationes, Nürnberg 1485. (ohne Seitenzahl).

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ferunt receptae). Damit verliert die Distinktion: „In illa (sc. 2. Phase) cognitio plenaria, in ista (sc. 1. Phase) sufficit summaria”, wesentlich an Kraft. Es ist daher ein wirkliche Vereinfachung, wenn Calvin die beiden Phasen zu einer einzigen verschmilzt, dem nach summarischer Untersuchung erflossenen Richterspruch eine definitive, bis zur Entscheidung der Besitzrechtsfrage gültige Wirkung zugesteht und damit dem Possessorium überhaupt einen summarischen Charakter aufprägt. Damit ist auch die Distinktion Castros, daß in dem Summarium die Erledigung der Streitfrage nur iudicis officio, nicht aber nach dem Klage- und Interdiktenrecht erfolgt (illa expeditur iure actionis vel interdicti, ista vero iudicis officio) weggefallen. Im possessorium summarium wird die Verbindung des interdictum retinendae und recuperandae possessionis vollzogen. Zwar nicht so, daß das interdictum uti possidetis, worauf sich eben der Schutz gegen Störung bezieht, eine rekuperatorische Wirkung erhält, wie in der italienischen Praxis, sondern so, daß die nach dem interdictum unde vi erfolgte Restitution notwendig auch den Schutz des Besitzenden einschließt. Das alles bedeutet, rechtsgeschichtlich betrachtet, ein Novum. Von einem Summarium recuperandae possessionis wissen die mittelalterlichen Theoretiker und Praktiker nichts; ihr Summarium ist stets das possessorium retinendae possessionis oder des interdictum uti possidetis 108).

Wir haben hier eine morphologische Parallele zu den innerhalb der römisch-rechtlichen Entwicklung vollzogenen Wertung der Zivilklagen seitens des Zivilrechtes und des prätorianischen Rechtes. Während das prätorianische Recht vornehmlich an der Besitzfrage interessiert war, so trat für das Zivilrecht die Eigentumsfrage in den Hintergrund. Die Wichtigkeit der calvinischen Abgrenzung der beiden Prozeßarten legt die Frage nahe, auf welche Vorbilder eventuell Calvin zurückgreift. Leider ist das ungefähr in derselben Zeit erschienene Buch „De interdictis”, das vom Freunde Calvins Carolus Sucquetus verfaßt


108) Vgl. Bruns, a.a.O. S. 273.

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und in Turin herausgegeben wurde, nicht aufzufinden 109). Sucquetus, der ein Schüler Alciats, und von diesem und Erasmus wegen seiner hervorragenden Begabung hochgeschätzt war 110), hat vermutlich in dieser Schrift im Sinne seines Lehrers 111) die Vereinfachung des Prozeßverfahrens angestrebt. Wir brauchen aber bei dieser Vermutung nicht stehen zu bleiben, den wir haben viele Anzeichen dafür, daß Calvin die bereits erwähnte Reformbewegung des Zivilprozesses in Frankreich nicht berücksichtigt. Wir müssen, um diese, sowie die Stellungnahme Calvins dazu voll zu ermessen, etwas weiter ausholen, wobei sich unsere Darstellung nicht bloß auf bekannte Tatsachen stützen wird.

Seit altersher bildete den Grund der französischen Besitzklage die „dessaisine”, worunter man nicht bloß die Entziehung, sondern auch die Störung des Besitzes verstand, die Klage also ebensowohl eine Klage retinendae als auch recuperandae possessionis war. Das öfter hinzugefügte Prädikat: nouvelle (dessaisine) sollte andeuten, daß die dessaisine verjährt war. Unter dem Einfluß des römischen Rechtes wurde die „nouvelle dessaisine” wie die „action de force” nur auf die Entsetzung beschränkt, während für die Störung eine neue Klage, l’action de trouble, eingeführt wurde 112). Im Laufe der Zeit wurden die beiden ersteren Klagen unter der Voraussetzung, daß die gewaltsame Entsetzung als eine Störung aufgefaßt werden kann, mit der action de trouble zu einer einzigen Klage zusammengefaßt, die man nunmehr als complainte en (cas de) saisine et nouvellete” nannte. Die Klage wurde daher entsprechend dem römischen interdictum uti possidetis als eine actio retinendae possessionis betrachtet 113).


109) Meine Nachfrage bei den europäischen Bibliotheken, auch bei derjenigen von Turin, blieb erfolglos.
110) Vgl. I.F. Foppens, Bibliotheca belgica, sive virorum in Belgio vita scriptisque illustrium catalogus, Bruxellis 1739, I,162.
111) Vgl. Alciats Responsiones 389.
112) So bei Beaumanoir.
113) Bezeichnend ist die Aussage Fabers im Kommentar zu § 4 I de interd. n. 1 u. 18. Haec materia tota practica est, maxime in curia Franciae, ubi quasi omnes causae sunt in casu novitatis, quod est fere uti possidetis. Advocati curiae Franciae semper concludunt in vi turbativa, quaecunque sit vis. Vgl, ferner Bruns, a.a.O. S. 357ff, 363. — Glasson, a.a.O. S. 613, 620ff, Renaud, Die ➝

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Die Zusammenfassung von Gewalt und Störung und die Betrachtung der Gewalt unter dem Gesichtspunkt der Störung konnte unter Anwendung des römischen Prinzips geschehen, nämlich daß der gewaltsam Verdrängte das Recht habe, sich als Besitzer animo tantum weiter zu betrachten, daß er also den Besitz nicht verloren habe, sondern daß er nur in seinem Besitz verhindert und gestört würde. (Vergleiche die bezeichnende Aussage im Grand-Coutumier de France II,21, III,32: celui qui se plaint, en cas de nouvellete, se doit garder de dire qu’il soit dessaisi ou depouillé de sa saisie, car il ne pourroit pas intenter la nouvellete, s’il ne possedoit ou contendoit posseder). — Das Prozeßverfahren war möglichst einfach und schnell. Bestimmen bereits die Etablissements de St. Louis, daß der Prozeß mit der Beschlagnahme beginnen solle, die aber gegebenenfalls für die Dauer des Prozesses wieder aufgehoben und die streitige Sache einer der Parteien gegen Bürgschaft (pleige, pflege, procedure d’applégement) anvertraut werden könne (recredere rem, woraus dann das später allgemein übliche Wort recredentia, recreance entstand) 114), so halten die anderen Coutumes die Beschlagnahme bis zum Abschluß des Verfahrens auf recht 115); die andern Coutumes schreiben vor, daß, wenn die beiden streitenden Parteien ihr Besitzrecht behaupten, der Sergeant das Sachgut beschlagnahmen und dem Richter darüber Bericht erstatten solle 116). Falls der Richter nicht unmittelbar seine Entscheidung treffen und die recreance nicht einer der Parteien bewilli gen kann, wird das Sachgut definitiv beschlagnahmt und nachher die Untersuchung des eigentlichen Klagegrundes eingeleitet. In dieser kann der Kläger siegen, wenn es ihm gelingt, den Nachweis seines Besitzes zu liefern; er kann unterliegen, wenn er zwar sein Besitzrecht, aber nicht seinen


➝ Besitzfragen nach französischem Recht in „Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung” Bd. 25, S. 312. — Noch im 16. Jahrhundert glaubt Petrus Rebuffi, ein bekannter Kanonist, in dem seinerzeit vielbeachteten und gebrauchten Kommentar (Commentarii in constitutiones regias S. 769) behaupten zu können: sciendum est hic tractari de interdicto retinendae possessionis, quod est in hoc regno frequentissimum, quia nullus vult dicere se possesione privatum, ideo omnes practici Franciae solent in hoc interdicto concludere.
114) Bruns. a.a.O. 359.
115) Glasson, a.a.O. 619.

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gegenwärtigen Besitz nachzuweisen vermag. Im ersten Falle muß die besiegte Partei das Sachgut zurückgeben 117).

Nach dem Zeugnis der damaligen Prozessualisten hatte die Klage (complainte) drei Grundbestandteile (capita): rei sequestratio (sequestration), die recredentia (recrence) und manutenuta oder plenum possessorium (maintenue, plein possessoire) 118).

Die Beschlagnahme bildete insofern einen selbständigen Bestandteil der complainte, als über sie in einem besonderen Verfahren beschlossen wurde. Sie durfte nur auf einen vor der Litiscontestation zu stellenden Antrag des Klägers unter gewissen Bedingungen genehmigt werden.

Der zweite Bestandteil, die recreance, die ebenfalls am Anfang des Prozesses beantragt wurde, endete mit dem Beschluß, daß das streitige Objekt der Partei zuerkannt werde, die durch Urkunden oder Zeugen einen mehr überzeugenden (plus favorable, plus apparement) Nachweis ihres Rechtsanspruches liefern konnte. Auch dieses Urteil war provisorisch, bis man in der dritten Phase, in den pleines possessoires, in dem die Rechtstitel und Zeugen vorgeführt werden mußten, ein definitives Urteil über die „maintenue” fassen konnte. Im Grunde waren es nur zwei Hauptverhandlungendes possessorium, wie Rebuffi bezeugt, denn wenn in der Verhandlung über den streitigen Gegenstand die Sache nicht einer der Parteien zugewiesen werden konnte, so folgte die Beschlagnahme und die Uebergabe


116) Später wurde die Funktion des Sergeanten abgeschafft, da man die Empfindung hatte, daß eine so wichtige Entscheidung nicht einem untergeordneten Beamten anvertraut werden dürfe. Vgl. Esquirou de Parieu, Etudes historiques et critiques sur les actions possessoires 151.
117) Glasson, a.a.O. 625f.
118) So Imbert, Institutiones forenses, lib 1, cap. 16a, 1,37 und Eguinarius Baro, Institutionum seu elementorum Iustiniani lib. IV. 1562 (Op. II, 435). Am klarsten die Abgrenzung bei Rebuffi, S. 240: Et possessorium in hoc regmo habet duo vel tria capita instar cerberi. Primum caput est per quod statim fit rei contentiosae ad manum regiam positio: et opponenti assignatur terminus ad comparendum coram iudice, a quo fiet sequestratio sub manu regia et neutra partium possidebit: donec recredentia (quam Itali tenutam dicunt) seu practici iuris scripti Franciae gaudentiam id est, la iouyssance alicui adiudicetur. Secundum caput est per quod recredentia adiudicatur alicui et is cautione data recipiet fructus usque ad Plenum possessorium. Tertium caput est, in quo pars in pleno manutenetur possessorio et manus regia ac omne aliud impedimentum in rebus contentiosis tollitur ac amovetur.

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des Sachgutes an einen Dritten von selbst 119). Die recreance und die Beschlagnahme standen als provisorische Entscheidungen dem plenum possessorium gegenüber, es gab daher eigentlich nur zwei possessorische Prozesse mit zwei Instanzen 120).

Demgegenüber bedeutet es eine wesentliche Vereinfachung, wenn die Ordonnance von Villers-Cotterets vom August 1539 die bisherigen abgesonderten drei bezw. zwei Phasen des possessorium zu einem „einzigen Prozeß und Rechtsmittel” (un seul procez et moyen) zusammenfaßt. Die Verhandlungen über die recreance und maintenue dürfen nicht mehr in zwei Prozessen und von zwei verschiedenen Instanzen entschieden 121), das Verfahren muß beschleunigt werden 122). Diese Bestimmung will ausdrücklich als Erneuerung älterer Forderungen gelten. Bereits die Ordonnance sur l’administration de la justice en Provence von Yz-sur Tille vom Oktober 1535 hatte verfügt, daß alle possessorischen Klagen der „saisie de nouvelleté” summarisch und nicht, wie es bis jetzt der Fall war, so ausführlich, wie die petitorischen, erledigt werden. Zu diesen könnte man erst nach Erledigung der possessorischen Klagen übergehen 123). Es wird hier deutlich der Grundsatz ausgesprochen, daß das Possessorium einen summarischen Charakter tragen soll. Dies beweist auch die Auslegung, die Rebuffi dem königlichen Erlaß gibt. Es sei nicht die Absicht des letzteren, daß über die recreance


119) Rebuffi, a.a.O. 770.
120) Rebuffi, a.a.O. 802ff. Duos faciebant olim iudices Processus et duas instantias: et probata sententia recredentiae, de novo inchoabant processum super pleno possessorio.
121) Art. 59: nous defendons à tous nos juges de faire deux instances séparées sur la recreance et maintenue de matieres possessoires: ains voulons être conduits par un seul proces et moyen: Isambert, Recueil des anciennes lois françaises 12, S. 612.
122) Art. 63: et seront toutes instances possessoires . . . vuidées sommairement les preuves faictes, tant par lettres que par tésmoins, dedans un seul délai, arbitré au jour de la contestation, Isamb., a.a.O. 613.
123) Art. 9, Isambert, a.a.O. 473ff: Et pource qu’en telles matières de saisine de nouvelleté qui sont matières possessoires, puis aucun temps enca l’on procedait comme l’en ferroit en matières petitoires et que telles (Die Ordonnance von Mentils-lez-Tours 1433 (Etablissement pour la reforme de justice), die mit der Ordonnance von 1539 fast wörtlich übereinstimmt schreibt vor: l’on ha procedé) matières possessoires, et de nouvelles dessaisines, doivent estre traictees et decidées le plus brief et promptement que se peut: car après les parties, si bon leur semble, peuvent proceder sur le petitoire.

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ein gesondertes Urteil gefällt und gegen dieses Berufung eingelegt werde, sondern sie will nahelegen, daß nach geschehener Berufung der Berufungsrichter entweder über die recreance oder das plenum possessorium entscheiden kann, wenn dies ohne Beibringung von Beweisen möglich ist. Es entspricht dem Sinn des königlichen Erlasses, daß nicht nur über das plenum possessorium ein Urteil gefällt werde, sondern die Entscheidung über beide, das plenum possessorium und die recreance, gleichzeitig abgeführt werde, die Entscheidung in dem plenum possessorium allerdings nur ohne Heranziehung von Zeugen erfolgen könne. Ist dies letztere nicht möglich, so wird die Beschlagnahme und das Urteil über die recreance ausgesprochen 124).

Diese Auffassung hängt mit Rebuffis Bewertung der beiden Teile der recreance und des plenum possessorium zusammen. Sie sind, wie gesagt, possessorisch; ihre „causa” ist „levis praejudicii”, mit Rücksicht auf das Petitorium vorläufig. Das Possessorium ist gewissermaßen eine Stufe zum wichtigeren Petitorium und darf daher nicht in die Länge gezogen werden 125). Daher müssen die possessorischen Stoffe summarisch, die petitorischen vollständig verhandelt werden 126). Die Urteile im Possessorium betreffen den Besitz selbst, die im Petitorium das Besitzrecht und Eigentum 127). Weil die possessorische Klage „levis praejudicii” ist, genügen nur unvollständige Beweise; anders in dem Petitorium 128). Dabei bemerkt Rebuffi, daß der Gerichtsgebrauch im Petitorium und im Possessorium zureichende Beweise erfordert 129). Dieser Gerichtsgebrauch ist nur aus einer etwas verschiedenen Bewertung des plenum possessorium erklärlich, die sich in den Auslegungen der namhaften Prozessualisten findet und von der neueren Literatur merkwürdigerweise nicht beobachtet worden


124) Rebuffi, a.a.O. 802ff.
125) ib. 241. cum possessorium sit quodam modo ordo ad petitorium: et petitorium sit quid maius et ideo non debet possessorium retardari.
126) 794: possessoria summarie, petitoria plenarie tractari debent.
127) 795: sententia super possesorio profertur super ipsa possessione, in petitorio pronunciatur super dominio (proprietate).
128) ideoque semiplenae sufficiunt probationes, sicut in petitorio.
129) usus tamen forensis requirit in utroque probationes sufficientes.

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ist. Die Verschiedenheit der Bewertung liegt nicht darin, daß nach Imbert 130), Eguinarius Baro 131) und Johannes Tavardus 132) eine unwiderrufliche und vollständige Entscheidung gefällt werden soll, während nach Rebuffi es scheinbar nur auf eine provisorische Entscheidung ankommt, denn die Unwiderruflichkeit der res controversa besteht nach den erwähnten Autoren darin, daß das Urteil ausgeführt werden muß, auch wenn eine der Parteien Berufung einlegt 133). Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß nach Imbert und Tavardus im possessorium plenarium über Eigentum verhandelt werden kann, um die Besitzansprüche der Partei zu stützen. Auf diese Weise nimmt das possessorium plenarium Charakterzüge des Petitoriums an, ohne diesem gleichgesetzt zu werden. Denn auch die Eigentumsfrage muß im Possessorium nur summarisch behandelt werden, wodurch der Bestimmung der Ordonnance von 1539 § 63 Rechnung getragen wird. Tavardus äußert sich über den damaligen französischen Prozeßgang eindeutig und klar: Forma huius interdicti (uti possidetis) quoad praxim et usum Gallicum attinet, talis est ut qui vere et corporaliter ultimo anno possedit pacifice querimoniam novitatis intendet intra diem et annum a die turbationis, atque si utile ei videtur statim et primo capite sequestrationem fructuum et rei fieri petat: Secundo capite petat vindicias, id est Recredentiam sibi addici et adjudicari, oblatis fidejussoribus idoneis judicatum solvi: hoc est, de restituendis fructibus damnis, et eo quod interest, si contingat possessorem vinci in judicio proprietatis: Et super hoc secundo capite fit litis contestatio, testium etc. productio, super possessione, intra unicam dilationem: et quandoque super iure et proprietate, sed summatim, ad possessionem partis iuvandam. Et tunc, si prima facie unius partis possessio plenior et manus regia et sequestratio removebitur et omne aliud impedimentum,


130) a.a.O. I,16.
131) a.a.O. 437.
132) Commentarius de interdictis et actionibus, S. 36. Ueber diesen vergessenen, aber seinerzeit viel beachteten Prozessualisten vgl. Jöcher, Gelehrtenlexion. IV, 1022.
133) Auch Rebuffi nimmt an, wie die erwähnten drei Prozessualisten, daß die Folge des poss. plen. die Einweisung der obsiegenden Partei in den Besitz und die Ablehnung der Beschlagnahme ist; a.a.O. 240.

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et manu tenebitur in possessorio, id est possessio illi conservabitur. Damit ist die charakteristische Stelle bei Imbert 134): potest dominium ut possessionis adminiculum allegari, zu vergleichen.

Das Zugeständnis, die Eigentumsfrage auch als Hilfsmittel zur Erledigung der Besitzfrage im Possessorium behandeln zu lassen, bedeutet allerdings eine Lockerung des in der königlichen Ordonnance festgefügten Verbots, daß das Petitorium mit dem Possessorium nicht verquickt werden dürfe. Die Ordonnance von Mentils-lez-Tours von 1535, Cap. IX, bestimmt: Pour briefvement expedier les matieres possessoires avons ordonne et ordonnons que d’oresnavant ne soient baillez lettres en nos chancelleries pour conduire le petitoire avec le possessoire en nouvellete ensemble”. Die Partei, die im Possessorium unterliegt, darf das Petitorium nicht anstreben, wenn sie vorher nicht alle ihr auferlegten Unkosten bezahlt hat 135).

Sind alle diese Bestimmungen als Wiederholungen der Forderungen der älteren Prozessualisten anzusehen 136), so ist die weitere Lockerung des Verbots, nämlich die Zulässigkeit von Kumulation bei den Verhandlungen über die Immobilien bereits zur Zeit Imberts und Rebuffis eingetreten. (Imbert: 137) par les ordonnances royaux et prohibé d’accumuler et poursuyvre le petitoire et possessoire ensemble. Mais il faudra entendre ladicte prohibition, quand il est question de choses immeubles et non de meubles. Rebuffi (a.a.O. 795): quando possessorium et petitorium simul deducuntur in iudicium, prius iudicandum est super possessorio quam de petitorio . . hodie vero prohibetur utrumque simul cumulari . . fallit in utrobi pro rebus mobilibus, in quibus utrumque simul intentatur, nec constitutio regia in hoc habet locum.

Ordnen wir nun Calvins Vorschläge in diesen Entwicklungsprozeß ein, so merken wir sofort, daß der Reformator


134) a.a.O. 42,150.
135) IX.9. Isambert, a.a.O. 474.
136) Beaumanoir, Desmares, vgl. die Belegstellen bei Glasson, a.a.O. 600 und 624.
137) Les quatre livres des Institutions forenses, S. 140.

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von ihm nicht unbeeinflußt geblieben ist. Die Ueberlassung des Sachgutes an einem vermutlich berechtigten Besitzer entspricht der französischen recreance; die Beschlagnahme des Besitzstückes bei zweifelhaftem Streitfall ist die „sequestration” des französischen Rechtes; die zu leistenden Kautionen mit den daran geknüpften Bedingungen stimmen selbst in der Ausdrucksweise und inhaltlich mit denen der Ordonnance von 1539 überein, 138); als provisorische Gerichtsakte stehen sie der definitiven, in Frankreich der im plenum possessorium gefällten Entscheidung gegenüber. Das im Interesse der Abkürzung des Prozeßverfahrens gestellte 139) Grundforderung der Ordonnance, die Prozesse summarisch zu behandeln, die von dem Kommentator der Ordonnance ausdrücklich als vorherrschend bezeichnet 140) und noch später bei den Verhandlungen der Stände im Jahre 1560 von neuem betont wird 141), mußte auf den von denselben Voraussetzungen ausgehenden Reformator Eindruck machen.

In einem Punkte scheint aber Calvin von der Grundforderung der Ordonnance abzuweichen, nämlich in seinem Vorschlag, das Petitorium und Possessorium zusammen zu erledigen. Ist dies nicht ein Rückfall in die Praxis des vorreformatorischen Genf? Dieses bevorzugte allerdings, mit Berufung auf die Autorität der Päpste Cölestin III. und Innozenz III., die Häufung der beiden Prozeßarten. Martinus Gosia, der zum ersten Male die Zulässigkeit der Häufung verteidigte, genoß in Genf ein großes Ansehen. Sein später von Hostiensis besonders gerühmter Grundsatz, daß die aequitas und die lex divina über den rigor iuris civilis gestellt werden müsse 142), klingt noch 1529 in den Genfer Statuts et ordonnances wieder: ministrer justice en cas civil sommairement, selon leurs consciences et equité . . . sans avoir regard à rigueur de droit. Man könnte sich nun vorstellen, daß Calvin bei seiner Abneigung gegen das


138) vgl. § 62 und 68 der Ordonnance; außerdem die §§ 82, 83, 105.
139) au bien de notre justice, abréviation des procés et soulagement de nos sujets.
140) a.a.O. 802: ut brevior sit Processus, et finis litibus imponatur.
141) Meyer, Etats généraux XI,385f.
142) Savigny, Geschichte des römischen Rechtes, Bd. 4, 129ff.

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kanonische Recht die Annahme der Häufung immerhin damit rechtfertigen durfte, daß auch die mittelalterlichen Prozessualisten diese im römischen Recht verwurzelt dachten und mit dem, anscheinend mit der Häufung im Widerspruch stehenden römisch-rechtlichten Satz: quod prius debet iudicari de possessione et postea de proprietate, den auch Calvin billigt, in Einklang zu bringen suchten. Aber auch die mittelalterlichen prinzipiellen Gegner der Häufung erklärten diese für zulässig, wenn es sich nicht um die Zusammenfassung des Petitoriums mit dem interdic-tum uti possidetis, sondern um diejenige der rei vindicatio mit diesem Interdikt handelte 143).

Ob Calvin unter dem Einfluß der Glossatoren steht oder die alte Genfer Praxis berücksichtigen will, ist nicht schwerwiegend angesichts der Tatsache, daß er, der doch die Wesenszüge der französischen Reformgesetzgebung übernimmt, über die Hauptforderung, das Verbot der Zusammenfassung, sich hinwegsetzt. Dieses muß umsomehr auffallen, als auch die mittelalterlichen französischen Prozessualisten sonst streng zwischen dem Petitorium und Possessorium unterscheiden. Haben wir hier eine Aufspaltung des Systems oder etwa eine Zusammenfassung zweier divergierender Arten der gerichtlichen Praxis, oder kann ein anderer Grund für die Abweichung aufgewiesen werden? Dieser läßt sich in der Tat finden, wenn wir die späteren Schicksale beachten, die das königliche Verbot erfahren hatte.

Wir haben soeben feststellen können, daß bei Imbert und Rebuffi bloß eine Erweichung des königlichen Verbotes eingetreten ist. Noch weiter geht der berühmte Cujacius, der das königliche Verbot überhaupt nicht beachtet.

Nach Cujacius kann das remedium recuperandae et apiscendae possessionis mit der Klage de proprietate angestellt werden 144). Wenn man auf Grund des interdictum unde vi verhandelt, so steht entsprechend


143) Hänel, Dissensiones etc. S. 388.389; außerdem das Konsilium 260 von Castro: an petitorium et possessorium cumulari possint in eodem libello.
144) Observationum. et emendationum libri XXVIII in Op. 1632 IV.160.

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dem römischen Recht dem Kläger die Befugnis zu, den Beweis seines Besitzrechtes zu erbringen (et si actum sit interdicto unde vi etiam de proprietate probationem adferre actorem inutile non est ut Quintilianus exposuit). Dadurch wird das bereits erwähnte Zugeständnis Imberts, daß das Besitzrecht des Klägers als dienendes Mittel zur Ergreifung des Besitzes angesehen werden kann, aus dem römischen Recht abgeleitet. In Uebereinstimmung mit den mittelalterlichen Prozessualisten räumt ferner Cujacius ein, daß die rei vindicatio die Anstellung des interdictum uti possidetis nicht verhindert, wenn der Besitz des Klägers nicht feststeht. In zweifelhaften Fällen, d.h. wenn es nicht feststeht, welche von den Parteien sich im Besitz des Sachgutes befindet, kann das interdictum uti possidetis oder utrubi und die actio in rem gleichzeitig angestellt werden. Der Richter kann beide voneinander trennen oder über beide gleichzeitig beschließen. Dieses Verfahren findet Cujacius vorgezeichnet in dem durch die Briefe des Stadtpräfekten Symmachus bezeugten Verfahren im Zeitalter des Theodosius. Er folgert aus diesem Tatsachenmaterial, daß es den Richtern freisteht, die Erledigung der Besitzfrage mit der Eigentumsfrage zu verknüpfen 145). Auf den Einfluß des Cujacius ist es offenbar zurückzuführen, wenn Tavardus die einzelnen Fälle der Kumulation aus dem römischen Recht abzuleiten sich bemüht 146).

Bei alledem bleibt nach Cujacius der Unterschied zwischen der causa principalis und der sekundären causa, der sogen, momenti causa bestehen; in dieser handelt es sich um die Rückgabe des entrissenen Besitzes, in jener um das Eigentum. Cujacius, der diese Unterscheidung im Anschluß


145) Observationes lib. 11,35 (Op. IV,42ff): ego inveni apud Symmachum Hb. I. Epist (Es handelt sich in Wirklichkeit um Symmachus lib. X, Ep. 48; vgl. Bethmann-Hollweg, Der römische Zivilprozeß, Bd. 3, S. 363ff) iam pridem hoc fuisse ab Imperatoribus ita definitum, non ut cogantur, sed uti possint iudices, si velint quotiens de possessione iudicant, continuo etiam si casus tulerit, de proprietate cognoscere. Die neuerdings von Kipp herangezogene, oben S. [?] erwähnte 16. Relation des Symmachus, in der die Kumulation des Possessoriums und Petitoriums ebenfalls zugelassen wird, scheint Cujacius unbekannt geblieben zu sein.
146) Mit Rücksicht darauf, daß die Kumulation damals wesentlich als Errungenschaft des kanonischen Rechtes betrachtet wurde, sind die von Tavardus S. 7ff. aus den römischen Rechtsquellen angeführten Fälle ganz besonders beachtenswert.

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an Gregor I. (Ep. 7,44 und 100) macht und den Gegenstand der actio momenti in einer raschen reformatio oder restitutio des durch Gewalt oder andere Art abhanden gekommenen Besitzes sieht, wobei er ausdrücklich auf l.1 C 8f de moment. poss. und Symmachus (Epist. 10,41) Bezug nimmt, hat es wohl auch bewirkt, daß die späteren französischen Prozessualisten die recreance mit der momentanea possessio und zwar wiederum unter ausdrücklicher Anlehung an das römische Recht in Zusammenhang brachten, (So Eguinarius Baro 147): secundum possessorii iudicii caput de momentanea possessione est (I. moment C. unde vi 1 C de moment.), quam si adjudicari litigator postulat, utpote cuius causa iure superior videatur), wobei sie ausdrücklich bemerken, daß dieser zweite Teil des Possessoriums der antiken lis vindiciarum entspricht, in der die Kaution von dem mit dem Besitz einstweilen Betrauten gefordert wird: [litem vindiciarum veteres appellant (Cic. in Verr. Cic. pro Cec. 12 De orig. iuris) et satisdatio in hoc capite ab eo semper exigi consuevit, cui possessio momentaria addicebatur (l 1 C uti poss.) caution de rendre s’il est dit que faire se doive], so wollen sie damit zum Ausdruck bringen, daß die frühere Auffassung, wonach die recreance der bei Cicero erwähnten vorläufigen Zuweisung der possessio fiduciaria entspricht, durch spätere, durch Cujacius bewerkstelligte Zusammensetzung der recreance mit der momentaria possessio nicht ausgeschlossen ist.

Diese „frühere” Auffasung ist aber von keinem geringeren als dem großen Humanistenführer Guill. Budé vertreten worden: vindiciarum litem eam esse, qua con-troversae rei fiduciariam petimus interea dum lis de re ipsa, aut de possessione disceptatur, quam recredentiam dicimus. Huiusmodi enim petitio, quam Paedianus ex Cicerone voluit, non iusta et absoluta possessio, sed fiduciaria, et veluti depositaria, ut haec nostra recredentia rationibus reddendis (in der Ausgabe der Annotationes von 1567 steht noch, der französischen Gesetzbestimmung entsprechend: et fructibus) est obnoxia.


147) a.a.O. 437.

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Fiduciariam autem appello, quam sub manu regia possidere vocant, quasi fide data acceptam, a fiducia tamen dictam 148). Ist also nach Budé die recreance mit Rücksicht auf die definitive Erledigung des Prozesses ein provisorisches, in dem römischen Recht begründetes Rechtsmittel, so kommt der Prozeß erst in der Erledigung der Frage der iusta possessio und des plenum ius possidendi in dem plenum possessorium, zum Abschluß. Daß aber Budé tatsächlich im plenum possessorium die petitorische Klage erledigt haben wollte, sieht man noch deutlich aus seiner Bemerkung: Wenn überdies noch ein Petitorium angestrebt wird, so scheint die Streitsache eine Narrenkappe zu tragen 149). Er denkt sich den Verlauf so, daß nach der Verhängung der Beschlagnahme zunächst das Urteil über die Anerkennung oder Aberkennung des gerichtlichen Anspruchs, in dem plenum possessorium aber das definitive Urteil gefällt wird.

Ist Budés Auffassung von den Prozessualisten beachtet worden 150), so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß auch Calvin, der die Annotationes und vermutlich auch die diese ergänzenden Forensia Budés gelesen 151) und vor Budés wissenschaftlicher Bedeutung einen tiefen Eindruck bekommen hatte 152), die Auffassung des großen Humanisten nicht entgangen ist. Diese Vermutung könnte dadurch verstärkt werden, daß die in den Annotationes klar ausgesprochene Tendenz Budés, die bestehenden Institutionen des damaligen Frankreich an den Vorbildern des römischen Zivil- und Staatsrechtes zu messen und sie durch dieses verbessert zu wissen 153), dem Reformator besonders zusagen mußte, der sich anschickte, bei der


148) Annotationes in pandectas 1527, S. 63f.
149) Forensia 1557 S. 165: Quando sequestri primum res permissa, deinde vindiciae secundum petitorem iudicatae sunt. Cui si accesserit possessionis ab eodem abiudicatio, et petitorium iudicium intentatur, causa tum trahere caudam videtur. 110: Damnatus vindiciarum is est, a quo interim vindiciae abiudicatae sunt. Exhausta controversia iustae possessionis plenique iuris possidendi: Id est finita lis pleni possessorii.
150) Rebuffi setzt sich mit Budé auseinander (a.a.O. 802ff).
151) Vgl. Op. 5,11: ostendit Budaeus in suis annotationibus — Die nachdem Tode Budés gedruckten Forensia sind gerade in dieser Zeit erschienen.
152) Guilielmus Budaeus, primum rei litterariae decus et columen, cuius beneficio palmam eruditionis hodie sibi vendicat Gallia nostra Op. 5,54.
153) Delaruelle, Guillaume Budé, S. 121.125.

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Reform des bisherigen Zivilprozesses in Genf den Primat des römischen Rechtes geltend zu machen. Galt unter der Herrschaft des kanonischen Rechtes in Genf und in Toulouse, dem berühmten Sitz des damals als vorbildlich gepriesenen erzbischöflichen Gerichts der Grundsatz, daß bei dem Zivilprozeß das kanonische Recht zu gelten habe, soweit die Bestimmungen des Gewohnheitsrechtes diesem nicht widersprechen 154), so ist die Annahme berechtigt, daß Calvin bei seiner wesentlich ablehnenden Haltung dem kanonischen Recht gegenüber die Bestimmungen des französischen Zivilprozeßrechtes um so leichter übernehmen konnte, als deren Uebereinstimmung nach dem Urteil eines so maßgebenden Kenners des römischen Rechtes, wie Bude, über allen Zweifel erhaben war.

Er konnte nur auf Budé zurückgreifen, da in dieser Zeit der bekannte Etienne Pasquier anfängt, die Anlehnung an das gemeine, d.h. römische Recht als abergläubische Knechtschaft zu brandmarken und die römisch-rechtlichen Prinzipien streng von dem französischen Gewohnheitsrecht zu trennen 155). Tatsächlich können wir in Calvins Beschreibung des Prozeßverfahrens bei Immobilienstreitigkeiten deutlich den Eindruck Budés wahrnehmen.

Der Satz: que le petitoire et possessoire se vuident ensemble, ist die Auswirkung des Calvin vorgeordneten Beschleunigungsprinzips und zweifellos ein Widerhall der königlichen Forderung der Ordonnance: ains voulons


154) Vgl. Decisiones capellae Tholosane una cum additionibus tam Stephani Aufrerii quam etiam quam plurimorum aliorum novissime adiunctis 1575, S. 56: Stylus romanae curiae in decisionibus potest allegari ubi non reperitur expresse ius in contrarium.
155) Vgl. Oevres, Amsterdam 1723, II,225: diversité de fondemens du Droit Romain au nostre . . Je dy . . que c’est grandement erreur de vouloir, devant la face de nos juges, confirmer ou infirmer indistinetement le droit de nostre France par celuy des Romains, en une teile si non contrarieté, pour le moins diversité de propositions generales. Et ce qui m’excite encores plus le courroux, est que s’il y a quelque cas indecis par nos Coustumes, soudain nous sommes d’avis qu’il faut avoir recours au droit commun, entendans par ce droit commun, le droit civil des Romains . . (que) nous voulions nous affranchir sagement de ceste superstitueuse servitude, dont nous captivons nos esprits à la suite de ce droict ancien. Vgl. weiter ib. 582 I,986ff. 998ff., namentlich I,1006ff: Par quelles personnes estoit anciennement la iustice rendue en la France, et de quelques ineptes chicaneries que nous avons depuis tirdes du droict des Romains. 1008: la Constitution de Justinian non seulement ne simbolise au sens naturel de la Loy commune de tous, mais y deroge entierement.

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être conduits par un seul procez et moyen. Nun rechnet aber die Ordonnance die drei (zwei) konstitutiven Bestandteile: die recreance und das plein possessoire zum Possessorium und strebt eine straffe Zusammenfassung des Prozesses nur innerhalb des Possessoriums an. Entspricht aber, wie bereits bemerkt, die einstweilige Ueberweisung des Streitgutes an die infolge des interlokutorischen Verfahrens als mutmaßlich berechtigte Partei, und die damit zusammenhängende Hinterlegung der Kaution durch die letztere gänzlich der recreance des französischen Prozesses, so kann der nachfolgende Gerichtsakt, die definitive An- bezw. Aberkennung des Sachgutes (fin de proces, sentence definitive) nur dem zweiten Teil, dem französischen plenum possessorium, zugeordnet werden. Da aber dieses bis jetzt nur possessorischen Charakter hatte, muß Calvin, um das Petitorium dem französischen Possessorium anzugleichen, dieses seines rein possessorischen Charakters entkleiden und dem Petitorium gleichstellen, ein Vorschlag also, den damals nur Bude gemacht hat, indem er das plenum ius possidendi bereits im plenum possessorium entscheiden ließ. — Daraus ergaben sich die weiteren Folgerungen: das Possessorium und Petitorium können gleichzeitig angestrebt werden, was aber nicht verhindern kann, daß über das erstere vorher verhandelt wird. Das Possessorium dient dazu, ein abschließendes Verfahren im Petitorium vorzubereiten. Die Frist zwischen den beiden darf nicht unnötigerweise in die Länge gezogen werden. Darum zieht Calvin in zweifelhaften Fällen die Beschlagnahme der recreance vor, um die aus der provisorischen Zuweisung des Sachgutes an den presumptiven Besitzer leicht folgende Appellation abzuschneiden oder durch Kautionen zu unterbinden. Dagegen wird die von den mittelalterlichen Anhängern der Häufung zugelassene Priorität des Possessoriums abgelehnt. Mit der Umwandlung des französischen plenum possessorium in das Petitoriüm hat also Calvin bereits für Genf angestrebt, was Tavardus für die spätere französische Praxis bezeugt 156).


156) Vgl. oben S. 249.

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Ist Calvin ferner durch Budé belehrt worden, daß die französische recreance der römischen lis vindiciarum entspricht, so war ihm ferner sicher auch nicht unbekannt, daß die Glossatoren die Sequestration im römischen Recht begründet fanden 157). Bezeugen überdies die Zitate in den Zivilprozeßakten Genfs, daß die Vorschriften über den Ersatz der Kosten und die Kautionen auf die Bestimmungen des römischen Rechtes zurückgehen, 158) so werden wir uns nicht wundern, daß Calvin bei der Angleichung des Genfer Rechtes an das französische überzeugt war, sich von der römisch-rechtlichen Linie nicht entfernt zu haben. Dies ist auch den Prozessualisten dieser und ihr unmittelbar folgenden Periode mehr oder weniger zum Bewußtsein gekommen 159).

 

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Bei der Erörterung der Klagen, deren Gegenstand bewegliche Sachen sind, (actions reales ou vendications sur les meubles) 160), d.h. Klagen, bei denen es sich, wie Calvin einschärft, nicht um Befriedigung eines persönlichen Anspruchs, nicht um Schuld- und Geldforderungen handelt, könnte man es zunächst befremdlich finden, daß Calvin trotz seiner gegensätzlichen


157) Vgl. oben S. [?].
158) Es werden dazu die Stellen D 43, 17, 3, 9; D 43, 8, 2, 18; Cod. 8, 34, 3, 1; 1 in Jure 161 de Regul. jur. angeführt. Sehr oft wird in den Akten I. si is a quo ff. ut in posses. legat. zitiert.
159) Während Imbert (Instit. forenses frz. Ausgabe von 1554, S. 98) und Rebuffi (a.a.O. 232) die Sequestration und die recreance auf das römische Recht zurückführen, ist allerdings Eguinarius Baro (a.a.O.) der Meinung, daß hier eine Abweichung von dem gemeinen, d.h. römischen Recht nicht zu leugnen sei: Haec sequestratio rerum omnium promiscue, nulla habita personarum ratione, jure communi non probatur (l. 1. c. de prob. seq. pec) De restitutione ejusmodi sponsiones fiebant apud vetcres — Unde illa judiciorum appellatio applegemens, contraapplegemens, plegemens in morem Gallorum venit. Dagegen steht für ihn, offenbar unter dem Einfluß von Budé, die Strukturgleichheit der recreance und der lis vindiciarum fest: Secundum possessorii judicii Caput, de momeutanea possessione est: (1 Moment. C. unde vi l. 1. C. Si de momen.); quam si adiudicari litigator postulat, utpote cuius caussa iure superior videatur: litem vindiciarum veteres appelland (Cic. in Verc. Cic pro Cec. 1.2 de Origine iuris) et satistatio in hoc capite ab eo semper exigi consuevit, cui possessio mementaria addicebatur (l. 1. C. uti possid.); caution de rendre s’il est dit que faire se doive. La recreance hoc caput dictum est (Franc, de brev. lit. 62).
160) Op. 10/1,1411.

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Stellung zum kanonischen Recht doch im wesentlichen die Grundzüge der aus dem canon Redintegranda entstandenen Spolienklage entwickelt. Das zeigt schon der von Calvin vorgeschlagene Weg der Untersuchung. Wenn der Kläger erklärt, daß die vermeintlich ihm gehörende Sache sich im Hause eines anderen befinde, und deren Rückgabe verlangt, so ist zunächst der Verklagte anzuweisen, den streitigen Gegenstand vorzuzeigen. Leugnet er, im Besitz des Gegenstandes zu sein, so muß der Kläger eidlich nachweisen, daß die betreffende Sache bei dem Verklagten gesehen wurde, oder es soll auf seinen Wunsch eine Amtsperson (commissaire) an Ort und Stelle die Sache requirieren. Wenn es sich herausstellt, daß der Verklagte den Gegenstand bereits seit 8 Tagen hatte, so wird er gezwungen, diesen den Richtern und den vom Kläger genannten Zeugen vorzulegen, die ihn als Eigentum des Klägers zu erkennen haben. Gelingt der Nachweis nicht, so wird er zur Tragung der entstandenen Kosten verurteilt. Wird aber der Gegenstand als Eigentum des Klägers beglaubigt (que l’auteur aura verifie celle chose avoir este sienne), macht der Kläger wahrscheinlich, daß er den Gegenstand auf rechtmäßige Weise nicht veräußert hat (si n’appert point de alienation) 161), so muß der Verklagte darlegen, wie der Gegenstand in seine Hände geraten ist und gleichzeitig bei der ersten Verhandlung einen Dritten bezeichnen, der inzwischen in den Besitz des Gegenstandes durch den Verklagten gekommen ist, und der also für den Gegenstand haftbar gemacht wird. Ist er außerstande, den Dritten zu nennen, so muß er den Gegenstand sofort zurück geben. Der Haftende muß aber wiederum beweisen, wie er den Gegenstand von dem Verklagten erworben hat. Ergibt sich aus der Verhandlung schließlich (en la fin), daß der Kläger seine Sache nicht rechtmäßig veräußert hat, oder wenn man dies mit einer an den Beweis grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht annehmen kann, so muß dem Kläger der in seinem früheren Besitz gewesene Gegenstand zurückerstattet werden.


161) Dies entspricht der oft gebrauchten Formel: iuste amisisse possessionem. Vgl. Bruns, Das Recht des Besitzes im Mittelalter, 229.

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Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß durch Begründung der Klage nicht blos der Beweis des früheren Besitzes des Verklagten ausreicht. Wenn nur dies die Meinung Calvins gewesen wäre, dann könnte man ihm den Vorwurf nicht ersparen, den man den Kanonisten am Ausgang des Mittelalters gemacht hat, nämlich, daß ein solches Klagerecht ganz exorbitant ist und den bequemsten Vorschub für die ärgsten Schikanen abgibt 162). Zwar verlangt Calvin nicht, wie die älteren Kanonisten (Accursius, Durantis, und die Glosse zu den Dekretalen) 163) ausdrücklich den Beweis der Spoliation neben dem Beweis für den früheren Besitz des Klägers und den gegenwärtigen Besitz des Verklagten. Er geht aber nicht soweit, wie die späteren Prozessualisten in Deutschland 164), die die bona oder mala fides des Spolianten nicht berücksichtigen wollen. Denn aus seiner Feststellung, daß der Spoliierte nur dann obsiegen kann, wenn ihm eine rechtmäßige, freiwillige Veräußerung des fraglichen Gegenstandes nicht nachgewiesen wird, muß man schließen, wenn es auch Calvin nicht ausdrücklich erwähnt, daß der Kläger entweder durch Gewalt oder Arglist, also durch eine iniusta causa seines Eigentums beraubt wurde, wie es auch die späteren Kanonisten unter Anlehnung an Pseudoisidor angenommen hatten 165).

Das zeigt die erste Einrede. Wenn jemand auf einem öffentlichen Markt einen gestohlenen Gegenstand (ein Tier oder ähnliche Sorte) gekauft hat und der wahre Eigentümer nachher die ihm entwendete Sache wieder erlangen will, so muß der gegenwärtige angeklagte Besitzer, um die Entschädigung in der Höhe des Kaufpreises zu bekommen, überzeugend nachweisen (que le defendeur en iace bonne et suffisante preuve), daß er den Gegenstand im guten Glauben ohne Betrug (qu'il ny ait point presumtion de fraulde ne barat) gewonnen hat. Bei den „choses achap-tées au marche publique” handelt es sich um gestohlene


162) Bruns, Das Recht des Besitzes, S. 230.
163) Bruns, Jahrbücher des gemeinen deutschen Rechtes, Bd. 14, S. 59.
164) Bruns, Die Besitzklagen des römischen und heutigen Rechtes, S. 251.
165) Maassen, Zur Dogmengeschichte der Spolienklage. Jahrb. des gem. deutschen Rechtes, 3,235.

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Gegenstände; denn diese erste Einrede deckt sich vollständig mit art. 26 der Franchises, in dem von einer res furtiva gesprochen wird: Item si aliquis res mobiles emerit aut pignora acceperit publice in nundinis, foro et loco publico, infra civitatem, rem furtivam, bona fide et sine fraude, et verus dominus velit rem rehabere, reddere capitale teneatur ementi aut creditori 166).

Für die Tatsache, daß Calvin unter den actions reales sur les meubles die Spolienklage beschreibt, spricht sodann seine Einteilung: la forme dy proceder und Exception, die der Einteilung bei Gratian und in der Glosse entspricht: Haec est differentia inter questionem istam et illam, quae est infra III. qu. 1, quia hic petitur restitutio in modum exceptionis, ibi in modum actionis 167). Die zweite von Calvin erwähnte Einrede: „Wenn ein Kläger nachweist, daß er mit Gewalt beraubt wurde, muß er sofort (incontient) restituirt werden”, die also dem Kläger die Möglichkeit bietet, seinen Restitutionsanspruch selbständig zu erheben, enthält keine Bestimmung über die bekanntlich von Innozenz IV. eingeführte, im späteren Gerichtsgebrauch oft vorgeschützte prozeßhindernde exceptio spolii, wonach der Spoliierte jeder Klage des Spolianten gegenüber die Einlassung verweigern konnte. Vermutlich wollte Calvin die „gewinnbringende List” (fraus lucrosa) 168), die mit dieser Exceptio oft verbunden war, ausschalten. Dagegen teilt er die im Mittelalter allgemein angenommene Theorie, daß die Restitutionsklage nach Analogie des interdictum unde vi gedacht werden soll. Das Bedenken der modernen Wissenschaft, daß das interdictum unde vi auf bewegliche Sachen sich nicht bezog 169), ist ihm ebenso unbekannt wie den Kanonisten und Glossatoren, die die Sache selten erörtern, sich


166) französischer Text: item que se auleun a achete auleunes choses meubles ou aultres gages publiquement es foires, marches ou aultres lieux publiques dedens la cite sans point de barat: mais a la bonne foy qui ayent este robees a quelcun: et celuy de qui elles estoient les veuille rauoir qui soit entenu de rendre le capital a celuy de qui ces choses a achetees.
167) Bruns, Das Recht des Besitzes, 168; Maassen, a.a.O. 228.
168) Huguccio in c. 2 C III. q. 1.
169) Das die Anwendung der Klage auf bewegliche Sachen nicht in dem römischen Recht begründet sei, wird nicht allgemein geteilt. Vgl. Savigny, Das Recht des Besitzes, 433ff, Windscheid, Pandekten I,724ff und die dort angeführte Literatur.

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aber immer auf das Interdictum de vi als Grund berufen. (So das kanonische Recht cap. 15 X de rest. spol; Gottfred in seiner Summa in Tit. de rest spol.: Spoliatio est rei immobilis dejectio vel mobilis ablatio), oder die Anwendung der Klage auf bewegliche Sachen als selbstverständlich voraussetzen 170). Die „spoliation violente” des Fragments entspricht durchaus der „atrox vis” des Interdikts. Selbstverständlich ist die atrox vis nicht als die einzige Form des Unrechts zu betrachten, sondern es kann jede unbefugte Entziehung des Besitzes wider den Willen des bisherigen Besitzers den Klagegrund bilden.

Zur Beurteilung der Frage, inwiefern diese Bestimmung über das römische Recht hinausgeht, muß man im Auge behalten, daß bereits im römischen Recht in der weiteren Entwicklung des interdictum unde vi das Erfordernis der vis keineswegs festgehalten, sondern eigentlich vollständig verflüchtigt ist. Denn dem Wortlaut nach ist das Prinzip der vis, und zwar einer vis atrox, wenigstens bei der eigentlichen physischen Vertreibung von einem Grundstück bis zuletzt betont 171). Das ist aber nicht anders bei der Spolienklage, denn das Prinzip der vis atrox wird von Calvin („spoliation violente”) aufrechterhalten, dagegen in den anderen Fällen tatsächlich verflüchtigt. Während aber bei den Kanonisten die Ueberzeugung lebendig blieb, daß sie in der Verflüchtigung über das ursprüngliche römische Recht hinausgehen 172), war sich Calvins des Abstandes vom römischen Recht nicht bewußt, oder, was wahrscheinlicher ist, der Meinung, daß das interdictum unde vi auch im Sinne des römischen Rechtes bei der Mobilienklage angestellt werden kann. Daher die Forderung der sofortigen Rückgabe des entwendeten Gegenstandes im Falle der gewöhnlichen Entziehung. Aehnlich verhält sich die Sache bei der Klage gegen den dritten Besitzer, bezw. bei der Haftung des dritten Besitzers, die Calvin ebenfalls annimmt. Die Kanonisten, die wohl wußten,


170) Bruns, Das Recht des Besitzes, 231.
171) Bruns, Die Besitzklagen, 251ff.
172) Die Glosse des Vincentius Hispanus in c. und. Comp. III de ordine cognitionum 2.4: latius patet restitutorium iudicium secundum canones quam secundum leges. (Bei Maassen 240).

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daß das interdictum unde vi nur gegen den Verdränger selbst gegeben werden kann, haben in der Erwägung, daß die actio quod metus causa nach dem römischen Recht auch gegen den dritten Besitzer zugelassen werden kann, dieser die Normen für die Haftung des dritten Besitzers entnommen und aus dem Umstand, daß das kanonische Recht Gewalt, Zwang und Arglist gleich wertet (cum canon aequiparet dolum, metum, violentiam) den Schluß gezogen, daß dasjenige, was nach römischem Recht nur für den Fall des metus gilt, nach kanonischem auch auf den Fall der vis und des dolus Anwendung finden kann 173). Auf diese Weise wurden die verschiedenen nach dem römischen Recht zulässigen Klagen zu einem einzigen Rechtsmittel zusammengefaßt. Somit war die gegen den dritten Besitzer gegebene sogenannte „condictio ex canone” durch die Kanonisten bereits begründet, als Innozenz III. in seinem c. Saepe contingit (c. 18 X de rest. spol.) bestimmte, daß die Klage gegen den dritten Besitzer gegeben werden kann, wenn er um das spolium wußte (spolii conscius), da dadurch der Eigentümer, der nicht immer volle Beweise zur Verfügung hatte, vor dem Verlust seines Besitzes geschützt werden kann (commodo possessionis amisso propter difficultatem probationum iuris proprie-tatis amittit effectum). Wenn Innozenz noch einen theologisch-seelsorgerlichen Grund hinzufügt, nämlich die Ueberzeugung, daß das Wissen des Dritten um den Tatbestand das Heil seiner Seele gefährde (periculum animae), so entspricht die Uebernahme des Haftungsprinzips seitens Calvins zweifellos wie bei Innozenz seinen rechtlichen und sittlichen Bewußtsein. Dazu kommt, daß das Haftungsprinzip, wie bemerkt, in den Franchises verankert war, deren Bestimmung die Gesetzgeber Genfs berücksichtigen mußten.

Außerdem ist ein rechtsgeschichtlich wichtiges Moment nicht zu übersehen. Sucht man nämlich den unmittelbaren Einfluß in diesem Vorgang festzustellen, so muß man wieder bei den französischen Prozessualisten verweilen. Unter dem Einfluß des kanonischen Rechtes ist


173) Maassen, a.a.O. 241.

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an die Stelle des interdictum unde vi die „reintegration ou reintegrande” getreten 174). Die Uebernahme dieses kanonischen Rechtsmittels entsprach der im Laufe der Zeit eingetretenen Aenderung in der Auffassung der französischen Prozessualisten über das Verhältnis von Gewalt und Störung. Die Betrachtung der Gewalt unter dem Gesichtspunkt der bloßen Störung und ihre Anwendung in der Praxis konnte doch die mehr oder weniger restitutorischen Interdikte nicht verdrängen, wie ja auch die späteren Juristen, namentlich Bouteiller in seiner „Somme rural”, die Begriffe action de dessaisine et de force den Interdicten anpassen wollten 175). Während also die bisherige Praxis die dessaisine als bloße Störung (trouble) auffaßte und für beide Fälle die action de nouveau trouble gab, die infolgedessen complainte en saisine et nouvellete genannt wurde 176), hat die Theorie, darin Beaumanoir und dem römischen Recht folgend, zwischen dem remedium retinendae und dem remedium recuperandae possessionis unterschieden 177). Diese Theorie fand dann in der Gesetzgebung Eingang. Art. 68 der Ordonnance von 1539 spricht von der „reintegrande”, die als Rechtsmittel gegen die Verdrängung von der complainte als Rechtsmittel gegen die Störung unterschieden wird; sie wird später, wie uns Imbert berichtet, auch in der französischen Praxis berücksichtigt 178). Hodie interdicti unde vi loco usurpamus pontificiae constitutionis beneficium ceu commodius et pinguius, quod reintegranda vulgo vocatur. Sie ist zwar nicht, wie Imbert bemerkt, dem interdictum unde vi gleich zusetzen; sie wird nicht bloß, wie dieses, auf die Immobilien,


174) Imbert. a.a.O. I,17: quand est de l’interdict unde vi, par le droict introduict pour recouvrer la possession dont l’on a esté spolid, il n’est pas si en usage que la reintegrande Eguinar. Baro, a.a.O. 674: Recuperandae possessionis gratia, redintegration ou reintegrande ex lege pontificia apud Gallos tralatitia est condictio, sive vi, metu, dolo, sive alia inuste causa despoliati scimus rebus nostris vel mobilibus.
175) Vgl. Esquirou de Parieu, a.a.O. 132, Glasson, a.a.O. 132.
176) siehe oben S. [?].
177) Guido Papa, Comment. in stat. Delph. § Rei alicuius: Sic etiam audivi quod servatur in regno Franciae quando intentatur remedium statuti querelae de novis dissaisinis quod statutum practieatur etiam super rebus mobilibus sicut super rebus immobilibus, licet dictum statutum de novis dissaisinis imitetur naturam interdicti unde vi.
178) a.a.O. I,34.

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sondern auch auf die Mobilien angewendet, und kann gegen alle widerrechtlichen Detentoren und von allen, denen vor der Spoliation der Besitz und seine Nutznießung rechtmäßig gehörte, angestrebt werden 179). — Dehnt Calvin, wie bemerkt, die reintegrande auch auf bewegliche Sachen aus und läßt sie auch gegen die Detentoren gelten, so schließt er sich offenbar an Imbert an. Bei seiner Einstellung zum römischen Recht wird er schwerlich Imberts Unterscheidung gebilligt haben und vermutlich mehr an die Seite der früheren Prozessualisten treten, die diesen Abstand nicht gelten ließen. Dagegen weist seine Darstellung des Prozeßverfahrens eine große Verwandtschaft mit Imberts, soviel man sehen kann, von der Wissenschaft bis jetzt unbeachteter Schilderug, mit dem Unterschied, daß Calvin die bei Imbert erwähnte Beschlagnahme der streitigen Sache nich erwähnt, die ja auch dieser nicht ohne weiteres billigt. Die Stelle bei Imbert lautet 180): Et pour parier d’adveu parce qu’est un remede possesoire qui compete pour meuble: il a de coustume estre formé en ceste maniere, scavoir est, que le demandeur trove moyen de voir la chose mobiliaire qu'il veut advouer, et en presence d’un sergent declaire qu’il est seigneur et possesseur d’icelle chose, et l’advoue et requiert le sergent qu’il ait a sequestrer et mettre en main tierce et si le defendeur et detenteur est present, et ne die rien, sergent sequestrera la chose realement et de fait, et luy donnera adiournement pour se venir contravouer. Mais s’il s’oppose ou contrad-voue, le sergent ne sequestrera pas la chose, ains baillera adiournement pour dire ses causes d’opposition ou contradveu, et pour respondre au sequestre requis, avec


179) Imbert, I,17: l’interdict recuperatoire (unde vi) de possession ha lieu contre celuy qui pour force deiecte et spolie de la possession, ou ha pour aggreable hi spoliation faicte par autruy en son nom et son adveu. Mais la reintegrande ha lieu contre tous qui injustement detiennent et occupent: et peut estre formee par tous qui a droict et bonne cause tenoyent et exploictoyent avant la spoliation. D’avantage le dict interdict n’est baillé que quand l’on est spolié et deietté de la possession des immeubles et non des meubles, si non quand les meubles estoyent en fond ou maison dont le spolié estoit possesseur, mais la integrande peut estre intenté pour la spoliation de quelque meuble, iacoit qu’il ne feust en la maison laquelle le spolié possedoit.
180) Les quatres livres des Institutiones forenses 1554 S. 108.

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intimation quand a celuy sequestre. Toutesfois en aucuns lieux, comme en la ville et gouvernement de la Rochelle, le sergent sequestrera realement et de faict non obstant Opposition ou appellation sans preiudice d’icelle, et sil ne se contradvoue dedans la huictaine, il ne se peult plus contradvouer, et est la chose deliure a celuy qui a faict l’adveu. Mais ceste coustume ne doibt estre extendue a autre pays, parce qu’elle est contrain au droict commun, partant que de droict sequestration et prohibee et ne peut estre faict sans cognoissance de cause. Mais si l’on ne peut voir la chose que l’on veult advouer, il fault faire adiourner le detenteur d’icelle, pour l’exhiber, et avec intimation: et l’exhibition faicte, le demandeur advoue la chose et conclud a ce qu’elle luy soyt rendue et deliuréee.

Jedenfalls ersieht man daraus, daß die Hauptbestandteile der französischen Theorie von Calvin frei übernommen wurden, wohl in der Ueberzeugung, daß auch die französischen Prozessualisten die Grundgedanken der Glossatoren fortführen, und die redintegrande zwar mit dem interdictum unde vi sich nicht deckt, aber als ein rekuperatrisches Rechtsmittel aus diesem sich fortgebildet hatte. Aber wie die französischen Prozessualisten, war sich Calvin sicher bewußt, damit weder das reine römische, noch das reine kanonische Recht eingeführt zu haben, am allerwenigsten war er geneigt, das kanonische Recht dem römischen vorzuziehen. Sein Entwurf zeigt vielmehr, daß er es wagt, die spezifisch kanonischen Bestimmungen (so die exceptio spolii) auszuschalten und die anderen, auch im kanonischen Recht enthaltenen Bestandteile vermutlich deshalb zu übernehmen, da er sie mit den Glossatoren in dem römischen Recht verwurzelt dachte (die Anwendung des interdictum unde vi auch auf die Mobilien) oder als Erweiterungen der römisch-rechtlichen Prinzipien (die Klage gegen den dritten Besitzer) ansah.

 

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Die beiden letzten uns erhaltenen Abschnitte des Fragmentes über die „actions interroguatoires

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und „des actions perpetuelles ou a temps: et de celles, qui viennent aux heritiers ou contre les heritiers” (10/1,142f) enthalten dagegen reine Bestandteile des römischen Rechtes.

Wenn jemand seine Rechte wahren will und nicht genau weiß, wer als Störer seiner Belange in Betracht kommen kann, so muß er jemand als präsumptiven Beklagten bezeichnen und dessen Verhältnis zur belangten Sache, d.h. dessen Passivlegitimation durch förmliche an ihn gerichtete Klagen (im römischen Recht: interrogationes in iure faciendae) ermittelt werden. Auf die erteilte Antwort oder im Fall der Verweigerung oder Ableugnung der Wahrheit kann sich dann die Klage (die actio interrogatoria) gründen (Vgl. D 11,1 de interrogationibus in iure faciendis et interrogatoriis actionibus). Calvin führt hier Fälle an (les cas ou il sera licite), die bereits der Prätor in seinem Edikt im Allgemeinen oder im einzelnen Falle nach billigem Ermessen anerkannt und die darauf begründete Klage dem Kläger gegeben hat 181). Der Kläger kann den Beklagten befragen, wenn es sich um den Erben seines Schuldners handelt. Dieser muß sich als Erbe bekennen und angeben, ob er die Erbschaftsschulden ganz oder zum Teil tragen will (s’il se vouldra porter pour tel, semblab-lement en partie; vgl. D 11,1, 2-4 pr. namentlich 1 pr: Est interrogatio tunc necessaria, cum in personam sit actio et ita si certum peteretur, ne dum ignoret auctor, qua ex parte adversarius defuncto heres exstiterit; die näheren Bestimmungen des römischen Rechtes hinsichtlich der pluspetitio und des minus intendere fehlen bei Calvin).

Bei den Schadenersatzklagen (quand il y aura en dommaige), im römischen Recht: actiones noxales wird anläßlich des durch ein Tier verursachten Schadens dessen gegenwärtiger Eigentümer durch Befragen festgestellt (im römischen Recht die actio de pauperie h. t. 1. 7); ebenfalls wird durch Befragen die Großjährigkeit des Täters festgestellt (h. t. 1. 11 pr., 1. 13,16 pr., 1. 21,3). Ob Calvin bei dem „mis en oevre” an den D 11,1,8 erwähnten Fall: si quis interrogatus de servo, qui damnum dedit,


181) Vgl. Keller, Der römische Zivilprozeß. 5. Aufl. S. 245ff. Bethmann-Hollweg, a.a.O. II, S. 550ff.

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responderit, suum esse servum tenebitur lege Aquilia quasi dominus denkt, ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln, aber wahrscheinlich, da er S. 132 neben der dommaige des bestes et aultres unmittelbar die dommaiges ad legem Aquiliam nennt 182). Ebenfalls hat der Kläger bei einer rei vindicatio ein Interesse daran zu erfahren, ob der Beklagte die Sache besitzt (pour scavoir sil possede la chose quon vouldra vendiquer, entsprechend der l. 20 § 1 h. t.). Die erteilten Antworten hindern den Kläger nicht, sie auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen (l. 18 § 2 de prop.). Sie sind als vollgültig (vallables) zu werten, sowohl bei diesem interrogatorischen Vorverfahren als auch hinsichtlich der darauf sich gründenden Klage. Leider unterläßt es Calvin, die Rechtsfolgen der erteilten Antwort zu besprechen trotz des gemachten Ansatzes: toutes fois en aultre cause cela ne debvra . . . Die Wichtigkeit der Antworten, die nur für die Beklagten nachteilig sein können (au prejudice des respondans) wird wohl, wenn man die Ausführungen des erwähnten Titels der Digesten heranzieht, darin bestehen, daß der Beklagte durch sein Schweigen oder Reden sich dem Kläger gegenüber bindet, daß diesem auf die Aussage des Beklagten hin die Klage gestattet wird, unter Anerkennung der formalen Wahrheit der Antwort, die allerdings nur bis zur litiscontestatio berichtigt oder zurückgenommen werden kann, wenn ihr ein „entschuldbarer Irrtum” zugrundelag; die Unwahrhaftigkeit der Antwort zieht die Bestrafung des Beklagten nach sich 183).

Auch die Bestimmungen über die Klagenverjährung (143) folgen dem römischen Recht. Demnach sind die dem Zivilrecht entstammenden persönlichen (pour debtes) und dinglichen (pour possessions) Klagen unverjährbar (perpetuelles — actiones perpetuae), bis die eingetretene Verjährung sie löscht (jusque’à ce qu’il intervienne prescription pour les esteindre). Die Zeit der Löschung wollte Calvin, wie er sagt, in einem andern Abschnitt angeben (comme il sera dit). Zu kurz verjährbaren (a temps =


182) Vgl. Alexander le Bourgeois, La Loi Aquilia. S. 57ff.
183) Vgl. die Belege bei Keller, a.a.O. 247ff, Bethmann-Hollweg, a.a.O. 552ff.

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actiones temporales) gehört die Beleidigungsklage (actio iniuriarum), für die die Frist eines Jahres als Verjährungsfrist gilt (Vgl. D 47,10,17,6), ebenfalls die Klage gegen die schlechte Geschäftsführung der Vormundschaft, die actio tutelae directa, die fünf Jahre nach erlangter Volljährigkeit des Mündels verjährt (übereinstimmend mit Cod. Just. 5,74,3). Die Injurienklage ist aktiv unvererblich; der Sohn hat nicht das Recht, die seinem Vater angetanen Injurien zu ahnden, wenn diese nicht unmittelbar die Familie und die Nachkommenschaft angehen (übereinstimmend mit D 37,6,2,4). Sie ist aber auch passiv unvererblich (contre les heritiers nullement, offenbar im Anschluß an das römische Recht, wonach die Strafklagen mit dem Tode des Delinquenten erlöschen, D 39,1,20), außer wenn es sich um pekuniäre Forderungen handelt (interestz) 184). Die Klagen der Erben und gegen die Erben müssen daher nur zivil sein (ainsi l’action deviendra civile. Au reste une action teile intenter par la partie principale ou contre pourra estre poursuivie entre les heritiers), vermutlich, weil Calvin, wie das römische Recht, den Hauptzweck dieser Klagen in der persönlichen Genugtuung erblickte vgl. D 37,6,2,4: Emancipatus filius si iniuriarum habet actionem, nihil conferre debet: magis enim vindictae quam poenae habet persecutionem.

 

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Damit schließt das Fragment. Es ist zu beklagen, daß es nur ein Torso geblieben ist. Es fehlen bei der Darstellung des Prozeßverfahrens wesentliche Bestimmungen über die Ausführung des Urteils, über die Appellation und über die Vorbedingung zur Einleitung eines neuen Verfahrens. Wir entbehren ferner in dem Kapitel über die Klagen die Bestandteile, die sich auf den Schutz des Erwerbsrechtes beziehen, so die Bestimmungen über Kauf und Uebergabe, Servituten, Emphyteuse, das Pfandrecht,


184) Calvin erwähnt nicht, ob die Klage nur nach vollzogener Litiskontestation statthaft ist, wie im römischen Recht (D 47,10,13 pr); ebenfalls fehlt die Andeutung, ob es sich nur um Schadenersatz oder Geldbuße oder beides zugleich handelt.

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die aus der Verletzung des Obligationenrechtes, des Familien- und Erbrechtes sich ergebenden Rechtsschutz-Vorschriften. Alles dies ist zwar von Calvin zweifellos beabsichtigt worden, wie wir bereits feststellen konnten und wie der umfassende Plan (Op. 10,1,128ff), der ein vollständiges Gesetzbuch des Genfer Privat- und öffentlichen Rechtes vorgesehen hatte, beweist.

Trotzdem gewährt das erhaltene Material einen Einblick in die Leitgedanken, die Calvin bei seiner Arbeit vorschwebten. Er sucht das römische Recht, das damals überall als gemeines Recht galt, mit der lebendigen, in den Franchises und Edits sich widerspiegelnden Rechtsüberzeugung Genfs (vgl. die immer wiederkehrenden Sätze in den Prozeßakten: sicut solitum et consuetum est; secundum franchesias et libertates) zu einer Einheit zu verschmelzen, ohne die bleibenden, in dem römischen Recht verwurzelten Bestimmungen des kanonischen Rechtes ganz auszuschalten, soweit diese teils sittlichen Motiven entsprungen, teils von dem überkommenen in Genf eingebürgerten römisch-kanonischen Prozeßverfahren unzertrennlich waren, und von der bisherigen Theorie auf römisch-rechtliche Grundlagen zurückgeführt wurden. Wenn er dabei die in der französischen Gesetzgebung enthaltenen Bestandteile des Zivilprozesses übernimmt und die Grundgedanken der humanistischen Jurisprudenz (Budé) berücksichtigt, so ist er bestrebt, mit alledem ein lebendiges Volksgesetz in Genf zu schaffen. Wie die Ordonnances von 1541 der Kirche, so soll das Zivilprozeßrecht dem Staat zu einem neuen, von dem Rat 185) gewünschten modus vivendi (mode de vivre) verhelfen Seine Vorschläge sind beherrscht von dem ihm vorgezeichneten Prinzip der Beschleunigung des Verfahrens, dessen Verwirklichung in einer beachtlichen Umwandlung der bisherigen Praxis, in der Ausgestaltung des Possessoriums zu einem summarischen prozessualischen Institut besonders zutage tritt. Kurz, Calvin verkörpert


185) Vgl. die Bestimmung des Rates vom 28. Sept. 1541: afin que chacun sache comment il devra se regir, ordonné que l’on doive faire des Ordonnances de Droit et Mode de vivre.

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in seinem Vorschlag zur Reform des Zivilprozesses wie in der bekannten Neugestaltung des Verfassungsrechtes und des Kirchenrechtes (vor allem des Eherechtes) die Kraft der Genfer Rechtsentwicklung in der Reformationszeit.

 

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Wie seine Vorschläge über die Ausformung und Gliederung der obrigkeitlichen Staatsorgane (gouvernement et Estat de cette Ville), so sind auch die grundlegenden Gedanken des Zivilprozeßverfahrens nicht auf dem Papier geblieben, sondern in die Wirklichkeit des Genfer Staatslebens eingefügt worden, das in den Edits civils 1568 seine erste umfassende Gestaltung erfahren hat. Ohne auf Einzelheiten und gelegentliche stilistische und sachliche Abweichungen und Ergänzungen 186) in den Edits näher einzugehen, genügt es, die entsprechenden Stoffe nebeneinander zu stellen. Der Abschnitt des Entwurfs über „ladiournement ou evocation en causes civiles” stimmt wesentlich mit dem Titre premier, Abschnitt I, der Edits überein. Man vergleiche ferner den Abschnitt: des deffaults (133) mit Edits I,3,6,7,8 de la procedure (135) mit Ed. 1,10, VI,3, 1,12, 13 de termes et dellais (ib.) mit Ed. III,8; des causes passant cinq fl. (135f) mit Ed. III,12,3,9,10 11 und 12; en cas dexception (136f) mit Ed. III,5,6 Des feries (137) mit Ed. V,1,2. Der Abschnitt de la recusation des iuges, tant en la procedure comme en sentence definitive (138f) ist fast wörtlich im Tit. IV. der Edits enthalten 187).


186) Wichtigere Aenderungen finden sich im III. Abschnitt: des procedures et Instructions de procez, da hier das nach Calvin nur für die Personalfragen angewandte Verfahren (de causes passant cinq fl.) auf das Verfahren überhaupt ausgedehnt wird, das wichtigere und schwierigere Klagen zum Gegenstand hat.
187) Es sei der Wortlaut der betreffenden Stellen nebeneinandergestellt:

Calvin: Edits:
Quel nul iuge ne soit tenu per suspect, sinon quil soit refuse de lune des parties. En cas que les parties consentent toutes deux de lavoir, quil ne se demecte point. Quil ne soit licité de recuser sans ➝ Que nul Juge ne soit tenu per suspect, sinon quil soit recusé pour iuste cause proposée par l’une des parties. Et en cas que les parties consentiront toutes deux qu'il demeure Juge en leur cause, ➝

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Dagegen haben die Verfasser der Edits an den die Besitzes- und Eigentumsklagen betreffenden Teilen des calvinischen Entwurfs beträchtliche Aenderungen vorgenommen. Diese bestehen nicht bloß in Textverbesserungen und Umstellungen, die dem ungeordneten und halbfertigen Stoff Calvins eine festere architektonische Form zu geben versuchen, sondern in Ergänzungen und Vereinfachungen, wobei der Einfluß der französischen Gesetzgebung noch deutlicher als bei Calvin wahrzunehmen ist. Zwar vermeiden die Edits ebenso wie Calvin geflissentlich die französischen Termini: action de nouvelleté, reintegrande, recreance, saisine und dessaisine, und behalten die römisch-rechtlichen Bezeichnungen: materies possessoires et interdicts, zweifellos in dem Bewußtsein der Tatsache, daß die französischen Prozessualisten, namentlich Beumanoir, eine besondere Geschicklichkeit zeigten, durch Gebrauch neuer Termini die dem römischen Recht entnommenen Bestimmungen zu verbergen und die durch römische Juristen aufgestellten Prinzipien dem Gewohnheitsrecht anzupassen 188). Wenn


➝ alleguation de cause, de laquelle cognoistra le reste du tribunal et que celluy quon vouldroit refuse(r) soit aussi ouy sur les raisons. ➝ ne se pouru demettre, et decharger de la cognoissance, et jugement de laditte Cause.
Les causes de recuser seront:
(der von Mallet mitgeteilte Text fügt noch hinzu: suyvantes à scavoir).
Avoir este procureur, ou conseiller, ou premier iuge en la cause.
Seront les causes de recusation receues, pour avoir été soliciteur, Procureur. Conseiller, témoin ou premier Juge en la cause.
Item parentaige de pere a filz, frere a frere, oncle a nepveu, consinaige germain, pareillement affinite jusque au degre doncle a nepveu et au rebours. Item de parentage de pere à fils, frere a frere, oncle a nepveu, cousins germains, pareillement affinitez iusques au degré d’oncle à nepveu.
Item quant la cause atouchera a celuy quon recuse, comme si le proces estoit touchant marchandise en laquelle il eust compaignie, ou sil debvoit estrc guarant ou quil fust fideiusseur, Et semblables. Item quand le Juge aura part, profit ou dommage en la cause, ou quand il aura une cause semblable en son prive nom.
Item sil y avoit faveur manifeste dun coste, ou haine de laultre: laquelle se peult facilement cognoistre par presumptions vehementes. Car il nest pas requis de la prouver du tout. Item quand le Juge aura demonstré aucune faveur, haine ou menace, ou venterie pour incliner à lune des parties.

188) Vgl. Glasson, a.a.O. 597, 611, 612.

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die Edits ausdrücklich die Interdikte erwähnen, so wollen sie damit zum Ausdruck bringen, daß sie dabei nur auf den materiellen Inhalt der altrömischen Rechtsmittel sehen und demnach die Klagen nach den Prinzipien der letzteren entscheiden wollen 189). Es ist daher kein Widerspruch, wenn in den weiteren Ausführungen Einzelbestimmungen des französischen Zivilprozesses wiederkehren. Haben doch selbst die französischen Prozessualisten zugegeben, daß die complainte oder die action de nouvelleté und die reitengrande den römischen Interdicten entsprechen 190). — Da nun Calvin, wie wir gesehen haben, bei den Mobilien- und Immobilienklagen die gewaltsame Verdrängung von der bloßen Störung unterschieden hat; da nach ihm die beiden Klagearten, die wir kurz mit dem französischen Termini: complainte und reintegrande bezeichnen können, in dem gleichen Verhältnis zueinander stehen, wie das interdictum uti possidetis und unde vi, so wird diese Unterscheidung von den Edits übernommen, die Merkmale der beiden Klagen werden aber durch einige bei Calvin nicht vorkommende Momente ergänzt.

Der erste Abschnitt des zweiten Titels der Edits lautet: Le possesseur qui sera spolie par voye de fait, occultement ou apartement, faisant sa complainte dedans Tan, apres avoir este cognu par sommaire information, parties appellées par sommaire information, sera incontent et sans delay restitue et remis en sa possesion, et ne sera ouy ledit spoliateur es droits par lui pretendus sur la chose questionnee, jusques à ce qu’il ait satisfait a ce qu’il sera ordonne de la dite restitution, et des despens, dommages et interets, sur ce adjugez, lesquels celuy qui aura obtenu sera tenu faire liquider et taxer, dedans le tems qu’il luy sera sur ce prefix, afin de ne retarder, et empescher sous ombre desdits despens, dommages et interests, que le defendeur soit ouy en ses droits du bien questionne. Es handelt sich hier offenbar um die rekuperatorische Klage gemäß dem interdictum unde vi bezw. der reintegrande, aber,


189) Vgl. oben S. 264, 265.
190) Später noch kann Rebuffi a.a.O. 769 schreiben: omnis possessoria materia ad tria inderdicta redigitur, videlicet ad interdictum adipiscendae possessionis retinendae et recuperandae.

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was bemerkenswert ist, nicht bloß um die auf die Mobilien bezogene Spolienklage. Dafür spricht der Umstand, daß die Bestimmung über die „Unkosten, Schadenersatz, und Interesse” die an sich schon die Immobilienklage voraussetzen, fast wörtlich mit den Vorschriften der Ordonnance von 1539 § 88 übereinstimmen, die für alle Klagen gelten (Isambert, a.a.O.: Qu'en toutes matières reelles, personelles, possessoires civiles et criminelles y aura adjudication de dommages et interêts . . qui seront taxes et modérés à certaine somme . . pourveu toutes fois que lesdits dommages et interêts aient été demandés par la partie, qui aura obtenu) 191), wie auch die Vorschriften des zweiten Abschnittes über die Berufung des Spolianteri sich fast wörtlich mit denjenigen der Ordonnance decken 192). Die Edits fassen demnach die von Calvin je in einem selbständigen Abschnitt (bei den Mobilien- und Immobilienklagen), die gewaltsame Verdrängung und Spoliation betreffenden Bestimmungen in einer beide Klagen einheitlich nach dem interdictum unde vi bezw. der reintegrande regelnden Gesetzesvorschrift zusammen, und folgen damit der von Calvin und Imbert geteilten Auffassung, daß das interdictum unde vi, bezw. die reintegrande auf bewegliche und unbewegliche Sachgüter sich erstreckt, sowie der Forderung des ersteren, die Klagen summarisch zu behandeln. Vermutlich wegen der Zusammenfassung der Mobilien- und Immobilienklage fällt auch die ausführliche Darstellung des Verfahrens über die Mobilienklage in den Edits fort. Diese fügen aber eine bei Calvin nicht vorkommende Bedingung hinzu, daß


191) Daß auch die spätere Praxis die réintégrande als Rechtsmittel der Wiederherstellung der Immobilien aufgefaßt und die königliche Ordonnance in diesem Sinne verstanden hat, dazu vgl. Rebuffi, a.a.O. S. 209: ut restituatur et reintegretur in primis et ante omnia ad possessionem domus vel alterius rei qua fuit spoliatus.
192)

Edits: Ordonnance § 62
Et si led. spoliateur est appellant, sera neatmoins executé la ditte Ordonnance de restitution, non obstant ledit appel, et sans preiudice d’iceluy, en baillant toutes fois Caution par celuy qui aura obtenu victoire de ce qui sera adiugé. (Isambert, a.a.O. 612): que les sentences de recréances et reintégrandes et toutes matières . . seront executoires non obstant l’appel, et sans préiudice d’icelui en baillant caution § 68 (Isambert 614) non obstant . . . appellations quelscunques, et ce par provisions en baillant . . bonne et suffisante caution.

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die Klage innerhalb des Jahres der Spoliation angestrebt werden muß, eine Bedingung, die bereits früher in dem Gewohnheitsrecht der Normandie und in der Theorie der französischen Prozessualisten aufscheint 193). Steht diese Verjährungsfrist offenbar unter dem Einfluß des römischen Rechtes 194), so ist die der zweiten, dem interdictum retinendae possessionis entsprechenden Klage gegen die Störung des Besitzes beigefügte, bei Calvin ebenfalls nicht vorhandene Bestimmung des Abschnittes III, wonach nur derjenige in seinem Besitz erhalten wird, der unbewegliche Sachgüter seit einem Jahr öffentlich und im eigenen Namen besessen hat, nicht römischen, sondern germanischen Ursprungs. Über die Ausdehnung dieser Forderung waren sich die Prozessualisten nicht einig 195). Während die einen den einjährigen Besitz bei den Klagen forderten, bei Immobilienklagen aber fallen ließen 196), ließ sie das kanonische Recht bei den rekuperatorischen Fragen gelten. Die Edits folgen in diesem Punkte Imbert 197), der in Uebereinstimmung mit der damaligen französischen Praxis die Bedingung des einjährigen Besitzes bei der reintegrande streicht und sie daher nur auf die Klage gegen die Störung des beweglichen Besitzes anwendet.

Doch die Forderung des Annalbesitzes ist nicht das einzige Merkmal der Klage der retinendae possessionis. Wichtiger ist der Zweck, nämlich die Erhaltung des friedlichen Besitzstandes. Die diesbezügliche, ebenfalls bei Calvin nicht vorkommende Formulierung der Edits ist wohl im Anschluß an Grand Coutumier de France lib. II. cap. 19 entstanden: que la chose ne soit mye occupe par force, ne clandestinement, ne par priere, mais paisiblement, publiquement, et non à tiltre de louaige ne de prest. Vgl.


193) Grand contumier de Normandie, ed Gruchy, p. 132 und Beaumanoir, a.a.O. I,469,476.
194) Vgl. Glasson, a.a.O. 615.
195) Vgl. zu der ganzen Frage Esquirou de Parieu, a.a.O. S. 38ff.
196) So namentlich Beaumanoir, a.a.O. I,466ff.476.
197) a.a.O. I,17: n’est point necessaire, que le demandeur prouve possession d’an et jour avant la spoliation: ains seulement qu’il estoit possesseur au temps de la spoliation. Toutes fois selon droict canon ce remede peut estre intenter pour le recouvrement de la chose a soy appartenant, voire apres l’an et jour de la spoliation et n’est remede possessoire, ains dure perpetuellement iusque a trente ans. Neantmoins n’en usons pas ainsi.

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ferner den Art. 96 der Coutumes de Paris und vor allen Dingen Imbert, I,16: Qui igitur hoc interdicto experiundum putat, rem controversam se iuste possidere causetur, quandove tempore hac usus sit a nemine antea interpellatus neque a reo vi, clam, precario, illatae vis tempore possedisse: deinde intentionem subiciat, ut iudex eum in possessione tueatur. Mit ihrer Unterscheidung der gewaltsamen Verdrängung und der nicht gewaltsamen Störung haben Calvin und die Edits nichts Neues geschaffen, sondern nur die seit Beaumanoir unter dem Einfluß des römischen und kanonischen Rechtes bereits ausgebildete Tradition fortgesetzt. Ob ihre Zuordnung der complainte und reintegrande 198) zu dem interdictum uti possidetis und unde vi ein Irrtum war oder nicht 199), ist nicht schwerwiegend angesichts der Tatsache, daß diese Unterscheidung in der Gerichtspraxis Genfs Fuß gefaßt hat. Selbst der große Erneuerer des Genfer Zivilprozesses von 1819, Beilot, behält sie bei 200), wie auch die französische Gesetzgebung unter Ludwig XIV., die Ordonnance 1667 Tit. 18, art. 1 und 2.

Im Abschnitt IV räumen die Edits auch denjenigen, der von dem Besitzer gewisse Rechte erworben haben, die Klage gegen die von diesen oder einem Dritten begangene Störung ein. (Semblablement celuy qui aura le droict acquis de tel possesseur sera maintenu taut contre son dit autheur qu’autre luy faisant trouble et ce sans préjudice de la proprieté).

Hinsichtlich des zweifelhaften Besitzrechtes ordnen die Edits wie Calvin die Beschlagnahme des Sachgutes für die Dauer des Prozesses an. Sie lassen aber auch die


198) Sie gebrauchen zwar nicht die beiden neben- und entgegengesetzten Bezeichnungen complainte und réintégrande: die Edits setzen für die réintégrande sogar complainte ein (Abschnitt 1 des tit. 111), behalten aber die Sache.
199) Noch die späteren französischen älteren und neueren Prozessualisten Pothier (Tr. de la possession VI.84), Berriat de Prix, Cours de procédure civ. 5 1,117. Boilard et Colmet-Daage, Lec. de proc civ. I1,631 vertreten diese Ansicht.
200) Exposé des motifs de la loi sur la procédure civile pour le canton de Genève. herausg. v. Brocher und Schaub, 1877, S. 94: L’Ordonnance de 1667 et nos Edits distinguaient entre la depossession qui avait été operée sans violence et celle qui avait été avec violence . . La distinction etait juste et naturelle. Vgl. zur Würdigung der Reform Bellots die vortreffliche Darstellung von Fritzsche (Schurter und Fritzsche: Das Zivilprozeßrecht der Schweiz ll/1, S. 17ff.)

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provisorische recreance demjenigen zu, dem nach einer genauen Prüfung und Beglaubigung ein größeres Recht auf das Sachgut zukommt, bis zur endgültigen Entscheidung. Die recreance findet bei eventueller Berufung der anderen Partei statt, wobei die provisorisch obsiegende Partei eine Kaution hinterlegen muß, um im Falle einer späteren definitiven gegenteiligen Entscheidung der anderen Partei den entgangenen Gewinn zu ersetzen. Calvin scheint nach dem allerdings nicht ganz eindeutigen Text die recreance nicht zu befürworten, da er in dieser die Gefahr der Verlängerung des Prozesses befürchtet 201).

In allen diesen Fällen unterscheiden die Edits deutlich das Possessorium vom Petitorium. Der Spoliant und Deizient darf seine Eigentumsrechte geltend machen, wenn der Beraubte und Verdrängte seinen Besitz wieder erlangt (Abschnitt 1). Der vermeintliche Eigentümer des von einem anderen, gegenwärtig friedlichen Besitzer innegehabten Grundstückes kann seine Rechte erst nach Erledigung der Streitfrage im Possessorium antreten und im Falle seines Sieges im Petitorium den bisherigen Besitzer zwingen, den Besitz zu räumen (Abschnitt 3). Die Erledigung der Streitfrage im Possessorium ist daher im Hinblick auf das Endurteil des Petitoriums, wie bei Calvin, nur vorläufig; sie praejudiziert dem definitiven Besitzurteil ebensowenig wie die gegen den possessorischen Urteilsspruch eingebrachte Berufung (Abschnitt 2). Dieses gilt von den übrigen Streitfällen, die das umstrittene und zweifelhafte Gut betreffen (Abschnitt 4: attendant le dit jugement definitif). Hat das Possessorium im wesentlichen einen summarischen Charakter (par sommaire Information, incontient et sans delay, die Kautelen gegen die Verschleppung des Prozesses), so ist die Uebereinstimmung mit Calvin auch in dieser Hinsicht deutlich. Wenn auch seine Forderung, das Petitorium mit dem Possessorium zusammenzufassen, die, wie wir gesehen haben, im Interesse der Angleichung an die französischen


201) Affin que cela ne soit occasion de prolonger la cause principale si on s’arrestoit sur la delivrance (die „delivrance” ist mit der recreance identisch).

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Reformbestrebungen aufgestellt wurde, in den Edits nicht auftaucht 202), so ist die anerkannte prozessuelle Maßnahme, das Possessorium vor dem Petitorium zu erledigen, durchaus im Sinne Calvins.

Somit haben die Edits den Grundstock des Zivilprozeßrechtes von Calvin übernommen und verarbeitet, wenn sie auch zwei wichtige Abschnitte (das Verfahren bei den Immobilienklagen und die actions interrogatoires) unbeachtet lassen. Es ist bezeichnend, daß Colladon, der in den einzelnen Kapiteln seines Zivilrechtes unter dem Einfluß der Coutumes des pays et duche de Berry steht, in der Gestaltung des Zivilprozesses von jenen unabhängig ist 203). Seine Arbeit ist allerdings trotz der zu dem Entwurf Calvins hinzugefügten Ergänzungen immer noch unvollständig, da sie nicht alle wichtigen Prozeßgegenstände umfaßt. Die Lücken sind später durch die alten Formen des kanonischen Rechtes wieder ausgefüllt und die daraus entstandenen Unzukömmlichkeiten erst in dem Reformentwurf Bellots 1819 beseitigt worden. Aber über der Arbeit Colladons, über seiner altehrwürdigen Sprache liegt der Hauch des römischen Rechtes ausgebreitet, der Geist der berühmten Juristenschule von Bourges. Bei alledem weiß Colladon, daß er das Erbe eines anderen, Größeren, seines Meisters und Freundes, angetreten hat, des Reformators von Genf, der das Vielerlei von scholastischen Quisquilien des kanonischen Prozeßrechtes durch unentbehrliche Bestimmungen ersetzt, seiner Starrheit die Beweglichkeit gegenüberstellt und seine Verschleppungstendenzen durch das Prinzip des summarischen Verfahrens zurückgedrängt hatte.

Sind die Edits im Laufe der Zeit zum zweiten Genfer Gewohnheitsrecht neben der Franchises geworden, so haben sie es nicht zuletzt dem Reformator zu verdanken,


202) Sie ist nicht prinzipiell aufgegeben worden. In meiner angekündigten Studie über die Edits von 1568 wird der Nachweis erbracht werden, daß Colladon die Möglichkeit einer solchen Zusammenfassung offen gelassen hat.
203) Darauf hat Peretti de la Rocca in seiner leider ungedruckt gebliebenen Arbeit: De l’influence des coutumes de Berry sur la législation de Genève au XIVe siecle, wie man aus der Inhaltsangabe in den Positions des theses soutenus pas les élèves de la promotion de 1893 (Ecole nationale de Chartres, S. 54) entnehmen kann, mit Recht hingewiesen.

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der die wenigen zerstreuten zivilprozessualien Bestimmungen der Franchises in das abgerundete System eingeordnet und um neue vermehrt hatte. Hinter allen Einzelheiten und Prinzipien steht aber bei Calvin nicht die Notwendigkeit einer systematischen oder methodischen Durchgestaltung des Zivilprozesses, sondern, wenn auch nicht ausgesprochen, so doch anderweitig bezeugt, die über die nächsten praktischen Interessen des Gerichtslebens und des Rechtslebens überhaupt hinausgehende Voraussetzung, daß der Richter, der seine Funktionen nach dem Grundsatz des Rechtes und der Billigkeit ausübt, eben damit auf Gott als die letzte entscheidende Instanz hinweist, deren Vertreter und Darsteller er ist und bleiben soll 204).


204) Op. 27,409f: nous sommes advertis d’aimer l’estat de justice, cognoissant que c’est un don singulier de Dieu . . . s’il doit establir des Juges, qu’ls soyent comme lieutenans de Dieu.