4. Die „drei Grundrechte des Christen”

In der „Lex charitatis” entwickelt Johannes Heckel im Abschnitt über die Grundzüge der Rechtslehre Luthers, also noch vor seiner eigentlichen Kirchenrechtslehre eine Theorie von den „drei Grundrechten” des Christen und führt diese Lehre in einem späteren Abschnitt über den Christen als Mitglied der Kirche in der Welt im einzelnen durch36. Er sagt an diesen beiden Stellen:

„Geistlich sind endlich die Beziehungen der Bürger des Reiches Christi untereinander geordnet. Concorditer et sine ullius exterioris adminiculo sola gratia spiritus sancti ibunt (in regnum coelorum), non in tumultu seculari, (i.e.) bracchio seculari. An Stelle des Egoismus der Weltkinder herrscht bei ihnen die christliche Bruderliebe als vornehmste Richtschnur der Verantwortung füreinander. Die im Heidenstand bestehende Ungleichheit der Menschen weicht hier der Gleichheit

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des Christenstandes. Von dem Zwang, wie er der Herrschaft des Satans eigentümlich ist, weiß man nichts. Man genießt die Freiheit der Kinder Gottes, die ,Freiheit des Christenmenschen’. Christliche Bruderliebe, christliche Gleichheit und christliche Freiheit, das sind die drei göttlichen Grundrechte der gläubigen Christenheit im äußeren Leben. Im Vergleich mit ihnen sind die Grundrechte in weltlichen Herrschaften bloß verzerrte Schattenbilder. Schon die Umkehr der Reihenfolge ,Bruderliebe, Gleichheit, Freiheit’ in ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ zeigt den Gegensatz zwischen der geistlichen und weltlichen Auffassung über den Sinne des Gemeinschaftslebens an.”37
„Die christliche Bruderliebe ist das erste und im Rang wichtigste Grundrecht des äußeren Gemeinlebens der Christen untereinander. Das zweite ist die christliche Gleichheit. Unter dem geistlichen Regiment Christi fallen alle Unterschiede des Standes, Ranges und Werkes dahin. Wie könnte es eine Herrschaft unter den Christen geben, wo doch jeder nach dem Vorbild Christi, welcher der einzige Meister der Christen ist, sich für den geringsten unter seinen Brüdern halten muß? So folgt aus der communio fidei der Christen eine communio iuris. Alle Jünger Christi leben nach demselben gemeinsamen Recht, dem ius commune Christianorum. Demgemäß kennt man unter Christen keine Privilegien oder Exemtionen. Es gibt nur den einen geistlichen Stand, den Christenstand als Stand des positiven göttlichen Rechts, und zwar als einzigen dieser Art. Luther bezeichnet ihn in polemischer Wendung gegen die römisch-katholische Lehre von dem im göttlichen Recht begründeten Unterschied zwischen Geistlichen und Laien als das allgemeine Priestertum der Gläubigen, eine an das kanonische Recht anklingende Formel, deren Bedeutung als positives rechtliches Aufbauprinzip für ein Kirchenwesen meist überschätzt wird. Das dritte Grundrecht des Gemeinlebens der Christen untereinander ist die christliche Freiheit. Sie bedeutet die Exemtion von der dominatio legis irae in dem irdischen Leben und demzufolge von der Herrschaft des irdischen Rechts. Der Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.”38

Dieses Unternehmen ist so eigenartig, daß es einer besonderen Erörterung bedarf.

Zunächst fällt das Wort „Grundrecht” auf. Unter Grundrechten versteht die moderne Staatslehre und Verfassungstheorie etwas ganz Bestimmtes. Es sind verfassungsmäßig gesicherte Rechte der einzelnen oder Gruppen gegenüber dem legitimen Herrschaftsanspruch auch der Gesetzgebungsgewalt des Staates, die diese durch Selbstbindung begrenzen. Diese Gegenüberstellung ist für ihren Begriff konstituierend. Ihnen als Normenkomplex gegenüber steht der Organteil oder Funktionsteil der Verfassung. Der Aufbau dieses Funktionsteils könnte nur sehr indirekt und keinesfalls zulänglich aus dem Grundrechtsteil

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gefolgert und erschlossen werden. Der Grundrechtsteil kann den Funktionsteil nicht ersetzen. Andererseits werden in einer gewissen Folgerichtigkeit heute mehr und mehr die wesentlich negativen Freiheitsrechte in den Grundrechten durch eine positive Verfassungsprogrammatik ergänzt. Der formale Charakter dieser Freiheitsrechte wird ohne eine entsprechende inhaltliche Gestaltung des rechtlichen und sozialen Lebens begreiflicherweise als unzulänglich empfunden. Der Begriff der Grundrechte trägt die ganze Problematik des modernen Liberalismus und der Demokratie, die Spannung zwischen Freiheit und inhaltlicher Bestimmung in sich.

Was heute Grundrechte heißt, ist in seinem geschichtlichen Ursprunge ein Komplex sehr viel objektiver Rechtsbegriffe, als die heutige Ausprägung und Ummünzung noch erkennen läßt. Sie sind nicht in solchem Maße auf den einzelnen bezogen, sondern tragen die Gesamtrechtsordnung. Grundrechte sind heute aber jedenfalls im präzisen juristischen Sinne — und nicht umdeutbar — Rechte konkreter Personen gegen die organisierte Staatsgewalt. Dieser wird nicht von vornherein eine Verletzung dieser Rechte unterstellt. Unterstellt aber wird, daß sie ohne eine solche eindeutige Grenzziehung nicht wirksam von der Verletzung oder Gefährdung dieser Rechtssphären bewahrt werden kann. Erst durch einen Bedeutungswandel auf der einen, eine Abstraktion auf der anderen kann man Grundrechte als Verfassungsgrundsätze verstehen und ausdeuten. Ohne den Ausgangspunkt dieser Gegenüberstellung verlieren sie ihren wesentlichen Sinn.

Von dieser Bedeutung und Problematik des Begriffes wird bei Heckel nichts sichtbar. Er überträgt ihn ohne weiteres und offenbar unbedenklich auf das Kirchenrecht, wenn er nicht — was offen bleibt — vorbei an dem geschichtlich geprägten Begriff damit eine Neubildung vornehmen will. Aber auch dann bleibt bestehen, daß ein Recht seinem Wortsinn nach das Recht einer Person gegen eine andere ist. Auch Karl Barth, dem die staatsrechtliche Problematik nicht so nahe liegen kann wie Heckel, verwendet, wenn auch nur gelegentlich, den Begriff Grundrecht in einem vom persönlichen Anspruch abgelösten, objektiven Sinne39.

Bemerkenswert und auffällig ist sodann die Dreiheit der Begriffe. In der Fülle der Lutherzitate, die in der „Lex charitatis” zusammengetragen sind, finden wir nur eines, welches diese Gedankenfolge enthält:

„Die frucht vieler gesetzt ist auch die, das viel secten und zurteyllung der gemeynen draus werden; da nympt eyner die weyse, eyn ander eyn ander weyse an sich und erwechst iglichem ein heymliche falsche liebe zu seiner secten und ein haß oder yhe ein vorachtung und unachtsamkeyt der ander secten, da mit dan dye brüderliche frey gemeyne lieb untergeht und die eygennützige lieb überhandt nympt.”40

Die Quelle ist der Sermon von dem Neuen Testament 1520, WA VI, 353, 2641.

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An den beiden Stellen, an denen Heckel diesen Gedanken selbst entfaltet, und die hier vorweg wiedergegeben wurden (S. 40 bzw. 136), geht er auf diese Quellenstelle auffälligerweise gar nicht zurück, obwohl er S. 36, Anm. 1100, den gleichen Sermon noch einmal zitiert.

In seiner späteren Schrift „Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre”42 greift er ohne Zitat wieder auf diese Konzeption zurück und verwendet synonym für Grundrecht den Begriff „Maßstab”.

Man fragt sich deshalb, inwieweit hier die eigene Systematisierung Heckels wirksam ist, da ihm das einzige direkte Belegwort offenbar nicht oder nicht allein entscheidend ist. Eine gewisse metabasis eis allo genos, eine Veränderung der Ausdrucksform, nimmt er nun in der Tat vor: bei Luther sind die Worte brüderlich, frey, gemeyn nur Adjektiva zu „Liebe”. Bei Heckel erscheinen sie für sich jeweils allein als Substantiva: Bruderliebe, Gleichheit, Freiheit. Aus den modi und Wirkweisen der einen Liebe werden sie zu selbständigen Prinzipien. Vermöge dieser Verschiebung und Umformung muß nun mehr auch die ziemlich belanglose und jedenfalls ganz unbetonte Reihenfolge mit einer sachlichen Bedeutung versehen und gewertet werden. Heckel legt dabei Wert darauf, sich von der bekannten Formel der französischen Revolution grundsätzlich zu unterscheiden, und zwar durch einfache Umkehrung der Anordnung. Dabei wird jedoch weder sichtbar, worin er die sachliche Begründung für diese Umkehrung und bestimmte Anordnung findet (er müßte ja zeigen können, daß die Quellenstelle selbst dem ein Gewicht beimißt), noch inwieweit diese Umkehrung bei Wortgleichheit Inhalt und Bedeutung derart grundlegend verändert, wie er es offenbar selber für notwendig hält. Es wird hier deutlich,wie sehr die Umsetzung der konkreten Gedanken Luthers in abstrakte Begriffen, und die Systematisierung sinnverändernd wirkt.

Was sind die Grundrechte nun aber wirklich? Sind es Grundrechte oder sind es Rechtsgrundsätze? Auf das erstere weist die von ihm zitierte Gedankenfolge: — justus — liber —43: d.h. der Gerechte ist kraft der Gerechtigkeit frei von der Welt und ihren Ansprüchen. Grundrechtlich in der ständigen potentiellen Abwehrhaltung ist ihre Verwendung als Maßstab gegen abweichende Ordnungen, wie sie bei Heckel vorkommt. Werden stillschweigend die injusti in der ecclesia universalis permixta oder etwa das vicarierende Kirchenrechtssubjekt der Obrigkeit die negative Bedingung der Grundrechte, an denen sie sich dann immer erst erweisen?

Oder sind es, dem Wortsinn zuwieder, eigene materiale Grundsätze für den Aufbau des äußeren Kirchenwesens? Dann geben sie umsomehr zu Fragen Anlaß. Denn eingangs der „Initia” ist mit Schroffheit betont, daß die ecclesia spiritualis keine erkennbare Struktur besitze; auf diese ecclesia spiritualis hin ist nun die ecclesia universalis, für die die

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Grundrechte gelten sollen, relativiert. Darum ist sie selbst in der Sache in Schwergewicht und Bedeutung streng eingegrenzt, um nicht zu sagen entleert. Sie ist iuris humani. Umsomehr verwundert nunmehr, ihre Grundsätze mit so schweren theologischen Gewicht begründet zu sehen. Diese Spannung oder dieses Mißverhältnis empfindet Heckel offenbar nicht. Er stellt, was er meint darstellen zu können, rein positivistisch dar. Er interpretiert auch nicht wie ein beschreibender Kunsthistoriker Grundkonzeptionen, Proportionen, Motive, gelungene und weniger gelungene Intentionen. Aber er hat auch nicht die Skepsis des Positivisten, der wegen der Relativität der Gestaltungen und der undeutbaren Tiefe der Dinge jede Überschreitung des rein Positiven vermeidet. Denn gleichzeitig erscheint die Gesamtkonzeption als ideales Gebilde, klassisch und mit der vollen Autorität des großen Reformators. Aber Heckel empfindet auch nicht die Verbindlichkeit des Systematikers, ein solches Gedankengebäude gegen ernsthafte Einwände, die mehr sind als Mißverständnisse, durchgreifend zu begründen und zu verteidigen.

Nun aber wird die ecclesia universalis, die jure humano mit aller Freiheit, unbelastet durch den schweren Anspruch des ius divinum sinngemäß, dienstbar und als Dienstrecht gestaltet werden könnte, nicht etwa an den Erscheinungsformen des verbum externum, an dem gestifteten Amt, der versammelten Gemeinde, an ihren stiftungsmäßigen Verrichtungen der Predigt und Sakramentsverwaltung ausgerichtet, kurz: an ihrer Pflicht und Schuldigkeit: vielmehr wird sie zur Selbstdarstellung des Christen im Horizont einer bestimmten theologischen Anthropologie.

In dem Hin und Her zwischen Grundrecht „gegen” und Grundsatz „für” wird die Frage der Verfassungsstruktur, die sich von der Sache, vom Dienst her anbietet, wieder stillschweigend umgangen und zugleich die diskutablen modi der Anwendung von Kirchenrecht mit diesem selbst gleichgesetzt. Die in der evangelischen Kirchenrechtslehre immer wieder auftretende Verwechslung und Vertauschung der argumenta ex re mit denen ex modo et abusu tritt auch hier auf und erscheint nachgerade als methodisches, wenn auch unbewußtes Ausweichen vor der Sachentscheidung, als Ausklammerung der mit der Eigenständigkeit der Kirche gegebenen Probleme.

Die Umkehrung jener Dreierformel, die Voranstellung der subjektiven Wirklichkeit der Brüderlichkeit vor den materialen Bestimmungen der Gleichheit und Freiheit legt eine Verwandtschaft mit der neukantischen Rechtsphilosophie nahe. Aber zugleich ist es mißlich, eine so unausgeführte These methodisch und sachlich zu interpretieren. Ist sie überhaupt systematisch zu verstehen? Mit dem nachträglich auftretenden Begriff „Maßstab” verschiebt sich das Bild wieder etwas, wird aber wenigstens die Doppeldeutigkeit des Begriffs Grundrecht beiseite gelassen. Einen Maßstab legt man an etwas anderes an, er ist ein Kriterium.

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Daraus ergibt sich nunmehr wenigstens klar, daß nicht Grundsätze für die Gestaltung der Kirche gemeint sind, sondern daß diese als einigermaßen beliebige, wie auch immer sie sich darstellt, diesen Maßstäben unterliegt. Dieser Begriff des Maßstabes ist dann eine einigermaßen klare, wenn auch nicht direkt ausgesprochene Absage an jede materiale Struktur der Kirche, auch eine solche vom Gottesdienst, auch von CA V und VII her, auch an das liturgische Kirchenrecht im Sinne Barths. Aber solche Konsequenzen werden nirgends erwogen, sondern ohne Bezug auf die systematischen Probleme wird das Heckelsche System aus Luthers Gedanken wie ein rocher de bronce vor uns hingestellt. Auffällig ist bei alledem der entschiedene Wandel der Blickrichtung, des „theologischen Interesses”, des Stils. Luther und die ganze lutherische Reformation läßt niemals den Gedanken von „Rechten der Christen” anklingen, sondern höchstens von Eigenschaften des Christen und seinen Pflichten, ja vom Gehorsam, so sehr, daß auf diese gewisse Einseitigkeit sogar Kritik und Vorwürfe gegründet worden sind. Aber eine uns vielleicht heute wünschenswerte Korrektur kann nicht dem zweifellosen Tatbestand durch eine Umdeutung der Begriffe unterlegt werden. Dabei hätte das, was Heckel als „Recht” begreift, sehr wohl in anderen Begriffen ohne die Fatalität jener Begrifflichkeit ausgedrückt werden können.

Wichtiger ist, daß diese drei Begriffe in dieser Positivität unbiblisch sind, weil ihr biblischer Gehalt immer nur dialektisch zu verstehen ist.

Wir sind hier überall nur deswegen frei, weil wir unbedingt gebunden sind. Das ist nicht nur eine allgemeine Prämisse, sondern hat etwa die Folge, daß es kein Grundrecht der Glaubensfreiheit in der Kirche gibt. Ohne eine genaue inhaltliche Bestimmung dieser Bindung kann also auch der Freiheitsbegriff nicht ausgelegt werden43a.

Ebenso dialektisch ist der Begriff der Gleichheit. Menschlich-innerweltliche Ungleichheit wie Gleichheit sind hier gleichermaßen aufgehoben und bedeutungslos geworden. Die Kirche hat sich ebenso von der naiven Gleichsetzung innerweltlicher Wertmaßstäbe der Ungleichheit wie ovn der Egalität mit geistlichen Wertungen in genau dem gleichen Maße freizuhalten. In der Kirche, im neuen Aeon, sind wir gleich durch die Taufe, in der Gnade, im Glauben, im allgemeinen Priestertum, aber zugleich durch die Gnade des Pneuma nach Charismen, Ämtern, Aufträgen, aber auch des Wachstums, der Heiligung und Erfahrung ungleich. Gleichheit für sich allein und ohne gleichzeitige Verweisung auf die unterschiedliche Beschlagnahme, Bevollmächtigung und Führung gibt es ebensowenig in der Kirche. Ebenso liegt es mit der Brüderlichkeit. Einer ist Meister, wir alle aber sind Brüder. Brüder sind wir nur, wenn wir den gemeinsamen Vater durch den Meister haben.

Aber ohne daß Vater und Meister repräsentiert werden, sind wir in der Versuchung, unser Brudersein als eine Qualität an sich zu verstehen.

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Jeremias Gotthelf, Prediger und Volksmann, hat aus dem kraftvollen Schweizerdeutsch den Ausdruck „Meisterlosigkeit” aufbewahrt und verwendet ihn, wenn er Zuchtlosigkeit und Unordnung brandmarken will. Eine Kirche, die ihren Aufbau von dem Gedanken der Vaterschaft, des Meisters, der Hierarchie exklusiv herleitet, wird zur heteronomen, kaltregierenden Herrschaft. Eine Kirche, die die Brüderlichkeit zum Prinzip erhebt, verliert die konkrete Unterstellung unter den Meister. Daß beide das Gegenteil beteuern und wünschen, besagt demgegenüber nicht allzuviel. Zu allen Zeiten sind solche Vorstellungen mehr oder minder sinngemäß oder sinnwidrig in den weltlichen Rechtsbereich umgedeutet und transponiert worden. Aber aus dem fragwürdigen Ergebnis solcher Umsetzungen können nicht rückschließend die wesentlichsten Grundbegriffe des Kirchenrechts gewonnen werden44.

Mit der glücklich gemeinsam mit Barth gewonnenen Erkenntnis von dem Charakter des Kirchenrechts als liturgischem und bekennendem Recht haben wir dieses streng an seinem Dienstcharakter festzuhalten und eben aus dem Dienst seine Maßstäbe zu gewinnen. Für die Anwendung dieser Maßstäbe bilden dann diese Gedanken, unter Wahrung der biblischen Dialektik verstanden, unverzichtbare modi der Verwirklichung — nicht aber Grundrechte oder Grundsätze, weder gegen jemanden noch für etwas im ersten Rang.

Diese Lehre aber wird nun von Johannes Heckel und seinen Schülern, von seinem Sohne Martin Heckel, von Siegfried Grundmann und anderwärts mit apodiktischer Eindeutigkeit als ein Stern und Kern lutherischen Kirchenrechtsdenken vorgeführt. Nachdem die lutherische Theologie solange ihre grundsätzliche Grundsatz- und Strukturlosigkeit auf diesem Felde verfochten hat45, besteht naturgemäß ein starkes Bedürfnis nach orientierenden Grundlinien. Nur mühsam wird der echt lutherische Gedanke der Korrelation von Amt und Gemeinde wirklich durchgehalten. Um so mehr wirkt in diesem Vacuum eine solche griffige, aber in ihrer Abstraktion ganz unlutherische Theologie.

Das geht heute angesichts der undurchsichtigen Diffizilität der Heckelschen Darstellung soweit, daß in der literarischen Auswertung zuweilen überhaupt nur noch die Lehre von den drei Grundrecht vorgeführt wird — ungeachtet der minimalen Quellenbasis46.

Wenn neben der unerkennbaren Struktur der ecclesia spiritualis — mit Heckel zu reden — Grundsätze für das sichtbare Kirchenwesen gebildet werden sollen, dann jedenfalls nicht diese.