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Kirche, Gemeinde und akademische Theologie als Verfassungsproblem

 

In der Evangelischen Kirche in Deutschland sind in der letzten Zeit zwei Protestbewegungen entstanden, die sich nach den neuesten Informationen einander angenähert, womöglich zu gemeinsamer Wirksamkeit vereinigt haben. Die eine Bewegung richtet sich gegen die Verantwortlichkeiten, welche die EKD, die Kirchenleitungen und Synoden in vielfacher Weise im politischen Bereich übernommen haben. Im besonderen Maße ist dieser Protest ausgelöst worden durch die Veröffentlichung der Vertriebenendenkschrift und das weite, überwiegend positive Echo, das diese gefunden hat. Es geht hier deutlich sowohl um die Sache wie um die Methode. Methodisch wird nach der theologischen Grundlage dieser Äußerungen und der Legitimation der Kirche gefragt, wobei zugleich an die legitime Aufgabe und Befugnis der Kirche zu Verkündigung und Seelsorge erinnert und appelliert wird. Es ist ein wenig der altbekannte Ruf von dem schlecht unterrichteten an den besser zu unterrichtenden Papst (oder Bischof). Sachlich macht sich bemerkbar, daß das ohnehin sehr unsichere, von heftigen Ausschlägen zwischen Überhebung und Selbstzerstörung gefährdete deutsche Nationalgefühl sich noch nicht wieder zurechtgefunden hat. Der Kirchenkampf führte zu einer harten Scheidung, einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Kirche und politischer Führung. Das war gerade für Deutschland — aber nicht nur für Deutschland! — etwas völlig Neues, seit insbesondere mit der Reformation eine enge Verbindung von kirchlichem und nationalem Bewußtsein eingetreten war. Diese innere Verbindung war fast noch wirksamer als die äußere, institutionelle Verbindung zwischen Kirche und Staat. Diese Erfahrungen des Kirchenkampfes sind jedoch von breiten Kreisen der Gemeinde, aber auch der für die politische Bewußtseinsbildung bestimmenden Schichten nicht oder nicht voll angenommen worden. Gegenüber dieser negativen Feststellung spielt das Fortleben nationalsozialistischer Gedankengänge eine gewisse, wenn auch oft überschätzte Rolle, zumal der militante Nationalsozialismus ja niemals kirchenfreundlich gewesen ist. Andererseits ist die kirchliche Verkündigung mit dem hier aufgeworfenen Problem nicht fertig geworden. Sie hat es jedenfalls nicht vermocht, hier zu verständlichen und überzeugenden

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Aussagen zu kommen. Konnte die Kirche keinesfalls zu der alten Verbindung mit dem Nationalbewußtsein zurückfinden, so bot sie doch in markanten Sprechern überwiegend und in einem solchen Grade das Bild der Distanz und kritischen Verneinung, daß die Nation als Gegebenheit und Problem zu verschwinden drohte.

Die andere Bewegung richtet sich dagegen, daß tatsächlich oder vermeintlich durch die Positionen der historisch-kritischen Theologie und ihrer Vermittlung in Predigt und Lehre ein anderes Evangelium mit dem gleichen Anspruch auf Glauben und Gefolgschaft verkündet werde als bisher. Auch diese Bewegung kennzeichnet einen von beiden Seiten her mißlichen Tatbestand. Kirche und Theologie haben Jahrzehnte hindurch versäumt, die Gemeinden mit unbestreitbaren Ergebnissen der Textforschung vertraut zu machen. Sie mußten ihre Hörer zu der Einsicht erziehen, daß sie die kanonischen Texte nicht schlechthin auf einer Ebene lesen und verstehen können. Dieses Versäumnis wird auch von sehr konservativen Auslegern beklagt. Erklärte Anhänger der historisch-kritischen Theologie gestehen sodann zu, daß die Verbreitung der hier gewonnenen Erkenntnis oft unter Vernachlässigung der einfachsten pastoralen Grundsätze, zuweilen geradezu mit Brutalität geschehen sei. Eine überhebliche Aufklärungshaltung gerade jüngerer Vertreter gegenüber einer angeblichen mangelnden Intellektualität und Aufnahmebereitschaft kam nicht selten hinzu. Die moderne Theologie ist kompliziert und anspruchsvoll. Aber wenn auch manche ihrer Vertreter ihre Hörer intellektuell überfordern, so ist doch die Meinung verfehlt, sie besitze von Haus aus ein höheres Niveau. Vielmehr erzeugt der theologische Existenzialismus primitive Ausdrucksformen im gleichen Maße wie andere Richtungen.

Auf der anderen Seite aber hat eine positivistische, am Text haftende, traditionelle Auslegung sich dem geistigen Wagnis der Schrift selber nur allzu oft entzogen. Es wurde nicht gesehen, daß die Frömmigkeits- und Denkformen sich wandelten und mit dem Evangelium selbst nicht gleichzusetzen waren.

Es ist nicht meine Aufgabe, zu den hier angeschnittenen Sachfragen Stellung zu nehmen. Beide Bewegungen werfen mit aller Deutlichkeit die Frage nach der verantwortlichen Autorität der Kirche in Sachen von Lehre und Verkündigung auf. Die damit verbundene Strukturfrage ist jedoch verhältnismäßig wenig behandelt worden. Ich versuche, sie im folgenden in einem ersten Durchgang in Angriff zu nehmen.

I. Als unter dem Pontifikat des Papstes Urban VI. (1378-1389) das

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große abendländische Schisma ausbrach, brachte dies für die lateinische Christenheit eine noch nie dagewesene Verwirrung mit sich. Die Legitimität kirchlichen Handelns war überall und von Grund auf in Frage gestellt. Der theologisch völlig substanzlose Streit erbrachte aber den negativen Beweis, daß die Organe des ordentlichen Kirchenregiments, Papst, Kurie und Kardinalskollegium nicht imstande waren, die Ordnung in der Kirche aufrecht zu erhalten. Damit verlagerte sich das Problem auf das höchste nichtständige Organ der Gesamtkirche, das Konzil. Erst nach einem Menschenalter gelang es, auf dem Konstanzer Reformkonzil die Kirchenspaltung beizulegen. Auch dies wäre nicht ohne die nachdrückliche und geschickte Wirksamkeit König Sigismunds möglich gewesen. Aber nur die causa unionis konnte durch die Wahl eines neuen rechtmäßigen Papstes, Martins V. Colonna, gelöst werden. Die causa reformationis, die Reformfrage viel auf das Papsttum zurück und blieb ein Jahrhundert hindurch ungelöst. Diese Entwicklung hat dem Jahrhundert der Reform in unserem Geschichtsbild den Stempel der Fruchtlosigkeit aufgeprägt. Als vielleicht unvermeidliche Vorläufer mühten sich unzulängliche Reformtheologen um eine Fülle sekundärer Fragen und Mißstände, ohne bis zum entscheidenden Zentrum durchstoßen zu können. Der Begriff der Reform selbst hat im Verhältnis zur Reformation einen ähnlichen Beigeschmack bekommen wie innerhalb der marxistischen Bewegung der Revisionismus im Verhältnis zur marxistischen Orthodoxie. Vielfach ist der zunächst aufbrechende Gegensatz in dem Verhältnis von Papsttum und Konziliarismus begriffen worden. Weder das eine noch das andere scheint mir die Lage wirklich zu treffen. In Wahrheit offenbarte sich in der Substanzlosigkeit des Schismas eine tieferliegende Krise; in dieser stellte sich die Entscheidungsfrage bereits sehr deutlich. Das Bischofsamt war nicht im besonderen Maße Gegenstand der Kritik. Der Zustand des Klerus und der Orden war im Ganzen bereits so reformbedürftig, daß die vielfach zu Fürsten gewordenen Bischöfe hier keine Ausnahme machten. Aber es zeigte sich, daß nächst jenen ständigen Organen der Kirche auch der Episkopat nicht mehr Träger der obersten Entscheidung war, wie es der Verfassungstradition der Kirche seit der Zeit vor Konstantin entsprach und sich bisher auf den großen Konzilien bewährt hatte. Dieser Lage entsprechend waren die Reformkonzile von Konstanz und Basel keine Bischofssynoden mehr. Die Bischöfe machten nur noch eine Minderheit aus. Sie ließen sich vielfach durch Prokuratoren vertreten. Mit diesen versammelten sich Prälaten und Kleriker des verschiedensten Rangs,

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Deputierte der theologischen Fakultäten und Sachwalter der politischen Gewalten. Jede modernen Versammlung wäre schon bei der Legitimationsprüfung gescheitert, da ein klares Berufungsprinzip für die Teilnahme dieser höchst unterschiedlichen Repräsentanten fehlte. Ebenso fehlte jeder Maßstab für das Stimmrecht und die innere Organisation der Versammlung. Man half dem ab, indem man nach dem Vorbild der Universitäten die Teilnehmer in die traditionellen Nationen gliederte und in diesem abstimmen ließ, wobei während der Papstwahl die Stimme des Kardinalskollegiums der einer Nation gleichgeachtet wurde. Die späteren Konzilien (Florenz 1438/39, das 5. Laterankonzil 1512/1517 und das Konzil von Trient 1546-1563) waren dann wieder im traditionellen Sinne Bischofssynoden. Aber erst das Trienter Konzil hat es vermocht, richtungweisend den restlichen Katholizismus theologisch neu zu formieren. Mit einer minimalen Besetzung von höchstens 100 Mitgliedern, wirksam durch eine kleine Zahl hervorragender Köpfe, lieferte es den Beweis, daß die Bisschofssynode imstande war, die erforderliche Reform auch theologisch durchzuführen. Die kirchenpolitischen Entscheidungen im engeren Sinne fielen freilich erst, nachdem sich über den Kopf und hinter dem Rücken des Konzils Papst und Kaiser verständigt hatten. Trotzdem war klar, daß weder das Papsttum noch die Kurie und die Kardinäle die Autorität, die moralische Energie und die theologische Kapazität besessen hätten, um diese historische Leistung zu vollbringen. Nachdem diese Bisschofssynode die Kirche der Gegenreformation neu formiert hatte, führte 400 Jahre später die wagemutige Entfesslung konziliarer Kräfte duch Johannes XXIII. die Kirche, wenn auch spät, aus dem Zeitalter der Gegenreformation hinaus und in eine neue Epoche hinüber. Erneut wurde der Beweis geliefert, daß nicht das Papsttum, sondern das Konzil die epochenbildende Kraft der Kirche ist. Es erwies sich, daß auch die Vollgewalt des Papsttums in Wahrheit nicht konstitutive, sondern nur regulative Bedeutung besitzt.

Die Entscheidungsfrage aber war, ob die bischöfliche Verfassung der Kirche aufrechterhalten und, wo unwirksam geworden, wieder hergestellt werden sollte oder nicht. Wurde sie aber nicht wieder hergestellt, blieb sie im Zustand der Zerstörung wie auf den Reformkonzilien, so stellte sich unausweichlich die Frage, was an ihre Stelle treten könnte. Das Gesetz des Vakuums mußte sich unerbittlich bemerkbar machen. Denn ein Vakuum duldet die Geschichte nicht. Die Geschichte vollzieht sich auch nicht so, daß schriftgetreue Theologen in ihrer Studierstube ermitteln, was rechte Ordnung der

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Kirche sei, um diese dann nach bestem Vermögen zu verwirklichen. Die Kirche als Stiftung mitten in der Geschichte, als Institution, ist immer schon vorgegeben, und nur mit bereits vorhandenen Mitteln und durch ihre Umbildung kann sie weitergebildet und auch gereinigt werden. Fiel das Bischofsamt als durchgängige Grundstruktur der Kirche, so blieben nur zwei Möglichkeiten. Die Kirchenverfassung konnte sich kongregationalistisch auf die vorgegebene Gemeinde stützen — auf ein nach Ernst Wolfs kompetenten Urteil gänzlich unreformatorisches sogenanntes „Gemeindeprinzip”. Vermied sie dies, so mußte sie die eingetretene Lücke mit Ersatzinstitutionen ausfüllen. Diesen Weg ist jedenfalls die Reformation in Deutschland gegangen, wobei ich von einer Betrachtung der Gesamtentwicklung des Protestantismus absehe. Als solche Ersatzinstitutionen boten sich die Fürsten und Magistrate auf der einen, die Universität mit ihren theologischen Fakultäten auf der anderen Seite an. Diese Möglichkeiten wurden auch ergriffen. Die seit Konstantin dem Großen bestehende Schutzherrschaft des Staates über die Kirche gewann durch die Zusammenfassung sehr verschiedener Rechtstitel im Landeskirchentum eine sehr viel stärkere Ausdehnung, als sie jemals besessen hatte. Denn da die Fähigkeit der Kirche zu eigener Rechtsbildung ins Zwielicht geraten war, wurde die Staatsgewalt in viel höherem Grade als je zuvor Quelle oder mindestens Stütze der Kirche und des Kirchenrechts. Ich habe diesen Zustand an anderer Stelle mit dem Vergleich des „Spalierobstes” gekennzeichnet, zu welchem die Kirche an der Mauer des Staates wurde. Das Schema aber, die Konzeption, welche dieser Entwicklung zugrunde lag, lieferte nicht der Staat, nicht die Magistrate, nicht das Fürstentum mit seinen sich bildenden modernen Verwaltungsformen, sondern die Universität.

Die abendländischen Universität ist die Fleischwerdung der civitas platonica. Sie kann sich weder politisch noch ökonomisch selbst behaupten. Ihr Vermögen zu politischer Integration auch nur im Sinne moralischer Einmütigkeit ist, wie wir in den letzten Jahrzehnten bis zur gegenwärtigen Bildungspolitik deutlich erlebt haben, außerordentlich gering. Ökonomisch fällt sie, ohne Subsistenzmittel eigenen Rechts (im Gegensatz zur früheren Ausstattung mit Stiftungsbesitz) sofort dahin, wenn die Etatmittel der Träger auch nur einen Moment aussetzen. Gleichwohl kopiert sie traditionell als eine Republik von Gelehrten die Römische Republik. Wenn auch nur ein einzelner Rektor, so ist er doch ein Jahreskonsul mit einem Senat, dem die Liktoren das Zepter seiner Würde vorantragen und der sich mit

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fürstlichem Zeremoniell umgibt. Das Bewußtsein, akademischer Bürger zu sein, ist erst in den letzten Jahrzehnten allmählich geschwunden. Der Student hat etwa eine Entwicklung durchgemacht wie der Soldat zum Bürger in Uniform. Um so deutlicher ist in alledem die Scheidung zwischen Außen und Innen. Die geistigen Geschäfte der Wissenschaft werden mit größtmöglicher Wahrung der Autonomie nach grundsätzlich eigenen Maßstäben wahrgenommen. Das Außen der Unterhaltung kann um so deutlicher den Verwaltungsstellen überlassen bleiben, zumal die akademische Verfassung für eine rationelle Verwaltung völlig ungeeignet ist. Dieses Schema aber eignete sich in hervorragendem Maße für eine Neuverfassung der Kirche. Dem Evangelium der Wissenschaft entsprach das Evangelium der Verkündigung, dem Gesetz aber die Überlassung der äußeren Geschäfte und der Unterhaltung an die weltliche Obrigkeit.

Es hat etwas von einer tragischen Ironie an sich, die radikal theologisch gemeinte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium so glatt und selbstverständlich in dieses platonische Schema übergehen zu sehen. Das primäre Subjekt der Verkündigung aber war die akademische Theologie, welche die Prediger ausrüstete und ausbildete. Die historische Bekenntnisbildung der Reformation ist ja nicht durch die Fakultäten als solche erfolgt. Sie geschah durch Arbeitskreise von Theologen, unter denen sich zahlreiche Universitätsprofessoren, wie vor allem Luther und Melanchthon befanden. Diese Kreise trugen jedoch nicht im strengen Sinne akademischen Charakter. Entsendung und Legitimation der Mitglieder beruhte vielmehr regelmäßig neben der persönlichen Autorität auf Bevollmächtigung durch die der Reformation geneigten Rechtsstände. Diese Gremien ganz eigener Art, die sich im Fortgang immer stärker an die Fakultäten anlehnten, sind mit der Abschluß der Bekenntnisbildung, praktisch mit der formula concordiae, als zeitweilige Hilfsinstitution untergegangen. Seither gab es nur noch die theologischen Fakultäten, welche die Tradition der theologischen Hauptrichtungen in ziemlicher Geschlossenheit vertraten. Nicht dagegen gab es wirksame Organe, welche über eine lokale Kompetenz hinaus Lehre und Verkündigung der Kirche im Konnex mit der Gesamtkirche, ja auch nur der Kirche deutscher Zunge wahrnahmen und vertraten. Durch den Bekenntnissatz, daß die Kirche sei, wo recht gepredigt und die Sakramente stiftungsgemäß verwaltet würden, wurde das Schwergewicht der Kirche so sehr in die lokale Instanz der einzelnen Gemeinden verlegt, daß für die Wahrnehmung übergemeindlicher Aufgaben, für den gemeinsamen Vollzug theologischer Entscheidungen vor

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und oberhalb der jeweiligen Verkündigung kein Ansatz, keine theologische Basis, kein Raum blieb. Auch der Visitationsgedanke als der Kern des im Luthertum enthaltenen Bischofsamtes war ausschließlich vertikal von oben nach unten auf die konkrete Verkündigung in der einzelnen Gemeinde ausgerichtet. In diesem Sinne wird noch heute der Gedanke der Visitation vertreten. Aber wie die Visitatoren zu ihren Grundsätzen und Richtlinien kommen, wie sie sich untereinander verhalten, steht dabei außerhalb der Erwägung. Nicht einmal ein Ansatz besteht zur Lösung dieser Frage.

Während der Reformation war unter bedenklicher Vernachlässigung des ökumenischen Charakters der Kirche ein deutsches Nationalkonzil gefordert worden. Es war das stillschweigende Eingeständnis, daß die anderen Nationen der Reformation nicht zu folgen gewillt waren. Aber auch diese Forderung fiel umbemerkt dahin. Die Kirche versank im Partikularismus der an Bedeutung immer mehr gewinnenden Territorien. Sie brachte es höchstens noch zu örtlichen geistlichen Ministerien. Von einer Synodalbildung mit Lehrkompetenz wie in den ständig wiederholten französisch-reformierten Nationalsynoden oder in Dordrecht 1619 war gar nicht erst die Rede. Eine bestimmte lutherische Konzeption hat versucht, den bürgerlichen Gebrauch des Gesetzes im weitesten Umfang aus dem 4. Gebot abzuleiten. So konnte sich die Vorstellung bilden, daß Fürsten und Magistrate ebenso eine (landes-)väterliche Gewalt über Staat und äußeres Kirchenwesen ausübten wie die leiblichen Väter über Familie und Hauswesen samt der anhängenden Ökonomie. Aber selbst die extremste Form patriarchalischer Rechtsordnung, welche wir aus der Rechtsgeschichte kennen, die römische, hat so etwas nie versucht. Denn die im römischen Senat versammelten Väter, die patres conscripti, waren als solche eben eine politische Genossenschaft von weltgeschichtlicher Größe und Wirksamkeit, aus deren Mitte Staatsmänner und Feldherren gewählt wurden. Hier war also eine horizontale Linie mit der vertikalen verbunden. Von allen solchen Strukturen aber war im konkreten Kirchenwesen keine Rede.

Es geht mir hier nicht um das heute durch Unkenntnis der Rechtsgeschichte verzerrte Problem des Patriarchats, sondern ausschließlich um die negative Feststellung, daß diese Konzeption einer konkreten Lehrbildung in der Gemeinschaft der Kirche entgegengestanden hat. Es wäre einmal wichtig, festzustellen, welche Ansätze, Möglichkeiten, Perspektiven durch dir einfache Übergehung in den maßgeblichen Texten und Beschlüssen ausgeschieden und jeder

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theologischen Bedeutung beraubt worden sind! Diese stillschweigenden Ausscheidungen sind von ebenso großer Wirkung wie die positive Dogmatisierung ekklesiologischer Grundsätze, etwa in den Artikeln V und VII des Augsburgischen Bekenntnisses. Die einzige nicht partikulare, sondern in etwa überregionale Größe, die der Kirche verblieb, waren die theologischen Fakultäten. Sie gehörten zwar jeweils ihrem Territorium und natürlich dem Verbande ihrer Universität an. Aber sie waren zunächst doch nicht nur Ansammlung von Lehrstuhlinhabern, sondern haben bis zum Ausgang der altprotestantischen Orthodoxie je in sich ein relativ hohes Maß an Gemeinsamkeit bewahrt, welche ihnen substantielle Äußerungen zu den theologischen Problemen ihrer Zeit ermöglichte. Im Gegensatz dazu gibt es heute keine einzige Fakultät mehr, welche imstande wäre, zu den eingangs berührten Problemen sich in materieller Übereinstimmung zu äußern. Sodann standen die Fakultäten im Horizont ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch nach dem Verlust der kirchlichen Universalität doch im ständigen Austausch mit den übrigen Fakultäten, so daß sich die theologische Lehrbildung in den Schul- und Richtungskämpfen vollzog, so etwa die Auseinandersetzungen zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten. Die Einheit der Kirche bestand also am ehesten noch in einem akademischen Horizont, aus welchem ja die Pfarrer und Amtsträger der Kirche hervorgingen und an welchem sie sich orientierten.

Was sich nun im Verfolg dieses Ansatzes bis in die Gegenwart herausgebildet hat, ist eine Art Monopolherrschaft der akademischen Theologie, welche jedoch keinem Kartellgesetz unterliegt. Die Bedingungen und Merkmale dieser Herrschaft kann man an sehr konkreten Tatsachen aufweisen.

Zunächst hat sich die akademische Theologie in der Reformation jeder Konkurrenz anderer Formen theologischer Arbeit entledigt, insbesondere der Ordenstheologie. Eine aus der Gemeinsamkeit geistlichen Lebens geborene und im gemeinsamen Wollen disziplinierte Theologie war durch den Verfall der Orden und in der Ablehnung des Mönchtums ein für allemal diskreditiert. Seitdem orientieren sich alle Formen theologischer Lehre und Forschung an dem akademischen Vorbild. Dieses ist unbeschadet des Korporationscharakters der Fakultät in der Struktur individualistisch. Der je einzelne Professor unterliegt keinem anderen Maßstabe und einer anderen Disziplin als denen der Wissenschaftlichkeit. Ebenso ist jeder Student ein Einzelner, der auch im Blick auf seinen zukünftigen Dienst in der Kirche in diesem Stadium keiner anderen Bindung

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unterliegt als der frei gewählten. Auf beiden Ebenen besteht noch nicht einmal ein Ansatz für ein Gegengewicht, eine Begrenzung. Die Fakultät vermag soziologisch und geistig nicht mehr und nichts anderes zu vermitteln, als sie selbst ist. Sie kann allein „Diener am Wort” ausbilden, indem sie die akademische Lehre auf die gemeindliche Verkündigung hin ausrichtet und sozusagen transponiert, ohne Richtung und Gefälle wesentlich verbalen Handelns zu verändern, also Pfarrer als Prediger einer hörenden Gemeinde. Schon die weitere Ausrüstung für das Gemeindepfarramt in Gottesdienst und Seelsorge, in Leitung und Geschäftsführung ist ihr weit weniger gemäß und daher unzulänglich entwickelt. Die immer zahlreicher werdenden übergemeindlichen Dienste in der Kirche sind vollends außerhalb ihres Horizonts; für diese besitzt sie keine ihr selbst wie der Sache angemessene Lehrmethode, kein Modell, keine Zielvorstellung.

Eine starke Minderheit der Inhaber von Lehrstühlen für praktische Theologie vertritt zudem die Meinung, ihre Wissenschaft habe um ihrer Wissenschaftlichkeit willen mit der Praxis der Kirche nichts zu schaffen — obwohl die Theologie als Gesamtdisziplin sich als praktische versteht — so unter Berufung auf eine große Tradition noch Otto Weber (✝) bei seiner Festrede zum Jubiläum des Heidelberger Katechismus (1963).

Die Fakultät konfrontiert sodann eine große Zahl von Studenten durchschnittlicher Begabung mit einem wissenschaftlichen Fach höchster Anforderungen, welche durch die Bedingung der Viersprachigkeit gekennzeichnet sind. Keine der Geisteswissenschaften, weder die Philosophie noch die Geschichte, noch die Philologie oder Jurisprudenz häufen die Anforderungen der Mehrsprachigkeit in vergleichbarer Weise mit systematischen, historischen und praktischen Fächern. Diese Anforderung, die das normale Vermögen der Verarbeitung nur allzu oft übersteigt, wird mit dem Anspruch verbunden und der Übung begleitet, über den Geist der nur unzulänglich beherrschten Sprachen und Kulturen, wie des Judentums und des Griechentums, Gesamturteile von einschneidender Wirkung zu fällen.

Aus diesem Personenkreis schöpft die akademische Theologie die wissenschaftlichen Begabungen in zunehmendem Maße ab. Die steigende Verunsicherung des Berufsbilds des Pfarrers trägt heute dazu bei, noch mehr aktive Intelligenzen als früher in der wissenschaftlichen Arbeit festzuhalten.

Durch diese Abschöpfung mediatisiert die akademische Theologie

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die nicht bei ihre verbleibenden Theologen. Die Verkündigung der Kirche als Zielbestimmung hängt konsekutiv und nachgeordnet an dieser Theologie, die einmal gelernt und übernommen wird. Sie vollzieht sich in einem partikularen Bereich, in welchem die bis dahin erörterte Grundsatzfragen nur noch unvollkommen erhoben werden. Auch der begabte und wissenschaftlich interessierte Gemeindepfarrer kann höchstens mit äußerster Anstrengung noch einigermaßen mit der rasch wechselnden Spitzentwicklung der Theologie Schritt halten, die überdies in zunehmenden Maße die Merkmale der Modebildung besitzt. So wird er unweigerlich in eine sekundäre Stellung gedrückt.

Zur Befestigung dieser Herrschaft und dieses Einflusses hat von vornherein die Tatsache entscheidend beigetragen, daß die Theologie trotz ihres hohen Anspruchs für die große Mehrzahl der Studenten ein Aufstiegsberuf ist. Sie stellt für diese Mehrzahl die erste Berührung mit einer differenzierten geistigen Tradition dar, welche überwältigend über sie herstürzt. Noch ehe der Student zu einer selbständigen Urteilsbildung kommt, ist er bereits mit einer erstaunlichen Effektivität geformt, welche sich in einer tiefgreifenden Habitualisierung bestimmter geistiger Haltungen ausdrückt, die nirgends sonst vorkommen und rational kaum aufzulösen sind. Die Zahl derjenigen, welche aus einer geistigen Tradition eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber diesem Einfluß zu bewahren vermögen oder wenigstens aus dem kirchlichen Lebensvollzug des Pfarrhauses eine Korrektur der Theorie im Blick haben können, macht eine abnehmende Minderheit aus.

Dieser hohe Einfluß wird noch dadurch gefestigt, daß das Sozialprestige des Professors in Theologie und Kirche eine Überhöhung erfahren hat, seitdem und weil die großen Reformatoren selbst Universitätsprofessoren gewesen sind. Es hat etwas Erschreckendes an sich, wenn die russische Religionsphilosophie in ihren apokalyptischen Visionen als Prototyp protestantischen Kirchenwesens nichts anderes darzustellen vermag als den standhaften Professor Pauli. Kein Zinzendorf, kein Wesley, kein Bodelschwingh, sondern eben dieses papierne Begriffswesen, dessen Verhältnis zur Füllen und Wirklichkeit des geistlichen Lebens der gesamten Kirche nicht mehr im Blicke ist. Man sagt mit einem nicht ganz grundlosen Scherz, daß selbst die einflußreichsten Kirchenfürsten sich vor dem Universitätsprofessor noch immer unwillkürlich in ihre einstige Lage als Examenskandidaten zurückversetzen. Dem entspricht auch die Tatsache, daß es für Verdienste in der Kirche als allgemein anerkannte

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Ehrung nichts anderes gibt als den theologischen Ehrendoktor. Wer ihn also erhält, bestätigt und stärkt die Jurisdiktion der akademischen Theologie über alles, was in der Kirche geschieht, indem er das für ihn Angenehme mit dem für das Sozialprestige der Fakultät Nützliche verbindet.

Dies alles sind deutliche Elemente der Herrschaft. Zu ihren wirksamsten Elementen gehört die Dissimulation, die folgerichtige Leugnung ihres Bestehens. Aus der Tatsache, daß wie die Universität überhaupt auch die theologische Fakultät weder ein politisches noch ein ökonomisches Interesse vertritt — soweit sie nicht etwa dazu versucht oder gezwungen wird —, wird fälschlicherweise gefolgert, daß sie überhaupt kein Interesse vertrete. In Wirklichkeit aber vertritt sie das Interesse ihrer Maßgeblichkeit. Diese Maßgeblichkeit ist aber damit verbunden, daß Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit als solche der systematischen und historischen Infragestellung oder Limitierung entzogen sind. Eher werden die Heiligen Schriften der Christenheit untergehen als dieses Tabu. Ganz gewiß wird die akademische Theologie ihre eigene historisch-soziale Position niemals selbst durchgreifend in Frage stellen.

Ein Freund der Kirchenreform aus dem Bereich der kritischen Theologie erwecke stille Heiterkeit, als er äußerte, es gebe zwar keine Strukturen der Kirche, auf denen man als notwendigen bestehen müsse; die wissenschaftliche Ausbildung der Prediger müsse aber freilich gewährleistet bleiben. Nicht nur die unendliche soziologische Naivität, sondern vor allem die Distanzlosigkeit gegenüber der eigenen Situation wird hier schlagend deutlich.

Es wäre jedoch ein Mißverständnis, wenn man annähme, daß die Kritik an dieser Herrschaftsstruktur der akademischen Theologie sich gegen Vorhandensein und Wirksamkeit der Theologie als solche wendete. Dies ist auch bei denjenigen Kräfte keineswegs der Fall, welche sich an den Ergebnissen und dem Verhalten dieser Theologie auf heftige und nicht immer gerechte Weise stoßen. Worauf die Kritik zielt, ist die Alleinigkeit dieser Theologie, ihr Monopolcharakter. Was hier fehlt, kann am leichtesten mit einem Vergleich der Jurisprudenz verdeutlicht werden. Die Jurisprudenz als akademische Wissenschaft ist im gleichen Zuge entstanden wie die Theologie. Auch sie ist eine dogmatische Disziplin, die sich unter hermeneutischen Problemen mit der Auslegung vorgegebener, maßgebender Texte beschäftigt. Es ließen sich noch mehr Berührungspunkte zeigen, welche der Besonderheit der Theologie keineswegs Abtrag tun. Aber die Jurisprudenz beruht nicht nur auf der einzigen Säule der

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Fakultäten. Von dem Vorsitzenden einer landgerichtlichen Kammer wird man im allgemeinen mehr Leitungsgabe und praktisches Judiz erfordern als von einem Universitätsprofessor. Auf den Typus bezogen ist ebenso sicher, daß der Universitätsprofessor in höherem Maße auf die Grundsätzlichkeit des juristischen Problems eingestellt ist, als auch der beste Instanzrichter in der Fülle der Tatfragen durchhalten kann. Anders dagegen ist es bei den obersten Gerichtshöfen. Kann der Instanzrichter als ein Praktiker verstanden werden, welcher der Theorie bedürftig und unterlegen ist, so steht die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe auf dem gleichen Niveau wie die wissenschaftliche Jurisprudenz. Beide nehmen sich nichts. Die Judikatur übernimmt gern und bereitwillig die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung, ohne sich von ihr abhängig zu machen. Die akademische Jurisprudenz verarbeitet ihrerseits die in selbständiger Begriffsbildung sich äußernde Rechtsprechung. So stehen beide in einem zirkulären Verhältnis, in welchem sie in freier Weise voneinander profitieren, ohne sich voneinander abhängig zu machen. Keinesfalls kann dieses Verhältnis zwischen Judikatur und Wissenschaft als dasjenige von Theorie und Praxis im üblichen Verstande begriffen werden. Dies gilt entsprechend wie für die Judikatur auch für die Spitzenpraxis des Völkerrechts, Staatsrechts, Verwaltungsrechts und aller übrigen Fächer. Die Jurisprudenz besitzt auch eine bedeutende und an großen Lebensfragen bewährte hermeneutische Tradition. Von dieser aus gesehen muß Ausdehnung, Form und Stellenwert der heutigen theologischen Hermeneutik als eine Aufblähung erscheinen, welche fruchtbaren Ergebnissen entgegensteht.

Eine solche Korrespondenz zweier unabhängiger Weisen der Urteilsbildung ist Kirche und Theologie abhanden gekommen. Mit einer theologischen Urteilsbildung, welche mit der akademischen in ernstzunehmende Konkurrenz treten könnte, wird überhaupt nicht gerechnet. Als die Lutherische Bischofskonferenz vor längeren Jahren unter Benutzung einer unzweifelhaft unzulänglichen akademischen Beratung versuchte, die auch uns hier beschäftigenden Probleme anzugehen, goß Friedrich Gogarten die volle Schale des Hohns über diese Anmaßung aus. Ein wahrhaft beschämender Vorgang, schon den bescheidensten Versuch einer Autoritätsbildung verantwortlicher Männer der Kirche zu ächten! Statt schonungslos jede tatsächliche oder auch nur vermeintliche Schwäche der Kirchenleitungen bei solchen Gelegenheiten aufzudecken und womöglich anzuprangern, wäre es das eigenste Interesse der akademischen Theologie,

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einen Gesprächspartner, ein Gegenüber zu gewinnen, welcher sie selber begrenzte und korrigierte.

Aber eben für diese Funktion sind alle Ansätze und Voraussetzungen durch Jahrhunderte hindurch mit der Wirkung abgeschnitten und vernachlässigt worden, daß sogar Verständnis und Empfindung für die Strukturen gemeinsamen Handelns durch Nichtgebrauch geschwunden sind. Diese Dystrophie kann nicht schnell wieder behoben werden. Zwar spricht eine berühmte Schrift Luthers einer christlichen Versammlung das Recht zu, über Lehre zu urteilen, aber wer und wo ist diese Versammlung? Ist es die einzelne Gemeinde? Diese kann im besten Falle einen fragwürdig predigenden Pfarrer bei der Wahlaufstellung durchfallen lassen. Im Falle einer Lehrbeanstandung ist mit Recht nicht sie, sondern ein Gericht von Theologen maßgebend. Sind diese Versammlungen die aus zwei Dritteln Laien bestehenden Synoden? Gewiß nicht. Wenn eine solche Synode sich sehr selten einmal mit Lehrfragen befaßt, so haben sich Präsidium und Kirchenleitung aus sehr guten Gründen bisher mit Erfolg bemüht, sie vor unbedachten und unfundierten Grenzziehungen und Verdammungen zu bewahren. Mit Interesse und Staunen hören die Laiensynodalen die Auseinandersetzungen, welche meist akademische Theologen vor ihnen austragen. Aber sie vermögen meist nur stimmungsmäßige Urteile zu fällen oder sich an dem Votum der ihnen besonders vertrauenswürdig erscheinenden theologischen Synodalen auszurichten.

Eher umgekehrt ist es in Sachen theologischer Ethik. Hier haben sich Kirchenleitungen und Synoden so oft und entschieden engagiert, daß die Zulänglichkeit der theologischen Begründung nicht selten fraglich sein kann und sich mit der Sachkenntnis der Nichttheologen am Ergebnis stößt.

Es geht hier nicht darum, die Bedeutung der Synoden herabzumindern oder ihre Legitimität in Frage zu stellen. Es geht allein um die Tatfrage, was sie zu leisten vermögen, in aktiver Entscheidung oder als ein Element recht verstandener Öffentlichkeit. Aber eben das ist die Frage, ob sie die Stellung ausfüllen, die sie nach Intention und Anspruch behaupten.

Beide eingangs genannten Bewegungen verfolgen nun, wenn auch auf verschiedenen Gebieten, methodisch verschiedene Tendenzen. Die eine sucht, vereinfacht gesagt, orthodoxe Positivität, die andere dagegen eher liberale Freiheit. Beide aber sind Ausdruck einer Verfassungsproblematik, die sich aus dem notwendigen Versagen der Ersatzinstitutionen ergibt, also aus der Tatsache, daß die Kirche ihre

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eigene geschichtliche Existenz noch immer nicht verbindlich übernommen hat. Dazu müßte die Ausbildung solcher Organe gehören, welche bestimmt sind, einer — notwendig freien! — akademischen Theologie als Gegenüber zu dienen. Das kann nur auf einer Ebene geschehen, auf der — wie in der oberen Gerichtsbarkeit — sich die Grundsatzfragen unter dem Entscheidungszwang stellen. Dazu ist unser Verfassungsaufbau wegen seines hauptsächlich provinziellen Charakters ungeeignet.

So ist auch die Basis für eine Auseinandersetzung zwischen akademischer Theologie der angefochtenen Richtungen und den Vertretern der sogenannten Gemeindetheologie von vornherein nahezu aussichtslos. Die Vertreter dieser Gemeindetheologie sind als Pfarrer Angehörige jener mediatisierten und schon immer vorweg abgehängten Gruppe, während die Beachtung des Vortums eines gebildeten Nichttheologen in solchen Fragen ohnehin nicht erwartet werden darf, er mag Ehlers, Thadden oder wie immer heißen und mit allen denkbaren Verdiensten um Verkündigung und Kirche geschmückt sein.

Diese Ungleichheit der Waffen, die Unvergleichlichkeit der Positionen und Ausgangspunkten belastet nicht nur sachlich die Lage, sondern verbittert auch die Beteiligten. Soviel hier etwa durch eine aufmerksame und verständnisvolle Information zur Ausräumung zweitrangiger Fragen und reiner Mißverständnisse geschehen mag, so wenig darf man davon eine eigentliche Klärung erwarten.

Bischof Lilje hat in einem sehr abgewogenen Hirtenwort zu Kirchentag und neuer Theologie darauf verwiesen, daß überall, wie eingangs erwähnt, nach dem Lehramt der Kirche gefragt wird, ohne daß hier zureichende Vorstellungen entwickelt werden. Ein solches kann gewiß nicht durch die künstliche Überhöhung irgendeines alten oder neu zu schaffenden Amtstypus erreicht und nachgeholt werden. Die Theologen der verschiedensten Richtungen versichern uns unzweifelhaft ehrlich, daß ihre wissenschaftliche Arbeit der Verkündigung der Kirche diene. Aber gerade diese so positive Aussage beantwortet in gar keiner Weise die heute durch jene Anfragen gestellten Frage. Im Gegenteil! Denn mit jenem Ziel ist ja die selbstverständliche Voraussetzung verbunden, daß die Verkündigung eben auf der wissenschaftlichen Theologie aufruhe, so daß von einer Begrenzung, einem Ausgleich, einem Gegenüber aus dem geistlichen Lebensvollzug der Kirche, aus dem Umgang mit der Schrift in unabhängiger Weise gerade nicht gerechnet wird.

Die Theologie als Wissenschaft trägt unvermeidlich Auswahlcharakter.

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Ihr steht aber in der Schrift ein lebendiges Ganzes gegenüber. In der modernen Industrie sind vielfach bisher unbenutzte Rohstoffe mit ebenso neuen Methoden verarbeitet worden. Der Abfall ging auf die Halden. Aber nicht selten zeigte sich, daß der Abfall noch wertvollere Rohstoffe enthielt als das Verarbeitete. Dies ist auch der modernen Exegese so gegangen. Ich sehe bei ihr trotzdem wenig Sorge, daß die von den Bauleuten verworfenen Steine sich als Eckstein erweisen können.

Die Theologie vertritt einen Autarkieanspruch. Sie treibt von jeher Apologie gegenüber ihren Gegnern. Von dem, was ihr unter Bejahung der theologischen Aufgabe andere Disziplinen kritisch sagen, läßt sie sich nur selten und ungern treffen. In summa: Das Gericht am Hause der Theologie vollzieht sich vor ihrem eigenen Forum. Sie vergibt sich ihre Sünden selbst, sofern sie sie erkennt.

Es geht also nicht um die inhaltliche Richtigkeit in großen und kleinen Fragen allein, sondern um das Verhältnis von wissenschaftlicher ratio und (heiligem) Geist (abgesehen davon, daß es immer wieder auch geistlose Wissenschaft gibt). Ist der Geist überall, die Spitze der kritischen Vernunft aber bei der Wissenschaft, so fragt sich, ob dieses Verhältnis nicht strukturell und konstitutiv ein Gegenüber unabhängiger Denker und Sprecher, eine gegenseitige Erkenntnis erfordert, ohne welche beide der Autonomie verfallen, der ratio einerseits, dem Herkommen und dem Zufall andererseits. So wird das Sachproblem zur Strukturfrage.

Demnach handelt es sich zugleich um ein sehr grundsätzliches, wie um ein sehr praktisches Problem. Das grundsätzliche Problem liegt in dem Durchdenken der Tatbestände und Zusammenhänge, von denen allein die hier notwendige Korrektur des Anspruchs wissenschaftlicher Theologie geschehen kann. Die praktische Seite der Frage liegt darin, daß die Organe entwickelt werden müssen, in denen wenigstens ansatzweise, auf dem Wege sorgfältiger, behutsamer Übung die Formen und Fähigkeiten ausgebildet werden, um diese Frage anzugreifen. Es ist deswegen so sehr bedenklich, daß keiner der bisherigen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland die Chance, ja die dringende Notwendigkeit der Entwicklung und des Ausbaues der als Verfassungsorgan bereits bestehenden Kirchenkonferenz, der Versammlung der Träger des leitenden geistlichen Amtes gesehen hat. Auf diese Frage habe ich schon in meinem Gutachten zur Verfassungsreform der EKD ebenso hingewiesen wie neuerdings Kirchenpräsident D. Sucker in einem Aufsatz über das von ihm vorgeschlagene protestantische Konzil.

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Die Lutherische Bischofskonferenz hat, vermittelt durch Bischof Prof. D. Meyer, wenigstens gelegentlich den Versuch der Konfrontation mit der akademischen Theologie gemacht. Das ist naturgemäß noch keine Lösung der Strukturfrage.

Wie weit sind wir von der Fähigkeit und Übung entfernt, Konzil zu halten und miteinander so zu arbeiten, daß wir zu verbindlichen Aussagen kommen! Sind wir nicht vielleicht in eine völlig geschichtslose Haltung verfallen? Kann denn jener dogmatisierte Partikularismus etwa so begründet werden, daß alles Notwendige in den Bekenntnisschriften entschieden, alles dort nicht Entschiedene aber in freier Jeweiligkeit entschieden werden könne? Das wäre doch eine Karikatur. Es wäre der volle Beweis, daß die ecclesia semper reformanda von ihrer Struktur und ihrem Selbstverständnis her vollkommen irreformabel ist. Denn indem sie die freie Kritik in ihr Selbstverständnis aufgenommen hat, hat sie zugleich die Kritik dieser Kritik, ihrer historisch-sozialen Formen, ihrer inneren Grenzen unmöglich gemacht.

Man konnte bis zum 2. Vatikanischen Konzil die Dinge in einer beinahe dialektischen Weise darstellen. Man konnte sagen, daß die Römische Kirche ein sich sogar als unfehlbar verstehendes Lehramt, aber keine wirklich freie akademische Theologie besitze, daß sie aber das Verhältnis beider nicht geklärt, sondern nur einseitig gelöst habe. Man konnte umgekehrt sagen, daß wir zwar eine freie akademische Theologie besäßen, aber nicht einmal ein Mindestmaß eines tätigen Lehramts, d.h. der verantwortlichen Wahrnehmung der Identität kirchlicher Verkündigung. Man konnte etwa daraus schließen, daß das Problem unlösbar sei, daß man entweder die Freiheit oder eine unevangelische Abhängigkeit wählen müsse. Mit Beschämung stellen wir inzwischen fest, daß kritische Beobachter des 2. Vatikanischen Konzils von einer vorbildlichen Zusammenarbeit zwischen Lehramt und wissenschaftlicher Theologie auf dem Konzil sprechen können. Die Lösung des Problems ist also offenbar nicht von vornherein unmöglich. Sie setzt freilich eine Reihe von Tugenden im Umgang miteinander, deren wir uns entwöhnt haben, damit zugleich aber den entschlossenen und deutlichen Willen zur Einheit voraus, der es sogar vermeidet, eine höchst unbequeme Minderheit durch Überforderung ihrer Toleranz in eine subjektiv aussichtslose Lage zu bringen. Wenn trotzdem wenigstens in großen Partien der Konzilsbeschlüsse markante und gültige Formulierungen von beträchtlichem Gewicht zustandegekommen sind, so gibt das zu denken, auch wenn eine nüchterne Beurteilung damit rechnet,

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daß dieses glückliche Verhältnis einen mehr transitorischen Charakter trägt, einen Durchgang darstellt, der möglicherweise so nicht festgehalten werden kann.

Karl Barth hat ohne nähere Begründung der Sorge Ausdruck gegeben, es möchte die virulente Entwicklung des modernen Katholizismus seit dem Konzil auf einen Protestantismus treffen, der entsprechende Kräfte nicht zu entfalten imstande sei. Er könnte die hier gemeinten Verhältnisse mit im Auge haben. Ihr sachlicher Grund könnte demnach in zwei Momenten seinen Grund haben: In der Verstümmelung und Verkümmerung der Strukturen, welche allein dieses notwendige Gleichgewicht in freier Weise zu halten und zu stabilisieren vermögen. Sodann in einem Mißverhältnis zur Geschichte. Wenn man sich angewöhnt hat, mehr oder minder große Teile, wenn nicht fast die ganze Kirchengeschichte bis in den Kanon der Schrift hinein wie eine Art Atommüll in das Meer der Vergessenheit zu versenken, wenn man andererseits zwar auf geschichtliche Vorentscheidungen zurückgeht, aber mit verbindlichen Entscheidungen der Gegenwart in Wahrheit nicht mehr rechnet, so wird man auch den Fragen nach der Übereinstimmung des biblischen Evangeliums mit der gegenwärtigen Verkündigung der Kirche keine faire und offene Antwort zu geben vermögen.