12. Peter Brunners Lehre vom Amt

Peter Brunner hat in einer Studie „Das Heil und das Amt — Elemente einer dogmatischen Lehre vom Predigt- und Hirtenamt” 194 über Amt und Ordination sich wie folgt zusammenfassend geäußert:

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„Das Hirtenamt gründet wie das missionarische Botenamt in der Erwählung, Bevollmächtigung und Sendung von Augenzeugen durch den auferstandenen Herrn. Aus dem Sendungsbefehl des Auferstandenen geht nicht nur das einmalige Amt der Apostel hervor, sondern aus dem gleichen Sendungsbefehl des Herrn geht auf dem Grund des Apostelamtes auch das missionarische Boten- und Hirtenamt hervor. Die Einsetzung in das missionarische Boten- und Hirtenamt erfolgt nicht unmittelbar vom Herrn her, sondern durch Menschen vermittelt, nämlich durch die apostolische Ekklesia, die bei dieser Einsetzung gemäß ihrem leibhaften Gefüge handelt. Diese Einsetzung erfolgt nicht aus Verlegenheit, die etwa darin gründen könnte, daß die spezifisch charismatischen Dienste erloschen sind. Sie erfolgt auch nicht aus Zweckmäßigkeitsgründen, um etwa tumultuarische Unordnung in der Kirche zu verhüten. Sie darf auch nicht verstanden werden als eine Delegierung von Funktionen, die jedem Christen schon auf Grund der Taufe mitgegeben sind, an einige wenige. Diese Einsetzung erfolgt vielmehr unmittelbar auf Grund des gebietenden und stiftenden Sendungsbefehles Christi. Das Amt, das durch solche Einsetzung entsteht, umfaßt folgende Funktionen:

1. Die öffentliche missionarische Proklamation des Evangeliums Jesu Christi vor allen Menschen in einem bestimmten, örtlich umgrenzten Gebiet, das bei dem Hirten zusammenfällt mit dem Ort, an dem die ihm anvertraute Ekklesia lebt.
2. Die Sorge für die Unterweisung derer, die die Taufe begehren, oder derer, die durch das liebende Einstehen von christlichen Eltern und Paten die Taufe als Kinder empfangen haben.
3. Die Entscheidung über die Zulassung eines Taufbewerbers zur Taufe und damit zum Heiligen Abendmahl, oder im Falle der Kindertaufe die Entscheidung über die der Taufe später nachfolgende Zulassung zum Abendmahl.
4. In der Regel die Spendung der Taufe, auf jeden Fall die Bestätigung der Taufe und die Segnung der Getauften.
5. Die Leitung der zum Gottesdienst versammelten Ekklesia und damit auch die Leitung der Abendmahlsfeier.
6. Das Weiden der Gemeinde mit dem Worte Gottes, vornehmlich in der Öffentlichkeit der zum Gottesdienst versammelten Ekklesia, aber auch in der Seelsorge unter vier Augen oder in besonderen Zusammenkünften kleinerer Gruppen.
7. Die Bewahrung der apostolischen parathéké, darum auch die Verwerfung der Häresie und der Ausschluß der Häretiker vom Heiligen Abendmahl und aus der Kirchengemeinschaft.
8. Der Ausschluß derer vom Heiligen Abendmahl, die hartnäckig in öffentlichen Lastern beharren.
9. Die Entgegennahme der unter dem Siegel der Verschwiegenheit stehenden Beichte derer, die in Reue ihre Sünden bekennen, und die

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Spendung der Absolution an diejenigen Beichtenden, die in aufrichtiger Buße die Vergebung ihrer Sünden begehren.
10. Die Wiederaufnahme Ausgeschlossener in die Kirchengemeinschaft und ihre Wiederzulassung zum Abendmahl nach erteilter Absolution.
11. Die Austeilung des Abendmahls.
12. Die Entscheidung über die Anerkennung einer Ehe als einer Ehe im Herrn und damit die Anerkennung dieser Ehe als heiligen christlichen Ehestand, darum auch in der Regel die Trauung der Eheleute.
13. Das christliche Begräbnis.
14. Die Episkopé über alle in der Gemeinde in Übung stehenden Dienste der Liebe, der Betreuung, der Unterweisung, der Verkündigung, der Seelsorge.
15. Die Sorge für den Fortbestand des Hirtenamtes in den benachbarten Ekklesien und in seiner eigenen, darum auch verantwortliche Mitbeteiligung an der Auswahl, Berufung und Einsetzung von Hirten mit allen apostolischen Ekklesien, vor allem mit denen, die dazu die nächsten sind.

In diesen fünfzehn Punkten ist die Fülle dessen, was der Begriff ,Predigtamt’ umfaßt, enthalten und auf einen Amtsträger konzentriert. Unbeschadet der Tatsache, daß alle Christen und die Gemeinde als Ganzes an der Ausübung des Predigtamtes teilhat, so ist doch diese Zusammenfassung und Konzentration aller seiner Funktionen nur im missionarischen Hirtenamt vorhanden.”

„Die Einsetzung in das Hirtenambt ist nicht auf den gottesdienstlichen Akt beschränkt, den wir herkömmlich Ordination nennen. Dieser gottesdienstliche Akt ist ein Abschluß, der andere Akte voraussetzt. Aber diese Abschluß ist für das Ganze entscheidend, in ihm geschieht das Wichtigste, wenn auch die vorangegangenen Akte grundlegendes Fundament für diese gottesdienstliche Handlung bilden. Die vorausgegangenen Akte lassen sich zusammenfassen mit der Formel: prüfende Auswahl des für die Einsetzung in das Hirtenamt geeigneten Christen. Nicht jeder Christ ist für die Führung dieses Amtes geeignet. Auch natürliche Gaben müssen bei dieser prüfenden Auswahl berücksichtigt werden. Vor allem aber müssen geistliche Gaben, die zu dem Hirtenamt befähigen, vorhanden sein. Die Beurteilung solcher geistlicher Gaben ist selbst ein pneumatisch-charismatischer Akt. Ohne das Charisma der diakrisis pneumaton kann eine solche prüfende Auswahl nicht vorgenommen werden. Die prüfende Auswahl schließt auch eine Zurüstung der zukünftigen Hirten durch geeignete Lehrer ein. In dieser Zurüstung handelt es sich vor allem um die lehrende Übergabe der apostolischen parathéké. An dieser Stelle wäre von der Bedeutung der Theologie für das Hirtenamt zu reden. Jene prüfende Auswahl verlangt nicht nur, daß die Prüfenden und Auswählenden mit dem Charisma der Geistunterscheidung

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begabt sind, sondern daß sie auch in der Kette derer stehen, die die parathéké in ihrer apostolischen Lauterkeit bewahrt haben.

Der so Geprüfte wird vor die gottesdienstlich versammelte Ekklesia gestellt. In ihr und mit ihrer Mitwirkung wird er in die öffentliche Ausübung des Predigtamtes und damit in das missionarische Hirtenamt eingesetzt. Die Mitwirkung der Gemeinde besteht vor allem in der Billigung der vollzogenen Auswahl. Diese Billigung ist nicht nur ein Stillschweigen, sondern kommt in der Fürbitte für den Erwählten und in dem bestätigenden Amen zu seiner Einsetzung in einer dem Wesen der Gemeinde entsprechende Weise zum Ausdruck.

Die gottesdienstliche Handlung der Ordination wird notwendig folgende Momente einschließen: Bekenntnis und Gelübde des Ordinanden im Angesicht der Gemeinde und vor verantwortlichen Zeugen; Zuspruch des Wortes Gottes an den Ordinanden; Fürbitte für ihn und Handauflegung. Durch das zugesprochene Wort Gottes, durch Gebet und Handauflegung geschieht an dem Ordinanden von Gott her etwas Neues. Er empfängt eine geistliche Gabe, die er vorher trotz aller charismatischer Geeignetheit, die Voraussetzung für seine Erwählung war, nicht hatte. Er empfängt nach apostolischer Lehre durch diese von Menschen vollzogene Handlung in der Kraft des Wortes Gottes ein Charisma für sein Amt. Dieses Amtcharisma wirkt nicht ,magisch’ oder ,mechanisch’. Es will vielmehr wie alle Charismen von dem damit Begabten aufgenommen, personal angeeignet, geübt, angefacht werden. Dieses Charisma kann darum auch verkümmern. Der mit ihm Begabte kann gegen sein Amtscharisma handeln und dardurch diese Gabe des Geistes betrüben, dämpfen und bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Aber das, was in der Ordination von Gott her an ihm geschehen ist, kann er nicht rückgängig machen. Die Ordination wird darum auch nicht wiederholt. In dieser Hinsicht ist die Ordination in der Tat verwandt mit der Taufe. Die Ordination verleiht dem Ordinierten keine höheren Qualitäten in seinem Christenstand. Sie überträgt auch nicht eine Weihekraft zur Bewirkung bestimmter sakramentaler Handlungen. Aber sie schenkt ihm in der Kraft des Wortes Gottes,  durch Gebet und Handauflegung, ein unanschauliches, im einzelnen psychologisch nicht feststellbares, aber ihn in seinem Amt tragendes pneumatisches Fundament. Sie schenkt ihm damit gleichzeitig eine Vollmacht, die andere Christen nicht haben, also eine Vollmacht, die nicht aus der Taufe abgeleitet werden kann, die zwar die Taufe voraussetzt, aber allein durch die in der Ordination erfolgende Auswahl und Segnung erteilt wird, nämlich die Vollmacht zur öffentlichen Führung des Predigtamtes in seiner Fülle und Ganzheit. Darum sollten wir über die in der Ordination stattfindenden Segnungen nicht gering denken, sondern die darin vermittelte Gnadengabe mit Dank und mit Ernst annehmen.

Mit der Bevollmächtigung ist die auftragsgemäße Sendung gegeben.

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Diese Sendung ist nicht irgendeine Abordnung, sondern eben bevollmächtigte Sendung, der Entsendung eines amtlichen Botschafters vergleichbar. Der Botschafter steht als Gesandter an der Stelle seines Herrn. Für die Apostel gilt diese bevollmächtigte Stellvertretung sine conditione, für den Hirten gilt sie sub conditione, nämlich unter der Bedingung, daß er in der apostolischen parathéké bleibt und ihr gemäß sein Amt führt. Unter dieser Voraussetzung ist auch er Botschafter an Christi Statt und Vicarius Christi, dem das Wort des Herrn gilt: ,Wer euch hört, hört mich.’

Mit der Ordnung der Ordination hängt sehr eng zusammen die rechtliche Ausformung und Sichtbarmachung der Gemeinschaft der apostolischen Kirchen auf der Erde und der engere Zusammenschluß mehrerer örtlicher Ekklesien zu einem intimeren Verband.”

Die Kirchenrechtslehre findet hier alle Momente zusammengefaßt, welche sie in ihrer Struktur zu erhellen, zu erläutern und auseinanderzulegen hat:
die jurisdiktionelle und die ordinatorische Seite,
das Hirtenamt, aus der gottesdienstlichen Leitung entwickelt, Botenamt und Schlüsselgewalt,
das besondere Amt im Verhältnis zu den Charismen des Christen überhaupt,
den gestreckten Rechtsakt der Ordination i.w.S. als vocatio, benedictio und missio,
das Zusammenwirken von Amt und Gemeinde bei der Amtsbestellung,
den oekumenischen Zusammenhang.

Es ist kein sachlicher Gegensatz, wenn die Kirchenrechtslehre die Dinge stärker unterscheidet und präzisiert. Sie hat im Verhältnis zur Positivität der dogmatischen Aussage in ihrer eigenen Dogmatik die Aufgabe, die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge herauszustellen, durch welche sich spezifische Mißbildungen, Grenzüberschreitungen und Mißverständnisse ergeben haben.

Die Brunnerschen Thesen decken sich weitgehend mit den „Grundlinien für die Ordnung des Amtes in der Kirche”,195 deren Begründung in Heft 11 der Schriften des Theologischen Convents augsburgischen Bekenntnisses (Fuldaer Convent) noch aussteht. Hier hat Brunner ja weitgehend bestimmend mitgearbeitet. Bemerkenswert ist die durchgängige Nebeneinanderordnung von Berufung und Ordination. Offenbar wird hier versucht, die Schwäche einer einseitig vokatorischen Ordinationslehre auf Grund der neueren biblischen Erkenntnisse auszugleichen.

Brunner hat dann weiter den Bereich der repraesentatio in der kephalé-Struktur von den Verrichtungen konkret abgehoben, welche der Frau in der Gemeinde übertragen werden können. Diese Frage berührt sich als Unterscheidung innerhalb des amtlichen Handelns auch mit der Frage nach dem Recht der „Laien”.

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Er weist der Frau zu:
1. die christliche Unterweisung (Konfirmanden-Gruppenunterricht, Bibelstunden)
2. Vollzug von Taufen (über deren Zulassung durch den Hirten der Gemeinde entschieden ist) und Austeilung des Kelchs beim Abendmahl (unter Anknüpfung an eine liturgische Funktion des Diakonen in der alten Kirche)
3. Hausbesuche, Krankenbesuche, Einzelseelsorge, bes. an Frauen
4. Andachten in Häusern und Anstalten
5. Mitwirkung bei der Ausbildung von Katecheten, Diakonen usw.
6. Theologische Arbeit.
(abgekürzt wiedergegeben)

Dem Hirtenamt behält er unter dem Gesichtspunkt der kephalé-Struktur folgende Verrichtungen vor:
1. Die Predigt
2. Die Leitung des Gottesdienstes
3. Die Verwaltung des Abendmahls in diesem Gottesdienst
4. Entscheidung über Abendmahlszulassung, Exkommunikation und Rekonziliation
5. Absolution im Beichtgottesdienst
6. Konfirmation und Ordination
7. Wächteramt über die übrigen Ämter in der Ortsekklesia
8. Das Oberhirtenamt.

Mit Recht sagt er, daß die Abgrenzung im genaueren erst aus einer Lehre über die einzelnen Verrichtungen zu gewinnen sei. So würde ich die Predigt nicht ausnehmen.

Es ist ersichtlich, daß sich hier mehreres sinngemäß verbindet: die dem Hirtenamt speziell zukommenden Tätigkeiten, sowie deren Aufsicht über solche, welche an sich auch dem Nicht-Amt zukommen (Zulassung zur Taufe, soweit sie fraglich ist). In den der Frau zugewiesenen Tätigkeiten stehen solche, die dem Gemeindeglied überhaupt ohne Ordination zugänglich sind, neben solchen, welche Teilfunktionen des Amtes, nicht an die kephalé-Struktur gebunden sind. In den verschiedenen Zusammenfassungen schwanken die Aussagen über die Absolution; einmal ist die Privatbeichte, einmal nur die öffentliche Absolution dem Amt zugewiesen. Das ist angesichts der geschilderten Probelmentwicklung nicht verwunderlich. Besteht erst einmal die Bereitschaft zu einer von Vorurteilen freien, sinngemäßen Differenzierung, so  wird sich auch diese Frage in Übereinstimmung klären.

Luther hält an dem biblischen Predigtverbot für die Frauen fest und begründet es mit einer Reihe von Erwägungen. Es entspreche der Natur- und Schöpfungsordnung, welche durch die Erfahrung bestätigt und durch das Evangelium nicht aufgehoben sei. In der Schrift von Schleichern und Winkelpredigern von 1532 nennt er es eine Anordnung des Heiligen

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Geistes wie ein Herrengebot: „aber in der Gemeine oder Kirche, da das Predigtamt ist, sollen sie schweigen und nicht predigen, sonst mögen sie wohl mit Beten, Singen, Loben und Amensprechen und daheim lesen und sich untereinander lehren, vermahnen, trösten und auch die Schrift auslegen, das Beste, daß sie immer können.” 196 Ferner führt er Schicklichkeit und Anstand, Ehre und Zucht an, welche in den damals geprägten Begriffen „honestas” und „ordo” ein noch stärkeres Gewicht, einen anderen Klang hatten als heute. Wo nur Frauen sind, wie in Nonnenklöstern, soll ihnen das Predigtamt gestattet sein, ebenso im Notfall, wenn nur noch Frauen oder keine tauglichen Männer da sind.197 Von der Verwaltung des Abendmahls ist nie die Rede. Sie steht offensichtlich außerhalb der Erwägungen.

„Man leugnet die biblische Auffassung vom Menschen, die im Geschlecht einen wesentlichen Teil des Menschen sieht, man vergißt die ernsthafte theologische Aussage des Paulus über die Rangordnung der Geschlechter, man übersieht, daß Christus Mann und nicht Frau geworden ist, und man bekämpft die Überlieferung der Kirche von anderen Grundlagen als von der Schrift her, wenn man Frauen zum Pfarramt ordiniert. Wenn wir an diesem Punkt weniger zögerten, brächten wir viel mehr Willen und Phantasie auf, um für Frauen Ämter zu finden, die ihre Natur nicht verfälschen und sie entsprechend zu ordinieren.” 198

Die Frage der Frauenordination ist in den heutigen reformatorischen Kirchen schon weitgehend durch  die Entscheidung zur Vollordination präjudiziert, welche freilich, soweit ich sehe, fast nirgends zur Übertragung der Gemeindeleitung geführt hat. Auch die ordinierte Frau amtet in einer konstituierten, von Männern geleitete Gemeinde. Stillschweigend geht die Behandlung der Frage immer noch von der fatalen und kurzfristigen Annahme aus, daß es sich um eine das Gesamtbild nicht verändernde Ausnahme- und Minderheitssituation handele (im Gegensatz etwa schon zum Lehrerberuf). Es verknüpfen sich mit der Frage heute schwerwiegende soziologische, anthropologisch-biologische und sozialpsychologische Tatbestände, die Beachtung fordern. Eine sachgemäße Lösung, die nicht einfach die Projektion wesentlich zeitbedingter Faktoren darstellt, wird freilich solange unmöglich sein, wie die Vorstellung des Vollamtes maßgebend ist, demgegenüber es dann nur Minderämter gibt. Diese Vorstellung ist eine scholastische Konzeption, welche unter Verlust wesentlichen in ihr aufbewahrten geistlichen Gewichtes bei uns dann sowohl funktional wie akademisch verengt worden ist. Solange nur die Alternative „Vollamt oder kein Amt” besteht, können die studierten Theologinnen kaum anders, als den Geltungsanspruch ihrer akademischen Laufbahn zu vertreten. Die Vorstellung einer Ausgliederung des einen Amtes ist ein Notbehelf, mit dem das Notwendige ermöglicht werden soll, ohne die dogmatisch festgelegte, um nicht zu sagen festgefahrene Vorstellung des einen Amtes

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in Frage stellen zu müssen. Wenn aber das Amt selbst — als ein legitimer, dogmatischer, aber deswegen sekundärer, nicht biblischer Begriff — sich biblisch in einem charismatischen Tatbestand gegründet sieht,199 so müßte die Unterschiedlichkeit der Dienste und Verrichtungen eben als originäre verstanden und begründet werden. Es kommt der Frau nicht zu, was ihr nicht gegeben ist. Daß jedem Menschen bzw. jedem getauften Christen virtuell alles gegeben ist, ist eine der Bibel direkt widersprechende Annahme.

Die streng ontologische Aussage Brunners ist vielfach als eine nicht voll überzeugende Abstraktion empfunden worden. Sie muß sicherlich im Zusammenhang mit dem von ihm nicht angezogenen Begriff der repraesentatio gesehen werden. Daß die Frage ontologische Aspekte hat, zeigt das Wort von Karl Barth, es sei die Frau für die menschliche Natur als solche ebenso bezeichnend wie der Mann für die menschliche Geschichte.200 Wo also das Handeln der Kirche keinen geschichtlichen Charakter mehr trägt, kann gewiß auch die Differenzierung der Geschlechter nicht aufrechterhalten werden.

Andererseits liegt die Schwierigkeit der biblischen Sätze über das Schweigen der Frau in der Gemeinde (1. Kor. 14) darin, daß die Worte des Apostels das schwerste Gewicht der Grundsätzlichkeit besitzen, aber doch zugleich Entscheidungen in ganz bestimmten Situationen, insbes. der korinthischen Gemeinde, sind. Die Legitimität der auch Frauen zuteilwerdenden Geistbegabung war nicht zu bestreiten, umgekehrt zeigte sich in voller Deutlichkeit die besondere Anfälligkeit von Frauen gegenüber gnostischen Schwärmereien. Paulus hat diese Gefahr einerseits durch die Zurückdrängung der Frau in die Häuslichkeit, andererseits durch die Aufrichtung eines Christusnomos von den Schöpfungsordnungen her abgewiesen.201 Das wäre nicht möglich, wenn aus Gal. 3, 28 als fundamental-a-priorischer Aussage über eine eschatologische Gleichheit der Geschlechter die Bedeutungslosigkeit aller Unterschiede für die oikodomé der Gemeinde zu folgern wäre.

Wenn sich diesem paulinischen, antignostischen Schöpfungsnomos später fremde Elemente beigemengt haben, so kann er doch nicht so abgetan werden, als sei Paulus ein Professor der Theologie, der sich auf eine metaphysikverdächtige Ordnungsontologie eingelassen hat.

Wenn dieses kategorische „non-expedit” des Apostels die Frage offenläßt, ob auch die konkreten Folgerungen daraus noch dieselbe Kraft besitzen, so wäre zu prüfen, ob die gleiche Anfälligkeit vielleicht aus anderen Gründen heute besteht, nicht aber ein sicherlich gänzlich unbiblischer Gleichheitsgrundsatz in Analogie zum modernen Verfassungs- und Amtsrecht aufzustellen. Auf alle Fälle könnte der Frau höchstens das zugelassen werden, was ihr vor jener Entscheidung des Apostels zustand und offenstand. Auch bei unverkürzter Wirksamkeit der charismatisch begabten Frau in Gemeinde und Mission ist weder von

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Gemeindeleitung noch vom Vorsitz in der eucharistischen Feier jemals die Rede gewesen. Darauf bezieht sich Paulus überhaupt nicht, weil es gar nicht zur Debatte stehen konnte.

Die Veränderung liegt in Wahrheit nicht in der Stellung der Frau. Denn diese hat jedenfalls bis zu der Entscheidung des Apostels eine sehr freie und vielfältige Wirksamkeit in der Gemeinde ausgeübt. Aufgeworfen wird vielmehr die Frage durch ein verändertes Verständnis von Gemeinde und Gottesdienst. Wenn — wiederum nach Käsemann — in den paulinischen Gemeinden die Wortverkündigung so in das sakramentale Geschehen eingebettet und ausgerichtet ist, daß zwar von einem sacramentum audibile, nicht aber vom verbum visibile gesprochen werden kann,202 so begrenzt sich die Frage auf die Zulassung zur Wortverkündigung unter selbstverständlichem Ausschluß von Gemeindeleitung und eucharistischem Vorsitz. Vor der Entscheidung des Apostels ist die Frau jeweils eine unter den verschiedenen Charismatikern, die in der Gemeinde zu Worte kommen, und die der Einordnung und Begrenzung bedürfen. Erst wenn das Bild der paulinischen Gemeinde, wie es Käsemann entworfen hat, völlig auf den Kopf gestellt wird, daß nämlich anstelle der vielfältigen Stimmen des Charismas das eine Predigtamt zu Worte kommt, und an die Stelle der Gemeindeleitung vom Sakrament her, die alle Verrichtungen und Geistäußerungen zusammenführt, die eine Predigt eines Amtsträgers als die entscheidende Gemeindeleitung verstanden wird, ist die heutige Frage möglich. Erst die Auflösung des Handelns der Kirche in die verbale Wörtlichkeit erzeugt die Frage. Solange die Verrichtungen der Kirche noch in etwa den Inhalt und das Verhältnis zueinander haben, wie in den paulinischen Gemeinden, verbieten sich Gemeindeleitung und Sakramentsverwaltung durch die Frau von selbst. Und wiederum ist es Käsemann, der mit der ihm eigenen Deutlichkeit dem Paulinismus der reformatorischen Theologie vorhält, daß dieser nicht einmal versucht hat, die Charismenlehre des Paulus in seinen Gemeinden zu verwirklichen. So wird plötzlich aus dem freien Charisma der Frau, welches neben anderen Raum verlangt, und das durch die apostolische Autorität in die hypakoé und das Schweigen verwiesen wird, die Vollmacht des apostolischen Amtes, welches die Charismen ordnen soll, welches kraft dieser Vollmacht zu reden erlaubt oder Schweigen gebietet. So mag die Frau reden, soweit Geist und Gaben sie legitimieren: das Amt der episkopé ist ihr versagt. Es wäre ihr auch dann versagt, wenn Paulus hierzu niemals ein Wort gesagt hätte. Wer sich also durch die Grundsätzlichkeit der Brunnerschen kephalé-Lehre, oder richtiger, durch ihre gewisse Ablösung aus der Situation beschwert fühlt, der halte sich an das von Käsemann entworfene (hinsichtlich des nomos Brunner nicht grundsätzlich widersprechende) konkrete Bild der paulinischen Gemeinden.

Die noch ausstehende gültige Klärung der Frage kann weder in der

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Verteidigung überlieferter Sozialstrukturen noch in der bloßen Übernahme und Vollstreckung der weltlichen Gegenwartssituation bestehen, sondern muß die Konkretion der biblischen Vollmacht in der Gegenwart als Ziel haben. Wenn die historische Emanzipation der Frau nicht nur ihre Autonomie und intellektuelle Entwicklung freigesetzt hat, sondern auch aktive geistliche Kräfte zur Auferbauung der Gemeinde, dann wird die Kirche diese Kräfte an ihrem Ort anzuerkennen haben — nicht weniger und nicht mehr wird sie zu tun verpflichtet und berechtigt sein.