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II.

Naturrecht und positives Recht.

 

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Bei der Bedeutung des mit dem Sittengesetz wesentlich identischen Naturgesetzes ist es begreiflich, daß es den vernünftigen Grund (ratio) aller geschriebenen Gesetze bildet, daß das der christlichen Liebe entsprechende Rechtsprinzip, der Billigkeit als Grund und Stütze aller Gesetze angesehen werden kann 1). Die Billigkeit ist, weil unveränderlich, in allen Gesetzen dieselbe, während die Rechtsform, die constitutio, durch die sich die geschriebenen Gesetze von den jüdischen und anderen positiven Gesetzen unterscheiden, wechselt. Das Naturgesetz muß demnach allgemeingültig und notwendig sein und als Maßstab (regula) für alle besonderen Rechtsordnungen dienen. Wie aber die geschichtlich und empirisch gegebenen Verhältnisse darnach zu gestalten seien, das ist zufällig und partikulär, hebt aber den Wert des Gesetzes nicht auf 2). Die Gesetze mögen mehr oder weniger verschieden, durch abweichende räumliche und zeitliche Umstände bedingt sein, das ihnen zugrundeliegende Prinzip, Richtmaß, Ziel und Begriff der Billigkeit ist ein und dasselbe 3).

 

1

Drängt sich bei dieser allgemeinen Verhältnisbestimmung die Ueberzeugung auf, daß hier Calvin wesentlich die althergebrachte, trotz aller späteren zahlreichen


1) 2,1105f.
2) Sie können allerdings die Vollkommenheit der Menschen nicht herbeiführen, wohl aber die Fehler der Menschen abzuwenden helfen: 27,544: nous voyons que les loix ne son point pour amener les hommes à perfection: ie di les loix civiles qui sont faites pour la police humaine. Elles ne sont point donc pour establir une saincteté parfaite entre nous, mais pour remedier aux vices.
3) 2,1106. Vgl. 24,662.

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scholastischen Unterscheidungen im Grunde einheitliche, die Naturrechtslehre der Antike, der Kirchenväter und des Mittelalters beherrschende Anschauung wiedergibt, so lassen doch die charakteristischen Ausdrücke, sowie die praktische Anwendung dieser Verhältnisbestimmung darauf schließen, daß Calvin seine Formulierung nicht den mittelalterlichen Vorlagen verdankt. Bei einem in den berühmten Schulen des römischen Rechtes aufgewachsenen humanistischen Juristen kann man überdies erwarten, daß er zunächst auf die Lehrarten der Antike zurückgreift.

Den Grundgedanken seiner Unterscheidungsformel wird Calvin zweifellos den klassischen Stellen in Quinctilian’s Institutio oratoria XII, 23 entnommen haben 4). Quinctilian unterscheidet die leges, quae natura sunt omnibus datae, auf denen das iustum natura, und die leges, quae propriae sunt populis et gentibus constitutae, auf denen das iustum constitutione beruht 5). Quinctilian und mit ihm Calvin geht dabei von dem Grundsatz des römischen Rechtes aus, wonach das ius civile, bezw. die lex civilis als formales Rechtsgesetz, als eine mit rechtskonstituierender äußerer Form ausgestattete Rechtserscheinung zu werten ist 6), und gerade durch diese seine Form


4) Calvin hat Quinctilian’s Institutio gründlich studiert; das bezeugen die Zitate aus fast allen Büchern dieses Werkes in dem Seneca-Kommentar. (5,17 (zitiert das 5. Buch) ib. 25 (8. Buch), 32 (3. Buch), 34 (5. und 7. Buch), 37 (10. Buch), 47 (2. Buch), 48 (5. Buch), 57 (8. Buch), 64 (9. Buch), 76 (12. Buch), 78 (6. Buch), 89 (3. Buch), 93 (18. Buch), 115 (10. Buch), 116 (9. Buch und 10. Buch), 156 (6. Buch), 157 (5. Buch), 159 (8. Buch), 162 (5. Buch).
5) Zu dem Unterschied von iustum natura et constitutione vgl. Inst. orat. VII, 4, 5, 6.
6) Vgl. die Bezeichnungen ius constitutum, ius quod populus constituit, iuris con-stitutio, civilis constitutio, bei Voigt, a.a.O. I,302. Neben den dort angeführten Belegen noch Martianus Inst. lib. 1 § 11. de I.N. 1,2: ea quae ipsa sibi quaeque civitas constituit, saepe mutari soleni. — Auch das kanonische Recht verwendet offenbar im Anschluß an das römische, den Begriff constitutio als Bezeichnung der geschriebenen und überlieferten mores (iure conscripti et traditi); darum die constitutiones ecclesiasticae vel saeculares, die dem ius naturae (lex divina) nachstehen; constitutiones vel ecclesiasticae vel saeculares, si naturali iuri contrariae probantur penitus sunt excludendae. Daher auch die Unterscheidung: ius naturae et ius constitutione (Vgl. die Einleitung über die kirchlichen Rechtsquellen im principium Gratians dist. 1-20 und § 1 vor c. 27 C XI qu 1). Es ist auf eine geringe Vertrautheit mit den Grundbegriffen des römischen und kanonischen Rechtes zurückzuführen, wenn Doumergue (Calvin V, 473 und Anm. 3) den Begriff constitutio mit dem modernen Begriff Konstitution = Verfassung identifiziert.

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sich von anderen Gesetzen unterscheidet, genauer, daß erst diese Form den verschiedenen Gesetzen auch eine eigenartige Prägung gibt.

Allerdings fehlt der Unterscheidungsformel Quinctilians die ausschließliche Forderung Calvins, daß die Billigkeit und constitutio in einem Gesetz als Bestandteile desselben zusammengefaßt werden; ebenfalls werden bei Quinctilian nicht Billigkeit und Konstitution, sondern Natur und Konstitution gegenübergestellt. Hat dagegen Aristoteles 7) statt der Natur das ἐπιεικὲς als bleibende Art des Gerechten bezeichnet, indem er die Billigkeit mit dem κοινὸς τῆς φύσεως νόμος zusammenfallen ließ, dabei aber an der Ueberzeugung festgehalten, daß die Billigkeit ihrer Natur nach niemals Inhalt eines geschriebenen Gesetzes werden kann, sondern in jedem einzelnen Fall als Folge eines neuen rechtsschöpferischen Aktes genommen werden muß 8), so kann er die Formulierung Calvins nicht beeinflußt haben. Diese ist zweifellos Cicero entlehnt, der in der Topica 2,9 9) das ius civile als aequitasconstituta iisdem, qui eiusdem civitatis sunt, definiert und die Verschiedenheit der Rechtsform 10) in der eigenartigen Beschaffenheit der einzelnen Staaten begründet sieht.

Wichtiger indes als diese Uebereinstimmung ist die Frage, ob die Festlegung des Verhältnisses von Naturrecht und positivem Recht im Einklang steht mit derjenigen Melanchthons, dessen Anschauung bekanntlich die späteren Lehren wesentlich beeinflußt.

Melanchthon äußert sich über das fragliche Verhältnis in verschiedenen Definitionen, die nicht ganz übereinstimmen, sich aber gegenseitig ergänzen. In seinen Ethicae doctrinae elementa 11) heißt es: Das positive Recht ist das „decretum” einer legitimen Machtautorität, das nicht dem Naturrecht widerspricht, wohl aber diesem eine „circumstantia probabili ratione” hinzufügt (addens); dieser


7) Rhetorik 1375a, 27.
8) Hirzel Agraphos nomos in den Abh. d. Sachs. Ges. d. Wiss. Ph. hist, Klasse 20, S. 60.
9) Calvin hat die Topica Ciceros gelesen; vgl. 5,102.
10) Pro Balb. 13,31: dissimilitudo civitatum varietatem iuris habeat necesse est.
11) CR 11,229.

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allgemein lautenden ratio (z.B. fures puniendos esse) wird dann durch eine spezielle Anordnung des Staatslenkers gleichsam eine Novelle beigegeben (z.B. die nähere Art der Strafe), deren Festsetzung wieder nach einer bestimmten probabilis ratio erfolgt (z.B.: ingenia ferociora durioribus vinculis cuercenda sunt) 12). In der Enarratio libri V Ethicorum Aristotelis bekommt das Verhältnis der beiden Rechte eine nähere Bestimmung, da hier das positive Recht als Inbegriff der logischen aus den Grundsätzen des Naturrechtes gezogenen Schlußfolgerungen bezeichnet, also der Nachdruck auf die Schilderung der Ursprungsart gelegt wird 13). Diese Ergänzung ist ein genuin thomistisches Gedankengut. Nach Thomas von Aquino (Summa, 1,2 qu. 95, a 2) hat jedes positive, vom Menschen erlassene Gesetz den Charakter und die Kraft des Gesetzes, sofern es von dem Naturgesetz abgeleitet wird (derivatur). Weicht es von dieser Norm ab, so ist es kein Gesetz, sondern Verkehrtheit. Nun kann vom natürlichen Gesetz etwas sich ableiten, wie Schlußfolgerungen (conclusiones) abgeleitet werden von Prinzipien, oder als nähere Bestimmungen eines Allgemeinen. Die erstere Weise ist der Art ähnlich, in der in den Wissenschaften Schlußfolgerungen gezogen werden. Der zweiten Weise entspricht es, wenn der Künstler seine Kunstform auf einen besonderen Stoff und Verhältnisse anwendet. Manches wird von den gemeinsamen Prinzipien des Naturgesetzes, wie Schlußfolgerung abgeleitet; z.B. die Bestimmungen, daß man nicht töten


12) Dasselbe, CR 11,913; 12,22 und 16,71; ähnlich 12,22: ut suas quasdam leges addat (die Obrigkeit), non pugnantia cum divinis, sed quae circumstantias aliquas legum generalium determinet, probabili ratione, et sint adminicula legum divinarum, ut cum gradus suppliciorum ordinat etc.
13) CR 16,392: ius positivum significat conclusiones propter rationem probabilem, additas legibus naturae, congruentes cum illis, non dissentientes, ut lex naturae praecipit puniri furtum. Hic legislator (nicht wie in der vorigen Definition gubernator politicus) propter probabilem rationem modum poenae determinat. Aliter punit grassatorem, aliter furantem non animo latrocinandi, aliter punit fures in iis gentibus quae alioqui bona disciplina reguntur, aliter in gentibus ferocioribus. Aehnlich 11,913 (Decl. de legibus): Summis gubernatoribus in politia mandatum est, ut ipsi quoque leges addant decalogo, quae tamen cum legibus naturae non pugnent, sed aut necessaria consequentia aut probabili ratione extructaesint, et sint velut adiumenta legum naturalium, et circumstantias aliquas definiant. Dasselbe in der Philosophiae moralis epitome CR 16,71ff . . Hic sequntur conclusiones non necessario, sed tamen sunt determinationes quaedam generalium sententiarum ex quibus sequntur.

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soll, kann von dem Prinzip abgeleitet werden, man solle anderen nichts Böses zufügen. Manches andere ist eine nähere Bestimmung des Allgemeinen, eine Anwendung des Prinzips auf besondere Verhältnisse. Z.B. das Naturgesetz bestimmt, man müsse jenen, der sündigt, strafen; daß er aber diese oder andere Strafe erleiden soll, ist eine nähere Bestimmung des allgemeinen Naturgesetzes, eine Anwendung auf bestimmten Fall 14).

Die thomistischen „Schlußfolgerungen” und „Determinationen”, die als Bindemittel zwischen dem Natur- und positiven Recht bei Melanchthon und in der Folgezeit bei den evangelischen Naturrechtlern immer wieder vorkommen, fehlen bei Calvin ganz. Er begnügt sich mit der allgemeinen, bereits erwähnten Feststellung, daß das Naturrecht Regel, Ziel und Grenze der positiven Gesetze ist. Es wird dem Ermessen der Obrigkeit überlassen, „neue Erlässe” herauszugeben, wenn der Zustand des Staates sich verändert, was namentlich in der Kriegszeit der Fall ist. Im Interesse der Menschlichkeit wird eine strenge Gesetzesordnung in den Gegenden eintreten müssen, die von den Verbrechern heimgesucht werden 15). Der Inhalt der zu erlassenden Gesetze richtet sich daher nach der Lebenswirklichkeit, nicht nach Denkkategorien. Wenn Calvin trotzdem diese Methode außer acht läßt und sich offenbar auf das Rechtsgefühl stützt, so soll es nicht heißen, daß der Gesetzgeber seinem subjektiv-willkürlichen Gefühl folgt und erst nachher für seine Entscheidung eine Begründung sucht. Der Reformator geht vermutlich von der Erwägung aus, daß nach dem Selbstgeständnis von Thomas die Zuverlässigkeit der Schlußfolgerungen nicht erreichbar ist, da die praktische Vernunft sich mit nur zufälligen Einzeldingen, nicht aber, wie die spekulative Vernunft, mit den notwendigen beschäftigt. Je mehr man in einzelne besondere Fälle „hinabsteigt”, umso mehr wird


14) Aehnlich ib. art. 4b,1 mit dem Unterschied, daß hier die conclusiones auf dem Gebiet des ius gentium, die determinationes auf dem Gebiet des ius civile gebraucht werden: Nam ad ius gentium pertinent ea quae derivantur ex lege naturae sicut conclusiones ex principiis . . quae vero derivantur a lege naturae per modum particularis determinationis, pertinent ad ius civile, secundum quod quaelibet civitas aliquid sibi aecommode determinat.
15) 2,1106.

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nach Thomas die Sicherheit des Urteils problematisch 16). Jedenfalls zieht sich Calvin in den Ring der römischen Rechtswissenschaft und der Popularphilosophie Ciceros, denen die conclusiones und determinationes der Scholastik unbekannt sind, zurück und entgeht dadurch der Gefahr, der Melanchthon nicht entgehen konnte, nämlich als Mittelglied zwischen der Scholastik und der späteren naturrechtlichen Schule zu gelten 17). Trifft allerdings diese Behauptung insofern nicht zu, als Melanchthon bekanntlich das römische Recht als die gebildete, Gott geschenkte Philosophie, als Heilmittel gegen die Zügellosigkeit der Kultur weitertragen wollte und in seiner Sozialethik auf die Stimme Ciceros hören wollte 18), so steht es dennoch fest, daß Melanchthon in der Absicht, die Lehren von Thomas über das Naturrecht und positive Recht dem römischen Recht anzugleichen, nicht bedenkt, daß zwischen dem römischen Recht und der thomistischen Lehre insofern eine Spannung vorhanden ist, als Thomas durch die conclusiones und determinationes das natürliche Recht nicht erweitern oder verkürzen wollte, während das römische Recht 19) in dem ius civile tatsächlich Aenderungen des ius commune sieht. Zwar versucht Thomas von Aquino, der weiß, daß nach dem römischen Recht nicht alle menschlichen Gesetze von natürlichen abgeleitet werden können 20), die Spannung dadurch zu lösen, daß er einen Unterschied feststellt zwischen den ersten unveränderlichen Prinzipien des Naturrechtes und den veränderlichen, d.h. den Schlußfolgerungen 21) — eine Unterscheidung, die Melanchthon nicht macht, da er die Schlußfolgerungen bereits dem positiven Recht zuzählt; die Spannung bleibt also bei ihm bestehen. Calvin entgeht dieser Schwierigkeit dadurch, daß er zwar


16) Ib. qu 94 a 3b.
17) Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 37.
18) CR 11,88.
19) Vgl. die bekannte Definition Ulpians in Inst. lib. 1,16 br. De I. et I.: ius civile est, quod neque in totum a naturali vel gentium recedit nec per omnia ei servit: itaque cum aliquid addimus vel detrahimus iuri communi, ius proprium, id est civile efficimus.
20) Ib. qu. 95,2 IV.
21) Ib. qu. 94 Art. 5.

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nicht das „primäre Naturrecht” des Thomismus, wohl aber die nach Cicero und dem römischen Recht unveränderliche Billigkeit zum bleibenden Wesen jedes positiven Gesetzes rechnet, die conclusiones und determinationes des Thomismus ausschaltet und dadurch im Rahmen der römischen Definition bleibt.

Darin ist aber die weitere Abweichung von Melanchthon unverkennbar, der in seiner Verhältnisbestimmung den bleibenden Wesenszug des Gesetzes nicht in der aequitas sucht. Der Grund dieser Abweichung liegt darin, daß Melanchthon den Billigkeitsbegriff vorwiegend im Gegensatz gegen das summum ius, die severa iustitia als Norm bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen in ihrer Anwendung auf bestimmte Rechtsfälle gebraucht haben will 22). Sonst würde er diesem Gegenstand seine zahlreichen Abhandlungen über das discrimen inter summum ius et aequitas 23) in denen er seine Anschauung fast stereotyp wiederholt, nicht gewidmet haben. Die Veranlassung dazu gab ihm die in seiner Zeit vielfach erörterte Frage, ob es genüge, in öffentlichen Angelegenheiten sich des geschriebenen und sicheren Rechtes zu bedienen, oder ob man der Obrigkeit gestatten dürfe, die Streitfälle nach der natürlichen, ungeschriebenen Billigkeit zu entscheiden 24). Eine große Rolle spielte dabei die Auslegung der Stelle L. placuit im Codex de iudiciis (lib. 3 tit. 1 lex 8): Placuit in omnibus rebus praecipuam esse iustitiae aequitatisque quam stricti iuris rationem. Wenn es sich dabei auch vornehmlich nur um Fragen der gerichtlichen Praxis handelt, so sind doch die Resultate, zu denen Melanchthon gelangt, für unser Problem insofern von Bedeutung, als in ihnen seine Stellung zum geschriebenen Gesetz zum Ausdruck kommt. Bei der Beurteilung der Rechtsfälle muß der Grundsatz gelten, daß der Richter nicht an den Buchstaben des Gesetzes gebunden ist. Die „Wortängstlichkeit”


22) Die oben im Text dargebotene ausführliche Darstellung ist mangels einer diesbezüglichen Monographie unumgänglich.
23) CR 16.73ff; 231ff. 299ff. 562ff; 11,551ff, 669ff; 12,95ff.
24) CR 16,78: Estne iudicandum iuxta scriptum ius an secundum aequitatem; deutlicher 16,234: an iudicandum sit ex scripto iure an vero aequitas extra scriptum quaerenda sit.

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hat nicht selten verkehrte Urteile hervorgebracht und Pflichten verwirrt 25). Das strenge Recht (ius strictum) ist rabulistisch (ius strictum, id est calumniosum) 26) und darf, wie es öfter geschieht, nicht mit dem summum ius (ἀκριβοδίκαιον) verwechselt werden 27). Das geschieht, wenn man den natürlichen wahren Sinn des ursprünglichen Gesetzes nicht beachtet 28), der allein den Namen der Billigkeit verdient.

So kann alles geschriebene Recht höchst billig sein; auch das höchste Recht 29), denn dieses ist die Befolgung der Vorschrift in dem Rechtsfall, der ausdrücklich und prinzipiell im Gesetz erwähnt ist. So redet auch das erwähnte Gesetz Placuit von einer scripta aequitas in den Fällen, die sie prinzipiell erwähnen und festsetzen. Andere geschriebene Gesetze fügen zu den strengen Vorschriften nach dem Grundsatz der Billigkeit eine Reihe von Milderungen voll Humanität; 30) oft werden zwei Urteile nebeneinandergestellt, ein strengeres und ein milderes 31). Gibt es eine solche geschriebene Billigkeit, so wird man „in der Regel” nach ihr die gerichtlichen Entscheidungen treffen 32); denn auf diese Weise werden die letzteren der privaten die Gesetzeskraft entwertenden Willkür und der tyrannischen Laune der Herrscher entrückt 33). Darum ist es eine überaus ernste Aufgabe des Gesetzgebers, aus der Menge voneinander abweichender Meinungen mit stichhältigen Gründen die Billigkeit festzusetzen, die von den Laien nicht immer richtig gesehen wird. Oft werden unter der Autorität der Rechtswissenschaft


25) CR 11,553.
26) 11,553. 554; 12,97; 16,399.
27) 16.73: Summum ius non est calumniosa interpretatio iuris; 16,401 discernatur summum ius a calumnioso etsi saepe summum pro calumnioso dicitur.
28) 16,563: est autem calumniosa interpretatio, quando receditur a nativo intellectu verborum, de quo sani et honesti consentiunt; 11,673: ita erunt beate Res publice, si legum voci in vera et nativa sententia obtemperavitur. Vgl. 12,7 nativa sententia.
29) 11,672ff universaliter dici potest semper id quod scriptum est aequissimum esse; videlicet de illo toto genere de quo lex loquitur. Vgl. 11,222.
30) 12,99.
31) 11,672.
32) 16,72.80.235.
33) 11,553. Eine solche Willkür ist barbarisch und der gesitteten Menschheit unwürdig. Vgl. 16,80 und 11,363.

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Irrtümer begangen, wenn man, wie der Jurist Celsus bereits klagte, nach der Einbildung der Ungebildeten die Billigkeit konstruiert, diese aber nicht aus wahren Quellen fließen ließ 34).

In der Wertschätzung der geschriebenen Billigkeit geht Melanchthon soweit, daß er sich selbst über die damals anerkannte Lehrmeinung des Aristoteles hinwegsetzt. Die Anhänger dieser Meinung fanden es auffallend, daß die bereits erwähnte Stelle im Codex von einer geschriebenen aequitas redet, die doch nach Aristoteles immer ungeschrieben sein muß und als ein neuer schöpferischer Akt das geschriebene Gesetz verbessert 35). Aristoteles, der zwar einen solchen Wert der geschriebenen Gesetze anerkennt, indem er die Herrschaft der Gesetze als eine göttliche und legitime, die Herrschaft des einzelnen ohne Gesetze der tierischen Herrschaft gleichsetzt 36), beugt doch nach Melanchthon die Autorität des Gesetzes, da er dem Richter die Macht gibt, das geschriebene Gesetz zu ändern, wobei er von dem Vorurteil ausgeht, daß die geschriebenen Gesetze nur bleierne Regeln sind. Besser als diese Lesbia regula ist nach Melanchthon die Regel: Lapis ad regulam, non regula ad lapidem. Die Erfahrung lehrt, daß das Leben ohne geschriebene Gesetze nicht möglich ist, wie ja auch Gott das Leben nur durch geschriebene Gesetze leiten will 37).

Ringt sich auf diese Weise Melanchthon über Aristoteles hinaus zu einer Wertschätzung der geschriebenen Billigkeit, so hat Calvin sicherlich auch die Absicht des deutschen Freundes getroffen, wenn er in jedem geschriebenen Gesetz als „Substanz” die Billigkeit vorfindet. Der praktisch judiziellen, von Melanchthon so eifrig erörterten Frage, wie noch ein Milderungsverfahren eintreten kann, wenn die Billigkeitsgründe nicht ausdrücklich im


34) 12,99; 11,672.
35) 12,97: Scio reprehendi a quibusdam quod hic nominat lex aequitatem Scriptam: cum tamen apud Aristotelem nominetur scripti correctio.
36) 16,80.235.446; 11,217.220. Vgl. das 3. Buch der Polit. des Aristoteles cap. 11 §4.
37) 11,552ff, 12,23. Nec imaginandum est omnia decreta mirabilia esse seu ut Aristoteles nominat regulas lesbias. — Lesbia regula ist die Uebersetzung der Lesbia oikodome des Aristoteles Eth. lib. 5, cap. 10 § 7.

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Gesetz erwähnt sind, geht Calvin nicht weiter nach. Wenn er auch der Ueberzeugung ist, daß das Billigkeitsprinzip in jedem Gesetz irgendwie vorhanden ist — die Gesetze, die das Gerechtigkeits- und Humanitätsprinzip nicht enthalten, sind keine wahren Gesetze, sondern barbarische Satzungen 38) — so würde er nach seinem Grundsatz, daß den würdigen Schuldigen die Billigkeit zuzuschreiben sei, in zweifelhaften Fällen, d.h. wo der Billigkeitsgedanke nicht klar hervortritt, sich auf das natürliche Billigkeitsempfinden verlassen, wie er ja auch in seiner Genfer Praxis, um ein Gutachten befragt, öfter nach seinem Rechtsgefühl den entsprechenden Rat gegeben hat. Allerdings, das klare Leitwort Luthers, daß ein rechtes, gutes Urteil nicht aus Büchern gesprochen werden kann, sondern aus der Liebe und dem natürlichen Recht, das aller Vernunft voll ist, geschöpft werden muß, findet sich in dieser Bestimmtheit bei Calvin nicht. Seine starke Schätzung des positiven Rechtes, die ihm in den Schulen von Bourges und Orleans und durch Budé eingeprägt wurde, hält ihn von der scharfen Formulierung Luthers ab. Andererseits ist auch nach Luther die Billigkeit keineswegs nur im Sinne von Aristoteles ein Prinzip außerhalb der überlieferten und geschriebenen Rechtssatzungen 39). Das natürliche Recht und die natürliche Vernunft, d.h. aber die Billigkeit ist zwar nicht die einzige, wohl aber die Hauptquelle des positiven Rechtes 40). Und so verträgt sich die Auffassung Calvins, daß die Billigkeit Zweck, Norm und Grenze des positiven Rechtes sein soll, mit der gleichlautenden Luthers: „Die Billigkeit soll des Rechts Meysteryn sein und wo es die zufelle forddern, das recht lencken” 41).


38) 2,1105: Barbaras illas et feras leges . . pro legibus habendas minime censeo: quandoquidem abhorrent ab omni humanitate etiam et mansuetudine. So auch Augustin de civ. Dei 19,21.
39) Gegen Haußherr, Der Staat in der Gedankenwelt Calvins und Holl, a.a.O. 270, vom Haußherr abhängig ist.
40) W.A. 51,211. Man hebt jetzt an zu rhümen das natürliche recht und natürliche vernunfft, als daraus komen und geflossen sey alles geschrieben recht. Und ist ja war und wohl gerühmet.
41) W.A. 19,633; vgl. auch 11,272: Darumb sollt man geschriebene recht unter der vernunfft halten, darauß sie doch gequollen sind als aus dem rechts brunnen. Tischreden W. 6,326. weltlich oder kaiserlich recht ist anders nichts, denn was menschliche Vernunft aus dem natürlichen Gesetze spielet, schleußt und ordnet, vgl. 51,344 Tischreden W. 4,182: summum ins, summa iniuria, ideo ἐπιεικεια opus est, quae non est temeraria legum et disciplinae laxatio, sed est legum ➝

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Wenn Luther es auch „fein” findet, daß ein Kaiser und Fürst „von Natur so weise und klug ist”, daß er das Urteil frei ohne Rechtsbücher fällen kann, so will er sich doch nicht verhehlen, daß solche „vogel seltzam” sind 42).

Darum sind die positiven Rechte und Gesetze trotz ihrer Mängel doch immer besser als Anarchie — eine Ueberzeugung, in der sich Luther und Calvin begegnen 43). Nicht bloß die Doktoren sollen das gemeine Buchrecht auslegen, sondern das „gantze Handwerk, als Kanzler, Schreiber, Richter, Fürsprecher, Notarius und was zum rechte des regiments gehöret”, sind dasjenige im „weltlichen Reich”, was ein frommer Theologus in der Kirche ist, Propheten und Lehrer.

 

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Mit seiner These, daß die Verschiedenheit der einzelnen positiven Gesetze ihren Wert nicht herabdrückt, wenn sie nur mit dem sittlichen Gesetz im Einklang stehen, bewegt sich Calvin in den allgemein anerkannten, schon von Cicero 44) und Augustin 45) angebahnten Gedankengängen. Da stimmt er auch restlos mit Melanchthon überein 46). Ebenfalls sind beide Reformatoren sich in der Auffassung einig, daß die Verschiedenheit der einzelnen Konstitutionen in den durch die Verschiedenheit des Raumes und der Zeit bedingten und daher nur relativen Wert beanspruchenden Strafbestimmungen und Strafarten zum


➝ interpres, quae mitigat aliquando circumstantiam aliquam in casibus, de quibus lex non principaliter loquitur. Cum illis dispensat. Sed talis debet esse dispensatio, ut non sit dissipatio, nam contra ius naturae et ius divinum non sunt concedendae dissipationes . . doch soll man gleichwol in solcher Milderung fleißig zusehen, daß unter solchem Schein nicht widder Recht etwas gehandelt werde: iudex sit iuris dispensator, non dissipator. Denn was widernatürlich und göttlich Recht ist, darinnen soll kein dispension zugelassen werden.
42) W.A. 30/2,557.
43) Für diesen vergl. Op. 2,887; 29,636.
44) De inventione c. 53-55.
45) De civ. Dei 19,12; de doctrina Christiana 3,14,22.
46) CR 12,25. Satis est leges politicas ubicunque congruere ad hanc regulam ut sint honori bono operi, et terrori malo . . hoc est congruere ad Decalogum. In caeteris rebus de quibus Magistratus condere leges potest, similitudinem legum esse nequaquam necessarium est.

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Vorschein kommen 47). Wohl ist auch diese Lehre ein Gemeingut der thomistischen Tradition. Aber während Thomas und ihm folgend Melanchthon in der Verschiedenheit der Strafbestimmungen nur verschiedene determinationes, eine bestimmte Anwendung des Naturgesetzes auf einzelne Fälle erblicken, fehlen bei Calvin diese Denkmittel wieder ganz. Dagegen folgt er dem deutschen Reformator in der Aufzählung der besonderen Strafarten in ihrem Verhältnis zu dem normativen Sittengesetz des Dekalogs. Während aber Melanchthon in seiner Abhandlung: Collatio actionum Atticarum et Romanarum 48) neben der Aufzählung einzelner Klagearten in ihren Beziehungen zum Dekalog 49) auch einzelne Momente des Strafverfahrens ausführlich beschreibt, beschränkt sich Calvin auf die Aufzählung der einzelnen Strafarten, wobei er in einem Punkt vorteilhaft über Melanchthon hinausgeht, nämlich in der Berücksichtigung auch der neueren, namentlich französischen Strafbestimmungen, die ihm als dem früheren Hörer an den Schulen von Bourges und Orleans wohlbekannt waren. Da der spätere Gesetzgeber Genfs auch an der Ausgestaltung der wesentlich französisch orientierten Genfer Strafgesetze beteiligt war, wird es nicht unzweckmäßig sein festzustellen, welche Strafgesetze der 27jährige frühere Jurist bei seinem in unserem Abschnitt enthaltenen Strafartenkatalog im Auge hat.

Im Unterschied von Melanchthon geht Calvin nur auf die Strafen für die Uebertretungen der zweiten Tafel des Dekalogs (5. und 9. Gebot) ein. Sehr allgemein lauten seine Aussagen über die Mordstrafen: „Den Menschenmord rächen alle Gesetze gleich mit dem Blut, aber mit verschiedenen Todesarten”. In seinen Appendices sexti praecepti


47) Zu den Ausführungen Calvins 2,1106 (est regio . . est saeculum), vgl. Melanchthon CR 16,229: ingenia ferociora durioribus vinculis coercenda sunt 230: cum autem iuris positivi rationes tantum probabiles sint, non necessariae possunt in eo genere dissimiles leges esse allis temporibus et apud alias gentes; vgl. auch CR 16,392.595; 11,914.
48) CR 16,594ff.
49) Ib. 596: cum autem fons sit Decalogus omnium honestarum actionum plurimum prodest assuefieri ut in enumeratione virtutum semper intueamur Decalogum . . hae civitates fuerunt honestiores, quarum actiones in iudiciis magis ad Decalogum congruerunt.

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politicae 50) spricht er dagegen ausführlich über die poena talionis, die „auch im Gebrauch anderer Völker stand”, wobei er sich gegen die dunklen Bestimmungen der Decemviri und die frostigen Spitzfindigkeiten wendet, mit denen Phavorinus die diesbezüglichen Bestimmungen des Zwölftafelgesetzes behandelt. Führt er außerdem noch die Lex Cornelia de siccariis mit den betreffenden Auslegungen der Juristen Martianus und Paulus an, so wird ihm nicht unbekannt gewesen sein, daß die Römer den Meuchelmord mit Kreuzigung und Enthauptung bestraft haben 51). Ob Calvin das attische Recht bekannt war, das den Tod bei vorsätzlichem Mord, die Verbannung bei nicht-beabsichtigter Tötung eintreten läßt 52) ist zu bezweifeln, da er ja nur von „Todesstrafen” spricht. Aus diesem Grunde ist auch nicht anzunehmen, daß ihm das französische Strafrecht vorschwebte, das neben Köpfen und Hängen auch das Peitschen als besondere Strafe erwähnt 53).

Seine ebenfalls sehr allgemein gehaltene Aeußerung zu den Strafen des 7. Gebots: in adulteros alibi severiores, alibi leviores edictae sunt poenae, steht auf den ersten Blick mit der Aussage in den „appendices septimi praecepti” 54) im Widerspruch, daß nach dem „allgemeinen Völkerrecht” die Todesstrafe auf Ehebruch folgen sollte. Diese Verallgemeinerung ist offenbar ein Irrtum, denn auch die als Beleg herangezogene lex Julia kennt neben der Selbstrache (Tötung durch den Vater der Betroffenen) auch Verweisung und Vermögensverlust 55). In der Kaiserzeit wird allerdings öfter die Todesstrafe, namentlich Lebendigverbrennen und Einsäckung erwähnt, aber daneben auch Konfiskation 56). Wird dieses Versehen wohl dem Nachschreiber der akademischen Vorlesung umso mehr zur Last gelegt werden können, als die in der Institutio


50) 24,621.
51) Rein, Criminalrecht der Römer, 913, 914.
52) Tittmann, Darstellung der griechischen Staatsverfassung, S. 290ff.
53) Vgl. Papon, Decisiones 1624, S. 624b und 625. Derselbe Recueil d’ arrestz des courtz souveraines de France 1567, im folgenden „Arrèts” zitiert.
54) 24,649.
55) Rein, a.a.O. 840ff., Mommsen, Römisches Strafrecht, 690ff.
56) Vgl. Rein, a.a.O. 857ff, 628ff; dort auch andere Strafen wegen verschiedener Sittlichkeitsdelikte.

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vorgetragene Behauptung durchaus einen Tatbestand des damaligen Strafrechtes wiedergibt, so geht man wohl nicht fehl in der Annahme, daß Calvin bei den „schwereren” Strafen hauptsächlich an das französische Recht denkt. Seine Feststellung, daß vor dem weltlichen Forum die Verschuldung des Mannes milder beurteilt wird als die der Frau 57), scheint auf die seit jeher verteidigte, durch die oben erwähnten Decisiones von Papon quellenmäßig bestätigte Praxis der französischen Gerichte hinzudeuten, die die ehebrecherische Frau viel empfindlicheren Strafen aussetzte, als den noch mehr belasteten Mann. Die französischen Kriminalisten haben bis tief in das 18. Jahrhundert hinein die These verfochten: Gravius esse pecca-tum uxoris cum alio quam mariti cum alia rem habentis et ideo constitutionen Iustiniani 134 nullo modo laudandam esse 58). Aus den in den Decisiones bezw. Arrêts Papons enthaltenen Belegen des 16. Jahrhunderts ersehen wir, daß die mildeste Strafe, die eine Frau treffen konnte, die Geldstrafe von 200-400 livres war, 59) in weiterer Abstufung die Prügel- und Gefängnisstrafe, Verbannung, lebenslängliche Abgeschiedenheit im Kloster, Galgen (estranglö au gibet) und schließlich Köpfen 60). Wenn Papon 61) aus den decisiones von Boerius die „usitatissima in Francia poena”, die eine Ehebrecherin treffen konnte, dahin bestimmt: tondere foeminam adulteram cyclade et toga ipsius praescissa seu decurtata a fronte et a tergo, ita ut in durium supra genua relinquatur: eunque in modum tonsa, decurtate et vestita ingeniosa per platea deducatur, so wird durch diese Bestimmungen das besonders streng verpönte französische Strafrecht, das „semper” der Appendices schlagend widerlegt. Als Strafe für den Ehebrecher bestimmt die Coutume von Aiges-Mortes, daß dieser „sine fusticatione currat nudus;


57) 24,649: Denn so ist der Satz: quamvis in forto terreno non aeque puniatur viri ac mulieris perfidia nachdem Zusammenhang zu deuten; vgl. 27,434.
58) Matthaeus, De criminibus 1760, S. 348, der sich namentlich gegen die mildere holländische Praxis wendet.
59) Papon, Decis, 630ff, Arrêts 490,774.
60) Dec. 630ff. Arrêts 776,487,488.
61) Dec. 632.

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die Coutume von Milhau ordnet an, daß dieser schmachvolle Lauf „se fasse en plein jour et ne soit pas rachetable par une amende” 62).

Etwas breiter äußert sich Calvin über die das 8. Gebot betreffenden Strafarten. Lex Dei furari prohibet. Quae furtis constituta fuerit poena in politiis Iudeorum, videre est in Exodo. Aliarum gentium vetustissimae leges furtum duplo puniebant; quae postea sequutae sunt, discreverunt inter manifestum et non manifestum. Aliae ad exilium progressae sunt, aliae ad flagrum, aliae ad capitis supplicium. Dabei vertritt er die zu seiner Zeit keineswegs vereinzelte Meinung, daß die ältesten Gesetzgebungen, nämlich die Drakons und Solons, ihre Strafbestimmungen dem Dekalog entlehnt und sie an die Dezemviren vermittelt hatten, wenn auch in den Bestimmungen der letzteren hinsichtlich des doppelten und vielfachen Schadenersatzes gewisse Unstimmigkeiten wahrzunehmen und ihre Abweichungen vom Dekalog als Schlimmverbesserung anzusehen sind 63). Die spätere Unterscheidung zwischen dem für manifestus und non manifestus findet sich, wie Calvin selbst 64) bemerkt, im Zwölftafelgesetz, 65) aber auch bei den späteren römischen Juristen 66). Was sind aber die aliae leges? Die in diesen vorgesehenen Strafen: das Peitschen (flagrum) und die Verbannung sind allerdings auch in dem römischen Strafrecht geläufig 67), desgleichen in dem attischen Recht 68). Es scheint aber, daß Calvin außerdem an die lokalen Strafbestimmungen denkt, die die verschiedenen französischen Coustumes auch verschieden abgestuft haben. Zwar folgt der Grand Coustuminer oder die Somme rurale, gesammelt von Bouteiller (1459 und 1460) 69) im allgemeinen dem römischen Strafrecht,


62) Boys, Histoire du droit criminel de la France I,261.
63) 24,688.
64) Ib. 688.
65) Vgl. Rein, a.a.O. 297. Mommsen, 750ff.
66) Rein, 311. Mommsen, 751.
67) Rein, a.a.O. 915. Mommsen, 776; die Relegation beim Einbruchsdiebstahl 782, beim Menschendiebstahl (plagium), wie ja auch der für manifestus die Kapitalstrafe (supplicium) zu gewärtigen hatte (Mommsen 750ff).
68) Petitus, Leges atticae. III,635ff.
69) Lib. 1 fol. LXXVII.

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indem er zwischen dem larrecin manifest ou appert und larrecin non appert unterscheidet, aber die Strafarten werden hier viel feiner spezialisiert als in dem römischen Recht. Der „larrecin appert” verliert, wenn es sich um einen Betrag unter 5 Sols oder um einen gleichwertigen Gegenstand handelt, die Ohren, im Wiederholungsfall verfällt er der Todesstrafe. Der „larrecin non appert”, d.h. derjenige, der die Herkunft der gestohlenen Sachen nicht nachweisen kann, muß den vierfachen Ersatz an den Seigneur zahlen und, falls ihm dies unmöglich ist, öffentlich geschlagen oder gepeitscht werden 70). Nach den Bestimmungen der Coutume de Labour wird der Täter gepeitscht, im Wiederholungsfall gehenkt und erwürgt. Ein Raub zieht den Kopfverlust nach sich 71). Die Coutume d’Anjou 72) erwähnt einen Fall, wo der Täter gehenkt und gevierteilt wurde.

Das falsche Zeugnis, das die Juden nach dem ius talionis bestraften, wurde in den anderen Strafgesetzgebungen (alibi) durch Aufhängen oder Kreuzigung geahndet 73). Die Strafe durch Aufhängen ist hauptsächlich in Frankreich im Gebrauch gewesen. Das Parlament in Paris hat gerade im 16. Jahrhundert (1534) verschiedene Erlässe veröffentlicht. In diesem Jahr sind in Moulins zwei Delinquenten gehängt worden, desgleichen 1550 zwei andere in Toulouse, einer in Lyon, 1543 einer in Grenoble. Aber bereits im Jahre 1539 ist ein königliches Edikt erschienen, nach dem die falsche Zeugenaussage in Zivil- und Strafprozessen, namentlich aber in Verhandlungen über Verträge mit Tod bestraft werden soll 74). Aber auch nach dem deutschen Recht soll das falsche Zeugnis den Verlust des Lebens nach sich ziehen 76). Die Strafe der Kreuzigung kommt in dem römischen Recht vor 76), wie ja die ältesten


70) Boys, a.a.O., 239.
71) Boys, a.a.O., 265.
72) Bei Boys findet sie die ständige Formel; pendu et estranglé. Vgl. Papon, Arrêts 503 und Decisiones 646a.
73) 2,1106.
74) Papon, Arrêts, 497. Decis 642.
75) So in der Carolina Art. 64 und 68.
76) Das Aufhängen an der arbor infelix, Rein, a.a.O. 913.

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römischen Strafrechtsordnung den falschen Zeugen in Kapitalprozessen dem Mörder gleichstellen 77). Dagegen hat Calvin vergessen, das attische Recht zu erwähnen, wonach auf die δίκη ψευδομαρτυρίων die ἀτιμία folgte; die völlige Atimie schloß den völligen Verlust des Rechtes, Klage vorzubringen, ja selbst als Zeuge vor Gericht aufzutreten, in sich 78).

 

3

Die häufige Heranziehung der römischen Strafrechtsbestimmungen legt die Frage nahe, welche Stellung bei der Bewertung der einzelnen Rechtsformen dem römischen Recht zukommt. Angesichts der hier hauptsächlich in Betracht kommenden Auslegung des Dekalogs in Op. 24,120ff kann man nicht ohne weiteres behaupten, daß „unter den Rechtsnormen der profanae gentes das römische Recht die oberste Stelle einnimmt” 79). Wohl hat Calvin bei der Besprechung des 7. Gebots das Urteil gefällt: 80) Ordini divinitus praescripto consentiunt Romanac leges, ac si ex Mose didicissent eorum autores quid honestum sit et naturae consentaneum. Aber dieses Werturteil bezieht sich nur auf ein Teilgebiet des Dekalogs, und würde auch von den griechischen Gesetzgebern gelten, sofern diese ihre Bestimmungen dem Dekalog entlehnt haben 81). Wenn man außerdem glaubt, eine besondere Wertschätzung des römischen Rechtes darin zu sehen, daß Calvin sich nur einmal gegen einen römischen Rechtssatz wendet 82), nämlich gegen die patria potestas über Leben und Tod der Kinder, die als eine licentia merito repudianda bezeichnet wird 83), so wird diese Annahme dadurch entkräftet, daß Calvin auch sonst von den römischen


77) Mommsen, 635.
78) Lipsius, Das attische Recht III,392,789. S. Petitus Jurisprudentia Romana et Attica, 1741, S. 450.
79) Beyerhaus, a.a.O. 67.
80) 24,661.
81) 24,688.
82) Beyerhaus, a.a.O. 68.
83) 24,608.

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Gesetzen abrückt. Das dem Vater oder Ehemann einer geschändeten Frau zustehende Recht, den Verführer zu töten, wird als eine von Gott nie gebilligte licentia zurückgewiesen 84). Gegen den die Ehe mit einer Enkelin billigenden Senatsbeschluß hat sich sogar das natürliche Rechtsgefühl der profanae gentes aufgelehnt 85). Ebenfalls war es eine immanis barbaries, daß bei den Römern wie bei den anderen Völkern die Herren die potestas vitae ac necis über ihre Sclaven hatten 86). Die Todesstrafe soll nicht bloß, wie es in dem römischen Recht der Fall war, die Vatermörder treffen, sondern auch diejenigen, die sich zu einer Gewalttat gegen ihre Eltern haben hinreissen lassen 87). Auf der anderen Seite fehlt es nicht an Stellen, die eine volle Uebereinstimmung der römischen Gesetze mit den göttlichen feststellen. Hierher gehört das impedimentum consanguinitatis, 88) die strenge Ahndung des Ehebruchs 89), der Grenzverschiebung 90), des Gebrauchs von falschem Maß und Gewicht, wobei allerdings zu bemerken ist, daß die Bestimmungen von Lev. 19, 35 und Deut. 25, 13-16 im Unterschied vom römischen Recht keine bestimmte Strafe angeben, und endlich die Bestrafung des für manifestus und non manifestus, mit der charakteristischen Bemerkung, daß sowohl nach dem alttestamentlichen als auch dem römischen Gesetz (nach der Auslegung von Marcellus) die Geldstrafe den Ehrenverlust mit sich bringt 91). Als ein besonderer Vorzug des römischen Rechtes wird die in der lex Cornelia scharf präzisierte Gleichsetzung der bösen Absicht mit der Tat hervorgehoben 92), und die aus dem Grundsatz der aequitas fließende Humanität den Feinden gegenüber, die sich in der Einrichtung der Fetialen äußert, gerühmt 93). Wenn


84) 24,639.
85) 24,662.
86) 24,624.
87) 24,607.
88) 24,661.
89) Ib. 649.
90) Ib. 676.
91) Vgl. 24,613.
92) 24,638: vgl. 24,551: les Payens, quand ils ont escrit, en ont ainsi parle: la loy ne punit point les evenements, eile punit le conseil.
93) 12,632.

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demgegenüber Deut 20, 12ff den Juden das Recht gibt, die männlichen Glieder einer bestimmten Stadt zu töten, Weiber, Kinder und Vieh zu rauben, so wird dieses scheinbar willkürliche Zugeständnis (videtur haec nimis licentiosa concessio), die gegen die Liebesregel verstößt und bei weitem nicht als vollkommen bezeichnet werden darf, (longe a perfectione distat) 94) mit der Härte der Israeliten, der Gott öfter, als es recht und billig war, Zugeständnisse machen mußte, begründet. Calvins Erklärung will offenbar die tatsächliche Ueberlegenheit des römischen Rechtes über das jüdische Kriegsrecht nicht in einem besonders grellen Licht erscheinen lassen. Aehnlich verhält sich die Sache bei der Verurteilung der Bestimmung über die Behandlung der ihren Herren entflohenen Sklaven (Deut. 23, 15ff). Wenn das jüdische Gesetz den Personen, zu denen sich die Sklaven hilfesuchend geflüchtet haben, das Recht gibt, diese zu behalten, so scheint es wieder nicht ganz gerecht zu sein (videtur non omni ex parte iusta esse), obwohl es als ein humanes, mildes Gesetz gelten will (quamquam . . ad humanitatem et clementiam spectat). Nach dem römischen Recht konnten sich die Sklaven in die Tempel oder zu den Statuen der Cäsaren flüchten, um damit zu beweisen, daß sie unmenschlich behandelt worden sind; nach der Feststellung der Ursache durften sie an mildere Herren weiterverkauft werden. Die römische Behandlung war wenigstens erträglich; dagegen beraubt die Bestimmung des Deuteronomiums die bisherigen Herren ihres Eigentumrechtes und verletzt überdies, da es den Flüchtlingen den Aufenthalt im Lande ohne weitere Begründung gestattet, das Völkerrecht; abgesehen davon, daß die Sklaven, unter denen sich zweifelhafte Individuen, ja Verbrecher befanden, den ihnen zugewiesenen Ort von neuem mit ihren Untaten bedrohen konnten. Da infolgedessen die Gesetzbestimmung als eine Art Förderung der gesetzlichen Barbarei unter dem Deckmantel der göttlichen Autorität ausgelegt werden könnte, glaubt Calvin sie nicht wörtlich, sondern dem Sinne nach verstehen zu können. Das Gesetz


94) 24,633: vgl. 24,624 quod autem leges politicas Deus ad solitam perfectionem non exegit hac facilitate coaguere voluit populi contumaciam.

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gewährt nicht den Uebeltätern, sondern den von ihren bisherigen Eigentümern unmenschlich behandelten Sklaven die Zuflucht in dem Lande Kanaan, um sie nicht wieder ihren früheren Peinigern auszuliefern, und zwar nach einer gerichtlichen Entscheidung, die der durch das Gesetz vorgesehenen Wahl der jeweiligen Wohnstätte vorherzugehen schien, da der Aufenthalt im Lande Kanaan nur den Gottesverehrern gestattet war. Demnach werden diese deuteronomischen Gesetzesbestimmungen nicht „abgelehnt” 95), sondern sie verlieren durch richtige Sinnanwendung den Anschein von Willkür und Ungerechtigkeit.

Alle diese die Beziehungen zwischen dem römischen Recht und den politischen Zusätzen des Dekalogs erläuternden Sätze verraten eine Freimütigkeit, mit der der Reformator die beiden Gesetzesgruppen nach ihren Vorzügen und Mängeln abwägt, einen Freimut, der auf natürliches Rechtsgefühl und die Liebesregel sich stützt und nicht zögert, die ideelle Ueberlegenheit des römischen Rechtes über das jüdische zuzugeben, und bestrebt ist, die scheinbare Minderwertigkeit des letzteren aus den sie bedingenden äußeren Umständen zu erklären 96).

Enthalten aber die vergleichenden Betrachtungen Calvins keine direkte Aussage über den Wertprimat des römischen Rechtes, etwa dem attischen gegenüber 97), so kann man aus der Tatsache, daß Calvin die römischen Gesetze auf einer


95) Wie Beyerhaus a.a.O. 68 will.
96) Der Freimut des Reformators steht mit seiner bekannten Ehrfurcht vor dem Alten Testament keineswegs im Widerspruch. Die Bestimmungen waren ja zeitgeschichtlich bedingt und konnten gerade so derogiert werden wie die alttestament-lichen Wuchervorschriften (24,680) ohne den Kern des Gesetzes zu zerstören; vgl. 2,1105. Im Grunde ist Calvins Bestreben, die Möglichkeit einer schiefen, das rechtliche und sittliche Prinzip der betreffenden Bestimmungen antastenden Beurteilung durch die angemessene Erklärung im Keime zu ersticken, dem Interesse entsprungen, die Autorität Gottes „des Vaters der Barmherzigkeit” (24,632) zu wahren, der eine in seinem Namen begangene Entwertung der Gesetze nicht zulassen kann. Ib. 633.
97) Wenn Beyerhaus a.a.O. 67ff. aus der Behauptung Calvins, daß die gesetzlichen Bestimmungen des Solon und der Decemviri nur Verschlechterung und Trübung des ursprünglichen Rechtsgefühls enthalten, den Schluß zu ziehen glaubt, Calvin sei geneigt, das Trennende zwischen diesen und dem Dekalog wahrzunehmen, so trägt er in die Gedanken Calvins mehr hinein als dieser beabsichtigt hat. Wie hätte Calvin daneben das Urteil aussprechen dürfen, daß die Gesetzgebung Solons auf den Dekalog zurückgeht?

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weiten Strecke mit dem Dekalog zusammengehen läßt, wenigstens indirekt den Schluß ziehen, daß er dem ersteren einen höheren Wert beilegt als den Gesetzgebungen der anderen profanen Völker.

Bestimmter und ausführlicher sind die Urteile der deutschen Reformatoren. Sie werden gleichsam umspült von der Welle, die die bereits am Ende des 15. Jahrhunderts siegreich durchgeführte Rezeption des römischen Rechtes, die receptio in complexu, in die deutsche Rechtsgeschichte geworfen hatte, und müssen die dagegen einsetzende Revolution durch den Nachweis der Vortrefflichkeit des römischen Rechtes zurückschlagen. Melanchthon wie die Rezeptionsjuristen überhaupt, preist die unbesiegbare Vortrefflichkeit der römischen Gesetze, da in ihnen im Gegensatz gegen die ungewissen, d.h. nicht geschriebenen und unbilligen, das beste und billigste Recht enthalten sei 98). Auch die Völker, die ihre heimatlichen Gesetze beibehalten, sollen doch das römische Recht erlernen, um ihm den Geist, d.h. die Kraft und Natur der Billigkeit zu entlocken, nach der sie ihre eigenen Gesetze beurteilen können 99). Die Wertschätzung des römischen Rechtes steigert sich bei Melanchthon förmlich zu einer enthusiastischen, fast abgöttischen Verehrung. Wenn er in dem römischen Recht eine Art Orakel sieht, eine vox et lux Dei, wenn die Aufhebung des römischen Rechtes ihm wie ein Rückfall in die Zeit der Barbarei und des kulturlosen Naturzustandes erscheint, wenn sich ihm das römische Recht als eine Art gebildete, gottgeschenkte Philosophie darstellt 100), so sind diese Lobpreisungen der Ausdruck einer humanistischen Seele, die in dem quellenden römischen Recht ein sicheres Bollwerk gegen die Tyrannis auf der einen, gegen die Zügellosigkeit auf der anderen Seite und damit ein Hilfsmittel zur Verwirklichung einer wahrhaft menschlichen, auf Ordnung, auf Harmonie


98) CR 11,363 aequissimum et maxime consentaneum rationi, quod munit nos adversus tyrannidem. 446 plenum humanitatis atque aequitatis . . quod hanc gentem cuius olim summa barbaries fuit ad mitiorem atque humaniorem vitam traduxit.
99) 11,81. 79.
100) 11,79. 299. 353.

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von Wissen und Leben aufgebauten Kultur zu finden glaubt. Diese Ueberschätzung hat ihr Gegenstück in der Abwertung der heimatlichen Rechte und Gewohnheiten, in denen die Rezeptionsjuristen ein ungewisses Recht (ius incertum im Gegensatz zum geschriebenen und festen Recht) und unbilliges Gesetz (im Gegensatz gegen das „billige, römische” gesehen haben. So kann auch Melanchthon das sächsische und westfälische Recht seiner Zeit nur insoweit beklagen, als sie die Bestandteile des römischen Rechtes nicht aufgenommen haben 101). Er steht unter dem Bann der Rezeptionsjuristen, da er, wie diese, das rezipierte römische Recht, das übrigens kein reines, sondern das modernisierte Recht der italienischen Juristen 102) war und auf die Kommentare des Bartolus und Baldus sich stützte 103), auf die heimischen Verhältnisse unter weitgehender Verkennung ihrer Eigenart anwenden will. Wenn er die unbedingte Herrschaft der römisch-rechtlichen Bestimmungen auf dem Gebiete des Familien- und Erbrechtes (namentlich des Rechtes der formlosen Vermächtnisse, Fideikommisse) und des Klagerechts fordert 104), so teilt er die Ueberzeugung der Rezeptionsjuristen und kehrt stillschweigend die Motive hervor, die die Rezeption des römischen Rechtes veranlaßt hatten. Dabei wird das Gerichtsverfahren als das Grundmotiv vorangestellt werden müssen. Denn wir wissen, daß der Schwerpunkt der Rezeptionsgeschichte in der Umwandlung der deutschen Gerichtsverfassung zu suchen ist, daß zuerst die Urteile und als Folge davon die Rechtsgeschäfte nach dem römischen Recht umgestaltet, daß zunächst das Gericht und dann das Recht vom römischen Recht erobert wurden 105). Wir wissen aber auch, daß durch die Rezeption des römischen Rechtes der Privatrechtszustand Deutschlands in mancher Beziehung verschlechtert worden ist 106),


101) Sohm, Zeitschr. von Grünhut I, S. 246. Institutionen des röm. Rechts, 1928.
102) Sohm, Zeitschr. von Grünhut I, S. 246. Institutionen des röm. Rechts, 1928, S. 15. Stinzing, Geschichte der deutschen Wissenschaft, S. 49.
103) Nach Melanchthon waren Irnerius und Bartolus heroici viri, 11,356.
104) 11,361ff.
105) Laband, Die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts für das deutsche Staatsrecht, 1880, S. 32ff. Moddermann, Die Rezeption des römischen Rechts, S. 54ff.
106) Laband, a.a.O.

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wie es Melanchthon als Rezeptionstheoretiker noch nicht ahnen konnte.

In der Wertschätzung des römischen Rechtes weicht Luther nicht wesentlich von Melanchthon ab. Wenn seine diesbezüglichen Aussagen zwar nicht so enthusiastisch lauten, als diejenigen seines humanistischen Freundes, so haben nach ihm doch die Römer „so herrliche Gesetze und Rechte gehabt, denn die Vernunfft leret sie, das man die Mörder strafen, die Diebe hencken solte, und wie man sonst Erbgüter austeilen möchte, das haben sie alles gewußt und fein ordentlich gethan, one rat und Unterricht der Heiligen Schrift” 107). Er tritt für die Erhaltung des römischen Rechtes ein, „weil unser regiment inn deudschen landen nach dem römischen Kaiserlichen recht sich richten mus und sol, Welchs auch unsers regiments Weisheit und recht ist, von Gott gegeben, So folget, daß solch regiment nicht kann erhalten bleiben, sondern mus zu grund gehen, wo man solche recht nicht erhellt” 108). Zwar ist „das Keiserliche recht, nach welchem das Römisch reich noch heutiges tages geregieret und bis an den Jüngsten tag bleiben wird, nicht anders, denn heidnische Weisheit, welchs die Römer, ehe denn Roma von Christen oder Gottes selber ichts gehöret hat, gesetzt und geordnet haben;” aber entsprechend seiner uns bereits bekannten Ueberzeugung, daß Gott auch den Heiden große Gaben verliehen habe, empfiehlt Luther das Studium der klassischen Werke des römischen Rechtes, denn die „haben warlich gar schön und reichlich ausgestrichen und gemalet, beide mit Sprüchen und bildern, mit leren und exempeln Aus welchen die alten Keiserlichen rechte komen sind”. Eine Aenderung des gegenwärtigen Rechtes wäre eine Revolution und müßte mit einer Verheerung des Reiches enden 109), es sei denn, daß „Gott wider einen gesunden helden oder Wundermann gibt, unter des Hand alles besser gehet oder ja so gut, als jnn keinen buch stehet, der das Recht entweder endert oder also meistert, das es im lande alles grünet


107) W.A. 16,354.
108) W.A. 30/2,557ff.
109) 51,242.

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und blüet mit friede, zucht, schütz, straffe, das es ein gesund regiment heißen mag.” (51,214). Die Schätzung des römischen Rechtes wird bei Luther verständlich, wenn man sie als Gegenstück zu seiner Verachtung des kanonischen Rechtes auffaßt. An dem römischen Recht gemessen, ist das „geystlich recht kindisch, albern, schlecht ding, ob wol viel heiliger, trefflicher leute drinn gewest sind, das auch die Juristen selber sagen: Purus Canonista est magnus Asinista” 110).

Diesen Ausführungen scheint eine andere Aeußerung Luthers zu widersprechen, die römischen Gesetze seien tot, da Rom nicht mehr ist, sondern war (Romanae leges sunt mortuae, quia Roma non est, sed fuit) 11), eine Aeußerung, die an einer anderen Stelle dahin gemildert wird, daß die „römischen Rechte der kaiserlichen noch gar ein wenig hangen, denn wenn ein Kaisertum, Königreich oder Fürstentum fällt, so fallen auch desselben Rechte, Gesetz und Ordnungen” 112). Der Widerspruch kann nur gelöst werden, wenn man erwägt, daß Luther in dem damals in Deutschland geltenden römischen Recht nicht ein reines, zur Zeit des Römerreiches geltendes Recht sieht, sondern wie es tatsächlich der Fall war, ein modernisiertes, durch kanonische Bestandteile durchsetztes Recht; man denke nur an den damaligen Zivilprozeß 113).

Wenn bei Calvin ein überschwängliches Lob des römischen Rechtes nicht anzutreffen ist, so würde er gegen einzelne Sätze Melanchthons nichts wesentliches einwenden. Wenn er die Verachtung der Gegner der communes


110) W.A. 51,242. — Tischreden W. 6,326: Im Gegensatz zu dem weltlichen Recht ist „das geistliche Recht nichts Anders, denn was der Papst will und träumet. Und weil das Papsttum vom Teufel gestiftet ist, so sind auch seine Rechte, die mit Gottes- und dem natürlichen Gesetz und Recht nicht übereinstimmen, sondern dawider sind, des Teufels Stiftung und Ordnung. Vgl. auch W. 6,459.
111) Tischreden W. 4,457.
112) Ib. 1,144.
113) Daß Luther in dem römischen Reich der deutschen Nation nicht eine Fortsetzung des alten Römerreichs im Unterschied von den Kanonisten sah, ist bekannt (Vgl. W.A. 6,462ff: Es ist ohn zweiffei, das das recht romisch reych davon die schrifft der Propheten Numeri 24 und Daniel verkündet haben lengist vorstoret und ein end hat . . und ist nu ein ander romisch reich, das der bapst hat auff die Deutschen bawet, den jhenes, das erst ist langis, wie gesagt, untergegangen.

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gentium leges als eine alberne geißelt 114), so denkt er bei den gemeinsamen Gesetzen der Völker zweifellos an das römische Recht, umsomehr, als dieses zu seiner Zeit im Gegensatz zu den Statutarrechten der einzelnen Territorien als Weltrecht galt. Auch Melanchthons Billigung der römischen aequitas würde Calvin gutheißen, da er den Vernunftgrund aller Gesetze in ihrer christlichen Form als der römischen aequitas kongenial wertet. Infolgedessen würde er den Satz Melanchthons unterschreiben, daß die römischen Gesetze zu achten sind, da ihre Bestimmungen von dem mit dem göttlichen Gesetz identischen Naturgesetz abgeleitet sind. Hat doch auch Calvin, wie gezeigt, nicht bloß allgemein die natürliche Billigkeit als Norm und Ziel aller positiven Gesetze bezeichnet, sondern gelegentlich die Uebereinstimmung der einzelnen römischen leges mit dem Naturgesetz und Dekalog hervorgehoben. Wenn aber, wie wir zugeben mußten, die überragende Stellung des römischen Rechtes gegenüber den anderen positiven Gesetzen nur angedeutet, nicht direkt behauptet wird, so kann man trotzdem annehmen, daß die Ueberlegenheit des römischen Rechtes ihm außer Zweifel stand. An Stelle des direkten Wortzeugnisses tritt der Tatbeweis ein. Calvin arbeitet in seiner Staatslehre und Theologie viel häufiger als die anderen Reformatoren nicht bloß mit den Grundbegriffen des römischen Rechtes, sondern er verwertet bejahend auch einzelne Bestimmungen des privaten und öffentlichen Rechtes: der Wesenszug seiner Staatsauffassung wurzelt in dem römisch-rechtlichen Boden. Calvin, der praktische Gesetzgeber Genfs, hat die überragende Bedeutung des römischen Rechts dadurch anerkannt, daß er den Zivil-prozeß und das Eherecht in Genf von den kanonistischen Bestandteilen möglichst zu befreien und auf die römisch-rechtliche Basis zu stellen versuchte 115).


114) 2,1104ff: sunt enim qui recte compositam esse rem publicam negent, quae neglectis Mose politicis, communibus gentium legibus regitur. Quae sententia quam periculosa sit et turbulenta, viderinit alii, mihi falsam esse et ac stolidam, demonstrasse satis ecrit.
115) Vgl. hinsichtlich des Zivilprozesses die 4. Abhandlung.

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Man hat Melanchthon den Vorwurf gemacht, daß er, wie die Naturrechtslehrer aller Völker und aller Zeiten, mit dem größten Nachdruck die Anschauung, das positive Recht sei neben dem Naturrecht überflüssig oder schädlich, bekämpft hätte, ohne zu bedenken, daß das positive Recht neben dem Naturrecht logisch unmöglich sei 116). Da Calvin in dieser Anschauung mit Melanchthon übereinstimmt, wird er durch diesen Vorwurf mitbetroffen. Melanchthon bekämpft 117) die Anschauung, die die Notwendigkeit der geschriebenen Gesetze durch den Hinweis auf die natürliche Urteilsfähigkeit der Gerichtsorgane zu bestreiten glaubte, eine Anschauung, die sich offenbar auf das oben erwähnte aristotelische Prinzip stützte, wonach die nicht-geschriebene Billigkeit das geschriebene Recht verbessern kann. In seiner scharfen Auseinandersetzung mit dieser Auffassung 118), der selbst Luther nicht abhold war 119) und die mit den sonstigen Anschauungen des Aristoteles in Widerstreit steht 120), will er nicht die unbedingte Notwendigkeit des positiven Rechtes als eines Systems gültiger Sollnormen neben dem Naturrecht erhärten, sondern, wie seine vorhergehenden Ausführungen beweisen, die von den Gegnern bestrittene Notwendigkeit der positiven Gesetze damit beweisen, daß das natürliche Prinzip der Billigkeit in diesem enthalten ist und nur in den Fällen, wo es nicht direkt in dem geschriebenen Gesetz zum Vorschein kommt, aus den naturrechtlichen Quellen (ex artis fontibus) erschlossen werden müsse. Um diese Stellung zu begreifen, muß man wissen, daß Melanchthon wie Calvin


116) Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre des Positivismus. S. 36.
117) CR 16,234ff.
118) Er nennt sie direkt barbarisch.
119) W.A. 11,279: wo du der liebe noch urteylest, wirst du gar leycht alle Sachen scheyden und entrichten on alle recht bücher. Wo du aber der liebe und natur recht auß den äugen thust, wirstu es nymmer mehr so treffen, das es Gotte gefalle, wenn du auch alle recht bücher und Juristen gefressen hettist, Sondern sie werden dich nur yrrer machen . . Eyn recht gut urteyl das muß und kan nicht auß büchern gesprochen werden, sondern auß freyem synn daher, als were keyn buch. Aber solch frey urteyl gibt die liebe und naturlich Recht, das alle vernunfft voll ist.
120) siehe oben, S. 105.

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sich gegen zwei Fronten von Gegnern zu verteidigen hatten. Wie bereits bemerkt, hatten sie zunächst mit den anarchistisch-täuferischen Gegnern zu tun, die die Staatsordnungen als auf Gewalt ruhende Einrichtungen und die vom Staat erlassenen Gesetze als Mittel der Zwangsherrschaft bekämpften. War es diesen Gegnern gegenüber leicht, darauf hinzuweisen, daß ohne festgefügte Ordnungen der Bestand des Staates bedroht ist, so mußte man anderen aus den Wirren des Bauernkrieges hervorgegangenen „Bundesgenossen”, die die „heidnischen” Gesetze durch das „gsatz Mosis” ersetzt haben wollten 121), mit anderen Denkmitteln begegnen. Melanchthon, der ursprünglich geneigt war, die Einführung der mosaischen Gesetzgebung zu befürworten, unternahm eine literarische Fehde zum Schutz der positiven, namentlich der römischen Gesetze. Seine Reden „Ueber die Gesetze” gehen von dem Prinzip aus, daß die hl. Schrift nicht bloß nicht die bürgerlichen Gesetze mißbillige, sondern direkt befehle, daß sie mit Ehrfurcht und heiliger Scheu verehrt werden sollen (religiöse sancteque colantur CR 11,68) und daß vorzüglich die römischen Gesetze dem Prinzip der Billigkeit entsprechen.

Calvin entkräftet den Einwand der Gegner, durch die Unterwerfung der Christen unter die in ihrem Land geltenden Gesetze werde das mosaische Gesetz außer Kraft gesetzt, so, daß er auf der einen Seite die mosaische Gesetzgebung in ihrer Kraft beläßt, auf der anderen Seite, was besonders unterstrichen werden muß, als Vorausetzung für die Giltigkeit aller Gesetze die Notwendigkeit des Naturrechts verlangt. Von dem mosaischen Gesetz werden lediglich die judiziellen und zeremoniellen, nur Israel angehenden Bestimmungen abgeschafft, sein


121) Johann Eberling von Guenzberg, Ausgewählte Schriften, herausg. von Enders, I, 130: Alle alte kaiserliche und pfaffenrecht thun wir ab . . kein peinlich Statut soll fürhin angenomen werden, das mit im gsatz Moysi ußdruckt ist. — „Alle doctores der Rechte, sie seind geistlig oder weltlich sollen an keinem Gericht bei keinen Rechten, auch in keins Fürsten oder anderen Räthen mehr gelitten, sondern ganz abgethan werden (im Manifest der Bauern: Stobbe, Rechtsquellen 2,51ff). — Vgl. Melanchthon CR 16,448; 11,920,358; 12,20.25. Nonnulli negant Christiano utendum esse legibus ethnicorum. Itaque aut novas conantur ferre, aut revocant nos ad Mosaicas, leges, ut Carolostadius (Karlstadt) qui vehementissime contendebat, explosis Romanis legibus Mosaicas recipiendas esse.

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sittlicher Inhalt bleibt intakt und allgemein verbindlich. Wenn an Stelle der jüdischen Gesetze in den einzelnen Staaten andere bessere („dum magis probantur”) in Kraft getreten sind, so bedeutet das keineswegs eine Herabsetzung der jüdischen Gesetze, da das Werturteil nicht durch einfachen Vergleich der jüdischen Gesetzgebung mit der nichtjüdischen, sondern nach Abwägung der lokalen, zeitlichen und völkischen Bedürfnisse der jeweiligen Völker abgegeben wird (2,1106). Die Gesetze der anderen Völker und Staaten müssen an dem sittlichen Grundgehalt des mosaischen Gesetzes gemessen werden. Zu dieser Lösung des von den Gegnern aufgegebenen Problems braucht aber Calvin, wie seine ganze Beweisführung zeigt, das Denkmittel des Naturrechtes. Wenn er das Naturrecht zur Stärkung, besser zur Beleuchtung (vgl. 2,1105: id quod dixit planum fiet) seines Grundsatzes, daß das göttliche Gesetz die oberste Norm des Staatslebens sein müsse, heranzieht, dann sieht er es eben nicht als etwas „beiläufiges” 122) an. Es steht den einzelnen Völkern frei, Gesetze zu schaffen, die sie für vorteilhaft und zweckmäßig halten, nur müssen sich diese nach der bleibenden Liebesregel des allgemeinen Sittengesetzes richten, so daß zwar die Form wechselt, das Prinzip aber dasselbe bleibt 123). Hätte er mit diesen Sätzen seine Polemik beendet, so hätte er schwerlich seine Gegner überzeugt, denn diese hätten darin nur eine ideale Forderung gesehen, mit der die damalige Wirklichkeit nach ihrer Meinung nicht übereinstimmte. Die Staatsgesetze waren in ihren Augen ein heidnisches Zwangsmittel, das sich nicht bloß nicht mit der christlichen Freiheit vertrug, sondern den Christen noch härtere Strafen auferlegen wollte, als es das mosaische Gesetz und sein Urheber, Gott, zuließen. Es war daher das Anliegen Calvins, den Nachweis zu liefern, daß der Wesenszug der damaligen Gesetze dem in der mosaischen Gesetzgebung enthaltenen Prinzip der Billigkeit entsprach. War aber die Billigkeit nach der damaligen Rechtsauffassung im Unterschied vom ius scriptum ein wesentliches Merkmal des


122) Gegen Lang, Naturrecht, S 22.
123) 2,1105.

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Naturgesetzes, so hat Calvin notgedrungen nicht „beiläufig” das Naturrecht in die Debatte gezogen.

Dabei war er sich eines „formal-logischen” Widerstreites zwischen diesem und dem positiven Recht nicht bewußt, Dieser wäre vorhanden, wenn das positive Recht als ein System gültiger Sollnormen neben dem Naturrecht als einem System, das auch Sollnormen enthält, bestehen sollte 124). Das positive Recht wird aber nach Calvin als eine in Sollgeltung stehende Rechtsordnung nur betrachtet mit Rücksicht auf die in ihm enthaltene unveränderliche Norm der aequitas, die einzig und allein, weil in dem positiven Gesetz mitenthalten, diesem den Charakter des Soll aufprägt und die Voraussetzung der verbindlichen Kraft der positiven Satzung bildet. Selbstverständlich handelt es sich dabei auch für die Untertanen um eine innere Bindung, um den physischen Zwang, der auch durch das Naturrecht gefordert wird 125). Der Widerstreit zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht könnte bestehen, wenn Calvin die beiden Rechte gewissermaßen in ihrer Reinkultur gegenübergestellt hätte, wie es die moderne zergliedernde juristische Begriffskunst tut 126). Ist nämlich nach dieser das rein positive Recht eine Zwangsordnung — wobei man unter dem Zwang eine physische, von außen kommende Einwirkung versteht — schaltet dagegen das reine Naturrecht, das Naturrecht „seiner Idee nach”, jeden physischen Zwang aus, da es eine natürliche, jedermann evidente und jedermanns gutem Willen entsprechende Ordnung voraussetzt, so kann man füglich von einem „formal-logischen” Widerspruch reden; man kann ferner von materiell-teleologischem Gesichtspunkt aus das positive Recht für überflüssig erklären. Calvin arbeitet aber nicht mit einem reinen Naturrecht, denn das Rechtswissen muß durch die Offenbarung des Gesetzes Gottes geklärt und vertieft, das Rechtsgewissen durch die göttlichen Forderungen geschärft werden. Sein positives Recht ist aber auch nicht


124) Gegen Kelsen, a.a.O., 36.
125) Siehe oben S. [?].
126) So Kelsen, a.a.O., 32.

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wesentlich bloß ein Zwangsrecht, denn die Zwangsordnung tritt nach ihm erst ein, wenn die Ueberzeugung von der Gebundenheit bei den Rechtsadressaten nicht von selbst gegeben ist, die also die Rechtsordnung nicht einhalten; der physische Zwang gehört für Calvin nicht zum Wesen des Rechtes 127). Darum sein von uns bereits festgestelltes Bestreben, die Zwangsmomente durch sittliche Antriebe zu ersetzen, die in einer organischen Gemeinschaft zur Verwirklichung der Brüderlichkeit im Vordergrund stehen müssen. Es gehen bei ihm tatsächlich das naturrechtliche und positivrechtliche System ineinander. Wenn die Obrigkeit ihre Aufgabe darin sieht, die positiven Rechte zu wahren und durchzusetzen, so tut sie es im Bewußtsein, von Gott dazu delegiert zu sein (2,1115). In dieser Auffassung ist das naturrechtliche Moment mit dem positivrechtlichen verknüpft. Denn es ist ein positivrechtlicher Grundsatz, daß die Gesetze gelten, sofern sie durch die Obrigkeit bestimmt und durchgesetzt werden; es ist ein naturrrechtlicher Grundsatz, daß die Geltung der Gesetze nicht durch bloße Autorität der Obrigkeit verbürgt ist, sondern daß sie gelten, da sie dem göttlichen Gesetz und dem Naturrecht entsprechen, ihrem Gehalt und Inhalt nach gerecht sind. Die Idee des Naturrechtes verwandelt sich tatsächlich teilweise in eine Ideologie des positiven Rechtes, sofern ihre unveränderliche Grundidee auf die tatsächlichen Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens angewendet und diesem angepaßt wird. Wenn man dies alles ein „denaturiertes Naturrecht" nennen will, so ist dagegen nichts einzuwenden, und nur daran zu erinnern, daß auch die neueste Entwicklung der Rechtsphilosophie das „denaturierte Naturrecht" nicht mehr ausschalten kann, wie es der naturalistische Positivismus getan hatte, ferner, daß das positive Recht ein überpositives Rechtsprinzip voraussetzt und die Gesetzgebung sich von dem Einfluß einer „höheren Ordnung” nicht loslösen kann. Nun Einfluß einer „höheren Ordnung” nicht loslösen kann.

Denn es kann als erwiesen gelten, daß die lange Zeit absolut herrschende geschichtliche Rechtstheorie nicht


127) Vgl. S. 86.

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vermochte, die naturrechtliche Frage als wissenschaftlich unhaltbar hinzustellen. Die naturrechtliche Frage, so sieht man ein, verlangt nicht notwendig, daß gewisse Rechtssätze oder ein bestimmtes Rechtssystem jetzt und überall eingeführt werden sollten; sondern nur, daß ein festes Ziel für die Rechtssetzung ins Auge gefaßt werde. Die Rechte mögen mehr oder weniger verschieden sein, bedingt durch die abweichenden kulturellen Zustände; das eine kann hinter dem anderen zurückgeblieben sein, und große Entfernungen mögen sich zwischen die einzelnen gelegt haben: aber deshalb kann doch das Ziel ein und dasselbe sein 128). Das alles ist aber haarscharf die Meinung Calvins 129). Das überpositive Rechtsprinzip ist aber nicht eine bloß formale Idee, nicht stoffleer; sein Inhalt ist die mit der Liebe identische Billigkeit und unveränderlich 130). Die Ausformung der Gesetze nach diesem Prinzip, ihre Konstution verändert sich. Brunner, der seine Naturrechtslehre im Einklang findet mit der reformatorischen 131), weicht gerade in der Charakterbestimmung der Normen von Calvin und den Reformatoren ab. Nach Brunner gibt es keine absolute Norm, sondern nur relative Normen, die für jede Zeit und jeden geschichtlichen Kreis immer neu zu finden sind 132). Brunner merkt nicht, daß er mit dieser relativistischen Deutung der Rechtsidee in das Fahrwasser des rechtsgeschichtlichen Positivismus 133) gerät. Das „immer


128) Stammler, Ueber die Methode der geschichtlichen Rechtstheorie. 1888 S. 37.
129) Vgl. aus der bereits erwähnten grundlegenden Stelle Op. 2,1106 die Wendungen: proinde sola (aequitatis ratio) quoque ipsa legum omnium scopus et regula et terminus sit oportet. Ad eam regulam quaecunque formatae erunt leges, quae in eum scopum directae, quae eo termino limitatae, non est, cur a nobis improbentur, utcunque vel a lege iudaica, vel inter se ipsae alias differant . . . Videmus ut eiusmodi diversitate in eundem omnes finem tendant . . . Neque enim aliae illi praeferuntur, dum magis probantur, non simplici collatione, sed temporum, loci, gentis conditione.
130) Dooyeweerd bewegt sich ganz auf den Bahnen Calvins, wenn er in seiner vortrefflichen Schrift: Calvinisme en natuurrecht, S. 16 einschärft, daß das „primäre Naturrecht” nur das zum Ausdruck bringt, was das unveränderliche Wesen jeder Rechtsordnung ist nach göttlicher, von unserem Willen unabhängigen Bestimmung.
131) Das Gebot und die Ordnungen. S. 608.
132) ib 354.
133) Vgl. S. 657.

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neue Finden” der Norm setzt voraus, daß die bisherige Auffassung der Norm preisgegeben, die Fixierung der Norm also entweder von der neuen Erkenntnis des Rechtsideals abhängig gemacht wird, oder ein wirklicher Wechsel des Ideals in der Erscheinung festzustellen ist 134). Es wäre ungerecht, in dem absoluten unveränderlichen Kern der positiven Gesetze, dem absolut Richtigen, nur etwas „Stoisches” zu finden 135). Denn die Voraussetzung, daß das absolute mit der Liebe identische Gesetz als Norm der positiven Gesetze einen Widerspruch in sich schließt 136), da die Liebe kein Gesetz sei, scheitert an dem biblischen von Calvin durchaus festgehaltenen Prinzip, daß die Liebe das Gesetz Gottes ist, was in dem einheitlichen Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe zum Vorschein kommt. Calvin weiß wohl, daß die „freischenkende göttliche Liebe nicht gesetzlich zu fassen ist”, aber er schärft ein, daß diese Erkenntnis mit dem Liebesgebot nichts zu tun hat. Denn diese ausgesprochene Forderung ist nicht mit der Darreichung der uns mangelnden geistlichen Güter zu verwechseln 137). Es wäre allerdings sinnlos, nach dem absolut richtigen Recht zu fragen, wenn damit die Meinung verbunden sein sollte, daß dieses in seiner Absolutheit in die Erscheinung tritt. Aber gerade diese Sinnlosigkeit weist Calvin entschieden ab. In den Gesetzesgeboten zieht Gott nicht in Betracht, was die Menschen können, sondern was sie sollen 138); es kommt darin nur der absolute Geltungsanspruch, die verpflichtende Kraft und die Forderung des Gehorsams zum Vorschein — ein Geltungsanspruch, der bestehen bleibt, auch wenn die entsprechende Verwirklichung ausbleibt. Die positiven Gesetze sind nicht ein Abbild des absoluten Prinzips, auch nicht seine Nachahmung, wie Plato wollte, sondern nur relative Ausformungen des


134) Vgl. Stammler, a.a.O. 23.
135) Brunner, a.a.O. 253.
136) Brunner, a.a.O. 254: „Das unbedingte Richtige ist . . . ein Widerspruch”.
137) Op. 45,614ff. interim gratuita peccatorum remissio, per quam Deo reconciliamur, fiducia Dei invocandi, arrha futurae haereditatis, et aliae omnes fidei partes, licet primum in lege gradum obtineant, non pendent in his duobus mandatis: quia aliud est exigi quod debetur, aliud offerri quod nobis deest.
138) Op. 45,611ff: Deum in legis praeceptis respicere, non quid possint homines, sed quid debeant.

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absoluten Sittengesetzes; diese Ausformung, weil lokal und zeitlich, also schöpfungsmäßig bedingt, bleibt immer relativ. Wie das absolute Sittengesetz den Zielpunkt bezeichnet, auf den sich die sonstigen Gebote richten 139), so ist es auch die Grundnorm, nach der der Wesensbestand und die Entwicklung der positiven Gesetze sich gestalten sollen. Erst durch die Zusammenfassung des Wesentlichen und des Periperischen, der aequitas und constitutio, wird das Naturrecht zu einer relativen, der geschichtlichen Wirklichkeit angepaßten Ordnungsmacht.


139) Ib. in quem scopum dirigantur omnia mandata admonet.