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Rechtsgeschichtliche Betrachtungen zu Shakespeares „Kaufmann von Venedig”

 

Ein sehr großer Teil von Shakespeares Dramen sind Rechtsdramen. Wie kein anderer Dichter hat er immer wieder um Gerechtigkeit und Gnade, um Recht und Macht, um den Sinn von Königtum und Herrschaft gerungen. Keiner der zahlreichen Juristen, die besonders in der deutschen Literatur eine Rolle spielen, Hoffmann und Eichendorff, Storm, Grabbe und Immermann haben sich in gleichem Maße von der eingestifteten Dramatik ihres Berufes ergreifen lassen. Einzelne von ihnen sind durch ihr Fach Erzähler geworden — keiner ein Dramatik des Rechts. Selbst für den Dr. jur. Goethe, Rechtsanwalt am Rechtskammergericht und Weimarschen Staatsminister, gilt dies nur sehr bedingt. Der „Faust”, hier fast allein stehend, ist vom Rechtsthema doch schon weit gelöst.

Es ist bei Shakespeare überall, besonders aber im „Kaufmann” erkennbar, daß er sich auf das genaueste mit Recht und Rechtsgang vertraut gemacht hat. So hält er, ebenso juristisch korrekt wie dramatische notwendig, Shylock vor Gericht an seiner Wahlerklärung fest, die seinen Anspruch unwiderruflich gewandelt hat. „Er hat’s vor offenem Gericht geweigert.” Diese Sorgfalt ist weder naturalistisch noch pedantisch, noch entstamm sie einem zufälligen Interesse. Für Shakespeare besitzt das Recht eine Würde, die nur durch die volle Ausschöpfung seines konkreten Gehalts gewahrt werden kann, der in der Rechtsgestalt selbst sichtbar wird. Darum nimmt er es ganz ernst und bringt es eben dadurch in seiner Fülle zum Leuchten, ohne die Gebrechlichkeit menschlicher Rechtsfindung idealisierend zu überdecken. Die sinnhafte Ganzheit der Welt, die für ihn dahinter steht, ist nicht konfliktlos, nicht flach, auch nicht in systematischer Rationalität einsichtig zu machen. Dahinter steht ein Glaube, dessen geistliche und säkulare Quellen nicht eindeutig zu scheiden sind.

Und doch kann dieser höchst weltliche Dichter über die Gnade mit einer Vollmacht sprechen wie menige Prediger.

Wie mächtig dieser Rechtsglaube Shakespeares ist, wird über die relative Bedeutungslosigkeit des Rechts in der klassischen und bürgerlichen Literatur hinweg erst in der modernen sichtbar. Das juristische Sujet tritt naturgemäß immer wieder auf. Aber niemand macht

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sich mehr die Mühe Shakespeares mit dem Recht. Rechtsphilosophische Reflexionen ersetzen nicht die künstlerische Gestaltung. Diese aber mißhandelt Recht und Rechtsgang, Personen und Gegebenheiten oft erbarmungslos. Nicht künstlerische Freiheit, sondern eine letzte skeptische Gleichgültigkeit führt dazu.

Daß Recht und Rechtsfindung miteinander mehr zu tun haben, als im Verhältnis von Mittel und Zweck begriffen werden kann, diese Einsicht ist verlorengegangen: der Prozeß hat im öffentlichen Bewußtsein seinen geistigen Rang verloren. So gleicht der literarisch dargestellte Prozeß meist mehr dem Kampfe Siegfried mit dem Drachen als einem sinnhaften Geschehen zwischen Menschen um einen sie versammelnden und scheidenden Gegenstand.

Es gehört zu der Weite und Lebendigkeit jener Rechtsanschauung, daß bei Shakespeare die Rechtsfragen nirgends spezialistisch oder als Grenzfall aus dem Zusammenhang des ganzen Lebens herausgenommen werden. Das gilt ganz besonders im „Kaufmann”. Welcher Glanz heiteren selbstgewissen Lebens wird hier entfaltet, durchzogen zugleich von einer tiefen Schwermut letzter Fragwürdigkeit, mit der das Stück thematisch einsetzt, wenn der glückhafte königliche Kaufmann beginnt: „Fürwahr, ich weiß nicht, was mich traurig macht.” Gewiß sind es nicht die Gefahren des Fernhandels, die ihn zutiefst beschweren. Diese Verbindung von Schermut und Heiterkeit gibt dem Ganzen, im glücklichen Ende nur verdeckt und nicht wahrhaft aufgelöst, seinen unvergleichlichen Reiz. Aber mitten in einem schweren Problemstück finden wir, leicht hingeworfen und mit der gleichen Leichtigkeit unvollendet gelassen, das schalkhafte Liebesduett des entlaufenen Paares Lorenzo-Jessica in der lauen Sommernacht, eines der schönsten Liebesgedichte überhaupt. Ein Problematik mit unverkürzter Härte, dem die Derbheit bis an die Grenzen der Roheit nicht fehlt — die stumpfe Banalität, die Aporie um ihrer selbst willen ist als künstlerischer Gegenstand noch nicht entdeckt. Diese Welt ist samt ihren unauslotbaren Abgründen immer noch sinnhaft und geht deshalb mit solcher Kraft in die sinnliche Anschauung über.

Im „Kaufmann” wird als einzigem der Rechtsdramen dem Beschauer eine quaestio juris vorgeführt und er genötigt, mitzudenken, mitzuentscheiden. Überall sonst handelt es sich um quaestiones facti. Bei der Aufdeckung der Sachverhalte löst sich der Rechtskonflikt fast von selbst. Das ist dem Nichtjuristen ungewohnt. Dieser sieht den Juristen ständig mit der Diskussion grundsätzlicher Rechtsfragen beschäftigt. Nichts ist falscher. Es gehört zu den großen Berufserfahrungen

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des Juristen, die dem Nichtjuristen notwendig verschlossen bleiben, in welchem Maß die Erhellung der Fakten — freilich über die Kettenbrücke zahlreicher scharfsinniger Relevanzurteile — das Urteil fast von selbst „erfließen” läßt. Das Urteil wird „liquide”. Nicht so hier. Deshalb hat der Kaufmann wie kein anderes Stück eine ganze Literatur juristischer Bearbeitungen ausgelöst, in der diese quaestio juris mehr oder minder losgelöst vom übrigen Drama abgehandelt worden ist.

Freilich liegt hier auch ein Problem. Bei allem Interesse am Recht ist die Rechtsfrage eben doch auch künstlerisches Mittel, um die großen Figuren ausgestalten zu können — Antonio wie Shylock, und vor allem diesen. Es ist fast ein Shylock-Drama — wenngleich die förmliche Bezeichnung als solches zu einer optischen Verkürzung führen würde und nicht zu rechtfertigen wäre. Das Rechtsdrama ist nicht mehr und nicht weniger als die Bedingung für die Darstellung der Charaktere. Fiele der Rechtsstoff wie eine Art Vorwand weg, so hingen auch die Charaktere in der Luft. Bei aller dichterischen Freiheit zur Gestaltung des literarisch legendären Stoffes, die vor jeder juristischen Beckmesserei geschützt werden muß, hat die Bearbeitung doch ihre Grenze dort, wo der Rechtsstoff aufhört, sinnvoll und damit innerlich schlüssig zu sein. Die sehr zahlreichen juristischen Bearbeitungen leiden fast sämtlich darunter, daß sie versuchen, unter Zugrundelegung der gegebenen und deshalb scheinbar nicht diskutablen Rechtslage das Urteil so zu gewinnen, als ob der Prozeß heute zu führen wäre. Eben das erweist sich als verfehlt. Aber worum geht es dann?

Der Dichter, der einen Stoff gestaltet, gleicht einem Juwelier, der einen Rohedelstein bearbeitet. Bekanntlich ist das nur unter Preisgabe eines Teiles der Substanz möglich. Der geschnittene Stein wird dann facettiert, mit farbiger Folie kunstvoll unterlegt zum Leuchten gebracht. In den verschiedenen zeitgenössischen Novellen, unter denen man die benutzte Quelle nicht mit Sicherheit feststellen kann, kommen sowohl der Fleischpakt wie die Gestalt des Juden vor, aber beide sind nicht notwendig miteinander verbunden. Diese Verbindung hat erst Shakespeare vollzogen und sie zugleich dramatisch und typologisch überhöht und gefüllt. Das ist aber erst durch eine weitere Hinzufügung möglich. Der Fleischpakt, ein erregendes, makabres Kuriosum in dieser Novellenliteratur, wird plötzlich von allen Beteiligten tödlich ernst genommen und forensisch respektiert. Ganz anders mindestens eine der Fassungen, welche der dramatischen

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Version sonst sehr nahesteht. Hier wird der Fleischpakt zwischen einem christlichen und einem jüdischen Kaufmann geschlossen. Aber der Gläubiger ist der Christ. Als die Schuldsumme verfällt, macht er die Haftungsklausel, wie es scheint außergerichtlich, geltend. Davon hört der Papst. Entrüstet über das ruchlose Abkommen, läßt er beide festsetzen und will sie am Leben strafen. Nur die Beteuerung mangelnder Ernstlichkeit und die Verwendung der Kardinäle retten sie. Beide werden gegen eine hohe Buße begnadigt, aber verbannt. Es mag sein, daß die Geschichte zum Ruhme Sixtus’ V. umgeformt worden ist, der wie eine Harun-al-Raschid-Figur durch sein strenges, persönliches Regiment die Volksphantasie lange Zeit beschäftigt hat. Interessant aber bleibt, daß die von Shakespeare buchstäblich hochgespielte Rechtsfrage hier sofort eine bündige Antwort erfährt, wenn auch im Stile der Kadi-Justiz, und zwar einfach dadurch, daß sie nicht in diesem Maß ernst genommen wird. Daß der Doge als der oberste Richter eines so berühmten Gemeinwesens in gespielter Sorge um den Ruf seiner Handelsgerichtsbarkeit zu urteilen zögert, ist wenig glaubhaft, aber sicherlich ein erlaubter Kunstgriff. Die sachliche Berechtigung der Rechtsfrage, ihre Schlüssigkeit und Tragkraft, an der die dramatische Peripetie eben doch hängt, bleibt problematisch.

Ein Emigrant, Hermann Sinsheimer, hat auf die Flucht aus Deutschland dem Entwurf eines Shylock-Buches mitgenommen, das posthum veröffentlicht worden ist1. Das Buch trägt apologetischen Charakter. Es ist freilich die Frage, ob ein weltgeschichtliche Erscheinung wie das Judentum eine solche Apologie nötig hat — nicht zuletzt gegenüber einem säkularen Genie wie Shakespeare. Ebenso stellt sich die Frage nach der Legitimation des Verfassers. Sinsheimer bemüht sich, die Mythenbildung in der Vorstellung vom Juden zu verfolgen und dieses Bild zu entmythologisieren. Aber die große gültige Gestalt, wie der Dichter sie geformt hat, bekommt er bei aller klugen Erwägung und mit dem erhobenen historischen Material nicht zu Gesicht. Er läßt sich sogar dazu drängen, in seltsamer Weise mit Shakespeare zu rechten. Die Forderung, auf der Shylock beharrt, sei ohnehin illusorisch, da niemand zunächst dem Herzen ein Pfund Fleisch ausschneiden könne, wenn sein Gegner nicht zufällig fettleibig sei — und dabei wird der damalige Kenntnisstand der Anatomie erhoben. Was dem Shylock-Bild die Gültigkeit und Größe gibt, das unablösbare


1 Vgl. dazu Elias Hurwicz, „Der Shylock Shakespeares” (Hochland 1962, S. 482).

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religiöse Element der Verhärtung durch das Gesetz in das Gesetz als eine extreme Möglichkeit der Verbildung, komt nicht zur Sprache. Wenn hier etwas apologetisch und kritisch auszutragen ist, wäre es die Sache eines konservativen Glaubensjuden vom Rang eines Hans-Joachim Schoeps, nicht eines liberalen, der die Substanz de religiösen tradition seines Volkes zugunsten einer aufgeklärten Religionsphilosophie längst preisgegeben hat. Das Judentum, aus dem er Shylock kommen sieht, ist ihm ebenso mythisch wie das Christentum, das jenen umgibt und in das er hineingezwungen wird. Menschheit und christliche Kirche würden viel verlieren, wenn das Judentum die Macht hätte, seine Ursprünge und seine Religiosität derart auszustreichen. Die verhängnisvolle Lage, die der Nationalsozialismus geschaffen hat, erlaubt es heute, solche Dinge unter dem fragwürdigen Motto zu vertreten, es solle Licht in die Finsternis gebracht werden. Der Herausgeber H. Braun verkennt selber nicht die philosophisch-historische Unzulänglichkeit dieses rationalistischen Glaubens und distanziert sich vorsichtig von einer Meinung, die er aus Respekt vor Haltung und Schicksal nicht befehden will. Darum geht es in der Tat nicht. Was hier letztlich als weltgeschichtliches Thema auszutragen ist, ist die Gesetzesproblematik des Paulus, um welche sich jüdische und christliche alttestamentliche Theologie zu mühen hatte und welche etwa in der Theologie des jungen Hegel in philosophischer Zuspitzung gefährliche Formulierungen gefunden hat.

Sinsheimer, selbst nicht Jurist, bringt eine Menge von rechtshistorischen Daten und rechtlichen Erwägungen, an die wir anknüpfen können, um unserer Frage nach der Schlüssigkeit des Rechtsstoffs im Drama weiter nachzugehen. Die Fabel vom Pfund Fleisch veranschauliche, so meint er, den Übergang vom rigor juris zur aequitas. „Das mittelalterliche Recht entstammt der römischen Antike.” Gemeint ist hier die Realhaftung. Die Feder des Rechtshistorikers sträubt sich, solche Sätze wiederzugeben. Die Ineinssetzung der Epochen und der Rechtssysteme sowie die Simplifikation der juristischen Tatbestände dient dem einen Schluß: die Fabel ist Mittelalter im Stofflichen und bedeutet seine Überwindung im fortschrittlichen, menschlichen Geist. Der Jude erscheint als Nutznießer des Unrechts, als mittelalterlicher Mensch in mittelalterlichen Geist. In der Fabel, nicht mehr in der dramatischen Lösung, habe der mittelalterliche Geist mythisch und stoffgebunden die eigene Schuld dem verhärteten Juden zugeschoben — die Qualifikation „mittelalterlich” genügt vollauf zum Verdikt. Diese rechtsgeschichtsphilosophische Ideologie,

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die eine Menge Stoff mit wenig Sachkunde auf einige summarische Wertungen zusammendrängt, hat wenigstens den Vorzug, auf die rechtsgeschichtliche Problematik des Dramas hinzuweisen, die meist vernachlässigt worden ist.

Der Prozeß Shylock contra Antonio ist in der Tat nur in einer Übergangszeit denkbar. Ein sittenwidriger Vertrag dieser Art käme heute gar nicht erst zur Verhandlung. Aber auch in einem Rechtssystem, welches die Leibeshaftung kennt, wird er nicht vorkommen. Ist die Leibeshaftung gesetzliche Folge, so braucht sie nicht vertraglich begründet zu werden, und sie wird es auch nicht. Die Leibeshaftung nimmt ihren Ausgang von der Tatsache, daß ursprünglich, wie auch Max Weber gezeigt hat, jede Klage eine solche ex delicto war. Die Nichterfüllung war eine Schuld, die nicht nur den Vertragsinhalt, sondern auch die bestehende personale Rechtsgemeinschaft tangierte. Die Leibeshaftung hatte auch ökonomische Gründe. Wie im biblischen Gleichnis machte sich der Gläubiger durch Verknechtung oder Verkauf des Schuldners bezahlt oder erzwang wenigstens die möglicherweise böswillig vorenthaltene Leistung (Schuldhaft). Ihre andere Wurzel war rächende Vergeltung für Rechtsbruch und Schädigung. Auf alle Fälle war sie Rechtsfolge, nicht Geschäftsinhalt. Damit aber würde ebenfalls der Rechtsstreit seine Dynamik verlieren. Das Auftreten des Fleischpaktes (nur literarisch verwendet, nicht rechtsgeschichtlich bezeugt!) zeigt das notwendig transitorische Miteinander zweier gegensätzlicher Rechtssysteme: der Realgeschäfte mit Realhaftung und des verkehrsrechtlichen Schuldrechts, welches sinngemäß die Haftung auf das geldwerte Vermögen der Partner begrenzt und mit steigender Konsequenz die Person aus dem Rechtsverhältnis ausklammert. Dieses Schuldrecht lastet dem Gläubiger unter zunehmender Beschränkung der Zugriffsmöglichkeiten in so hohem Maße das Geschäftsrisiko des Schuldners auf, daß ein großer Teil des theoretischen und praktischen Scharfsinns der Juristen noch heute darauf verwendet werden muß, um diese untragbaren Risiken abzusichern. Schon vor Sinsheimer haben Kommentatoren auf die mittelalterlichen Übung hingewisen, unverhältnismäßig hohe Konventionalstrafen als fiktiven Hauptinhalt des Vertrages zu verabreden, welche durch Leistung des eigentlichen, sehr viel geringeren Vertragsgegenstandes abgewendet werden konnten. Diese Disproportion in der Vertraggestaltung zeigt deutlich die Unsichheit im Übergang vom Realkontrakt zum verkehrsrechtlichen Schuldrecht. Nicht so sehr ius strictum und aequitas ringen hier miteinander wie vielmehr der Geist verschiedener Rechts- und Sozialepochen. Im

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übrigen waren zur fraglichen Zeit die eingreifenden Formen der Leibeshaftung zum größten Teil seit unvordenklichen Zeiten außer Gebrauch — wenn auch nicht aufgehoben, so doch durch Rechtsbehelfe gehemmt. So wird erneut fraglich, inwieweit überhaupt der Fleischpakt über das literarische Interesse hinaus rechtliche Bedeutsamkeit besitzen kann. Aber es fällt auf, wie schwer sich alle Beteiligten tun, über die skandalöse Haftungsklausel hinwegzukommen. Der gute Sinn des ius strictum liegt in der strengen Begrenzung und Identifizierung des Vertragsgegenstandes in wenigen, institutionell und typologisch klar festgelegten Vertragsformen. Das schuldrechtliche Prinzip der Vertragsfreiheit mit beliebig gestaltbarem mündlichem oder schriftlichem Geschäftsinhalt verträgt sich nicht mit dieser Rechtsform. Aus der sinnvollen Eindeutigkeit des Rechtsritus wird die formalistische Textauslegung. Nunmehr entsteht erst der Gegensatz von Sinn und Buchstaben. Gerade die Auflösung des älteren Rechts bringt vermöge der Langsamkeit des Umdenkens die Verbildung des Neuen. Aber man ist nicht mehr ganz im Alten und ebensowenig schon voll im Neuen; daher die Schwierigkeiten, aber auch die dramatischen Möglichkeiten.

Was hat nun das alles für einen menschlichen Sinn, da uns der Dichter gewiß keine rechtsgeschichtliche Studie vorführen will? Zwischen Antonio und Shylock besteht durch das ganze Stück ein leidenschaftlicher Antagonismus; ihr Handeln ist streng aufeinander bezogen. Beide beginnen ökonomisch. Aber Geltungsbedürfnis und Selbstentfaltung treiben sie von dieser Ausgangslage in das ökonomisch Sinnlose hinüber, so wie Fechter in der Hitze des Kampfes die vorgezeichneten Plätze verlassen. Antonio hat mit viel Glück sein nobles Handelswesen unter öffentlicher Anerkennung betrieben. Shylock kommt zu Reichtum durch verachteten, dem Christen verbotenen Wucher. Antonio schädigt ihn durch billiges Geld und bezeigt ihm ohne Not seine Verachtung. Shylock speichert bewußt seinen Groll. Antonio, von stärksten Risiken bedroht, spann seinen Kredit um äußersten, um dem Freunde zu helfen. Hier beginnt er bereits, unökonomisch zu handeln. Er selbst verschmäht es, feudale Lebensformen anzunehmen, wie es seine Standesgenossen im Zeitalter des frühkapitalistischen Fernhandels fast durchweg taten. Er ist, wahrhaft großartig, als Kaufmann sich selbst genug. Aber er räumt doch ganz unkaufmännisch dem ritterlichen Freund einen völlig unproduktiven Konsumtivkredit ein. Shylock übernimmt ebenso unkaufmännisch, selber er unter Überspannung seiner Mittel, das ungedeckte Risiko, weil er die Chance einer blutigen Rache sieht. Er kann

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es sich noch eher leisten als der alles wagende Antonio. Dieser verstrickt sich menschlich und finanziell, weil er nicht zugeben will, daß auch seine offene Liberatität im Moment der Gefahr ihre Grenzen hat. Shylock, schon haßverhärtet, wartet seine Stunde ab. Als Antonio falliert, sichert Shylock seine Rache, indem er — wieder ganz unökonomisch! — vor Gericht die Fleischbuße vor der Bürgschaftssumme wählt. Man sieht, wie schwer es ist, die Klippen im Rechtsgang selbst zu vermeiden, welche die Dramatik jeweils scheitern lassen, die Spannung aufheben würden. Aber Shylock scheitert seinerseits auch mit innerer Folgerichtigkeit an einem Selbstwiderspruch, der es verbietet, den Vorgang als Prozeßparodie zu deuten, wenn auch Sinsheimer mit einigem Recht auf parodistische Züge hinweist. Das Schuldrecht der Vertragsfreiheit hat keinen Raum für eine vereinbarte Leibeshaftung. Es zwingt dazu, sich kaufmännisch und verkehrsrechtlich folgerichtig zu verhalten. Vergeltende Deliktshaftung und Verknechtung sind ohnehin veraltet. Denkbar wäre noch die Schuldhaft. Doch gerade da könnte der Gläubiger die Annahme der Schuldsumme nicht weigern. Bassanio brauchte sie Antonio nur zu geben: der Freikauf durch Schulderfüllung könnte dem Schuldner niemals verweigert werden. Shylock enthüllt sich als ein Reaktionär, der mit den toten Resten eines längst vergangenen und nicht mehr verstandenen Rechtssystems (die deshalb auch nur literarisch bezeugt werden) versucht, in einer ganz anderen Zeit einen Geltungsanspruch durchzusetzen, gestützt auf den formellen Grundsatz „pacta sunt servanda”, der im nachwirkenden Stil des älteren Rechts eine unangemessene Härte erlangt. Er handelt dem Geiste des Rechts zuwider, dessen Form ihm diese Abrede zu ermöglichen scheint. Er ist kein konsequent mittelalterlicher Mensch, vielmehr ein solcher des Übergangs, in dem das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht ganz verstanden wird. Deshalb qualifiziert sich der ernsthafte Versuch, die Abrede zu vollstrecken, als Anschlag auf das Leben — keine der literarischen Quellen treibt die Dinge wirklich so weit! Und die Beteiligten, die soviel Federlesens mit der Klausel machen, zeigen gleichfalls, daß sie die Konsequenzen des Verkehrsrechts noch nicht voll begriffen haben. Nicht nur Shylock muß konsequent hartherzig bleiben, auch die anderen müssen ihn konsequent ernst nehmen.

Die ganze Dramatik beruht also auf der Verzahnung und Überschneidung der Rechtssysteme. Aber diese heterogene Verbindung besitzt Tiefgang. In der Realhaftung muß der ganze Mensch für seine Verpflichtungen einstehen, mit Leib und Leben, mit seiner ganzen

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Stellung in der Rechtsgemeinschaft. Im Verkehrsrecht begrenzt sich die Haftung auf das von der Person abtrennbare Vermögen. Das Subjekt ist von metaphysischer Unantastbarkeit und damit von den Objekten seines Handelns fundamental getrennt, deren Schicksal grundsätzlich entnommen. Sinsheimer sieht hier mit verständnislosem Scharfsinn zu Recht das Problem der Freiheit aufgeworfen. Im Realrecht kann der Mensch Leib, Leben, Freiheit und Würde verlieren: er ist in einen geschlossenen Zusammenhang eingebettet, der ihn nicht nur trägt, sondern sich auch gegen ihn kehren kann. Im Gegenbild des Verkehrsrechts kann nichts Wesentliches mehr passieren. Schlimmstenfalls macht Antonio, wenn niemand für ihn eintritt, einen banalen Bankrott, und Shylock verliert sein Geld. Das eine ist, zugespitzt gesagt, Existenz ohne Freiheit, dargestellt in der Möglichkeit extremer Haftungsformen. Die Haftung kann den Menschen vernichten. Das andere aber ist Freiheit ohne Existenz, nämlich eine Freiheit, welche das Ganze der menschlichen Existenz nicht mehr tangiert, sondern sie gerade ausklammert, persönliche und ökonomische Existenz sauber trennt. Shylock benutzt das eine, um das andere zu erreichen und widerlegt sich damit selber. Aber ohne daß jener es versteht, ringt der Dichter, ringen seine Figuren darum, Existenz und Freiheit zu verbinden. Der Zusammenhang beider ist die dramatische Möglichkeit, das dramatische Problem und das dramatische Ziel. Positiv kann der Konflikt nur gelöst werden, wenn anerkannt wird, daß Antonio dem Shylock mehr schuldig geworden ist als eine Summe Geldes. Darum das Ernstnehmen des Paktes. Er hat sich in seine Hand begeben. Er muß damit seine mehrfache Verschuldung büßen: daß er ihn gereizt hat, daß er ein vermessenes Geschäftsrisiko eingegangen ist, schließlich, daß er in diesem Vertrag sein Leben überhaupt aufs Spiel gesetzt hat. Wer so handelt und spielt, verliert mit Recht. Aber der Konflikt löst sich auch nur dann, wenn andererseits Shylock aus wirklicher Freiheit nach Anerkennung seines Anspruchs sich und seine Gegner überwindend Gnade übt. Wie sehr es dem Dichter darum geht, zeigt nicht nur der Prozeßverlauf. Schon beim Vertragsschluß sagt Antonio scheinbar unmotiviert: „Der Hebräer wird noch Christ; er wendet sich zur Güte” (I/3). Shylock begreift die ihm nahegebrachte Frage in seiner Verhärtung nicht; aber man muß zugeben, daß nichts geschieht, um sie ihm menschlich nahezubringen. Dazu wäre eine öffentliche Demütigung Antonios erforderlich, zu der es das renaissancehafte Wohlgefallen an diesem Liebling des Glücks nicht kommen läßt. Antonio zeigt würdige Ergebung — daß er sich selber in Schuld

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verstrickt hat, kommt ihm nicht in den Sinn. Und doch ist die Verbindung von Gesetz und Gnade das tiefste Thema auch dieser Dichtung. Die Billigkeit, auf die Sinsheimer verweist, reicht nicht weit genug. Sie würde nur zu einer banalen Lösung führen.

Die Folgerungen, die nach dem Scheitern der Versöhnung gezogen werden, sind deshalb fragwürdig und haben mit Recht immer Kritik hervorgerufen. Daß der ernsthafte Versuch als Anschlag auf das Leben der vollendeten Tat gleichgerechnet wird, ist allerdings weder juristisch noch dramatisch zu beanstanden. Shylock hat durch hartnäckige Rachsucht die Rechtsgemeinschaft mißbraucht und von Grund auf zerstört. Und doch scheut sich der Dichter mit Recht, ihn ein blutiges Ende nehmen zu lassen. Er vermeidet das auch in sehr viel eindeutigeren Rechtslagen überall. Aber hier muß er die Dinge weiterführen. So wird Shylock eine Gnade aufgenötigt, die ihn menschlich vollends vernichtet. Die aufgezwungene Taufe (kirchenrechtlich ungültig) zeigt die Aporie. Sie kann nur besagen, daß faktisch Shylock auf Grund der Gnade lebt und daß er, als radikalste, verfehlteste Zuspitzung jüdischer Existenz verstanden, in dieser nicht mehr leben kann, da er weder seine rechthaberische religiöse Gesetzlichkeit zu ermäßigen noch nach der Forderung der Christen Gnade zu üben bereit war.

Das Ende freilich, in dem das Elend Shylocks und der Festesjubel der übrigen grell auseinandertreten, verdeckt dann das eigentliche Thema. Shakespeare gleicht hier ein wenig dem Zauberlehrling, der die beschworenen Geister nicht mehr zu bannen vermag. Die dialektische Rechtsweisheit des jungen schönen Doktors von Padua mit dem alten Kopfe vermag es jedenfalls nur äußerlich. Von der menschlichen Verschuldung Antonios ist vollends gar nicht erst die Rede, so schnell wird sie ihm in der guten christlichen Gesellschaft vergeben. Sie ist nur ein äußeres movens, kein inneres Motiv. Die Christen vermögen den Juden nicht zu wandeln, weil sie die Forderung der Wandlung nicht auch an sich selbst richten. Die tiefe Schwermut, die das sonst so heitere Bild von Anfang an durchzieht, führt nicht weiter und klingt aus wie eine ferne Melodie. Shylock bleibt es überlassen, die Trümmer seines Lebens in irgendeinem Winkel zusammenzuflicken, während sein eigenes Fleisch und Blut, wohlversehen mit seinem Gelde, sich in den Liebesjubel der jungen Paare mischt. Die große Rechtsweisheit Shakespeares bleibt in unausgetragenem Gegensatz zu dem humanistischen Optimismus, der in der Form gelehrten Traditionswissens sich vermißt, die existentiellen Konflikte juristisch gültig zu lösen. In der juristischen Methodenfrage:

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Traditionswissen oder Vernunftentscheidung ist das Grundproblem des Dramas noch einmal, wenn auch verdeckt, enthalten. Jene Mißlösung ist die wohl unvermeidliche Schale eines Kerns, der als grundsätzlichste Rechtsfrage, als Frage nach der Überwindung des Gesetzes durch die Gnade, Shakespeare dennoch auf der vollen Höhe der Problemeinsicht zeigt.

Die philosophische Tragweite der dichterischen Fragestellung scheint mir sehr groß zu sein. Sie kann eigentlich erst heute voll begriffen werden. Daß nur am historischen und systematischen Schnitt- und Grenzpunkt von magisch-mythischem Weltbild und Freiheit das Ganze menschlicher Existenz ins Spiel kommt — in der Annahme wie in der Verfehlung —, wird hier beispielhaft sichtbar. Shylock hat — auch im Mißbrauch — die dunkle, zerstörende Seite der alten Welt realer Verbundenheit und Haftung aufgedeckt. Aber liefe alles nach den Grundsätzen des bürgerlichen Verkehrsrechts, so gäbe es überhaupt keinen tieferen Konflikt, und die Lösung wäre banal. Je für sich betrachtet, wäre die alte Welt mit aller ihrer bunden Fülle grausam in sich selbst verschlossen, die neue Welt vernünftiger Freiheit aber bruchstückhaft und leer. Mythos und Freiheit bleiben in einer nicht objektivierbaren Weise aufeinander bezogen. Der Versuch der Entmythologisierung, nämlich die prinzipielle Bestreitung der anthropologischen Bedeutsamkeit der älteren, historisch vergangenen Lebensformen, ist damit ein systematischer Irrtum; gleichwohl ist das Ideal geschlossener intakter Gemeinschaft eine romantische Unmöglichkeit, weil diese Welt ein für allemal durch die Freiheit aufgebrochen und verwandelt ist. Seither besteht ein Bruch, eine falsche Alternative zwischen geschlossener Gemeinschaft und Freiheit. Mythos und Freiheit scheinen nur einmal gültig vereint worden zu sein: im Evangelium, auch dort in einer — innerhistorisch gesehen — Übergangszeit, nicht dagegen in Reformation und Renaissance. Die letzte dokumentarische Gültigkeit des Dramas liegt in dem Erweis dieses Scheiterns. Deshalb ist es eine uns heute noch angehende quaestio iuris.