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2. Rudolf Sohm und die Entwicklung von der altkirchlichen relativen zur neukatholischen absoluten Ordination

Rudolf Sohm hat in seinem letzten großen, aber verhältnismäßig wenig verwerteten Werk „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians” 17 ausführlich das früh- und altkirchliche Ordinationsrecht dargestellt. Er sagt „Das Recht von der Ordination veranschaulicht Wesen und Inhalt des gesamten altkanonischen Rechts”.18 Es handelt sich also nicht um eine Spezialfrage mit eigenen Entwicklungstendenzen. Seine vorweggenommene Terminologie befriedigt freilich nicht. Ordinatio erscheint in einer doppelten Bedeutung: sehr komplex als ordnende Verwaltung, Verordnung, Befehl, Auftrag überhaupt, und als Verordnung zum Amt der Kirche im oben erörterten Sinne.

Wenn Sohm zuweilen Cheirotonie mit Erwählung übersetzt, so hat er nicht die von Lohse hervorgehobene Doppelbedeutung des Wortes im Auge, die zu einer klaren begrifflichen Sonderung Anlaß gegeben hätte. Sein Gebrauch ist vielmehr von der reformatorischen Vocationsanschauung her beeinflußt. Zu der Doppelbedeutung ist ohnedies zu sagen, daß die Bedeutung „Handerhebung zur Wahl” verhältnismäßig selten ist und geschichtlich ganz zurücktritt. In den altkirchlichen Konzilskanones finde ich sie überhaupt nicht. Im übrigen ist zu beachten, daß Sohm terminologisch oft sehr unscharf ist.

Ebensowenig deckt sich der Begriff Auftrag mit der in der Ordination vermittelten und gemeinten Vollmacht. In der Folge dagegen unterscheidet Sohm sehr wohl die von Gott gegebene Berufung von deren Anerkennung durch die Gemeinde und der rituellen Übertragung.19

Entscheidend ist sein Obersatz und Ausgangspunkt:

„Aller Kirchendienst ist (urchristlich und altkatholisch) Dienst für das Handeln des göttlichen Geistes, geistlicher Dienst, weil alles kirchliche Handeln unmittelbares Handeln des Gottesgeistes darstellt. So ist die katholische Ordination, auch wenn sie nur zu dienender Tätigkeit (Dienst der Diakonen und der ordines minores) beruft, immer Berufung zu einem geistlichen Amt.” 20

Sohm, der radikalste und kundigste Kritiker der Kirchenrechtsgeschichte, sieht in diesem Grundsatz noch eine Übereinstimmung zwischen biblischer Urkirche und alter, altkatholischer Kirche. In unsere heutige Sprache übersetzt heißt jener Grundsatz: Kirchenrecht ist hier grundsätzlich und nach seiner tatsächlichen Gestaltung liturgisches Recht.

Daß dieses liturgische Kirchenrecht sein Maß am eucharistischen Gottesdienst nimmt, daß dieser geistliche Dienst eucharistische Ordnung ist, dem Dienst in der Eucharistie entspricht, sagt er unmittelbar vorher, ist sachlich aber bereits eine konkrete Anwendung des Obersatzes, der aus diesem Beispiel gezogen ist.

„Die altkatholische Ordnung des Gottesdienstes beruht gerade so

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wie die urchristliche auf der charismatischen Organisation. Stufenfolge und Art des Kirchendienstes (der Tätigkeit der einzelnen im Dienste der ekklesia) entspricht der Stufenfolge und Art der geistlichen Gaben, die Gott (Christus) selber austeilt, um sein Volk, die ekklesia, den Leib Christi zum Handeln als Werkzeug Gottes (Christi) geschickt zu machen” (189).

„Die ordines der Kirche sind und heißen durch die ganze altkatholische Zeit hindurch Ämter, Dienste (ministeria, officia), durch welche der Geist Gottes unmittelbar (im Sakrament) wirksam ist. Ihr Wesen besteht in der Art der geistlichen (sakramentalen) Tätigkeit, zu welcher sie berufen. Die Übertragung eines ordo ist Übertragung eines kirchlichen (geistlichen) Dienstes. Die altkatholische Ordination ist Anstellung. Ein anderer ordo bedeutet ein anderes Amt” (187/8).21

Es ist angesichts der Bedeutung Sohms für die Entwicklung des protestantischen Kirchenrechtsdenkens wichtig, klar festzuhalten, worin er den Unterschied zwischen Urkirche und alter Kirche sieht. Nicht die viel diskutierten Generalsätze über das Verhältnis von Kirche und Recht entscheiden, sondern die Tatbestände, von denen er ausgeht, und von deren Auslegung her er sein Urteil gebildet hat. Den Unterschied zwischen Urkirche und Altkatholizismus sieht er darin, daß an die Stelle jener freien Anerkennung und Rezeption der Geistesgaben Kirchenrecht als Rechtsordnung für das Wirken des Gottesgeistes getreten sei: das göttliche Amt wird jetzt mit der göttlichen Begabung für das Sakrament nur nach Maßgabe des göttlichen Rechts durch einen rituellen Vorgang erworben, der die göttliche Begabung für den Erwählten mit Rechtswirkung klarstellt, sicherstellt, begründet, und dieser Vorgang sei die altkatholische Ordination. Trotzdem sieht er hier, was regelmäßig unbeachtet geblieben ist, doch nur einen relativen Gegensatz, weil ebenso groß doch auch die Übereinstimmung der Grundanschauung sei:

„So groß aber auch die Unterschiede zwischen Urchristentum und Altkatholizismus sind, in dem entscheidenden Grundgedanken wurde von der altkatholischen Kirche doch das Urchristliche übernommen und bewahrt. Auch für den Altkatholizismus ist die Kirche das Volk Gottes, das regiert wird durch den Geist Gottes. Daraus folgt alles übrige. Die Verleihung des geistlichen Amtes kann darum auch altkatholisch nur durch Verleihung des Geistes, also nur durch unmittelbares Tätigwerden Gottes vor sich gehen, denn den Geist Gottes kann niemand geben als Gott allein. So ist die altkatholische Ordination in Fortführung urchristlicher Gedanken die Bestellung zum Kirchenamt unmittelbar durch Gott. Sie gibt das Amt, weil sie den Geist gibt, und sie gibt den Geist, weil sie das Amt gibt” (S. 191).

Der Ausgangstatbestand, auf dem sich seine gesamte Anschauung aufbaut, ist deshalb nicht ohne Widerspruch. Er kennt sehr wohl pneumatisches Kirchenrecht. Denn der Akt der Anerkennung, der receptio

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ist unzweifelhaft ein Rechtsakt. Der receptio in ihren verschiedenen Formen und weiten Auswirkungen widmet Sohm später große Partien seines Werkes. Was er als Veränderung beschreibt und auffaßt, ist die Ordination kirchlichen Rechtes. Er verwirft nicht das Recht überhaupt, sondern das Kirchenrecht, d.h. das von der Kirche über den Typus des pneumatischen Rechts hinaus geschaffene Ordinationsrecht. Aber er sieht immer noch dieses kirchliche Recht auf dem urkirchlich-pneumatischen Ansatz stehend als einen sozusagen eigenmächtigen, aber doch noch sinngetreuen Versuch der Verwirklichung an.

Es ist nun heute möglich, sowohl exegetisch wie rechtlich jenseits der unfruchtbaren Abstraktion der Generalbegriffe Sohms Kritik zu beurteilen, ihre Grenze und ihr Recht aufzuzeigen. Was Lohse über die Ordination erhoben hat, was sich in der Apostelgeschichte als geistverleihende Handauflegung im Zusammenhang mit der Taufe zeigt, erweist die altkirchliche Ordination, die Cheirotonie eben nicht als einen durch die Kirche „zwischeneingekommenen” Ritus, der der freien Anerkennung der Geistesgaben etwas hinzusetzt, den Geist formalisiert und zu Unrecht an einen Ritus bindet. Die Exegese ist über Sohms Antithesen hinweggegangen (so auch Bultmann in Th.N.T. S. 444).

Aber auch juristisch läßt sich die Grenze seiner Anschauung zeigen. Er kennt hier an Rechtsbegriffen nur die Erwählung, den Auftrag, und die Anerkennung (die receptio). Der rechtliche Dualismus von Auftrag und Vollmacht tritt nicht in sein Blickfeld. Deshalb übersetzt er — wenn auch nur gelegentlich — die sich als Geistmitteilung verstehende Handauflegung mit Erwählung. Durchgängig war dies angesichts des erdrückenden Quellenmaterials ohnehin nicht möglich. Der voluntaristische Charakter seines Rechtsbegriffes liegt auf der Hand — er entstammt dem bürgerlich-idealistischen Zeitalter.22 Die Rechtsformen der Gabe, der Kommunikation werden nicht gesehen. Das entbehrt nicht der Tragik: die eigene Anschauung hinderte Sohm, das zu finden, was er im Kirchenrecht vermißte.

Denn wenn die Gabe nicht Rechtsakt, sondern nur Inhalt des Willensaktes ist, so muß sie entweder gegenständlich aufgefaßt werden oder aber außerrechtlich bleiben. Sohm teilte die von ihm selbst als das Verderben der Kirche bekämpfte Anschauung — nur daß er aus ihr eine entgegengesetzte Folgerung zo.

Sohm sagt andererseits mit Recht:23 „Das Vollsakrament der altkatholischen Ordination besteht in Wahl und Weihe.”

Was ist nun aber kanonische Wahl? Kanonisch ist die Wahl als pneumatisch-geistliches Urteil verstanden, nicht als Akt des liberum arbitrium.

So wie der Richter nicht über das Recht nach Willkür verfügt, es aber in der konkreten Entscheidung gestaltet, so auch die Wähler, die in das kirchliche Amt wählen. Daß die Wahl dergestalt richterliche Entscheidung

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mit einem radikalen eschatologischen Ernst, aber auch Annahme und Bezeugung der Berufung ist, welche sich in Gaben und Wandel ausdrückt, zeigt in eindrucksvoller Weise die Bischofswahlordnung der apostolischen Konstitutionen, welche in der Form eines Berichts ein Vorbild zur Nachachtung geben will. Es heißt dort:

„Das Volk soll sich mit dem Presbyterium und den anwesenden Bischöfen am Tage des Herrn zu einer Versammlung eines Sinnes vereinen. Der erste der Bischöfe soll das Presbyterium und das Volk fragen, wen wie zu ihrem Vorsteher wünschen. Wenn sie ihm einen solchen bezeichnen, soll er wiederum fragen, ob er von allen das Zeugnis habe, daß er dieses wichtigen und angesehenen Vorsteheramtes würdig sei, ob er die Pflichten der Gerechtigkeit gegenüber Gott erfüllt, die Rechte der Menschen geachtet, ob er sein eigenes Hauswesen recht verwaltet habe und sein eigener Wandel vollkommen untadelig sei. Wenn nun alle der Wahrheit entsprechend, nicht auf Grund einer Voreingenommenheit, bezeugt haben, daß er ein solcher sei, gleichsam als ob Gott Vater und Christus richteten, und angesichts des Heiligen Geistes und aller heiligen und helfenden Geister sollen sie wiederum zum dritten Mal gefragt werden, ob er wahrhaft des Dienstes würdig sei. Und wenn sie es dreimal bestätigen, daß er würdig sei, soll von allen ein Zeichen der Zustimmung gefordert werden. Sobald dieses freudig gegeben ist, sollen sie erhört werden. Nach Herstellung völligen Schweigens soll einer von den ersten Bischöfen mit zwei weiteren Bischöfen zum Altare stehend unter stillem Gebet der übrigen Bischöfe und Presbyter und während die Diakone die heiligen Evangelien über dem Haupt des zu Ordinierenden halten, zu Gott beten usw.” 24

Die Wahl ist somit als Akt des pneumatischen Glaubensgehorsams jeder Willkür entgegengesetzt. Nur ein schmaler Spielraum gebundener Freiheit besteht, wenn etwa mehrere nach geistlicher Einsicht gleich geeignete Kandidaten zur Entscheidung stehen.

Jenem zutreffenden Satz25 geht ein falscher oder mindestens in höchstem Grade irreführender voraus, wenn Sohm sagt: „Die Weihe ist die liturgische Vollziehung der voraufgegangenen Wahl”. Zugrunde liegt dieser Auffassung die Tatsache, daß der ordo ursprünglich ein konkretes liturgisches, also auf einen bestimmten Gemeindedienst bezogenes Amt bedeutet. Die Berufung in dieses Amt wird in der kanonischen Wahl entschieden. Die Handauflegung verleiht die Amtsvollmacht. Unbestritten hat sich nun gegen Ende des ersten Jahrtausends die Wahl von der Weihe zu lösen begonnen und sich im weiteren Fortgang völlig getrennt. Das ist der schon früher erwähnte Übergang von der sog. relativen, auf ein bestimmtes Amt, eine bestimmte Gemeinde bezogenen, auf die bis dahin ausdrücklich für nichtig gehaltene und erklärte absolute Ordination. Dieser Tatbestand als solcher ist unbestritten. Umstritten dagegen sind:

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1. Die Gründe, die dazu geführt haben,
2. die Berechtigung dieser Entwicklung, ihre Bewertung,
3. die Stellung zu den in dieser Frage systematisch enthaltenen Problemen.

Zu 1.: Die Durchführung des Grundsatzes der relativen Ordination war in praxi mit beträchtlichen Schwierigkeiten verknüpft. Sie erzeugte große Unsicherheiten, zumal die Gültigkeit der Ordination von der gültigen Ordination des Ordinators abhing. Mindestens war dies der Fall, wenn mit der Rationalität der lateinischen Kirche die Grenzfälle theoretisch auf die Spitze getrieben und unterstellt wurde, daß für jede Entscheidung eines Zweifels eine schlüssige Ableitung müsse gefunden werden können. Daß dies dem pneumatisch-sakramentalen Recht widersprach, drückte sich in der von Sohm dargestellten Übung der sog. dispensatorischen Rezeption aus, deren freie Geistentscheidung äußere Mängel heilte. Dieser Grundsatz verlagert freilich das Unsicherheitsmoment nur auf eine weitere Stufe und behob es nicht. Mörsdorf26 bestreitet freilich Sohm das Vorhandensein eines solchen Instituts.

Immerhin ist bemerkenswert, daß die orientalische Kirche bis heute das Recht der relativen Ordination festgehalten hat, ohne daß von der Entscheidung von Grenzfällen her ständig der Grundsatz in Frage gestellt worden wäre. Ein ganz anders gerichtetes Denken hat dieses rationale Bedürfnis nicht überhand nehmen lassen. Der Systemzwang der Rationalität ist hier niemals aufgerichtet worden, unter Verzicht auf die motorischen Kräfte, die er in sich hat, deren Ergebnisse aber im Ganzen mindestens sehr problematisch sind. Sohm nennt verschiedene Anlässe und Vehikel für den Verlauf des Vorgangs. Eines von ihnen ist das Eindringen der germanischen Eigenkirchenrechts, durch welches der Kirche die kanonische Wahl weitgehend genommen und in weltliche Rechtsgeschäfte verlagert wurde. So blieb ihr nur die Weihe. Ein anderes ist die Umbildung der Bußgewalt in eine Strafgewalt, damit zugleich die Aufspaltung des forums in ein forum externum und internum.

„Die Kirche verwandelte sich in eine mit selbstherrlichem Regiment ausgestattete Körperschaft und die öffentliche Zuchtgewalt des Bischofs in eine der Kirche als Körperschaft dienende, der Kirche als Körperschaft zuständige Regierungsgewalt … die Kirche ward zum Weltstaat und die öffentliche Seelsorgestrafgewalt des Bischofs zu einer Strafgewalt staatlichen Stiles, bestimmt, die Rechtsordnung des neuen kirchlichen Staatswesen zu schützen und durchzusetzen. Damit war die neukatholische potestas jurisdictionis geboren worden. Sie bedeutete die in das ,Juristische’ (Körperschaftsrechtliche) übersetzte öffentliche Seelsorgestrafgewalt des altkatholischen Bischofs. Das forum externum — das Gebiet des Körperschaftsrechtes sonderte sich von dem rein religiösen Gebiet des forum internum” (S. 236).

Man sieht hier deutlich, daß dem Ganzen eine systematische, sich

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nunmehr rechtlich ausprägende spirituale Spaltung von Innen und Außen zugrunde liegt, geschichtlich hervorgerufen durch die Erfahrung des Einbruchs rein weltlicher Mächte und Interessen in die Kirche, aber letzten Endes nur aus geistesgeschichtlichen Bewegungen im Untergrunde erklärbar, nicht aus äußeren Erfahrungen und Reaktionen.

Aber auf diese Weise entstehen zwei getrennte potestates, die potestas ordinis und die potestas jurisdictionis, deren Verhältnis nun in besonderem Maß die Kirchenrechtsgeschichte ausmacht.

Zu 2: Die Frage nach der Bewertung des Vorgangs beantwortet Sohm widersprechend. Auf der einen Seite stellt er mit großem Aufwand an Belegmaterial die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung heraus: das altkatholische Kirchenrecht mußte sterben. Auf der anderen Seite sieht er in eben diesem Vorgang den großen Sündenfall in den körperschaftsrechtlichen Neukatholizismus. Er kann diesen Widerspruch allenfalls dadurch ausgleichen, daß er den (zweiten) Sündenfal, den in den Neukatholizismus, aus einem ersten, den aus der Urkirche in den Altkatholizismus erklärt. Mit dieser doppelten Mythologisierung der Kirchengeschichte verdoppeln sich aber auch die Fehlerquellen. Er kommt in Widerspruch zu seinen eigenen Aussagen über weite Teile und wesentliche Grundsätze des Altkatholizismus, welche er durchaus als schriftgemäß, pneumatisch und mit der Struktur der Urkirche übereinstimmend bezeichnet. Diese Fragen sind bisher nicht zuende diskutiert worden, da die radikale Kirchenrechtsverneinung und die Grundlagenproblematik von konkreten Fragen meinte absehen zu können.

Indessen läßt sich der Sohmsche Widerspruch sachlich auflösen und sogar in seiner Entstehung erklären. Sein Fehler liegt bereits in seinem Jurisdictionsbegriff, genauer in der Gleichsetzung von Jurisdiction und körperschaftrechtlicher Leitungsgewalt. Er sieht Jurisdiction erst entstehen, als dieses Wort ausdrücklich auftritt, und zugleich die Kirche sich als selbständig entscheidungsfähiger Körper, als societas perfecta versteht, die mit allen zur Erreichung ihres „Zwecks” erforderlichen Mitteln ausgerüstet ist, sobald also die scholastische Teleologie die biblische Eschatologie überdeckt und verschlingt. Anders ausgedrückt: er sieht in der Jurisdiction keinen kategorialen, sondern einen rein historischen Begriff. Dadurch wird die Tatsache überdeckt, daß er selbst ja der altkatholische Kirche durchaus legitimes, pneumatisches Recht zugesteht.

Zu 3: Der Grund dieser Auffassung wird deutlich sichtbar in dem markanten Satz, in welchem er den Gegensatz zwischen beiden Ordinationsbegriffen formuliert: „Die neukatholische Ordination ist nur noch eine liturgische Form der Weihe, die altkatholische war die liturgische Form der Wahl, der Anstellung”.27

Beides ist hier mißverstanden: sowohl der Wahlakt wie die Ordination. Denn obwohl die Wahl sich auf die göttliche Erwählung, Berufung

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bezieht, so ist doch die konkrete Wahl des kanonischen Rechts Glaubensentscheidung zu dieser göttlichen Erwählung, annehmendes Bekenntnis, identisch in der Struktur mit der Akklamation. Wir erinnern uns, daß in der Akklamation, wie Erik Peterson und andere gezeigt haben, und heute anerkannt ist, pneumatisches Recht schon im Neuen Testament nachweisbar ist. Diese Entscheidung ist keine des liberum arbitrium, welches sich so oder so entschließen kann. Sie ist darum nicht weniger Entscheidung, sondern solche gerade in einem radikalen, eschatologischen Sinne. Schon der Bischofswahlbericht der Apostolischen Konstitutionen spricht davon, daß die versammelte Gemeinde über den Bewerber „richtet, als ob Gott Vater und Jesus Christus richteten”, also in Kategorien der Jurisdiction. In diesem Bekenntnis des Geistes zum Geist liegt zugleich eine Selbstverurteilung zum Gehorsam. In de Annahme oder Verwerfung gerade der prophetischen Aussage liegt Entscheidung für und wider Gott. Es ist auf alle Fälle die gleiche geistige Struktur, die dem Jurisdictionsbegriff zugrunde liegt. Dieser Jurisdictionsbegriff setzt in keiner Weise einen körperschaftsrechtlichen Rechtsbegriff, die Existenz einer sich selbst regierenden societas voraus. Offenbarung und Prophetie können nur in Wirksamkeit treten durch die geistgewirkte Gehorsamsentscheidung.

Andererseits ist die Ordination mehr und anderes als die bloße „Vollstreckung” dieser Wahlentscheidung, ihre Bestätigung, Publikation, Bekräftigung oder Solennisation. Selbst wenn wir — auch dies zu Unrecht! — Ordination heute so betrachten würden — für die altkatholische Ordination träfe es jedenfalls nicht zu. Und darauf kommt es hier an. Die altkatholische sakramentale Ordination meint unzweifelhaft mehr, nämlich die konstitutive Übertragung der Amtsvollmacht. Gerade Sohm verkennt dies in seiner Darstellung sonst nicht. Aber an dieser Stelle der Wertung trägt er in die Anschauung eine fremde Deutung, eine modern-liberale Auslegung der reformatorischen Ordinationslehre hinein. Das einseitige Übergewicht der Wahl und vocatio, die Bedeutungsminderung der Ordination zur Konfirmation und Publikation ist ganz deutlich. Folgerichtig und doch tragisch zugleich gerät Sohm unversehens aus dem Bereich des pneumatischen Verständnisses in ein kausales: Gottes Handeln wird von dem Menschen vollstreckt und läuft in dem Ordinationsakt konsekutiv betrachtet aus. Die Kontrapunktik zwischen Auftrag und Vollmacht, zwischen Erwählung und Vergabung wird nicht durchgehalten. Während Sohm mit Recht dem Neukatholizismus vorhält, daß er körperschaftsrechtlich, nicht mehr sakramentsrechtlich denkt, interpretiert er eben dieses Sakramentsrecht nicht-sakramental, in einer Weise, die auf den Schultern der von ihm bekämpften Lehre steht und die der ganzen Blickrichtung der alten Kirche widerspricht.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß hier den schon wiederholt verwendete Begriff der „relativen Ordination” erörtert werden. Relative

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Ordination im Sinne der Kirchenrechtsgeschichte ist die Ordination, die sich notwendig auf ein bestimmtes Kirchenamt in einer bestimmten ekklesia bezieht. Dieses bestimmte Amt wird nach und nach mit einem bestimmten „Titel” gleichgesetzt und bezeichnet. Im Gegensatz dazu wird als absolute Ordination eine solche verstanden, welche dieser Beziehung auf ein bestimmtes Amt ermangelt, aber dennoch die volle Befähigung zu den Verrichtungen des Amtes in Anspruch nimmt.

Solange die Bezogenheit auf ein bestimmtes Amt Voraussetzung der gültigen Ordination ist, wird auch an der kanonischen Wahl zur Feststellung der Berufenheit und zur konkreten Berufung (vocatio) festgehalten. Bei der absoluten Ordination wird auch die Vocatio bzw. Wahl überflüssig. Sie kann durch die autoritative Entscheidung des Ordinators ersetzt werden.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die relative Ordination in zwei Relationen hängt: sie kommt von der vocatio, ausgedrückt in der kanonischen Wahl, her, und sie ordnet auf eine bestimmte ekklesia und in ihr auf ein bestimmtes Amt hin und zu. Diese Doppelheit tritt nicht immer klar hervor, weil regelmäßig die ekklesia, zu deren Dienst zu berufen ist, auch die wählende, berufende ist. In dieser (doppelten) Relationalität liegt jedoch unabhängig von der geschichtlichen Problematik die bleibende Bedeutung des Begriffs. Er hindert, die Ordination als ein isoliertes Geschehen für sich zu betrachten. Er darf umgekehrt aber nicht dazu führen, eben dieses Mittelstück des Geschehens seines Inhalts und seiner Würde zu berauben.

Wenn Mörsdorf28 („Zweigliedrigkeit”) sagt, daß die lateinische Kirche die relative Ordination für den Bischof beibehalten habe, so ist dies nicht ganz zutreffend. Der ordentliche Diözesanbischof und die Weihbischöfe werden freilich im Hinblick auf bestimmte Diözesen geweiht. Bei den zahlreichen sonstigen Titularbischöfen, z.B. der Kurie, ist dies nur noch theoretisch der Fall. Das zeigt, daß die Relativität nur noch teilweise und nur noch faktisch besteht, da im Gegensatz zur alten Kirche die Gültigkeit der Weihe davon nicht mehr abhängig ist. Andererseits fehlt fast allen Bischöfen des lateinischen Ritus — von denjenigen deutschen Diözesen abgesehen, in denen noch Wahlrecht der Kapitel bestehen — die kanonische Wahl und damit die vocatio, also die andere Relation.

Für den orientalisch-unierten Ritus ist entsprechend der ostkirchlichen Tradition die relative Ordination dadurch und insoweit erhalten geblieben, daß der Bischof sein Amt nicht durch Wahl oder Ernennung, sondern erst nach dieser durch Konsekration erwirbt, der Zusammenhang von vocatio-jurisdictio und ordinatio bestehen geblieben ist.

Nach der altkirchlichen Ordinationslehre haben die absolut, titellos Geweihten eine Ordination nur der Form nach empfangen.29 Sie sind weder Kleriker noch Laien, sondern eine Art „Hippozentauren”. Auch damals

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sah man diese Ordination nicht als „Nichts” an, wohl aber als nichtig. Diese Ausnahme und Regelwidrigkeit aber in den Begriff einzubeziehen, heißt in Wahrheit die Ausnahme zur Regel machen. Das ist das Beschwerliche. Die Rationalisierung, d.h. aber vor allem die Entscheidung von den Grenzfällen her bringt den Regelfall und das Eigentliche um sein Gewicht.

Die katholische Kirchenrechtslehre und Ekklesiologie leugnet die Wandlung von der relativen in die absolute Ordination nicht, mißt ihr aber keine wesentliche Bedeutung bei und bagatellisiert sie. Das Schema der Entwicklung duldet nicht die Annahme von wirklichen Verwandlungen und Brüchen, sondern zwingt zur Harmonisierung. Congar30 tut die Darlegungen Sohms damit kurz und biegsam ab, die von ihm erhobene Regel habe genügend Ausnahmen aufgewiesen, so daß sie die ihr beigemessene Bedeutung nicht besitze. Verhältnismäßig am meisten nimmt noch Mörsdorf zwar nicht in seinem verbreiteten Lehrbuch, aber in einigen, noch zu erörternden Spezialuntersuchungen von dem Tatbestand Kenntnis. Auch Dom. Pierre de Puniet in seinem Werk über das Pontifikale Romanum (Klosterneuburg 1933) schilder die Zerstörung der kanonischen Wahl, die Ablösung der Ordination aus dem Gemeindebezug, in evidenter Analogie zu dem von der katholischen Liturgikern dargestellten gleichzeitigen Umbruch der Meßstruktur. Aber einen echten Fehler zu begehen vermag auch für ihn die Kirche nicht. Die reformatorischen Kirchen jedoch, die aus dem Protest gegen die hier erwachsenen Mißbildungen entstanden sind, sind trotz der Berufung auf die zerstörte alte Ordnung der Kirche in den Bekenntnisschriften im Grunde an der kanonischen Struktur nicht wirklich interessiert.