3. Schlüsselgewalt und Kirchenregiment

Sucht man nun nach wirklichen Sachfragen des Kirchenrechts, an denen sich diese Begrifflichkeit bewähren müßte, so ist das am weitesten konkret ausgeführte Beispiel auch das unserem Problem fernste, das des Trauungsrechts.

Unter das autonome Kirchenrecht falle hier, so sagt Heckel26, diejenige Kirchenordnung, welche die Kirche in der Welt aus christlicher Bruderliebe für ihre Mitglieder erlasse. Hierher zählten etwa die Bestimmungen über Vorbereitung und Ablauf des Trauungsaktes. Dem heteronomen Kirchenrecht gehöre dagegen der in Ehesachen, etwa wegen unberechtigter Scheidung, zu verhängende kleine Kirchenbann; nachdem sich die Betreffenden durch ihr Verhalten selbst aus der Kirche ausgeschlossen hätten, würde dies ihnen nur auf den Kopf zugesagt.

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Das Beispiel des Eherechts ist deshalb so mißlich, weil, wie jeder Kenner weiß, hier ganz besonders historische Komplikationen die Grundfragen verdecken.

Heckels Darlegung erscheint wenig überzeugend. Wenn die Kirche überhaupt zu Recht es unternimmt, Ehen zu trauen, so offenbar, weil sie Gottes Gebot über die Ehe zu verkündigen sich genötigt sieht, und weil sie Vollmacht habe, hier die Ehegatten einzusegnen und geistlich zuzurüsten. Wenn sie das überhaupt zu Recht tut, so jedenfalls ebensowenig aus dem Titel der Bruderliebe, wie sie aus Bruderliebe predigt und Sakramente verwaltet. Die gottesdienstliche Ordnung, die dem dienst, muß wiederum dieser geistlichen Aufgabe angemessen sein, darf sie nicht sinnwidrig verdunkeln. Daraus ergibt sich der gleiche Gestaltungsspielraum wie für alle liturgische Ordnung. Andererseits kann die Kirche hier nicht handeln, wenn sie dem nicht irgendeine Form gibt. Es ist eine sachgebundene Freiheit. Wie alles in der Kirche, so muß auch sie in der Liebe gebraucht werden. Ihr spezifischer Grund ist diese aber nicht. Es dürfte unbestritten sein, das hier Freiheit nur soweit besteht, als Gottes Wort nicht dagegen steht. Diese Grenze kann enger oder weiter verstanden werden. Aber daß es in diesem Sinne autonomes Kirchenrecht gibt, bestreitet noch nicht einmal die römische Kirche. Aus sie kennt im Unterschied zum ius divinum kirchliches, veränderliches Recht. Ob man den Kreis etwas weiter zieht oder nicht, ist prinzipiell nicht bedeutsam. Eine zwingende Unifizierung des Ritus freilich rückt dieses kirchliche Recht in die Nähe des göttlichen. Aber das Problem ist mit der Ablehnung dieses abusus nicht getroffen, und deshalb ist damit auch keine spezifisch evangelische Position bezeichnet. Auch die notwendige Beteiligung der Kirchengenossen an der kirchlichen Rechtsetzung in diesem Bereich liegt in der gleichen Richtung. Die Frage der Beteiligung der Laien stellt sich für alle Bereiche, nicht nur für das autonome Kirchenrecht. Ihre Ausschließung liegt ebenso in der Richtung der Absolutsetzung der verfügbaren Ordnung von der Unterstellung, daß hier die zwingenden Momente göttlichen Rechtes sichergestellt werden müßten27. Mit dem Begriff des autonomen Kirchenrechts werden grundsätzlich offene Türen eingerannt, und praktisch nur Mißbräuche klargestellt. Zugleich wird aber verkannt, daß auch in den Fragen der Trauung sehr wohl das geistliche Regiment gefragt ist. Wenn die Kirche den Eheschließenden gegenüber handelt, so kann sie es nur, wenn sie ehefähig sind, d.h. nicht etwa nach biblischer Anschauung in anderweitig gültiger Ehe leben. Die Kirche wird es auch nicht als christliche Freiheit ansehen, wenn Geschwister einander zur Ehe begehren. Sie regelt also nicht von sich aus positiv das Eheschließungsrecht; selbst die römische Kirche hat bis zum Tridentinum bedingungslos den freien consensus sogar gegen ihre eigenen disziplinaren Forderungen als ehebegründend angesehen und anerkannt. Die Kirche ist gefragt, ob hier

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überhaupt die Ehe als Stiftung Gottes gemeint ist, als eine der beiden Institutionen, von denen Heckel selbst redet. Dies unterliegt ihrem geistlichen Urteil, ihrer Jurisdiction. Wenn und soweit die vorfindlichen öffentlichen Ordnungen wirklich Ehe meinen, wird sie im Regelfall dieser Frage bei Eheschließenden überhoben sein, — ausgeschlossen ist ihre Entscheidung gerade durch weltliches Recht und weltliche Entscheidung nicht. Muß sie die Trauung versagen, weil sie das Ehebegehren verurteilen muß, so kommt das Problem der Schlüsselgewalt und der Kirchenzucht — nach Heckels Terminologie: als göttliches und heteronomes Kirchenrecht zum Zuge. Aber es zeigt sich doch, daß die sehr notwendige Begrenzung kirchlicher Rechtsetzung auf diesem Felde gegenüber der unlimitierten Beschlagnahme des Eherechtes durch die kirchliches Jurisdiction der römischen Kirche doch zugleich zu einer Verkennung der hier anstehenden geistlichen Entscheidungen, zur umgekehrten Verengung der legitimen potestas ecclesiastica führt28.

Letzen Endes stehen wir bei Heckel bei aller Fülle einzelner konkreter Hinweise doch ohne ein einziges wirklich durchgeführtes Beispiel einer kirchenrechtlichen Hauptfrage da. Überall aber verdecken bei ihm wie in den Quellenzitaten die argumenta ex abusu bis zur Unkenntlichkeit die argumenta ex re. Wenn etwa gerade für das autonome Kirchenrecht die Zustimmung der Kirchengenossen — nicht nur ihre Akklamation für entscheidend angesehen und dafür das Apostelkonzil herangezogen wird29, so geht es gerade in den frühen Concilien nicht um eine freie Gestaltung kirchlicher Ordnung im Bereich des Verfügbaren, sondern um eine zentrale theologische Entscheidung. Und die Beteiligung der Gemeinde an dieser Entscheidung bezeugt die pneumatische Einheit der Kirche.

Die Frage des autonomen Kirchenrechts bezeichnet nicht den entscheidenden Punkt, dieser liegt vielmehr im Verhältnis zwischen ius divinum und heteronomem Kirchenrecht.

Suchen wir nach der konkreten Bewährung jener Begriffe an einer zentralen Frage unter Zurückstellung der weniger wichtigen Fragen des autonomen Kirchenrechts, so treffen wir nun vor allem auf die Frage des Bußsakraments und der Schlüsselgewalt, von der Luther seinen Ausgang genommen hat, und die sich durch die ganze „Initia” thematisch hindurchzeiht, mit einem bemerkenswerten Übergewicht, nahezu mit Ausschließlichkeit. Heckels Darlegung beginnt mit Luthers Ringen um diese Frage und läßt gewissermaßen außerhalb dieser Frage kaum noch etwas übrig: Die Buß- und Absolutionsfrage scheint das Kirchenrecht sowohl zu begründen wie auch restlos in sich zu begreifen. Es ist auffällig, aber weder von Heckel besonders angemerkt, noch in der bisherigen Besprechung der Arbeiten Heckels beachtet worden, daß gegenüber der Schlüsselgewalt die übrigen Verrichtungen des geistlichen Amtes in seiner Darlegungen kaum eine Rolle spielen. Bezeichnenderweise

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nur in einer Anmerkung30 wird eine weitere Begriffserklärung vermerkt: Es wird zunächst die geistliche Führung der Kirche von der leiblichen oder „äußerlichen” unterschieden und die letztere als „Übirkeit” oder „Gewalt des Bapsts über die ganz Christenheit” (d.h. ecclesia universalis im traditionellen Sinn) bezeichnet. Innerhalb der geistlichen Führung der Kirche wird zweitens untergeteilt in die „Schlüsselgewalt”, die nur auf das Sakrament der Buße bezorgen ist, also allein die Binde- und Lösegewalt in sich schließt, und in die „regierende Gewalt”, nämlich den Rest der geistlichen Tätigkeiten d.i. „predigen, vormanen, trosten, mess halten, sacrament geben und dergleichen”. Diese ist also auch durchaus juris divini.

Ohne die Klärung dieses auffälligen Mißverhältnisses zwischen derjenigen Gewalt, die das Kirchenregiment umschließt, und derjenigen Schlüsselgewalt, die praktisch mit dem Bußsakrament identisch ist, kann die Frage der Kirchengewalt nicht mit Nutzen weiterverfolgt werden. Zu seiner Erklärung bieten sich zwei einander ergänzenden Gründe an:
1. Jene Akte, die ja wesentlich solche des Amtes sind, besäßen in sich selbst und für sich allein betrachtet keinen rechtlichen Gehalt, so daß zwar das Amt als solches, die Amtsgewalt als solche einen Rechtsgrund und damit Rechtscharakter hat, nicht aber ihre Handlungen.
2. Soweit aber mit diesen Verrichtungen Rechtsentscheidungen und Rechtsfolgen verknüpft seien, fielen sie unter den Begriff der Schlüsselgewalt, so daß nur diese in ihrer rechtlichen Tragweite weiterzuverfolgen sei.

So könnte es etwa bei dem Ausschluß der offenkundigen Sünder von den Sakramenten und ihrer Wiederaufnahme und Wiederzulassung scheinen. Aber wie ist es dann mit der admissio, der nicht eine Exkommunikation vorausgegangen ist? Dann könnte zwingend nur derjenige zum Altarsakrament zugelassen werden, der zuvor ausdrücklich absolviert worden ist. Diese Meinung gibt es. Aber sie ist nicht die allgemeine. Sie würde hier gerade dazu führen, daß nunmehr entgegen der bisherigen, oben angeführten Begriffsbestimmung die Unterscheidung von Schlüsselgewalt und geistlicher Leitung dahinfiele. Dieser Aufsaugung der geistliche Leitung durch die Schlüsselgewalt entspricht etwa ein gelegentliches, auch von Heckel angeführtes Wort, der Prediger könne nicht den Mund auftun, ohne eine Absolution zu sprechen. So wäre auch admissio = absolutio, so wären Trost und Vermahnung mehr Vorbereitungshandlungen in dieser Richtung. Aber ich finde auf der anderen Seite nirgends eine so extensive Interpretation der Schlüsselgewalt. Mindestens besteht hier eine ganz offene Lage. An dieser Terminologie entscheidet sich hier einiges Wichtige.

Mit dieser jedenfalls engsten Verknüpfung verbindet sich eine mächtige individualisierende Wirkung: nur das, was direkt und am einzelnen gehandelt wird, fällt unter die geistliche Leitung. Wie aber ist es

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mit der Lehrentscheidung, der Bekenntnisbildung? Diese ist, wenn es sich wirklich um solche entscheidenden Dinge handelt, ja immer mit der Verurteilung nicht nur bestimmter abstrakter Meinungen, sondern bestimmter Irrlehrer verknüpft, die dann exkommuniziert werden — also Schlüsselgewalt, wenn auch dies schon weit über die eigentliche Sündenvergebung hinübergreift. Irrlehre muß dazu mit Sünde gleichgesetzt werden. Aber ist Bekenntnis- und Lehrbildung primär oder wesentlich Abweisung, Ausschließung und Wiederzulassung? Wieder ergibt sich der gleiche Zweifel wie bei der einfachen admissio ohne Reconciliation. An diesem Punkte stellt sich die Frage nach dem Rechtsbegriff Luthers.

In der Unklarheit über Ort und Bedeutung der Schlüsselgewalt in und für die Kirchenrechtslehre tritt ein eigentümliches Mißverhältnis zwischen Taufe und Bußsakrament hervor. Wer sich zum Glauben bekehrt, empfängt in der Taufe Vergebung der Sünden. Der Christ, der immer wieder sündigt, empfängt im Bußsakrament diese Sündenvergebung von neuem. Der eine wird erstmalig, der andere von neuem in den Leib Christi inkorporiert. Die Buße hat ihren steten Rückbezug zur Taufe. Aber die missionarische Predigt, die zu Glauben und Taufe führen soll, ist selbst noch nicht Schlüsselgewalt. Die Lehre der Kirche aber und ihr Abendmahl (Acta 2, 42) sind ebenfalls nicht Ausfluß der Schlüsselgewalt. Beides, das Handeln innen und außen, gründet auf dem Missionsbefehl wie dem Wiederholungsbefehl. Jene Predigt hat die Taufe als Ziel vor sich, diese setzen die Taufe voraus. So sind Taufe und Buße, so ist die Anwendung der Schlüsselgewalt immer der kritische Punkt zwischen dem Draußen und Drinnen. Nur so ist das Bild von den Schlüsseln sinnvoll. Aber die Schlüsselgewalt bezeichnet selbst nicht das, was drinnen geschieht. Denn, wie schon gesagt, kommt beim Abendmahl die Schlüsselgewalt als konkreter Akt doch nur aus gegebenem Anlaß in Betracht. Sie kann nicht einfach mit der auch im Abendmahl selbst liegenden Scheidung ineinsgesetzt werden.

So erklärt sich jenes Mißverhältnis. Obwohl die Buße nicht nur löst, sondern auch ipso facto et actu wieder von neuem zuordnet, bezeichnet die Schlüsselgewalt selbst nicht die Verrichtungen der Kirche, in denen sich diese auferbaut. Und obwohl Luther oft geradezu leidenschaftlich die Rückbeziehung der Buße auf die Taufe betont, tritt doch praktisch die Buße in ihrer Permanenz allein in den Vordergrund. Eben dies bewirkt, daß die positive Zuordnung und Entfaltung der Taufe jenseits des kritischen Punktes in der oikodomé zurücktritt. Die mächtige individualisierende Wirkung, die das Bußsakrament in seiner Gestaltung als Privatbeichte im Hochmittelalter ausgeübt hat, wird durch ihre Radikalisierung einerseits, die Ablösung aus dem Gefüge der Kirche andererseits festgehalten und noch verstärkt. Vermöge dieser Akzentsetzung, dieser sublimen Verschiebung, dieser Haltung, in der der Christ sozusagen immer unter dem Torbogen der engen Pforte stehen bleibt, muß

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die keineswegs geleugnete Gemeinschaftsdimension der Kirche zurücktreten. Es ist paradox und doch wohl in sich folgerichtig, daß ein gegenüber dem Recht so kritischer und der Rechtsentscheidung innerlich so fremder Denker wie Luther eine Glaubenshaltung ausbildet, welche die denkbar schärfste Zuspitzung eines judiziellen Typus darstellt, offenbar ohne es zu empfinden. Es erklärt jene Verschiebung aber auch, weshalb in der lutherischen Rechts- und Soziallehre ein ebenso charakteristisches wie verhängnisvolles und letzten Endes sachwidriges Übergewicht der koerzitiven Seite sich ausgebildet hat, mit deren Folgen wir noch heute zu ringen haben. Ebenso bedeutend sind die Folgen für Gottesdienstlehre und folgeweise für das Kirchenrecht. Bleibt der Glaubende so im Torbogen stehen, kehrt der Läufer in dem Kampf, der uns verordnet ist, immer wieder an den Nullpunkt des Starts zurück, so ist freilich alles Vorige abgetan, aber auch alles Folgende eben nur Folge, die allein an diesem Punkte hängt. Die Erstreckung des Gottesdienstes, der Aufbau der Kirche geraten in ein konsekutives Verhältnis. Ist der Mensch ohne Glauben und also unversöhnt, so ist ihm alles feind und knechtendes Gesetz. Ist er im Glauben versöhnt, so ist ihm alles anheimgegeben. Da also alles an dieser innersten Dialektik hängt, ist alles übrige dann sekundär und unwesentlich. Auch Gottesdienst und Kirchenregiment weisen immer nur darauf zurück. Die bescheidene und vorsichtige Abweisung jeder Erstreckung und Gestalt wird nun aber um einen hohen, zu hohen Preis erkauft. Je größer die Erniedrigung der Buße, desto höheren Wert gewinnt deren Frucht, die Freiheit. So wird zwar keineswegs, wie das katholische Mißverständnis meint, eine Subjektivität, aber Subjektität geboren, auf deren inneres Verhältnis alles ankommt, und der infolgedessen die ganze Welt als Objekt gegenübersteht, als ein Objekt, das jetzt nicht mehr feindlich ist und in dem dieser Mensch in neuer Freiheit sich recht zu verhalten vermag. Der Ausbruch aus der (Quasi-)Metaphysik eines gestuften Heilsweges wird mit dem Übergang in die (Quasi-)Kausalität des Verhältnisses von Subjekt und Objekt erkauft. Wenn auch diese Buße, wie Heckel mit Recht sagt, grundsätzlich innerhalb der Kirche sich vollzieht, so hat diese Kirche doch hier eindeutig ihr Zentrum mit der Wirkung, daß alles andere sekundär wird. Die Dimension der Kirche als Anbruch der neuen Schöpfung kann ihr so nicht erhalten, nicht wiedergewonnen werden. Die Abstoßung der kosmologischen Dimension der Kirche, die mit dem sakramentalen Personalismus des 13. Jahrhunderts — kennzeichnenderweise bereits mit der Ordnung der Privatbeichte im Gegensatz zur Gemeindebeichte der alten Kirche — ihren Ausgang nahm, wird fortgesetzt. Aus dieser einseitigen Konzentration des Heilsgeschehens im Bußsakrament erklärt sich hinreichend, warum der Gottesdienst in seiner Gesamterstreckung wie das mit ihm verbundene, sich aus ihm verstehende Kirchenregiment bis heute in das Zwielicht unendlicher Problematik geraten ist.

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Erst hierdurch aber wird der Grund klar, aus dem bei Heckel dem Bußsakrament und der Schlüsselgewalt eine so dominierende Bedeutung für das Kirchenrecht beigelegt wird. Denn die Rechtfertigung als Absolution schafft dann das geistliche, kirchenrechtsfähige Kirchensubjekt, dem als dem allein Berechtigten, weil allein Gehorsamsfähigen dann alles anheimgegeben wird. Der homo interior tritt an die Stelle des bisher zum alleinigen Subjekt der Kirchengewalt gemachten Ordo. Aus diesem spiritualen esse folgt sein operari, aber nun als rein innerweltliches, soweit es nicht außerrechtliche Gnadenverkündung und -mitteilung ist. Dieses Subjekt aber bedarf keiner eigentlichen geistlichen Leitung, weil es, insofern es justus ist, das von allein tut, und wenn es es nicht tut, eben nicht justus und deshalb auch nur dem heteronomen Kirchenrecht unterfällt.

Aus dieser Lage verstehen wir nun besser, warum bei Heckel die regelmäßigen Verrichtungen der Kirche, Predigt und Sakramentsverwaltung zwischen Schlüsselgewalt und äußeren Kirchenwesen so merkwürdig verschwinden und nur an Hand der Schlüsselgewalt kirchenrechtlich wieder auftauchen. Damit ist zugleich das Amt in das Zweilicht geraten, aber auch die ganze geistliche Verfassung der Kirche, die weder in das eine noch in das andere paßt. Die Sakramente müssen mehr oder minder konsequent in das Gefälle eines konfirmatorischen Verständnisses geraten usf. Die Folgen sind kaum alle auf einmal zu nennen. Keine Auswucherung, kein Mißbrauch, auch nicht der Vorwurf der theologia gloriae rechtfertigt diese wirkliche Lücke. In dieser Lücke bleibt ein befreiter, aber nicht in einem neuen Sein gebundener Mensch überfordert und isoliert stehen.

Der Grund für die Ausbildung dieses Rechtsbegriffs ist ebensosehr in der schon früher erörterten rechtsgeschichtlichen Situation der Zeit wie in der damit zusammenhängenden Tatsache zu finden, daß Luther in keiner Weise die Tradition der antiken Rechtsphilosophie durchbrochen hat — nicht erst Melanchthon hat zu ihr zurückgelenkt. Luther hat mit mächtiger Kraft zwar die Architektur des scholastischen Rechtsgebäudes zertrümmert, aber mit dessen Bausteinen nach eigener Auswahl ein Gebäude nach anderem Plan aufgeführt.

Sein Personalismus ändert daran nichts — im Gegenteil. Er verschärft nur die Wirkungen. Mit der Struktur der Entscheidung ist diejenige des Sollens und damit der Begriff der lex sinngemäß und folgerichtig verbunden, und alles dreht um Erfüllbarkeit und Nichterfüllbarkeit. An der übernommene Struktur des Denkens ändert auch der geistlich-spirituale Charakter dieser lex nichts.

Das göttliche Gesetz, die lex spiritualis, einschließlich des göttlichen Naturgesetzes ist nur ratione fidei erkennbar. Es ist von dem durch die Vernunft erkennbaren menschlichen Gesetz nach Subjekt und Gegenstand getrennt (ratione acutoris et materiae)31.

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Verhalten sich die Bereiche tatsächlich so zueinander? Die Unterschiedlichkeit des auctors wäre nicht zu beanstanden. Denn für den Bereich des geoffenbarten Wortes Gottes mag die verlarvte Wirksamkeit Gottes im weltlichen Regiment außer Betracht bleiben.

Sieht man das göttliche und das menschliche Gesetz nach Urheber und Gegenstand vollkommen getrennt, so kommt nicht heraus, daß in dieser Konzeption selbst beide Bereiche analogisch aufeinander bezogen sind: Es wird beiderseits der Gesetzesbegriff gebraucht. So verfehlt nun die Gleichsetzung von Gesetz und Recht ist, so wenig hat es Sinn, vom Gesetz zu sprechen, wenn nicht in jedem Fall eine wenigstens grundsätzlich erkennbare Regel gemeint ist. Der eigentliche Fehler liegt in der Verwendung des Gesetzesbegriffes als lex für den Bereich des Kirchenrechtes selbst. Denn damit erhalten die beiden angeblich so tief geschiedenen Bereiche von vornherein wieder eine analoge, nämlich ethische Struktur. Die ethische Struktur bleibt mit dem Gesetzesbegriff erhalten und präjudiziert mit den genera potestatis (s. in dies. Kap.) in jenem oben angeführten Lutherzitat alles Folgende. Solange vom Gesetz geredet wird — auch vom göttlichen — heißt es dann wieder: Du sollst.

Das hat nur einen Sinn, wenn die Forderung auch erkennbar ausgesprochen wird, gleichgültig ob sie erfüllbar ist. Meine Unfähigkeit, die Forderung zu erfüllen, kann schuldhaft sein. Aber auf die Forderung kann ich nicht behaftet werden, wenn sie mir nicht bekannt gemacht wird, wenn sie mir nicht verständlich ist. Eine Schuld ohne Rücksicht darauf kann nur ontologisch, nicht in der ethischen Struktur begründet werden. Diese beiden Aussageformen — ontologische und ethische — sind einander grundsätzlich gleichwertig. Aber alles, was bisher vom göttlichen und menschlichen Gesetz in der Darstellung Heckels gesagt wurde, kann in der ethischen Struktur ausgedrückt werden — nur nicht die Dinge des Kirchenrechts. Die im Kirchenrecht vorkommenden Ansprüche — wir haben das unbrauchbare Wort „Gesetz” beiseite gelassen — sind keine ethischen.

Im Kirchenrecht geht es um Verkündigung, Glauben, Sakramente. Es geht nicht darum, aus eigenem Vermögen etwas zu tun, sondern etwas in der empfangenen Vollmacht weiterzugeben, aber auch darum, es glaubend an sich geschehen zu lassen. Es ist die Forderung weiterzugeben was Gott gegeben hat, es ist die Forderung, im Glauben anzunehmen, was er uns gibt und daß er sich uns gibt, geschehen zu lassen, was er an uns geschehen lassen will, und alles dieses ohne das geringste eigenständige Vermögen, sondern ausschließlich durch den Beistand des Heiligen Geistes. Subjekt, Wirkungsweise und Gegenstand, auctor, modus und materia des Kirchenrechts ist die Gnade Gottes. Diese Gnade begegnet uns allein in der Person Christi. Hier ist die von Luther gesuchte radikale Trennung vom Gesetz, die Unterscheidung auctoris, materiae, modi.

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Kirchenrecht ist deswegen nicht ethischer Struktur, weil Gott hier allein wirkt, im Reden und Hören, im Geben und Empfangen. Deswegen sind kirchenrechtliche Entscheidungen keine ethischen über irgendein uns verfügbares Handeln, sondern pneumatische Entscheidungen, in denen der Geist den Geist erkennt und richtet, in der Lehre wie in der Gewährung und Versagung der Sakramente. Eben deswegen ist das pneumatische Recht nicht gesetzlich, wenn es seinem alleinigen Themas entsprechend über die Angezeigtheit geistlichen Handelns entscheidet. Es ist deshalb im Typus charismatisch, nicht normativ, auch wenn es seine Entscheidungen dann wieder an relativ unzulängliche äußere Merkmale bindet. Die Abhängigkeit vom traditionellen normativen Rechtsbegriff hat sowohl die Überwindung des scholastischen Kirchenrechts wie die Bildung zulänglichen neuen Kirchenrechts verhindert.

Der wesentliche materiale Unterschied zwischen Kirchenrecht und allem übrigen Recht liegt also darin, daß das ethisch strukturierte Recht des göttlichen oder menschlichen Gesetzes auf der Korrelation von Gebot und Folge aufgebaut ist. Im Gnadenrecht ist diese unaufhebbare Aequivalenz nicht etwa aufgehoben, aber die Folgen sind erfüllt und abgegolten durch das Werk Christi. Das Gesetz ist nicht aufgehoben, sondern erfüllt. Das Kirchenrecht ist der klassische Ort, wo die Gnade alles schafft und die Vergebung der Sünden nicht nur allgemein verkündet, sondern konkret vollzogen wird. Hierher gehört die schon oben begründete Erkenntnis, daß der theologische und der juristische Gnadenbegriff sich nicht in der Struktur, sondern nur im Gegenstand unterscheiden. Die Darlegungen über das Verhältnis von göttlichem Gesetz und menschlichem Gesetz treffen das Kirchenrecht überhaupt nicht, sondern allein die Folgen des Christenstandes.

Man erinnere sich an die Schärfe, mit der Heckel in der eingangs wiedergegebenen Stelle sich dagegen wendet, daß aus der Schlüsselgewalt eine Befugnis zur Kirchenleitung hergeleitet werde. Aber warum ist dies denn nun so verdammlich? In der alttestamentlichen Tradition, aus der der Begriff stammt, wie der neutestamentlichen werden Schlüsselgewalt und Leitung durchaus zusammen gesehen, jedenfalls nicht gegeneinandergestellt. Heckels Schärfe beruht vielmehr auf der Voraussetzung, der petitio principii, daß Leitung begrifflich Leitung des äußeren Kirchenwesens und deshalb der Schlüsselgewalt entgegensetzt, wesensfremd sei. Das Ergebnis dieser Anschauung ist ein ganz unbeabsichtigtes: So sehr die spätmittelalterliche Kirche wie jedes zerrüttete Gemeinwesen seine Zwangsmittel, hier die Schlüsselgewalt, überlastet und mißbraucht hat, so doch zur Durchsetzung, nicht zur Begründung göttlichen Rechtes. Was die römische Kirche nur praktisch getan hat, tut jetzt diese Betrachtung der Dinge von der Schlüsselgewalt her grundsätzlich: die ultimo ratio wird zur prima. Der jurisdiktionelle Typus wird nur gesteigert: in die Absolutheit der zu bezeugenden

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Vergebung auf der einen, die scharfe Heteronomie der weltlichen Gewalt auf der anderen Seite. Dazwischen wird die Frage der geistlichen Leitung erdrückt. Wenn man diese aber wirklich offen ins Auge faßte, so würde sich nämlich von allein die Frage stellen, ob sie sich so ausschließlich negativ und separativ zum „heteronomen” Kirchenrecht verhielte, ob beide eben nicht nur getrennt, sondern ebenso verbunden sind. Die Themen der geistlichen Leitung zählt Heckel in der Lex charitatis32 sämtlich als Themen des heteronomen Kirchenrechts auf: Kultusrecht, Amtsrecht, Aufsicht. Als ob nicht in alledem eben gerade und zu allererst geistliche Entscheidungen zu treffen seien! Als ob Kultus nur äußere Ordnung wäre und nicht eben in empfindlichster Weise geistliche Fragen implizierte, als ob die Bestellung zum Amt nicht eben geistliche Entscheidung wäre und nicht einseitig äußeres Kirchenwesen. Alle Betonung der unvermeidlichen Konkretion der geistlichen Kirche in der Welt beseitigt nicht diese Schlagseite. Das berühmte „unvermischt und ungetrennt” wird theoretisch nicht geleugnet, aber praktisch preisgegeben — letztlich aus der Reaktion, weil die römische Kirche sich einer ständigen Vermischung schuldig gemacht hatte. Tragisch aber ist, daß das durch eine Verstärkung und zugleich Verdeckung, eine Tieferlegung des Fehlers erfolgte. Denn der Begriff der potestas und der der Ordnung hatte ja damals, wie auch Heinrich Bornkamm33 mit Recht sagt, durchaus einen förderlichen und zugleich dynamischen Sinn: es ist Gestaltungsgewalt, nicht nur Erscheinungs- und Ausschließungsgewalt. Diese ordinatorische Seite wird verdrängt und gespalten: wo Gott entschieden hat, geschieht auch durch das auftragsgemäße Handeln des Menschen nichts Konstitutiv-Ordinatorisches mehr, und wo er konstitutiv und ordnend handelt, handelt er nur kraft eigenen, menschlichen Rechts. Der einseitig-jurisdiktionelle Zug des abendländischen Denkens geht mit verdoppelter Kraft auf dem gleichen Geleise weiter.

Die Aussagen CA V, VII, XXVIII erwecken die Erwartung, daß hier in evangelischer Begründung maßvoll die legitime Kirchengewalt neu konstituiert werde. Aber sieht man näher zu, so finden wir in Art. XXVIII die Schlüsselgewalt, überall die Aufzählung der abzuschaffenden Mißbräuche und Grenzüberschreitungen und als materielle Bestimmung das Amt und seine Verrichtungen als Verwaltung begriffen. Der Begriff der „administratio” aber gehört zu denjenigen, die ursprünglich gefüllt, doch keinerlei Abwehrkraft gegen die funktionale Entleerung enthalten udn dadurch den transitorischen Charakter dieser Position anzeigen. Oder wirkt hier eine Vorstellung mit, daß, wenn man erst das römische scholastisch-kanonische System los sei, nun alles im Grund so klar und einfach sei, daß es nur eines schlichten selbstverständlichen Tuns bedürfe? Diese einseitige Betonung der menschlich-rechtlichen Seite der Leitung hat dann das ganze verhängnisvolle Gefälle zum Staatskirchentum eröffnet, das, wie Heckel mit vollem Recht zeigt, nicht Ziel

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sein konnte. Aber wenn man einen so hervorragend geistlichen Akt wie die Visitation in das äußere Kirchenwesen zieht, mit dem er natürlich auch zu tun hat, wie kann man dann sich wundern, wenn die Kirche dem aufsteigenden absoluten Fürstenstaat in die Hände fällt? So gerät der stolze Satz Heckels von dem „kraftvoll bewegten Kirchenbegriff” Luthers in einen harten Widerspruch zur geschichtlichen Wirklichkeit, zu den Folgen der eigenen Konzeption.

Man könnt dies nur als eine Gleichgewichtsstörung innerhalb der Lösung selbst ansehen. Es beruht aber schon darauf, daß in diesem Rechtsdenken die Rechtsformen der Vergemeinschaftung überhaupt bereits verlorengegangen, beiseitegedrängt, verbraucht und belastet waren. So hat man nicht die Richtung gewechselt, sondern nur die Spurbreite. Aus dem Einheitssystem wurde ein Trennungssystem und durch die Trennung fiel ebenso viel hinweg, wie früher zu Unrecht aufgenommen worden war. Der Kirchenkampf hat der einseitigen Trennung von innerer geistlicher Leitung und äußerem Kirchenwesen endgültig ein Ende bereitet — nur daß bisher dies in seiner ganzen Tragweite nicht erkannt worden ist. Die Kirchengeschichte selbst hat uns über einen Irrtum belehrt, den uns Heckel nach wie vor systematisch begründet.

Die Unklarheit wird dadurch eine vollständige, daß sich diese grundsätzlich antithetische Trennung von geistlicher Leitung und Kirchenwesen mit der unbestrittenen Tatsache verknüpft und überschneidet, daß die rechtlichen Lebensformen der Kirche in unterschiedlicher Nähe und Entfernung zu deren geistlichen Charakter stehen, bürgerlich-staatsrechtliche Rechtsfähigkeit, innere Formalordnung, geistliche Ordnung. Dies wird von niemandem bestritten, wenn auch sehr verschieden gehandhabt, begründet aber nicht jene grundsätzliche Konzeption.

Zu den Seltsamkeiten dieser Lage gehört, daß nun gerade das sacramentum absolutionis, das dritte Sakrament der Bekenntnisschriften, die Schlüsselgewalt, auf welche Luther nach den angeführten Stellen und Heckels Darlegungen solchen Wert legt, nicht mehr zum unbestrittenen Bestande des kirchlichen Konsensus der Theologen und Gemeinden lutherischen Bekenntnisses gehört. Die Problematik des konstitutiven Vergebungszuspruchs, ein ständiger Angriff von der reformierten Seite auf Grund von Prädestinationslehre und antisakramentaler Tendenz, und schließlich das weitgehend von der Reformation selbst hervorgebrachte Selbstverständnis des modernen Menschen stehen dem entgegen.

Die Sachfragen der Schlüsselgewalt sind an ihrer Stelle abgehandelt worden. Hier interessieren sie nur in ihrer methodischen und systematischen Bedeutung für das Kirchenrecht überhaupt. Aber gerade hier fragt sich, ob die Unterscheidung zwischen ius divinum und heteronomem Kirchenrecht das austrägt, was Heckel damit verbindet. Bei jeder denkbaren Interpretation der Schlüsselgewalt kann es doch nur zwei Fälle geben: entweder ist das Urteil der Exkommunikation begründet oder es

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ist es nicht, weil es Gottes Urteil widerspricht. Unbestritten ist, daß es in jedem Falle Wirkungen für die äußere Zugehörigkeit zur Kirche auslöst. War es unbegründet, so gehört der Betreffende trotzt Ausschluß zur Kirche, die ihm zu Unrecht die Gemeinschaft versagt, und das Urteil muß, wenn es als falsch erkennbar, sobald wie möglich revidiert werden. War es begründet, so besitzt der Ausschluß aus der äußeren Gemeinschaft der Kirche sein volles geistliches Gewicht. Immer aber muß ein Fall vorliegen, der überhaupt die Exkommunikation als geistliches Urteil zu erwägen zwingt, nicht etwa die bloße Verletzung der kirchlichen Ordnung usf. Was aber soll denn das Amt glauben, wenn es nach gewissenhafter geistlicher Erwägung bannt, als daß sein Urteil dem Gottes entspricht, was zu glauben soll der vom Urteil Betroffene dann damit aufgefordert werden? Hier gibt es nur ein Entweder-Oder, wenn nicht das Ganze zur bloßen Verharmlosung und Ermäßigung führen soll, die Luther gewiß fernliegt. Die Scheidung muß gewagt, und das Urteil in das allein maßgebliche Urteil Gottes gestellt werden. Man ist an die Szene in der Hagia Sophia im Jahre 1054 erinnert, als der Kardinal von Lothringen die Verdammungsbulle gegen die Ostkirche mit den Worten auf den Altar legte: Gott möge richten zwischen Euch und uns! — Was nützt die Hervorhebung der bloßen Wirkungen für das äußere Kirchenwesen, wenn dies eben doch den Ausschluß von den Sakramenten mit sich bringt — und doch nicht unterstellt werden kann, daß der Exkommunizierte eine anderweitige Gemeinschaft finden könne und solle.

Die mit der Unterscheidung notwendig zusammenzusehende Verknüpfung wird besonders deutlich am Ordinationsrecht, dem Recht der Ämterbestellung, welches in besonderem Maße in der gezeigten Lücke untergegangen ist. Was dazu zu sagen ist, ist schon beim Ordinationsrecht gesagt worden.

Es trägt die Unterscheidung der geistlichen und der allgemeinen Kirche nicht das aus, was von ihr erwartet wird, sobald man nun einmal konkret untersucht, was sie bedeutet. Für eine praktische, die Folgen miterwägende Betrachtung liegen die Dinge so:

In jedem denkbaren Verband besteht ein Kern derjenigen, die von dem Gemeinschaftssinn lebendig ergriffen ihn fortführen und tragen, und eine Zahl mehr oder minder äußerlich und teilweise Interessierter. Ein solcher Verband lebt davon, daß die erstere Gruppe hinreichend stark und lebendig ist, um das Ganze zu tragen und fortzuführen, und auch die nur teilweise, äußerlich oder aus selbstsüchtigen Gründen Beteiligten mitzuführen und nicht überhandnehmen zu lassen. Aber die beiden Gruppen lassen sich auch nur hypothetisch nicht scheiden. Der Verband zerfällt, wenn die erstere Gruppe zu schwach wird oder ere durch eine andere Sinnrichtung überfremdet eine neue abweichende Richtung nimmt. Die Kirche, so unvergleichlich sie ist, hat doch zugleich teil an den Lebensbedingungen der soziologischen Verbände. Das gehört

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zu ihrer Erscheinung im Fleische. Der Glaube an die ecclesia perpetuo mansura bedeutet in diesem Zusammenhang, d.h. unter den konkreten Bedingungen der Soziologie, folgendes:
1. Gott wird in der Kirche immer genügend Menschen erwecken, die sie in seinem Sinne erhalten,
2. die Kirche kann darauf vertrauen, daß sie unter allen geschichtlichen Wandlungen nicht
a) von außen durch Gewalt, durch völlige Unterbindung ihrer Wirksamkeit zugrundegeht,
b) von innen durch einen anderen Geist als den Heiligen Geist überfremdet ihre Identität34 verliert.

Diese Vorstellungen widersprechen in keinem Punkte dem geistlich-pneumatischen Charakter der Kirche.

1. Sie ist auch so durchaus keine von Menschen gestiftete, ihnen verfügbare Größe,
2. sie erwartet diese Dauer nicht von ihrer eigenen Vernunft, Kraft und Organisationskunst, welche in der Tat offenkundig keine menschliche Gemeinschaft in dieser Identität und Dauer sichern kann. Der Glaube sieht sich hier nicht in der Geschichte begründet, aber von ihr bestätigt.
3. Es ist damit keineswegs behauptet oder auch nur in der Tendenz zu folgern, daß die als aktiv in Erscheinung Tretenden, von denen äußerlich betrachtet die Fortdauer abhängt, identisch seien mit den von Gott Erwählten und Gerechtfertigten. Nur sektenhafte Bildungen versuchen in Verkennung des Wesens der Kirche zu solcher Identität zu kommen. Denn dies ist eine eschatologische Frage.
4. Daß die Mitgliedschaft der Kirche sich in der praktischen Tätigkeit so differenziert, und daß mit Eifer und Gehorsamsbereitschaft gearbeitet wird, widerspricht durchaus nicht dem Gnadencharakter der Kirche. Was Gott hier tut, und was die Menschen tun, ist so unvergleichbar und so wenig gegeneinander abwägbar, daß jede Spekulation darauf, aber auch die Sorge um den Gedanken einer falschen Mitwirkung zum Heil fehlgeht. Im übrigen lehrt ein lutherischer Theologe wie Gerhard Gloege, daß im Bereich des I. und III. Artikels der Mensch sehr wohl als cooperator dei angesehen werden kann.
5. Sodann schließt dieser Gedanke die Annahme aus, daß die ganze Kirche bis auf den berühmten letzten prophetischen Einsiedler abfallen könne, welcher dann gerade fehlt, um den irrenden consensus ecclesiae vollzumachen. Es kann sehr wohl sein, daß die Mehrheit abfällt und sich dem Irrglauben ergibt. Die Mehrzahl beweist an sich geistlich noch nichts. Aber es werden immer noch einige übrigbleiben, nicht weil es mehrere solcher Einsiedler geben müßte, sondern weil der Geist überhaupt nicht dem einzelnen als solchem verheißen ist, sondern den zwei oder drei, die in Jesu Namen versammelt sind, also

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nicht ohne congregatio, nicht ohne ecclesia. Das Abheben auf den übrigbleibenden einzelnen ist ein mathematisch-logisches Kalkül, die ecclesia perpetuo mansura ist eine geglaubte pneumatische Tatsache. Der prophetische einzelne ist eine sehr verdächtige Vorwegnahme des geschichtslosen und allein lebenden Robinson der Aufklärung — und wer entginge der Versuchung, auch ohne den erschreckenden Ruf Gottes, ohne ein Leben der Anbetung, Betrachtung und Askese in dem flachen Augenblicksurteil ein Stückchen jener Prophetie stillschweigend für sich zu beanspruchen?

Was soll demgegenüber die Scheidung von Innen und Außen noch austragen? Wenn innerhalb der Kirche zwar der Personenkreis nicht geschieden, aber zwei verschiedene Regimente, Ordnungen, Gesetze nebeneinander gelten sollen, so müssen sich diese der Funktion nach unterscheiden lassen. Sie müssen aber, unbeschadet der Unterordnung der einen unter die anderen, miteinander verträglich sein. Es kann sich also nicht darum handeln, daß die in Wahrheit nicht Gläubigen in der Kirche mit Fug und Recht für einen anderen Geist Raum beanspruchen, etwa eine idealistische Ethik proklamieren oder die Gottheit Christi bestreiten. Würden sie es so offenkundig, so würden sie der Exkommunikation verfallen. Es kann sich also nur darum handeln, daß sie gutwillig durch ihre gesetzliche Kirchlichkeit meinen, das Heil zu erwerben oder das Evangelium ethisch mißverstehen. Alle zusammen sollen nach Heckels Darstellung in der ecclesia universalis nach einem anderen Recht regiert werden als nach dem geistlichen der wahren Kirche. Sind die Personen nicht zu trennen, so doch die Aufgaben und Zuständigkeiten (so Heckel ausdrücklich). Was aber kann denn gegenständlich getrennt werden, welche Aufgaben und Zuständigkeiten differieren denn, wo doch alles auch in der Kirche unzweifelhaft vorhandene menschliche Recht dem geistlichen Dienst der Kirche selbst zu dienen hat? Die Abstraktion „nach anderen Gesetzen” (die zudem die Frage des usus und modus noch einschließt) gibt darüber keine Auskunft. Den einzigen Anhalt bietet eben die Trennung von Schlüsselgewalt und (äußerem) Kirchenregiment. Aber so wird wieder vorausgesetzt, was gefragt ist. Denn hier müßte der innere Grund und Sachgehalt der Unterscheidung, nicht ihr in Wahrheit vorausgesetztes Ergebnis genannt werden. Ja selbst die Anwendung der Schlüsselgewalt wird in der konkreten Zuspruch der Sündenvergebung den ja unerkennbaren Nicht-Gläubigen nicht versagt werden können, zumal das Sakrament ohne den Glauben nicht wirksam ist, sondern den Empfangenden richtet. Die Unterscheidung trägt also für das konkrete Kirchenrecht und seine Theorie nichts aus.

Das geschichtliche Kirchenrecht der lutherischen Kirche hat diesem Gedanken keine sichtbare Folge gegeben, einfach weil sie es nicht konnte. So ist in den Bekenntnisschriften ein nicht unwesentlich anderes Kirchenrecht entstanden, freilich unter dem gewaltigen Einfluß der

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Theologie Luthers (und nicht nur aus kirchenpolitisch-taktischen Gründen) in einer eigentümlich zusammengedrängten Form, in der dadurch manches stillschweigend verlorengegangen ist. Zum vollen Austrag ist die Frage nach der Rechtsqualität der wesentlichen Sätze nicht gekommen. Das macht sich bis heute in der Unklarheit nicht nur des Amtsbegriffs, sondern im gesamten Kirchenrecht bemerkbar.

An Luther hat sich im übrigen — gerade wenn wir den Heckel-Luther ins Auge fassen — das Lebensgesetz alles Kirchenrechts bewährt: jede Kirche, jede Theologie nimmt das als Recht in Anspruch, was nach ihrer Überzeugung heilsnotwendig ist und nach Gottes Willen geschehen muß. Geht es allein um die Sündenvergebung, so beschränkt sich eben alles geistliche Recht darauf. Das ist grundsätzlich unabhängig von der Reflexion des Theologen auf irgendeinen Rechtsbegriff. Es ist ein akademischer Aberglaube der Juristen, daß Recht und Rechtsbildung durch die Erhebung zu geklärter juristischer Begriffsbildung bedingt sei. Recht ist etwas so Elementares und Existenzielles, daß es so selbstverständlich geübt, gebildet und beansprucht wird, wie die übrigen Funktionen unseres geistigen und leiblichen lebens. Die Rechtsbildung ist ohne Rücksicht auf die theoretische Erkenntnis durch die kategoriale Anspruchsstruktur bedingt und vorgeprägt, und selbst der unjuristische Luther hat dort, wo es ihm um Recht ging (und er nicht nur über Recht und gegen vorfindliches Recht redete), in diesen Formen denken müssen. Die wissenschaftliche Darstellung seiner Rechtslehre ist deshalb nicht überflüssig, sie ist aber nur von sekundärem Wert, weil vor ihr eine im Zweifel unbewußte Schicht kategorialer Vorgegebenheiten liegt, über die seine Texte keine Auskunft geben können. Um so weniger reicht es aus, nur seine Lehren als die Quelle des protestantischen Kirchenrechts ohne sehr genaue Kritik seiner Denkstrukturen darzustellen, so, als ob er nur Kirchenrecht in neuer Form zu denken brauchte, um es auch so zustandezubringen (den Abfall seiner Nachfolger nicht gerechnet). Das ist Ideenrealismus. Luthers Kirchenrechtslehre ist nicht eine Pallas Athene, die aus dem Haupte dieses theologischen Zeus entspringt; sie unterliegt unweigerlich den kategorialen Denkstrukturen des Rechtes und gehört in den geschichtlichen Zusammenhang der spiritualistischen Epoche des Kirchenrechts, die mit dem 12. Jahrhundert beginnt, und bewegt sich in antithetischen Umsetzungen im wesentlichen in diesem Raum.

Für Luther in Heckels Darstellung stand die Auseinandersetzung mit der Frage der Unfehlbarkeit des Papsttums bzw. der Concilien im Vordergrunde. Daß der Papst oder die Concilien unfehlbar sind, war, wie anderwärts erörtert ist, keineswegs einfach gemeine Lehre der Kirche des ersten Jahrtausends. Auch die Gültigkeit der Concilsbeschlüsse hing von der repräsentativ nicht ersetzbaren Annahme (Reception) durch die universitas fidelium ab. Im Akt der Annahme oder Nichtannahme schied

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man sich dann konkret35. Man hatte freilich nicht in erste Linie das kritisch-agnostizistische Interesse, es zu betonen, sondern glaube mit mehr oder minder großer Unbefangenheit und sogar oft Massivität an den Beistand des Heiligen Geistes. Es ist die gleiche Aussage, aber die umgekehrte Blickrichtung: in der alten Kirche stand man noch vor der Objektivation und Rationalisierung des Unfehlbarkeitsbegriffes, in der Reformation hinter ihr und gegen sie.

Luther hat mit der Bestreitung der Unfehlbarkeit zunächst nur dem Rationalismus der Römer seinen eigenen Agnostizismus entgegengesetzt, indem er auf die extreme Möglichkeit zurückgriff, daß die wahre Kirche bis auf eine unerkennbare Minderheit sich reduziere. Das lag gänzlich innerhalb der durch die Unfehlbarkeitslehre aufgeworfenen Fragestellung. Die Concilsväter der alten Kirche, die sich nicht für unfehlbar hielten, aber dem Heiligen Geist vertrauten, haben mit allem Ernst und Eifer die Form des Concils geschaffen und gehandhabt und die einzigen zu allgemeiner Anerkennung gekommenen Concilien gehalten.

Auch Luther hat das — papstfreie — Concil gefordert. Man wird nicht sagen können, daß diese Forderung, soviel zeitbedingte Moment sie enthielt, wesentlich aus diesen zu verstehen sei. Freilich war darin das Schwanken zwischen einem papstfreien allgemeinen Konzil und einem partikularen Reichskonzil unter stillschweigenden Verzicht auf Oekumenizität verborgen. Auf alle Fälle hat die lutherische Kirche ihrerseits nie ernstlich versucht, Concil zu halten. Daß sie es nicht getan hat, ist ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß sie es auch nicht für notwendig gehalten hat. Keine Macht der Erde hätte sie daran hindern können, eine solche Versammlung wenigstens zustandezubringen. Hier helfen nicht Lutherzitate. Der Concilsgedanke mochte Luther noch so vertraut sein — er hat sich dennoch als ein nur traditioneller und conventioneller erwiesen, dem die Wurzel geschnitten war — während etwa die Calvinisten in Dordrecht 1618/19 durchaus im Stile und Bewußtsein des oekumenischen Concils verhandelt und entschiedne haben.

Aber was hat den Concilsgedanken — von allen sekundären äußeren Hindernissen abgesehen — denn so zum Absterben gebracht? Dies zu klären, wäre ebenso wichtig wie der Kampf gegen die Unfehlbarkeit. Es wurde schon früher auf den durchgreifenden traditionellen Zug nominalistischer Vereinzelung und die seltsame Erschöpfung der Entscheidungsfähigkeit hingewiesen. Die noch so berechtigte Vorsicht läuft doch immer auf eine ebenso unberechtigte Verneinung hinaus. Diese Lähmung kann nur eintreten, wo alles Entscheidende in den klassischen Bildung der Vergangenheit schon vorhanden und nur aufzunehmen ist. So wird die lebendige evangelische Wahrheit längst vor dem deutschen Idealismus zur zeitlosen Metaphysik, mit dem historischen Akzent, daß sie in der Reformationszeit unüberbietbar und endgültig

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erschienen sei. Dieser lähmenden idealistische Historismus ist das zweite schlimme, ja verhängnisvolle Erbe jener sonst so großen Zeit nächst der Akademisierung und Verwissenschaftlichung, welche das Evangelium auf das beschränkt, was der professoralen Denk- und Lebensform zugänglich ist. Das ist grundsätzlich nicht alles, und gerade geistlich entscheidende Dinge entziehen sich dem.

Wie mit dem Concilsgedanken ist es überall gegangen: Daß das Concil irren kann, ist kein Grund, kein Concil zu halten. Aber so hat man praktisch gehandelt. Weil die priesterliche Absolution nicht über das eschatologische Urteil Gottes verfügt und die Beichte ein Zwangsinstitut geworden war, hat man allmählich aufgehört zu beichten und zu absolvieren. Weil die personale Sukzession des Amtes nicht exklusiv an das Bischofsamt geknüpft werden kann, hat man die personale Seite derselben überhaupt bestritten und den Episkopat und seine oekumenische Gemeinschaft und damit die aller Ämter samt der Lehre von der Ordination überhaupt verfallen lassen.

Überall hat man mit der zu Recht bekämpften Verabsolutierung die Sache selbst schwinden und schrumpfen lassen und wundert sich dann, daß man dort unglaubwürdig wird, wo man von der Sache selbst noch etwas weiß. Ja man begünstigt wieder den Mißbrauch und die Verabsolutierung, weil man ja so wieder die Meinung hervorruft, nur um deren Preis könne man die Sache selbst bewahren. So erzeugt man durch Gesetzlosigkeit das neue Gesetz. Wieviel von den Erfolgen der Gegenreformation geht darauf zurück, daß man sich so durch Gleichgültigkeit und Unsicherheit in Sachen des III. Artikels ins Unrecht gesetzt hatte!

Die Kirche kann nicht, von ihrer eigenen Existenz abstrahierend, davon ausgehen, daß sie in toto gefallen sei. Sie muß im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes die ihr aufgetragenen Entscheidungen der Lehre und Ordnung vollziehen. Darin hat sie ihre Geschichtlichkeit, die immer ein Wagnis des Glaubens, grundsätzlich immer verfehlbar ist.

Daß so in Verbindung von Kontinuität und Aktualität auch heute gearbeitet werden kann, zeigen die unter sorgfältiger Erwägung der Vorentscheidungen gefaßten dogmatischen Beschlüsse der anglikanischen Konvokationen.

Aber schließlich und endlich: was ist das für ein seltsamer Kirchenbegriff und Kirchenrechtsbegriff, der erst nach vierhundert Jahren (vielleicht!) durch Heckel zutagegekommen ist, der unter uns nicht einfach in seinen Grundzügen evident war und gelebt wurde! Noch einmal muß gefragt werden: wie verhält er sich zu den bekenntnismäßig verbindlichen kirchenrechtlichen Sätzen der CA, wie zur weiteren Geschichte und Theorie des lutherischen Kirchenrechts, und wie ist er nach so vielfältigen Erkenntnissen und Erfahrungen denn nun zu beurteilen? Kann es denn grundsätzlich und diskussionslos genügen, die nunmehr endlich klargestellte Lehre Luthers als Maßstab uns vor Augen zu stellen?

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Kann eine solche historische Untersuchung ohne Anschluß an die umgebende und folgende geschichtliche Wirklichkeit genügen und können ihre Ergebnisse uns in reiner Idealität mit solcher Selbstverständlichkeit vorgeführt werden? Die geschichtliche Erfahrung widerspricht ihr freilich entschieden. Jene disjunktive Doppelung des Kirchenbegriffs — immer vorausgesetzt, daß wir Heckel folgen dürfen — hat ebenso versagt, wie die offensichtlich in gewisser Analogie gebildete Regimentenlehre. Daß der Christ in einer Doppelexistenz lebt, in einem „Noch-nicht” und einem „Schon-gegenwärtig” ist das, was hier zu verstehen und auszudrücken ist. Aber anstelle der doppelten Grenzsetzung der Christologie von Chalcedon, der Nichttrennung und Nichtvermischung hat man in beiden Lehren, der Lehre von den beiden Kirchen und derjenigen von den beiden Reichen, disjunktiv die Bereiche vorzugsweise zu scheiden versucht, ohne sie in dem gleichen Maße zu verbinden. So wurde die existenzielle Einheit der Kirche wie die des politisch-geschichtlichen Menschen zerrissen.

Die Konzeption Heckels bedeutet einen weiteren Schritt über Holstein hinweg in der Ablösung des Idealismus und der spiritualistischen Kirchenrechtsverneinung Sohms. Ihr besonderes Verdienst scheint mir darin zu liegen, daß sie ohne es eigentlich zu wollen, die Gründe sichtbar macht, welche die kirchenrechtliche Zerstörung der lutherischen Kirche theologisch hervorgerufen haben. Deshalb genügt es nicht, ohne Kritik dieser vierhundertjährigen Entwicklung im 20. Jahrhundert die rechte Lehre des 16. auf den Schild zu heben, die Bäume ohne die Früchte anzusehen. Der Schritt Heckels wird nicht der letzte auf dem Wege der notwendigen und unvermeidlichen Entwicklung zum eigenständigen und dem ganzen Leben der Kirche, ihrem ganzen Auftrag gerecht werdenden Kirchenrecht sein.