VI. Strukturen der nachbürgerlichen Welt

 

Der Fortgang unserer Erwägung hängt von der Beantwortung der Frage ab, ob wir es in der Gegenwart mit etwas qualitativ Neuem zu tun haben. Handelt es sich lediglich um eine Fortentwicklung, Verbreiterung und Verallgemeinerung der Strukturen des bürgerlichen Zeitalters, so wären wir sicher in Verlegenheit, aus diesem diffusen Tatbestand wesentliche Merkmale zu gewinnen. Handelt es sich dagegen um grundsätzlich neue Gestaltungen, so müßten sie in ihrer Besonderheit und Eigenheit erfaßt werden können. Im letzteren Falle muß auch die vorbehaltene Rückrechnung weiter zurückgestellt werden, die Frage nämlich, ob die bereits vollzogene und etwa noch zu vollziehende Transformation in die Strukturen der Zeit dem Inhalte nach mit der Aussage des Evangeliums in Deckung zu bringen ist.

Freilich befinden wir uns in jedem Falle gegenüber unserer eigenen Zeit in einer anderen Lage als gegenüber einer vergangenen und abgeschlossenen Epoche. Die Struktur des bürgerlichen Lebens kann ohne allzu große Verkürzung im Grundriß, ja im Schema dargestellt werden. Unserer eigenen Zeit können wir uns nicht in gleicher Weise gegenüberstellen. Wir müssen mit unserer eigenen Zeitblindheit

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wie mit einer Art Betriebsblindheit rechnen. Und doch haben wir ein anderes Verhältnis zu unserer Zeit als andere Zeiten zu den ihrigen. Wir sind durch Historismus und Soziologie bestimmt. Beide zusammen haben eine Reflexionsstufe erreichen lassen, die es früher nicht gab, und die den unvermeidlichen Mangel an Distanz wenigstens zum Teil wieder ausgleicht.

Dabei kann es sich niemals darum handeln, daß in einer neuen Epoche der Ertrag der alten einfach verneint wird. Hegel verdanken wir den Begriff der positiven Aufhebung, einer verwandelnden Einbeziehung des Gewesenen in die Gegenwart. In diesem Sinne ist auch der Ertrag des bürgerlichen Zeitalters ganz gewiß in die nachbürgerliche Zeit aufgehoben. Die Subjektivität und Autonomie des Menschen kann nicht durch künstliche Postulate und neue Heteronomien gewaltsam aus der Welt geschafft werden.

Nun bin ich allerdings der Überzeugung, daß wir etwas qualitativ Neues vor uns haben, welches wir von dem Früheren auch jetzt schon schlüssig abzuheben vermögen.

Von Karl Marx stammt das berühmte Wort, daß es nicht darum gehe, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Marx war selbst der erste, der jenem Ausspruch zuwiderhandelte. Er interpretierte den Menschen, die Geschichte und die Welt von seinen Voraussetzungen aus so strikte, daß daraus das System einer geschichtsphilosophischen Dogmatik entstand, gegen deren Subtilität die Scholastik simpel erscheinen kann. Von dieser interpretierenden Dogmatik aus werden noch heute jeweils die politischen Handlungen der sozialistischen Staaten gerechtfertigt. Um banale wirtschaftspolitische Entscheidungen zu rechtfertigen, bedarf es vielstündiger geschichtsphilosophischer Ableitungen im Parteichinesisch vor der Plenarversammlung der Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien. Davon, daß man die Welt verändern könne, ohne sie zuvor zu interpretieren, kann nicht die Rede sein. Wer sich dieses Ziel setzt, kommt um jene Deutung nicht herum. Wir gehen hier andererseits von der Voraussetzung aus, daß die Ausrichtung des Evangeliums nicht unter Absehung von den sozialen Strukturen der Zeit geschehen kann. Die marxistischen Revisionisten, welche die Aufgabe der Rehumanisierung des Marxismus erkannt haben, sprechen heute nicht mehr von der sozialistischen Gesellschaft als einem positiven Entwurf oder allenfalls einer Utopie, sondern nüchtern von der Gegebenheit einer nachbürgerlichen Gesellschaft, in der sie zu arbeiten haben. Wir sollten nicht weniger realistisch sein als sie.

Die Gesamtstruktur des bürgerlichen Zeitalters konnte in

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verhältnismäßig eindeutigen Rechtsbegriffen dargestellt werden — Person, Staat, Sittlichkeit, Eigentum. Auch das Verhältnis dieser Größen zueinander war bei aller historischen und systematischen Problematik einigermaßen fest bestimmbar. Diese relative Eindeutigkeit des Gesamtschemas, wie auch der genannten Einzelbegriffe, ist jedoch heute nicht mehr vorhanden, und dies ist auch erkennbar. Sodann kann die Einzelperson weder als Arbeitshypothese noch der Sache nach mehr als Spitzenbegriff und Motor verstanden werden. Unser Verfassungsrecht drückt dies deutlich aus. Der Schritt vom Rechtsstaat zum sozialen Rechtsstaat bedeutet weit mehr als eine allgemeine Gesetzgebungsprogrammatik oder Bestimmung der politischen Haltung. Während ehedem die Autonomie und Würde der Person unabhängig und vor allen äußeren Bestimmungsgründen gewährleistet wurde, handelt es sich heute um die sozial qualifizierte Person. Die Person wird verstanden und versteht sich selbst nicht ohne die konkreten Rechte und Ansprüche, welche sie im sozialen Gefüge erworben hat und welche sie erstrebt. Ihr Anspruch im Ganzen geht auf eine Vollexistenz, welche eine von jedem Anderen unabhängige, dem allgemeinen Standard etwa entsprechende Lebensführung ermöglicht. Jede wesentliche Unterbietung dieses Anspruches wird bereits als eine Rechtsverweigerung und nicht lediglich als ein tatsächliches Ausbleiben von Erfüllungserwartungen verstanden. Ein juristischer Kritiker der Institutionstheorie hat es kürzlich ausgesprochen, daß das vielberedete Gefälle „vom Status zum Kontrakt” sich in ein Gefälle „vom Kontrakt zum Status” verwandelt habe. Diese Beobachtung ist völlig richtig, wenn man einrechnet, daß Status ehedem und heute merklich Verschiedenes enthält. Unser Gemeinwesen zeigt heute in großer Ähnlichkeit mit dem Spätmittelalter alle Merkmale des Privilegienstaates. In ihm kann niemandem ein wohlerworbenes Recht entwunden werden, sei es auch noch so mißbräuchlich geworden. Infolgedessen besteht heute für uns der unerbittliche Zwang nach vorwärts, weil nur so die Mittel gewonnen werden können, um neue Aufgaben und Bedürfnisse zu erfüllen. Eine Umstrukturierung und Reform des Vorhandenen liegt fast völlig außerhalb der psychologischen und politischen Möglichkeiten. Ist aber nun der Mensch heute per definitionem sozial qualifiziert, so ist er auch nicht mehr einfach Subjekt der Ökonomie als des Objektes seiner Möglichkeiten.

Ebenso hat der Staat seine begriffliche Eindeutigkeit verloren. Ehedem dürfte man davon ausgehen, daß unter Vorbehalt einiger Bereiche öffentlichen Interesses die Ökonomie wesentlich Sache der

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Einzelnen und der Zwischenverbände sei. Heute wirtschaftet der Staat selber und ist in einem solchen Maße für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufes verantwortlich, daß die Scheidung von Staat und Ökonomie gegenstandslos geworden ist. Diese Ökonomie andererseits hat in der Eigengesetzlichkeit ihrer großen Bildungen selbständige Qualitäten gewonnen, die nicht einfach im herkömmlichen Sinne ein verantwortliches Subjekt haben, aber doch in hohem Maße auf die politische Wirklichkeit zurückwirken.

Auch die Scheidung zwischen Einzelperson und Staat ist durchlässig geworden. Der Staat kann weder mehr als Obrigkeit noch als objektive Staatsidee verstanden werden, seitdem er immer neu aus demokratischen Integrationsprozessen entsteht, in welchen zugleich der Interessenausgleich den Inhalt des Gemeinwohls ausmacht. Nicht zuletzt gilt das Gesagte für die durch das Strafrecht repräsentierte Sittlichkeit. So wenig ihre einmal gewonnene Unbedingtheit einfach preisgegeben werden kann, so gewiß wird doch im Konfliktsfalle in neuer Weise der Täter auf die Beziehungen zurückverwiesen, aus denen er ausgebrochen ist und gegen die er verstoßen hat. Das Problem der Resozialisierung drängt hervor.

Haben also alle Grundbegriffe ihre Eindeutigkeit verloren und jeweils Elemente des Anderen angenommen, so gleichen sie Kreisen, die einander überschneiden, ohne zur Deckung zu kommen. So ist aus dem dreieckigen System der bürgerlichen Rechtswelt eine Art zirkuläres Verhältnis geworden, in welchem jedes Einzelne in das Andere greift, ohne in ihm aufzugehen. Damit verliert das Ganze seine schöne und handhafte Übersichtlichkeit, ohne sich etwa aufzulösen. Denn keines von den alten Elementen hat sich etwa abgelebt. Das dem Staat prophezeite Absterben ist bisher weder durch die gesellschaftliche Entwicklung von innen, noch durch die Durchbrechung des klassischen Staatsbegriffs von außen eingetreten. Dennoch ist die gegenwärtige Staatswirklichkeit mit dem souveränen Nationalstaat von ehedem nur noch schwer zu vergleichen. Hat dieses zirkuläre System noch eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Vorgänger in der bürgerlichen Zeit, nur unter der Maßgabe einer grundsätzlichen Unschärfe aller Elemente und Relationen, so reicht doch diese Beschreibung zur Erfassung des gegenwärtigen Zustandes nicht aus.

Neben jener zirkulären Darstellung läßt sich unser gegenwärtiges soziales Gefüge in seinen konkreten rechtlichen Erscheinungen auch linear darstellen. Die große Bewegung zur Mündigkeit, die seit der französischen Revolution vor sich gegangen ist, hat sich nicht auf

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den Einzelnen beschränkt. Jede einzelne soziale, völkische oder religiöse Gruppe hat Selbstbewußtsein, Autonomie und Mündigkeit gewonnen. Der Begriff der Mündigkeit hat durch diese Ausbreitung seinen personalen, individualistischen Charakter verloren. Sehr unwillig mußte die spätbürgerliche Welt einschließlich der theologischen Ethik sich mit der Eigenständigkeit und Objektivität dieser mündigen Gruppen auseinandersetzen, die ebensowenig als zeitlos vorgegebene Ordnungen begriffen werden konnten. Die Alternative von Autonomie und Heteronomie erwies sich als unzulänglich. Denn Mensch und Gruppe können nicht aufeinander reduziert werden. Der Mensch ist nicht der freie Herr dieser Gruppenbildungen, die ihr Eigenleben besitzen und ihn durch ihre Bedeutsamkeit engagieren. Ebenso wenig aber ist es möglich, den Menschen auf die Gesellschaft, womöglich einen einheitlichen Gesellschaftsbegriff so zu reduzieren, daß er in dem Aufgehen in deren Horizont seine Lebenserfüllung findet. Alle diese Mündigkeiten stehen gleichsam nebeneinander, von dem einzelnen mündigen Menschen über die Verbände bis zum Staat und jenseits des Staates bis zu den Vereinten Nationen und jene Formen einer allgemeinen Weltregierung, mit denen man sich heute vorschauend befaßt. Die Vorstellungen derjenigen, welche die Notwendigkeit einer solchen Weltregierung zur Vermeidung von ABC-Waffen und Hungertod behaupten, stellen diese freilich erstaunlich konventionell in der Gestalt einer über dimensionalen Polizeitruppe dar. Wie dem auch sein mag: in dieser linearen Zuordnung ist der Mensch weder Ausgangspunkt noch Ziel, sondern höchstens der linke Flügelmann, eine Art Grenzwert, jenseits dessen es keine weitere aktive Größe mehr gibt. Das Verhältnis dieser Mündigkeit zueinander aber ist ein ebenso labiles und relativ unbestimmtes wie zwischen den Elementen des vorigen Schemas. In diesem linearen Zusammenhang spielt der Staat nach der einen Seite eine Art Rahmenfunktion, nach der anderen Seite bildet er den Durchgangspunkt zu weitergreifenden Beziehungen. Dieses ungewohnte Bild eines linearen Verhältnisses, welches wir zur Ergängzung einer zirkulären Vorstellung relativ traditioneller Art benutzen, erscheint aber immer noch unvollständig. Anscheinend kann man die gegenwärtige Lage nur so verdeutlichen, daß man sie in mehreren Formen nebeneinander beschreibt.

Sicherlich ist für die Ausbildung der Moderne die Entstehung der Mündigkeit des Einzelnen ein Angelpunkt gewesen. Andererseits hat sich der Weltzusammenhang in einer unerwarteten und ungewöhnlichen Weise zur Einheit und wechselseitigen Abhängigkeit

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verdichtet. Jene Autonomie und Mündigkeit nun ist in steigendem Maße von den größeren Lebenszusammenhängen abhängig geworden. Wenn man weder eine Wasserstelle noch eine Feuerstelle mehr hat, um sich unabhängig von den öffentlichen Versorgungsbetrieben zu erhalten, so zeigt sich eine grundsätzliche gegenseitige Angewiesenheit. Die großen wirtschaftlichen Zusammenhänge leben davon, daß selbständige, qualifizierte und anpassungsfähige Menschen sich in ihren Dienst stellen, während eben diese Menschen in der geschilderten Weise abhängig sind. Schon bei der Entstehung der modernen Massenheere hatte sich gezeigt, daß nicht ein potenzierter Drill, sondern die Verselbständigung eines intelligenten Kämpfers für sich allein und in der Gruppe erforderlich wurde. Diese wechselseitige Beziehung von intelligenter Mündigkeit und großer Planung ist also ein positives Verhältnis. Mit so großer Leidenschaft wie jemals stellen sich fähige und einsatzbereite Menschen in den Dienst der großen technischen, wirtschaftlichen und Planungsaufgaben, deren Erfüllung und Gedeihen von ihrem Einsatz abhängig ist. Aber derselbe Mensch, der seinen Lebenssinn in der Entfaltung der technischen Zivilisation sieht, nimmt sich zugleich aus ihren Zusammenhängen mit steigender Bestimmtheit zurück. Die ständige Tendenz zur Verkürzung der Arbeitszeit entspricht zugleich einem radikalen Vorbehalt, der jedem Engagement entgegenläuft. Eine vielfältige Bewegung zur Reprivatisierung, zur Refamilisierung, ja zur Isolierung des Einzelnen ist im Gange. Die sogenannte Intimsphäre wird zu Recht wie zu Unrecht mit fast neurotischer Empfindlichkeit verteidigt. So leidenschaftlich die oft vermißten Kontakte gesucht werden, so betont ist doch zugleich dieser Vorbehalt. Es besteht also nicht nur eine positive Wechselseitigkeit zwischen mündiger Intelligenz und technischer Planung, sondern zugleich auch ein tiefer Widerspruch, der durch nichts vermittelt und überbrückt wird. Er wird noch nicht einmal erkannt. Die kausale Eingleisigkeit des Denkens verhindert schon weitgehend die Einsicht in das Verhältnis wechselseitiger Bedingtheiten des technischen Zeitalters. Noch viel weniger ist sie fähig, strukturelle Gegensätze in das Bewußtsein aufzunehmen. Aber ohne deren Aufdeckung als eines grundlegenden Tatbestandes kann von der gegenwärtigen Situation nicht zutreffend geredet werden. Dies ist freilich um so schwieriger, als beides nebeneinander steht, die wechselseitige Bedingung und die gegenseitige Ausschließung.

Außer dieser zwei Darstellungsformen ist noch eine dritte möglich. Neben der beruflichen Einordnung oder zugleich mit ihr gibt es Fragen

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des Engagements, die sich nicht von selbst beantworten, vielfach mit politischem Einschlag. Dabei geht es um weitreichende Verantwortlichkeiten: nicht um die berühmte Alternative zwischen Widerstand und Ergebung, sondern um Widerstand oder aktive Förderung. Für die Entscheidung dieser Frage fehlen häufig, ja typisch die objektiven Maßstäbe. Die Möglichkeiten der Information und Übersicht reichen nicht aus. Die sozialen Voraussetzungen, unter denen einmal Kants kategorischer Imperativ formuliert werden konnte, sind offenbar längst hinweggefallen. So läuft der Mensch Gefahr, sich dort zu versagen, wo seine Mitarbeit gefordert ist, und dort mitzumachen, wo er sich wehren soll. Hamlet ist im Vergleich dazu noch in einer einfachen Lage. Diese ständige maßstablose Überlastung führt zu Neurosen, die nicht individuellen, sondern sozialtypischen Charakter haben und sich mit den obengeschilderten Tendenzen zur Privatisierung oft in einer schwierigen und gefährlichen Weise verbinden.

Die so geschilderte Lage des mündigen Menschen ist also die Kehrseite der Situation, welche durch die Entstehung großer Planungszusammenhänge entstanden ist. Wenn der Marxismus die Akkumulation des großen Kapitals zu bedrohlichen Mammutgebilden befürchtete, so dachte er noch ganz spätbürgerlich in Gestalt überdimensionierter Einzelsubjekte, welche jeweils zu ihrem sozial sinnlosen Eigennutz („Profit”) über solche Komplexe verfügten. Die wirkliche Strukturveränderung ist erst heute in der Entstehung großer Forschungs- und Produktionsverbände entstanden. Sie sind von Menschen geschaffen, sie werden von Menschen fortgebildet und in Entscheidungen gesteuert. Trotzdem fehlt ihnen gerade das spezifische Subjekt, der sozial und rechtlich entsprechende Träger. Sie sind Zusammenhänge, die gelenkt werden und dennoch erst eigentlich ihr Subjekt suchen. Sie haben eine Eigentendenz, die über das subjektive Wollen Einzelner weit hinausgreift. Dieser quasi subjektlose Planungszusammenhang, für den ein Verantwortungsträger als typische soziale Form noch nicht gefunden ist, korrespondiert mit jener privatisierten Existenz des Einzelnen, der sich selbst aus allen Verantwortungszusammenhängen ausspart. Hier kommt eine Aporie in der Situation zu Tage, die neben allen inneren Verweisungen und tragenden Zusammenhängen Beachtung erfordert.

Mündigkeit und Plan bilden zusammen die Aporie des Menschen und der Epoche.

Mündigkeit und Plan sind ebensosehr juristische wie soziologische Begriffe. Mündigkeit als genuin juristischer Begriff kann heute nur

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in der rechtlich und sozial zugleich qualifizierten Weise ausgelegt werden, die schon angedeutet wurde. Plan bedeutet nicht nur den technisch-organisatorischen Planungsvorgang, sondern auch die subjektähnlichen Strukturen, die sich hier bilden. Beide Begriffe stehen in einem Interpretationshorizont, ohne den sie gerade auch juristisch nicht (oder nur in positivistischer Verkürzung) verstanden werden können.

Die Gesamtlage läßt sich also in mehreren verschiedenen Bildern oder Verbindungsformen darstellen, zirkulär, linear und schließlich in einer Art von Verschränkung. Wenn wir versuchen, die Struktur der nachbürgerlichen Welt wenigstens im Grundriß einsichtig zu machen und aus den verschiedenen Aspekten der bisherigen Beschreibung gleichsam die Wurzel zu ziehen, so könnte man folgendes sagen:

Die gegenwärtige Struktur ist ein Inbegriff statusrechtlich und ökonomisch-sozial qualifizierter Mündigkeiten, welche nicht aufeinander reduziert, aber auch vermöge ihrer Verschränkung nicht voneinander getrennt werden können. Der gängig gewordene Begriff des Pluralismus gibt diese Lage nicht zutreffend wieder. Der hier dargestellte Pluralismus ist vielmehr eine Interdependenz und Verschränkung, nicht bloß willkürliche Anhäufung, eigenständiger, geschichtlich erwachsener Größen von charakteristischer Unschärfe.

Zweitens findet sich heute ein Inbegriff von Planungszusammenhängen vor, welche ebenfalls nicht mehr in gewohnter Weise auf die geschlossenen Territorialverbände des Gemeinderechts, Staatsrechts und Völkerrechts reduziert werden können.

Drittens ist das Verhältnis zwischen jenen Mündigkeiten und jenen, nicht mehr von vornherein und eindeutig bestimmten Trägern zugeordneten Sachzusammenhängen ungeklärt und unvermittelt. Die bisher gültigen Vermittlungen, die sich auf ungleich eindeutigere Verhältnisse bezogen, sind weitgehend außer Kraft gesetzt. Es besteht die Tendenz, sie auch dort außer Kraft zu setzen, wo sie noch eine einigermaßen sinnvolle Vermittlungsfunktion tragen können. Die Funktion der Vermittlung selbst erscheint, obwohl zugleich nach ihr verlangt wird, von innen heraus in Frage gestellt. Dabei tragen jene Sachzusammenhänge in sich eine finale Tendenz und zeigen ein Gefälle zur Weiterentwicklung, deren Kontrolle ein bisher wenig erkanntes Problem darstellt.

Seiner Lösung steht die anscheinend systemimmanente Weigerung entgegen, grundsätzliche Aporien oder Antinomien im System selbst anzuerkennen. Diese Weigerung geht noch über das auffällige

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Unvermögen hinaus, komplexe Strukturen in den Blick zu nehmen und anzuerkennen. Es kann nicht erwartet werden, daß sich eine allgemeinere Einsicht in solcher Strukturen durchsetzt. Trotzdem muß man die bedeutsame Tatsache verzeichnen, daß das soziale Bewußtsein weit hinter der sozialen Situation zurück ist. Wer den einfachen Mann kennt, weiß, daß viele seiner Verhaltensweisen durchaus noch aus Schichten des archaischen und magischen Lebensgefühls kommen. Darüber gelagert aber ist eine Schicht eines primitiven mechanistischen Denkens. Auf die Auslegung sozialer Zusammenhänge werden die einfachsten Kausalverknüpfungen angewendet. Technische und chemische Strukturen, die in der industriellen Arbeitswelt durchaus begriffen werden, werden niemals im Bereich sozialer Zusammenhänge verstanden oder angewendet. Gerade die modischen soziologischen Kategorien werden niemals auf die eigene Situation bezogen, von einer allgemeinen Relativierung der Begriffe und Werte abgesehen. Diese Einsicht ist auch für die Auslegung der hier primär erwogenen rechtlich-sozialen Zusammenhänge kaum entbehrlich.

Für deren Auslegung sind auch die geschichtliche Wandlungen bedeutsam, welche in der Gegenwart die natürliche Religion der breiten Masse durchgemacht hat. Auch in einem säkularen Zeitalter ist der Zusammenhang zwischen (natürlicher) Religion und Recht ungebrochen. Unter natürlicher Religion wird hier die Neigung des Menschen verstanden, denjenigen Mächten religiöse Bedeutung beizumessen, welche als existenzbestimmend erfahren werden, solange sie sich als solche bewähren. Die natürliche Religion dieser Art ist bis in unsere Zeit im wesentlichen traditionalistisch gewesen. Eine religiöse Dignität dieser Art besaß alles das, was den Bestand verbürgte, Sicherheit gewährte. Wie sich das im Einzelnen gedanklich darstellt, ist dabei unwesentlich. Insofern hat das Herkömmliche die — freilich widerlegbare — Vermutung der Richtigkeit, ja womöglich zeitloser und unbedingter Gültigkeit für sich. Diese Grundlage des Lebens, von der zahllose Einzelurteile getragen werden, ist deutlich in das Gegenteil umgeschlagen. Von der britischen Regierung ist vor einige Zeit der umfassende Sozialbericht einer königlichen Kommission veröffentlicht worden. Er spricht mit Besorgnis davon, daß in breiten Schichten der Bevölkerung die selbstverständliche Auffassung verbreitet sei, daß alles Neue Vorrang vor dem Bestehendem oder Älterem besitze. Dies führe auch dazu, daß gerade erreichte Verbesserungen und Fortschritte kaum mehr benutzt und ausgewertet werden, weil die Vermutung der Verbesserung

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und das Streben nach Veränderung dem entgegenständen. Die gleiche Vermutung also, welche ehedem dem Herkömmlichen zugute kam, wird jetzt dem Neuen, ja dem Zukünftigen zugewendet. Diese Haltung ist — in einer rationalen Welt — ebenso irrational wie die entgegengesetzte. Aus der natürlichen Religion des Immobilismus ist diejenige des Mobilismus geworden. Neuheit und Zukünftigkeit haben einen Unbedingtheitswert gewonnen.

Schon die traditionalistische Vorstellung war ungeschichtlich. Die Vorstellung freilich, daß es sich in den sozialen Abläufen um ein zirkuläres System immer wiederkehrender Gesetze und in sozialen Vollzügen um absolut gültige Formen handle, ist immer nur eine philosophische Theorie und niemals Wirklichkeit gewesen. Diese Anschauungen beruhen auf der gerade juristisch verfehlten Meinung, daß soziale Ordnungen auf Normen beruhten — die man dann so verstehen und auslegen könnte. In Wirklichkeit leben Rechtsordnungen in Myriaden von Einzelvollzügen der verschiedensten Rechtshandlungen und Rechtsgeschäfte. Durch den immer erneuten Rechtsvollzug aber verändern sich über den Gebrauch und die Auslegung die Vollzüge selbst nach Struktur- und Bedeutungsgehalt solange, bis diese Veränderungen deutlich sichtbar werden. Diese stillschweigende Verschiebungen sind häufig nicht stark genug, um bewußte Neuordnungen überflüssig zu machen. Aber sie sind jedenfalls aus dem Prozeß der Geschichte nicht hinwegzudenken und werden von der normativen Abstraktion philosophischer Gedanken gar nicht wahrgenommen. Umgekehrt gibt es auch in einem mobil gewordenen Zusammenhang eine Fülle von Kräften und Vorgängen, die eine ständige Stabilisierung herbeiführen, auch wenn man sie nicht erkennt oder sie verächtlich macht. Denn der Trieb zur bloßen Veränderung als solcher verkennt, daß der Ertrag jeder Veränderung darauf beruht, daß hinreichend starke Kräfte die Stabilisierung des Erreichten ermöglichen. Jede Revolution muß um die Befestigung ihrer „Errungenschaften” in ihrer besonderen und konkreten Bedeutung ringen. Viele Revolutionen mit geschichtlicher Berechtigung sind daran gescheitert, daß sie diese stabilisierenden Kräfte nicht aufzubringen vermochten. Der Mensch kann an Verkalkung sterben, aber auch an der Entkalkung seines Knochengerüstes. Erst unter der Voraussetzung der Einsich in den Regulationscharakter solcher Zusammenhänge kann hier sinngemäß verfahren werden.

Für unsere Situation ist nunmehr bedeutsam, daß die weichenden Tendenzen der natürlichen Religion alter Art sich mit den vordringenden

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Tendenzen der natürlichen Religion neuer Art überlagern. Immobilismus und Mobilismus treffen aufeinander. Die christliche Theologie, die so viel Mühe darauf verwandt hat, die Verkündigung des Evangeliums von der natürlichen Religion abzuheben, kann sich ohne die Einsicht in diesen Tatbestand und seine sorgfältige Wahrnehmung heute nicht situationsgerecht verhalten.

Mit diesen Tendenzen der natürlichen Religion hängt auch die Einstellung zum Problem der Macht zusammen, da Religion vom Machtproblem ausgeht, wie die Phänomenologie der Religion ausweist. Der Jurist Emge hat in seiner Rechtsphilosophie30 darauf hingewiesen, daß es zwei weitverbreitete Vorurteile gebe, welche er nicht sehr glücklich als das „despotische” und das „liberale” bezeichnete. Das erstere bezeichnet die Auffassung, daß der in der Macht befindliche im allgemeinen im Recht sei, während das zweite meint, der in der Macht befindliche sein im Zweifel und vermutlich ebenso regelmäßig im Unrecht. Beide Meinungen heben sich naturgemäß bei vernünftiger Beurteilung gegenseitig auf. Sie entstehen immer neu aus gewissen psychologischen Erfahrungen, die leicht darzustellen wären. So betrachtet, sind diese Haltungen nicht allzu bedeutsam. Freilich ist bemerkenswert, mit welcher Primitivität beide gehandhabt werden, gerade auch als das kritische Vorurteil vn Leuten, welche kritische Intellektualität beanspruchen. Diese relativ vordergründige Erscheinung besitzt für uns nur insofern Bedeutung, als sie auf dem Hintergrunde jener Wandlungen der natürlichen Religion zu sehen ist. Mit Recht haben unter uns theologische Haltungen Kritik gefunden, welche in dem bezeichneten Sinne traditionalistisch sind und die illegitime Verbindung von Evangelium und natürlicher Religion der Beständigkeit erkennen lassen. Das umgekehrte Pathos der Bewegung und der Machtkritik hat dagegen zwar oft praktische, aber selten grundsätzliche Kritik erfahren. Die herkömmliche Kritik am Schwärmertum trifft sie nicht zentral. Gerade die protestantische Theologie hat Veranlassung zu sorgfältiger Prüfung, in wieweit ihr Geschichtsverständnis und ihr Geistbegriff Ausdruck solcher Tendenzen natürlicher Religion sind.

a) Die Rezeption der modernen Struktur

Das hier entwickelte dreistufige Schema kann an eine Auslegungstradition erinnern, nach welchem ein Text zunächst unter dem Gesichtspunkt der Schöpfungslehre, dann der Christologie und schließlich der Pneumatologie zu betrachten ist. Indessen geht es mir hier sowohl um die Einbeziehung der objektiven sozialen Geschichte, als

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auch um die Gewährleistung übereinstimmender Auslegung unter veränderten Bedingungen, in veränderten Formen der Darstellung.

Jene trinitarische Hermeneutik ist nun weit mehr als eine bloße Methode. Sie enthält wesentliche sachliche Vorentscheidungen. Die Rezeption kann und muß nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Konversion willen geschehen. Die Rezeption geschieht in den konkreten weltlichen Bezügen und durch ihre Annahme. Es gibt also keine Glaubensentscheidung an ihnen vorbei, in Weltlosigkeit und Weltfremdheit, „frei von allen äußeren Bestimmungsgründen”. Eben darum aber kann die gleiche Haltung nicht in der immanenten Teleologie der Welt aufgehen. Die biblische Warnung, sich nicht mit der Welt gemein zu machen, ist eine zentrale Forderung. Beide Abgrenzungen ergeben sich bereits mit der Methodik, nicht erst aus weiteren Erwägungen.

Zwischen diesen beiden bezüglichen Grenzen bewegen sich Dogmatik und Ethik der Christenheit von jeher. Sie dürfen sich weder entweltlichen noch verweltlichen, sich dem Anspruch der Welt weder entziehen, noch sich an ihn verlieren. So machen auch die Einen die Kirche zum innergeschichtlichen Selbstzweck, die Anderen lösen sie in die Welt und Zeit auf, indem sie der Sammlung im Verhältnis zur Sendung jede Eigenbedeutung absprechen. Die Unterscheidung zwischen Dogmatik und Ethik ist freilich nur eine fragwürdige und traditionelle Abkürzung. In Wahrheit handelt es sich um die beiden Relationen, durch die der Mensch bestimmt wird, die zu Gott und die zum Nächsten. Sie können auch in der „Abwesenheit” Gottes, vermöge des Leidens Gottes für die Welt und seiner Kondeszendenz nicht in eins gesetzt werden. Gott hat nicht nur die Welt, sondern mit und in ihr den radikal für jede Mitmenschlichkeit unerreichbar gewordenen, verlorenen Menschen geliebt und ihm den Zugang eröffnet.

Der Nachweis, daß das Evangelium nicht ohne Beziehung zu den objektiven sozialen Strukturen der Zeit ausgesagt und verstanden werden kann und worden ist, hat für uns nur dann aktuelle Bedeutung, wenn das Gleiche auch für die Gegenwart gilt. Das eingangs formulierte Schema der zwei bzw. drei Schritte der Interpretation, die logische Struktur dieses Verfahrens muß sich, wenn es jemals gegolten hat, als Ganzes auch in der Gegenwart bewähren. Die Anregung zu einer solchen Betrachtung entspringt der Erfahrung des durchgreifenden Umbruchs der sozialen Strukturen in unserer Zeit. Diese Erfahrung zeigt zugleich die Unzulänglichkeit einer nur ideengeschichtlichen Betrachtung.

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Die hier gestellte Aufgabe ist eine theologische, keine geschichtsphilosophische. Das Evangelium in Leben und Lehre, in Selbstverständnis und Handeln recht aufzunehmen, ist eine jeder Epoche neu gestellte Aufgabe.

Das Evangelium greift von Außen, scheidend und bindend, fordernd und gebend in die Geschichte ein. Seine Aufnahme ist nicht von der Einsicht in die Zusammenhänge der Geschichte, von einer Einordnung ihrer beschreibbaren Epochen in eine Gesamtgeschichte des menschlichen Geistes, von einer übergreifenden Deutung der Epochen in ihrem Verhältnis zueinander abhängig. Eine Geschichtsphilosophie, welche den Gang des menschlichen Geistes auszulegen versucht, hat daher auch, wie christlich sie sich auch immer verstehe, keinen Kirchenbegriff, der mit dem übereinzubringen ist, was von Nicaea bis Barmen in der Christenheit dafür gegolten hat.

Weil es sich nicht um Geschichtsdeutung, sondern um die Formulierung einer theologischen Aufgabe handelt, war es auch nicht erforderlich, die verwickelte Geschichte des Verhältnisses von Evangelium und sozialen Strukturen durchgängig zu schreiben. Deshalb konnte es genügen, das Problem für die Zeit zwischen der biblischen Welt und der Reformation nur stichwortartig anzudeuten, das Neue Testament als Ausgangsthese und die lutherische Reformation als Beispiel einer durchgeführten Transformation zu nehmen. Das Verständnis dieses Verfahrens wird freilich durch eine rein tatsächliche Besonderheit unserer Geschichte erschwert. Das Evangelium ist in einer relativ archaischen Umwelt verkündet worden und dann in einem bisher zu wenig beachteten Gefälle in den Bereich der hellenistisch-römischen Spätantike eingetreten. Diese aber ist von den sehr viel älteren sozialen Strukturen der jungen Völker überlagert worden, die dann erneut den Weg in eine bürgerlich-rationale Zivilisation durchgemacht haben. Dieser zweimalige Ablauf eines vergleichbaren Geschehens verwirrt das Bild. Hinzu kommt die von Linton mit Recht hervorgehobene, vollends vernachlässigte Tatsache, daß die von der sozialen Umwelt unabhängige Eigenstruktur der Urkirche wegen ihres Ursprungscharakters die uns wohlbekannten Züge archaischer Gemeinschaften zeigt.

Unsere heutige Aufgabe einer Analyse der eingetretenen und neu zu vollziehenden Transformation hat zur Voraussetzung, daß die wesentlichen Merkmale einer nachbürgerlichen Epoche erkennbar, umschreibbar hervorgetreten sind. Damit ist jene fatale Verbindung zwischen der Unbedingtheit des Christentums und der scheinbaren Unüberbietbarkeit des bürgerlichen Zeitalters mit seinem Freiheits-

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und Personbegriff von der Geschichte selbst in ironischer Weise aufgelöst worden. Jede Epoche freilich versteht sich als der unüberbietbare Gipfel der Geschichte, selbst wenn Mißbehagen am Eigenen und Unruhe in ihr noch so wirksam sind — sie bleiben immer systemimmanent. Die Momente, durch die eine Epoche einmal transzendiert wird, sind ihrem eigenen Blick verschlossen. Nichts aber erlaubt uns, uns selbst auch nur virtuell oder intentional als die Vollendung der Geschichte zu hypostasieren, wie es die Tradition einer schwärmerischen, im Schema von drei Epochen verlaufenden Geschichtsspekulation seit Joachim von Fiori will. Es gilt, die Chancen und die Lasten der Gegenwart, ihre Wahrheit und ihre Fruchtbarkeit zu übernehmen.

Der hier vorgeschlagene Versuch sucht die Übereinstimmung der Botschaft in der Verschiedenheit der Epochen durch die Übereinstimmung der Methode, der theologischen Logik. Ich meine zugleich erweisen zu können, daß die Grundbestimmungen menschlicher Existenz, wie sie in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments ausgesagt sind, und die nicht außerhalb und oberhalb der historischen Strukturen ausgesagt und verstanden werden können, in diesen Strukturen zugleich durchhalten und wiederum durch die Aussagen des Evangeliums erhellt werden.

Es fragt sich nach dem bisher Gesagten, ob die Strukturen der nachbürgerlichen Welt von Kirche und Theologie aufgenommen und rezipiert worden sind. Es kann sich naturgemäß nicht darum handeln, daß ein so kompliziertes Gefüge als solches reflektiert wird. Dies wäre schon deswegen falsch, weil man sich nicht als Subjekt einer lediglich objektartigen Situation gegenüber sieht. Es fragt sich vielmehr, ob Kirche und Theologie durch eine Änderung ihres Grundverständnisses anhand ihrer eigenen Thematik durch eine neue Transformation in die verwandelte Situation hineingewachsen sind.

Man wird dies weder generell bejahen, noch generell verneinen können. Jedoch lassen sich einschlägige Veränderungen wenigstens wahrscheinlich machen. Rezipiert ist zunächst ein bedeutendes Maß von „Pluralismus” und eine Struktur, die dem oben geschilderten linearen Typus sehr nahe kommt. Ich bezeichne im folgenden das Miteinander der Mündigkeiten als „Pluralismus” (trotz der sonstigen Mißverständlichkeit des Begriffes) in dem auf S. 71 umschriebenen Sinne.

Solche Veränderungen sind kirchlich und ekklesiologisch aufzuweisen. In zunehmendem Maße besteht die Kirche in einem Inbegriff nebeneinanderstehenden, aufeinander nicht reduzierbarer Aktivitäten.

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In ihnen werden sehr verschiedene Antriebe und Verantwortlichkeiten wirksam. Sie lassen sich aber nicht zu einem schlüssigen Gesamtsystem vereinen. Daneben steht eine sehr große Zahl von Einzelnen, die je für sich einen bedeutsamen Beitrag zur Präsenz der Kirche leisten. Es handelt sich keineswegs um „Randsiedler” oder Einzelgänger, noch weniger um opponierende Individualisten alter Art. Sie sind meist durch die eine oder andere Tradition geformt, stellen aber regelmäßig für sich allein eine besondere Prägung dar. Es fand sich nach dem Kriege ein überraschend großer Kreis von solchen Einzelgängern, selbständigen und profilierten Christen in wichtigen sozialen Stellungen, die für die Arbeit der Kirche zur Verfügung standen. Sie stellen als Summe von Einzeltypen durchaus etwas neben jener Summe von selbständigen gruppenmäßigen Aktivitäten dar. Dieser Pluralismus als Nebeneinander und Ineinander stößt sich mit dem traditionellen — zeitweilig als „Gemeindeprinzip” mißverstandenen — Gemeindegedanken, der ohnehin in der Parochie als Flächenverband eine nur bedingte Darstellung findet. Aber genau darum ist es verfehlt, daraus umgekehrt eine Abwertung von Gemeinde und Parochie zugunsten „modernerer” Formen herzuleiten.

Die Kirche selbst, als Flächenverband, ist in einer ähnlichen Weise wie der Staat zum Rahmenverband geworden. Über diesen traditionellen Rahmen hinaus sind — auch insoweit ähnlich wie in der Umbildung des traditionellen Flächenstaates — zahlreiche gesamtkirchliche Verbindungen ausgebildet worden, die auf die herkömmlichen einheitlichen Einzelkörper nicht mehr zu verrechnen sind, konfessionelle Weltbünde, Ökumenischer Rat der Kirchen, Kommunitäten u.a.

In diesem Zusammenhang spielt der viel erörterte Dialoggedanke eine völlig andere Rolle, als die Dialogtheorie und die fragwürdige Sozialkonzeption von Buber-Ebner ihm zuweisen.31 Der Dialog bedeutet hier mehrerlei. Man muß den Dialog aufnehmen, ihn aufrechterhalten und kann ihn nicht abbrechen, weil dieses Ende einer negativen Entscheidung gleich kommt, die in der pluralistischen Situation nicht mehr möglich ist. Andererseits führt er nicht zu einem greifbaren positiven Ergebnis, zu einer neuen schlüssigen Verhältnisbestimmung, weil auch dies die Pluralität aufheben würde. Der Sinn des Dialogs ist auch nicht die Fusion der Gruppen oder Standpunkte. So hält der Dialog sich als Beziehungsform durch; er ist im gegenständlichen Sinne ergebnislos, aber nicht bedeutungslos, nicht funktionslos.

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Gerade jene relative Unbestimmtheit des Verhältnisses erweist sich als produktiv und situationsgerecht. Sie ist aber etwas anderes als die vom Schelsky diskutierte „Institutionalisierung der Dauerreflexion”. Für diese Situation ist die Tatsache kennzeichnend, daß das zweite Vatikanische Konzil auf alle formellen Dogmatisierungen, damit zugleich auf Anathematisierungen, alle strikten Negationen verzichtet hat und den Dialoggedanken rezipiert hat. Eine Ausübung der päpstlichen Unfehlbarkeit erscheint in einem radikalen Umschlag gegenüber der Situation von 1950 nicht mehr denkbar. Man könnte etwa sagen, daß bereits heute die Infallibilität auf dem Wege des Verfassungswandels aus einem konstitutiven zu einem regulativen Prinzip geworden ist.

Diese eingreifenden Veränderungen des äußerlich kaum veränderten Gefüges der Kirche stellen in der Tat eine weitgehende Rezeption der gegenwärtigen Strukturen dar. Ihnen entspricht wenigstens überwiegend und weitgehend auch eine Veränderung des Verhaltens zur außerkirchlichen Welt.

Auf diesem Gebiet lassen sich Anhaltspunkte für eine theologische Rezeption der Veränderungen zunächst im Bereich der Ekklesiologie feststellen. Schon das Thema von Amsterdam 1948 sprach von der „Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan”, wenn auch in sehr viel traditionelleren Formen, als wir es heute tun würden. Inzwischen ist die ökumenische Dimension der Kirche und ihre Weltbeziehung noch ungleich deutlicher hervorgetreten. War die Universalität der Kirche im Selbstverständnis der einzelnen Kirchen lange Zeit nur noch ein Überbau oder ein Anhängsel, so ist sie heute im strengen Sinne thematisch und konstitutiv geworden. Dieser Horizont kann nicht mehr verloren gehen. Dazu steht freilich in hartem Gegensatz, daß die Allgemeinheit der Kirche doch immer wieder als eine transzendente oder rein spirituelle Größe verstanden und so das Bekenntnis zu ihr zum stillschweigenden Doketismus gemacht wird.

Provinzialismus und Partikularismus der Kirchen und Gemeinden und des Glaubensverständnisses des Einzelnen sind im breiten Maße ungebrochen und ein entschlossener Angriff auf sie ist noch kaum vorgetragen worden. Sie finden in der Isolierung und Reprivatisierung der Einzelnen eine neue Stütze.

Auch für das Verhältnis der Kirchen auf dem ökumenischen Felde treffen im wesentlichen die Beschreibungen zu, die oben für die Funktion des Dialogs als eines rezipierten Prinzips gegeben worden sind. Hat sich also hier ekklesiologisch eine Parallelsituation zu der einheitlicher werdenden Welt und ihren Strukturen herausgebildet,

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so fehlt doch deutlich eine konkrete Übersetzung in die Existenz des Einzelnen und der Gemeinden. Dies ist freilich nicht zufällig. Es wird offenbar dadurch ermöglicht, daß der größte Teil der Kirchengeschichte einer Verfremdungstheorie preisgegeben worden ist, so daß in der historischen Länge Anknüpfung und Orientierung ebenso schwer fällt wie in der vorfindlichen Breite der Erscheinungen der Gesamtkirche.

Eine zweite Näherung ist eine deutliche Verwandlung des Glaubensbegriffs. Der alte Gegensatz zwischen dogmatischem und undogmatischem Christentum ist überlebt. Der letztere Begriff ist, funktional betrachtet, verfehlt. Denn wenn der Glaube denkerisch verantwortet wird (worauf in einer rationalen Welt gewiß nicht verzichtet werden kann!), muß er sich in der Struktur der Dogmatik formulieren. Nicht die dogmatische Funktion und die Struktur des Glaubens, sondern die explizite Positivität des formulierten kirchlichen Dogmas hat sich verändert. Gruppenmäßige Lehrtraditionen als virulente Kräfte stehen neben persönlichen Varianten nicht verrechenbar innerhalb eines relativ fundamentalen, zuweilen fast formalen Gesamtrahmens. Edmund Schlink hat in einem viel beachteten Aufsatz die Strukturwandlung dogmatischer Aussagen von der Doxologie in die rationale und ausschließende, mit dem Anathema verbundene Positivität dargestellt, die sich etwa im 5. Jahrhundert vollzogen hat. Heute tritt an die Stelle einer exklusiven Positivität eine mehr inklusive, die das Gemeinte in seiner Vielschichtigkeit und Tiefe mehr anzusprechen als auszusprechen unternimmt und beansprucht. Zu den gemeinten Symptomen gehört, daß die bisher als selbstverständlich vorausgesetzte rationale Einsichtigkeit und Definierbarkeit selbst der konfessionellen Unterscheidungslehren zurückgeht, fraglich geworden ist, jedoch ohne daß dadurch die Differenz der Haltungen und Tendenzen vermindert würde. Die Zugehörigkeit zu einem Lebensbereich als solche und die fides implicita gewinnen durch all dieses eine erhöhte Bedeutung.

Mit Sorge hat Hermann Diem32 andererseits schon vor längerer Zeit verzeichnet, daß die theologischen Schulen zu geschlossenen gedanklichen Systemen geworden sind, die, auf nicht beweisbaren oder widerlegbaren Voraussetzungen beruhend, immer nur akzeptiert oder abgelehnt werden können. Die Möglichkeit des vielberufenen Dialogs wird dadurch eingreifend eingeschränkt. Das typologisch Bedeutsame der Gesamtlage kann daher nicht in den Sachpositionen der einzelnen Schulen, sondern nur in den ihnen gemeinsamen Stilmerkmalen gefunden werden. Wolfgang Trillhaas33 hat neuerdings

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darauf hingewiesen, daß jede kirchengeschichtliche Epoche ihr besonderes geistlich-theologisches Anliegen besessen habe, welches sich dann in der Arbeits- und Blickrichtung in allen Gestaltungen ausgeprägt habe. Der Gegenwart mangele ein solches dominierendes Merkmal, ein solcher gemeinsamer Antrieb. Diese Beobachtung mag eine Strecke weit richtig sein. Im Ganzen überzeugt sie nicht. Eine gewisse gemeinsame Richtung scheint gleichwohl erkennbar zu sein. Nicht zufällig ist Interesse und Aktivität etwa der Gesamtdeutschen Synode seit dem Kriege ganz deutlich überwiegend auf ethisch-politische Verantwortlichkeiten gerichtet gewesen, während innerkirchliche und Lehrfragen zurücktraten.

In der alten Kirche besaßen die kanonische Zeugnisse der Heiligen Schrift eine Rangordnung. Die Evangelien als das Zeugnis von Leben, Taten und Verkündigung des Herrn selbst hatten den Vorrang auf der rechten Seite, AT und apostolische Schriften ordneten sich dem unter und standen auf der linken Seite. Diese sichtbare Rangordnung, die Aufteilung in Evangelien- und Epistelseite ist mit dem Zerfall der liturgischen Formen nicht nur sichtbar aus dem Blick gekommen, sondern schrittweise auch sachlich preisgegeben worden. Die reflexive Theologie der apostolischen Schriften, insbesondere des Apostels Paulus bot der akademischen Theologie verwandteren Stoff als die evangelischen Berichte, zumal diese bis zu einem gewissen Grade durch die Formen der Gemeindetradition verdunkelt erscheinen konnten.

Tritt an die Stelle der Komplexität des biblischen Zeugnisses als Zeugnis eines neuen Lebens und Seins die Reflexion und Reflektiertheit, so gewinnt die innere Folgerichtigkeit der theologischen Auslegung entscheidende Bedeutung. Diese Reflexion untersteht dem Gesetz der Konsequenz und zwingt einen Zentralpunkt zu suchen. Die Auslegung wird zur Auswahl, wobei man billigerweise dann methodisch andere Auswahlgesichtspunkte anerkennen muß, obwohl dieser selbstgeschaffene Pluralismus beschwerlich fällt. Die Begriffe Schrift, Wort, Glaube haben zunächst und ihrer Intention nach einen inklusiven Charakter, der den Gesamtbestand der biblischen Tradition umfassen soll. Nunmehr wird man fast tragisch zur Auswahl gedrängt.

Der ganze Kanon wird dem Kanon eines formalen Leitprinzips unterstellt. Dies ist nicht einfach die Unterstellung unter Zwecke und Prinzipien, die der Theologie fremd sein müssen. Der Versuch ist und bleibt ein Versuch, das Ganze des Evangeliums mit der Existenz des Menschen schlüssig zu verbinden. Und doch gerät dieses Ganze

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in eine Engführung, die durch die Zuspitzung auf den Endpunkt der Entscheidung, der Zukunft, der Verantwortung bedingt ist. Es zeigt sich damit, wieviel dadurch verlorengegangen ist, daß anstelle der vielfältigen institutionellen Existenz-Interpretationen, die wir im NT selbst vorfinden, die Reduktion auf die „Person an sich” getreten ist.

So die für diese Tendenz typische Aussage in Jürgen Moltmanns „Theologie der Hoffnung”:34

„Eine solche Theologie muß das „Kreuz der Gegenwart” (Hegel), ihre Gottlosigkeit und Gottverlassenheit, annehmen und daran den „Geist der Auferstehung” theoretisch und praktisch erweisen. Dann aber würde Offenbarung Gottes sich nicht als Geschichte dieser Gesellschaft erweisen und bewähren, sondern würde dieser Gesellschaft und dieser Zeit den eschatologischen Prozeß der Geschichte allererst eröffnen. Für den Theologen geht es nicht darum, die Welt, die Geschichte und das Menschsein nur anders zu interpretieren, sondern sie in der Erwartung göttlicher Veränderung zu verändern”. (S. 74 — Cursive von mir, Sperrungen vom Verf.)

Nachdem Moltmann in scharfsinniger und vielfach sehr treffender Weise die theologischen Hauptkonzeptionen der Gegenwart kritisiert hat, und noch vor einer Begründung des eigenen Standpunkts tritt spontan und elementar die Forderung nach Praxis und Bewährung hervor. Die Theologie unterstellt sich selbst einem Effektivitätszwang, einem syllogismus practicus a priori (ohne Sorge, dem Gesetz und seinen Werken zu verfallen). Die Anlehnungen an Marx und Bloch sind deutlich. Auch Moltmann wird dem Zwang der Verbindung von Interpretation und Handeln nicht zu entgehen vermögen. Typologisch interessant ist die hervordrängende Tendenz zur Vorrangigkeit der verändernden Praxis. Sie gewinnt Eigenbedeutung, indem dadurch nach der dunklen Emphase des Mittelsatzes die Geschichte in ihrer eschatologischen Eigentlichkeit eröffnet wird.

Was hat Moltmann nun eigentlich getan, worin besteht die bei ihm erfolgte Fortbildung? Er hat die traditionelle quasi-räumliche Anschauung „oben — unten” sozusagen umgeklappt in einer zeitliche Bewegung nach vorn als Hoffnung, Zukunft, Verheißung. Entgegen Absicht und Erklärung wird die hier angesprochene Bewegung, soweit sie vom Menschen aufgenommen und getragen wird, praktisch ununterscheidbar von der innerweltlichen Geschichtsbewegung, welcher etwa in Anlehnung an Bloch ein progressiver, positiver, zielgerichteter Sinn unterlegt wird. Da aber durchaus versucht wird,

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die Differenz zwischen beiden festzuhalten, entsteht keine Identität, wohl aber eine Vergleichbarkeit der progressiven Strukturen: nach der analogia entis und der analogia fidei entsteht eine „analogia actionis”. Die Differenz vorausgesetzt, wird doch die Veränderung — und die sie herbeiführende aktive Bewegung — das einzige eindeutige, erkennbare und zugleich gemeinsame Merkmal. Anstelle eines individualistischen Aktualismus, der auf das Jetzt und Hier bezogen ist und irrigerweise meint, Einzelentscheidungen in der Jeweiligkeit treffen zu können, tritt ein kollektiver Aktivismus, der seinen negativen Festpunkt in aller Gegenwärtigkeit als dem Produkt einer verderbten Vergangenheit hat. So hat alle Präsenz ihre Eigentlichkeit in dem, was aussteht. So wird gerade entgegen allen Versicherungen die menschliche Existenz in ihrer Gebrochenheit nicht rezipiert, da ja alle geschichtlichen Gestaltungen dieser Existenz, von denen sie nicht gelöst werden kann, abgewertet werden. Die Konversion wird versucht, kann aber als Differenz nicht durchgehalten und einsichtig gemacht werden. So wird sie in Wahrheit übersprungen; die eschatologische Interpretation bleibt als einzige bestehen. Die grundsätzliche Dialektik von „Noch nicht” und „Doch schon” wird aufgelöst.

Die Traditionsmerkmale des konfessionellen Calvinismus sind bei alledem so modernisiert, daß die mit diesem historischen Typus gegebene Begrenzung (bei aller sonstigen Empfindlichkeit gegen Wiederholungen und konfessionelle Theologie) ebensowenig empfunden wird wie die Wiederkehr alter, in anderer Terminologie schon früher behandelter Probleme.

Für die (Bultmannsche) „Theologie der transzendentalen Subjektivität”, wie sie Moltmann a.a.O. S. 51 ff. nennt, hat „Eschatologie gänzlich ihren Sinn als Ziel der Geschichte verloren und ist im Grunde als Ziel des individuellen Seins verstanden”.35 Um im eigentlichen Sinne Person sein zu können, muß sich der Mensch von seiner Welt radikal unterscheiden. Alle Aussagen über die Gottesbeziehung der Person werden nur durch ihr Gegenteil, die Weltbeziehung definierbar (a.a.O. 55 f.). Daher das zentrale Interesse am Begriff der Entscheidung.36 Diese radikale Isolierung des Menschen von der Welt, diese „Entweltlichung”, widerspricht aller Welterfahrung in ihrer Widersprüchlichkeit und erzeugt ein falsches Pathos der Säkularisation. Aber sie ist ein echtes Symptom einer in der gegenwärtigen Welt eingetretenen Isolierung des Menschen. Immerhin stellt diese Lehre, wie richtig oder falsch sie sie beantworten mag, die Frage nach dem Heil und besteht auf diesem zentralen Anliegen.

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In gleichzeitiger dialektischer Umkehrung aber wird die Übernahme der Weltverantwortung im umfassendsten Sinne innerhalb und unter der Voraussetzung einer einheitlich gewordenen Welt, wird jene Veränderung von Welt, Geschichte und Menschsein — in der Erwartung göttlicher Veränderung — als Aufgabe von Theologie und christlicher Existenz verkündet. In dem Maße, in dem sich das zum umfassenden Entwurf verdichtet, wird das Wesentliche immer erst in actu, in der Wahrnehmung dieser Aufgabe, dem Handeln Gottes gleichsam entgegengehend, erfahren, kommt es zu, stellt sich heraus. Im gleichen Maße wird die Existenzfrage als solche vorausgesetzt oder stillschweigen ausgeklammert. Sie kann immer nur in actu gestellt werden, d.h. in einer Situation, die von dem Zukommenden bestimmt wird — sonst erscheint sie wie ein falscher Heilsegoismus.

Die Vorgängigkeit des Handelns Gottes, sein perfectum, seine Vorgabe, auf welche Glaube und Existenz sich gründet, verschwindet, tritt zurück, erscheint mit aller im Glauben ergriffenen Gegenwart fragwürdig und verdächtig, unzeitgemäß, vielleicht schon, weil hier und hier allein sich mit der Zeit als unserer Zeit noch der konkrete Raum unseres Lebens verbindet, und der Absorption in die reine Zeit widerstreitet. Jede legitime Besinnung auf Zukunft muß nicht nur Gottes Zukunft und die innerweltliche Zukunft unterscheiden, um sie überhaupt sinnvoll verbinden zu können, sondern sie darf jene Rückverweisung nicht verschweigen.

Was sich also zeigt, ist eine Existenztheologie ohne Weltbezug und eine Theologie der Weltverantwortung ohne explizite Existenzfrage. Man könnte auch sagen: Anthropologie und Kosmologie fallen noch tiefer auseinander als je zuvor. Abschwächungen und Vorbehalte ändern daran nichts.

Beide Tendenzen und beide Bildungen sind aufeinander bezogen. Sie korrespondieren wie Bruchstücke. Sie sind charakteristische Symptome und eben darum der Ausdruck für die Tatsache, daß weder die eine noch die andere sich der Situation bewußt ist. Sie sind also Symptom und nicht Diagnose, geschweige denn Therapie. Genau in den Bruch zwischen beiden droht der Mensch zu geraten, in ihm unterzugehen, in ihm ist er bereits gleichsam verschwunden. Denn weder die Forderung, die Existenz zu übernehmen, noch sich das Entscheidende zukommen zu lassen, löst den tiefen Widerspruch, in dem er sich befindet. Die Theologie hat dann die sozialen Strukturen der Zeit nicht in Freiheit rezipiert, sondern spiegelt sie lediglich in ihren Gegensätzen wider. Diese beiden Kontrapositionen

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lassen mindestens vermuten, aus welchen Gründen die ökumenische Dimension der Kirche so schwer in die Existenz der Einzelnen und der Gemeinde vermittelt werden kann.

Die von Moltmann (a.a.O. S. 57) gestellte Aufgabe, „Gotteserkenntnis in einer Korrelation von Weltverständnis und Selbstverständnis zu entwickeln”, ist nicht die vergleichsweise einfache Sache besseren theologischen Denkens, sondern erfordert die Aufdeckung des tiefen Bruchs, aus dem eben jene bezügliche Kontrapositionen hervorgegangen sind und sich erneuern. Die Theologie darf sich weder auf die entweltlichte, weltlose Existenz des Menschen beschränken und zurückziehen noch sich an den Anspruch der Welt, wie schon so oft, verlieren. Vermöge ihres symptomatischen Charakters ihre Entsprechung zum Gegenteil verkennend, tut sie immer das Eine oder Andere. Deshalb vermag sie, wo sie widersprechen sollte, nicht zu widersprechen, und was sie verbinden sollte, nicht zu verbinden.

Eine Bezugnahme auf Hegel, wie bei Moltmann, finden wir auch bei Wolf Dieter Marsch. In seinem Buch „Gegenwart Christi in der Gesellschaft”, untersucht er die Bedeutung der Hegelschen Dialektik für die evangelische Ethik (S. 236 ff.). Hier heißt es (S. 264 f.):

„Dialektische Theorie, die den Gegensatz von Entzweiung und Versöhnung, Kreuz und Auferstehung zum Schlüssel für eine Interpretation der historischen Gesamtsituation benutzt, heißt dann: Theorie der Geschichte des in Christus erhöhten Menschen, Theorie der nachchristlichen Gesellschaft, in der der Widerspruch von Identität und Nichtidentität, Anspruch auf „Leben” und seinem Verlust, dialektisch verarbeitet werden muß. Die historische Situation wird als entzweite analysiert, um in ihr die offenen und dem Menschen aufgegebenen Möglichkeiten der Versöhnung erst zu entdecken.
Daß eine solche kritische Theorie seit Hegels Zeiten nicht leichter geworden ist, leuchtet ein: die Verdinglichung des Bewußtseins — durch Mittel der Produktion und Kommunikation, des Warentauschs und der politischen Herrschaft — sind unerhört intensiver geworden, so daß es immer schwerer erscheint, überhaupt von einer nicht institutionell bedingten Kultur zu sprechen. Gerade dann aber wäre es die Aufgabe der christlichen Ethik, die Geschichte des in Christi Auferweckung erhöhten Menschen zu schreiben, die sich auf jene Verdinglichungen des Bewußtseins wirklich einläßt und sie zugleich transzendiert … und das heißt: für eine Gesellschaftsordnung einzutreten, in der die emanzipative Freiheit in ihren Entäußerungen leben kann.

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… Ihre (der Kirche) Funktion besteht (dann) darin, jenes Bewußtsein des „Lebens” in seiner Entzweiung und Versöhnung zu erregen, ein Bewußtsein für die Geschichte des Auferstandenen und Gekreuzigten zu wecken, auf daß „reell die Welt glücklicher und versöhnter werde”. Damit aber erfüllt sie ihre Sendung, — der Sammlung … bedarf es nur um dieses Bewußtseins willen, sie hat keinen Sinn in sich selbst.”

Marsch verwendet hier den Institutionsbegriff in einem sehr engen und pejorativen Sinne, der mit dem Forschungsstand der Institutionensoziologie nicht zu vereinen ist — allenfalls mühsam im Wege einer terminologischen Einschränkung. Eine institutionslose Kultur gibt es überhaupt nicht — Institution ist als personale oder transpersonale immer vorhanden. Wird Institution wie hier wesentlich als Inbegriff sekundärer Systeme und der notwendigen Veräußerlichung in diese verstanden, so wird gerade damit das romantische Bild einer früher institutionslosen Kultur vorausgesetzt. Die Institutionalität des Menschen gehört aber zu den existenzialen und geschichtlichen Komponenten unseres Menschseins, die bedingungslos rezipiert werden müssen, auch wenn noch so viele für biblisch ausgegebene, neukantianische Vorurteile in der evangelischen Theologie entgegenstehen. Wer sich mit Geschichte befassen will und die Institution abwertet oder gar verteufelt, wird schwerlich glaubwürdig sein können. So wie die eingangs erwähnte, überholte Soziologie Bultmanns keine sachliche, sondern nur symptomatische Bedeutung hat, so ist die Verzerrung des Institutionenproblems bei Moltmann36a ein Zeichen dafür, daß die geschichtlich-soziale Realität in Wahrheit nicht angenommen wird.

Auf dem Wege der Entschlüsselung der schwierigen und gewaltsamen Abstraktionen Hegels (und seines Werdegangs) ist Marsch zu einer Sicht realer Dialektik gekommen, die den hier vorgetragenen Auslegungen sehr ähnelt. Aber freilich ist dies mehr als eine ethische Frage; es ist eine Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen in der Geschichte, an dem dann die ethischen Entscheidungen hängen. Marsch verleugnet freilich seine eigene Konzeption und Denkform, wenn er ganz undialektisch die Spannung von „Sammlung” und „Sendung”, von Kirche und Welt auflöst. —

Zunächst wäre die Einsicht und das Bekenntnis der Theologie erforderlich, daß sie selbst sich jenes Bewußtseins, welches sie zu „erregen” berufen ist, — um in den oben verwendeten Hegelschen Termini zu reden — gänzlich entschlagen hat, und daß sie deshalb die Versöhnung eines Gegensatzes, den sie nicht erkennt, auch nicht zu

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predigen vermag. Die streitenden Theologen sind vielmehr der klassische Ausdruck der Unversöhntheit, weil ihre Verfechter zusammengenommen und unbewußt den Gegensatz repräsentieren, den sie auszulegen und dessen Versöhnung sie zu verkündigen hätten. Dazu müßten sie sich in einer ihre eigenen Voraussetzungen widersprechende Weise selbst transzendieren und überwinden. Wenn das geschähe, würde sich auch die Bedeutung der Kirche anders darstellen. Auf die übrigen in dem Zitat enthaltenen Fragen ist hier nicht einzugehen.

b) Konversion

Wie steht es bei dieser Lage mit den Schritten, die unabdingbar erscheinen, wenn mit der Transformation in die Gegenwart die Botschaft nicht ihr Salz verlieren soll? Bis jetzt überwiegt der Gedanke der Anpassung so sehr, daß die Aufgabe der Konversion noch kaum in den Blick gekommen ist. Die Situationsgerechtigkeit droht zur Glaubensgerechtigkeit zu werden. Zugleich ist die Neigung deutlich, unter Negation alles Gegenwart die Konversion zu überspringen und in direkter eschatologischer Interpretation alles Wesentliche vom noch Ausstehenden zu erwarten. An die Stelle der weltlosen Existenz tritt die gegenwartslose Zukunftsverweisung.

Diese Konversion kann nicht das schlechte Schlagwort der „Konversion zur Welt” bedeuten. Sie müßte den sinngemäßen Widerspruch formulieren, den für ihre Zeit so genial die Reformation zu treffen verstanden hat. Eine Existenztheologie, die es wagt, von der Entweltlichung zu reden, hat wenigstens den Mut, jener Verliebtheit in die Welt zu widersprechen, in welcher die Welt selbst und die der Welt zugewandte Theologie so seltsam übereinstimmen. Wenn also immerhin Weltlosigkeit anstelle von Weltbezogenheit als Programm formuliert werden kann, so daß alle Weltverantwortung dann nur noch eine konsekutive, aber nicht mehr konstitutive Bedeutung besitzt, so ist dies eben doch keine Antwort auf die Frage nach der Konversion.

Umgekehrt ist charakteristisch, daß in den Konzeptionen von der Hoffnung, von der Weltverantwortung die Frage nach diesem Widerspruch keinen systematischen Platz hat. Es ist die wache Anspannung auf diesen Richtpunkt, die anstelle eines religiösen Rigorismus den Menschen mit großer Entschiedenheit in Beschlag nimmt. Schon die quantitative Fülle der damit gegebenen Beziehungen, Probleme, Sachverhalte wird zu einer umfassenden Inanspruchnahme und verdeckt dadurch die Frage nach der theologischen

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Qualität der so gewonnenen Ausrichtung. Ehe man den großen Umkreis der Aufgaben und Fragen nur einigermaßen durchmessen hat, ist die Frage nach Grund und letzter Bedeutung längst im Meer der Tatsachen ertrunken. In dem Maße wie ABC-Waffen und Welternährung, Bevölkerungsplanung und Bildungsreform, Weltregierung und Friedenssicherung zum umfassenden wissenschaftlichen System der Weltverantwortung und Weltgestaltung werden, in dem Maße wird die physische Existenz des Einzelnen eingeschlossen, die Frage nach dem Heil und der Existenz coram deo aber entweder vorausgesetzt, mit dieser Bewährung identifiziert oder unwesentlich. Der Mensch wird in einem unendlichen Feld enthusiastisch zum Einsatz angespornt und zugleich durch die unerbittliche Forderung situationsgerechten Denkens und Handelns tragisch und bis zur Selbstzerstörung überfordert.

Beide Richtungen lassen in gewissem Umfange ihre konfessionsgeschichtliche Herkunft erkennen. Die Theologie der Entweltlichung ist in letzter Formalisierung jene Form lutherischer Theologie als Präsenz des Glaubens, die deswegen keine spezifische, konkret im Zukünftigen ausdrückbare Eschatologie zu entwickeln vermag. Die an früherer Stelle genannten Merkmale werden das Gemeinte verdeutlichen. Die Theologie der Hoffnung und Verantwortung dagegen zeigt in naher Verwandtschaft die klassischen Merkmale des konfessionellen Calvinismus und des Humanismus, der an vielen Orten sich mit jenem leicht verbunden hat. So treffen wir noch einmal das Spannungs- und Ergänzungsverhältnis, welches sich bei der Darstellung der beiden großen protestantischen Konfessionen am Ende herausschält. Wie bei diesen ist die Frage nach der eschatologischen Interpretation damit bereits angesprochen.

In diesem weiten und spärlich bebauten Felde können zur Förderung nur wenige Ansätze gezeigt, einige Beispiele beigebracht werden. Von einem Einzelnen kann die Aufgabe der Konversion nur in einigen Perspektiven angegangen werden.

Mündigkeit ist eine Befindlichkeit, die uns die Geschichte sozusagen in corpore verliehen hat, in deren Besitz, Anspruch, Bewußtsein (in dem beschriebenen sozial qualifizierten Sinne) wir uns vorfinden. Die theologische Aussage, daß wir zur Mündigkeit berufen sind (Bonhoeffer) drückt diese geschichtliche Lage nicht aus. Sie hat schon immer, sogar für den Sklaven Onesimus im NT gegolten. Diese Mündigkeit ist vollends nicht bloße Autonomie oder gar Berechtigung zur Willkür, sondern schließt im Begriffe Verantwortlichkeit, Strafmündigkeit ein. Wenn der Mensch nun diese geschichtlich

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erwachsene Mündigkeit der Moderne durch Wissenschaftsgläubigkeit, durch mangelnde Kooperation, unfolgerichtig, irrational gebraucht und mißbraucht, so ist dies über die Verfehlung und Verfehlbarkeit hinaus ein bedeutsames Merkmal der Situation. Aber es hat keinen Sinn, deshalb zu sagen, wir hätten die Mündigkeit „noch nicht erreicht”, seien also trotzdem noch „unmündig”. Sein und Sollen, aber auch Strukturbeschreibung und theologischer Berufungsgedanke verschwimmen hier ineinander.

Mündigkeit heißt hier zu allererst die Bewährung der Gabe der Geisterunterscheidung. Es ist auffällig, aber nicht zufällig, daß in der Debatte um die moderne Theologie vom Geist ziemlich selten die Rede ist. Die Pneumatologie scheint in eine allein an der Menschlichkeit Christi interessierte Christologie einerseits und die autonome Vernünftigkeit, insbesondere der theologischen Wissenschaft andererseits absorbiert, der gegenüber der Laie als Nichttheologe, als „Nicht-Fachmann” unmündiger geworden ist als je zuvor. Die Gabe der Geisterunterscheidung bewährt sich aber in der Aufdeckung der bezüglichen Differenz zwischen Evangelium und Welt. Die Mündigkeit des Christen wird leer, wenn durch Entweltlichung oder Verweltlichung des Glaubens das dialektische Verhältnis zwischen Evangelium und Welt zerstört wird. In ganz ähnlicher Weise wollten schon wesentliche Vertreter des philosophischen Idealismus die Kirche in die Welt aufheben.

Zunächst geht es um die Konversion der Mündigkeit — nicht um ihre Aufhebung. Mündigkeit heißt Recht und Fähigkeit, für sich selbst zu sprechen, seine Möglichkeiten und seine Eigenständigkeit wahrzunehmen, in dem doppelten Sinne des Bewußtseins, der Erkenntnis der eigenen Lage und des aktiven Handelns. Nicht umsonst ist die Entwicklung zur Mündigkeit über die Bewußtwerdung alles Einzelnen als Person und Gruppe verlaufen.

Die erste Umkehrung der Mündigkeit schließt sich an das an, was über den Kindschaftsbegriff gesagt ist. Es ist die schon im Neuen Testament verkündete und verliehene Vollmacht zu beten, seine Not vor Gott zu bringen, ihn anzubeten, zu loben und zu preisen.

Die zweite Umkehrung ist die Freiheit, nach eigener Wahl und Einsicht, nicht nach fremden Gebot zu schweigen, wo es sinnvoll ist. Eindrucksvoll hat Albert Schweizer in einer Adventspredigt von dem Schweigen des einsamen Pflügers hinter dem Pflug gesprochen, der nicht zurückschaut, aber auch nicht mit den anderen Pflügern spricht, jedoch mit ihnen in wortloser Übereinstimmung steht, und dessen Furche dazu bestimmt ist, wiederum verdeckt zu werden.

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Die dritte Umkehrung ist der schon von Luther vielfach vertretene Gedanke, anstelle der eigenen Rechte diejenigen der anderen wahrzunehmen, also für sie mündig zu sein, sich selbst auszuklammern. Es ist schön, denjenigen zu helfen, die sich nicht selbst zu helfen vermögen.

Eine solche wesentlich auf den Einzelnen verweisende Konversion wäre nur dann zeitentsprechend, wenn sie in der sozialen Situation von heute dem Sicherheitsbedürfnis, der Sekurität entsagte und widerspräche, die für die Zeit typisch ist. Das hieße, den Verzicht nicht auf den gegenständlichen Besitz, nicht auf die Freiheit des Handelns in einer vorgegebenen, abgeschlossenen Bindung, sondern auf die Sicherung der Laufbahn, die wohlerworbenen Statusrechte, die systemimmanent als soziale Sicherheit notwendig und sinnvoll sind. Gruppen wie Taizé, die Aktion Sühnezeichen, das Friedenscorps und manche anderen Kommunitäten und Arbeitsgruppen sind typologisch gesehen eine zutreffende Form der freien Konversion der Mündigkeit in dem hier gemeinten und geforderten Sinne.

Wie kann aber die Kirche ihre eigene Mobilität und Beweglichkeit, die missionarische Anpassung an die jeweilige Lage der Menschen erlangen, wenn — weit mehr als in ruhigen bürgerlichen Zeiten! — am Anfang des vielberufenen Dienstes der Anspruch auf Status und Standard steht, Verzicht und Opfer in der Verbrauchsgesellschaft als systemwidrig und deshalb auch den Dienern des Evangeliums nicht mehr als zeitgemäß gelten?

Dieses Handeln in der Mündigkeit für Andere ist insoweit folgerichtig und lageentsprechend. Man sieht alsbald, daß es sich regelmäßig um sehr verschiedene Gruppen handelt und handeln muß. Die Konversion der Gruppe setzt eine freie Disziplinierung in dem Sinne voraus, daß sie ihren Eigensinn in einer Dienstbarkeit sieht, die außerhalb der Funktionalisierung steht. Sie ist nicht dazu da, um etwas billiger zu tun, was anderwärts teurer wäre, sondern um etwas zu tun, was überhaupt nicht getan würde, aber um des Menschen willen getan werden muß. Sie muß bereit sein, dies immer in einem universalen Zusammenhang der Sendung zu sehen und zu halten, von dem meist nur ein kleiner Teil einsichtig gemacht werden kann. Die Einübung in diese Haltung erfordert eine ständige Selbstüberwindung.

Ohne die traditionelle Form des Ordens erfüllen jene Gruppen dessen Funktion. Die historischen Orden haben die Spannung und Differenz, die Dialektik in der Existenz des Christen selbst offengehalten und sichtbar gemacht. Die Reformation hat dagegen den kühnen

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Versuch unternommen, diesen Widerstreit und seinen Austrag jedem Einzelnen aufzulasten, mit der Wirkung, daß dieser Einzelne überlastet und jene Dialektik überdeckt wurde. Ohne Freiheit von der Welt keine Freiheit zur Welt, ohne Widerspruch gegenüber der Welt kein Dienst an der Welt.

Umgekehrt muß auf den Plan das strenge Herrenwort angewendet werden, daß der Sabbat um des Menschen und nicht der Mensch um des Sabbats willen da ist. Wenn der Mensch seine Selbstproduktion, die ständige Weiterproduktion seiner Welt zu seinem Sabbat gemacht hat, so muß dieses Fest zur Selbstentfaltung dem Menschen dienstbar gemacht werden. Die Vorstellung, daß man den Einzelnen und den Gruppen die Dinge nur zur freien Entscheidung in die Hand geben müsse und könne, ist von einem alten Weltverständnis her gedacht und liefert den Menschen nur den immanenten Tendenzen, der statistischen Zufälligkeit und seinem Mangel an Information und Übersicht aus. Die Bändigung dieser Möglichkeiten ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

Diese folgerichtige Haltung wird aber ihren Gegenstand doch nur erreichen, wenn sie sich der mächtigen Triebkraft bewußt wird, die in den Bedingungen der Zeit liegt. Die Gammler an den Straßenecken, die vielen lauten und leisen Emigranten aus der Zeit, die zahllosen menschlich isolierten Einzelnen sind der Lazarus der Gegenwart, dessen Wunden schwerer zu verbinden sind als ehedem. Unsere ethische Anstrengung, die das Überleben erreichen, Hunger und Not wenigstens abfangen wollen, erreichen sie in der Tiefe gar nicht. Sie drohen an der Spaltung zwischen Mündigkeit und Plan, zwischen Gegenwart und Zukunft zugrunde zu gehen, weil die Vermittlungen ausgefallen sind und dort am wenigsten ersetzt werden können, wo die Notwendigkeit dieser Vermittlung gar nicht gesehen wird. Die Tradition als solche ist hier kein Heilmittel, aber ihre Zerstörung eine zusätzliche Belastung, weil sie die Entwertung der Gegenwart noch radikal vermehrt und die noch sinnvollen Teile von Vermittlung, die das Leben erträglich machen, unnötigerweise zerschlägt. Alles das droht die Kräfte zu verstärken, welche die Menschen wie mit einem lautlosen Katapult aus den Bindungen und Zusammenhängen hinaustreiben, mindestens die Stillen, weniger die Vernehmlichen. Je mehr Verantwortung, Plan, Zukunft, desto härter wird die Entwertung aller Gegenwart wirksam.

Carl Friedrich von Weizsäcker und Günter Howe sind, jeder für sich wie in vielfacher Zusammenarbeit, in langen Jahren der Frage nachgegangen, was das Weltbild der neuen Physik für unsere

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Existenz bedeutet und welche Verantwortungen uns zugleich die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft und Technik auferlegt. Physik, Ethik und Politik in neuer Weise in Verbindung zu bringen, war und ist ihr, bisher nur in begrenztem Maße in das öffentliche Bewußtsein übergegangenes, Anliegen. Einen bedeutenden Schritt in dieser Arbeit stellten die 11 Thesen dar, welche eine Studienkommission der Evangelischen Studiengemeinschaft zur Frage der Atombewaffnung unter Beteiligung der beiden Genannten erarbeitet hat. Es scheint mir notwendig, diese, frühere Denkformen grundsätzlich überschreitende, bisher weder überbotene noch widerlegte Konzeption in diese Erwägung einzubeziehen.37 Es ist die Auffassung, daß einander ausschließende Haltungen theologischer Ethik im Verhältnis der Komplementarität zueinander stehen können und in diesem begriffen werden sollten. Im Grund waren damit zwei verschiedene Existenzsituationen gemeint, — die Lage des je Einzelnen, der in jener tragischen Wahl zwischen Engagement und Absage eine eindeutig negative Entscheidung trifft, weil er sie treffen kann, während Eisenhower oder Kennedy angesichts der konkreten Weltverantwortung die Wahl dieses disengagements nicht hatten. Sorgfältige Erwägungen haben zu der Einsicht geführt, daß er sehr wohl einer biblisch-legitime Dialektik in der christlichen Existenz zu entsprechen vermag.38 Es ist eine positive Dualität, welche sich etwa im Verhältnis von Großkirche und Orden höchst fruchtbar erwiesen hat. Gerade die Reform der Römisch-katholischen Kirche wäre ohne den entscheidenden Beitrag der Ordenstheologie schwerlich denkbar gewesen.

Die Kritik an dieser Konzeption war zum Teil erkennbar zweckbedingt. Theologen, welche sie in der Theorie bejahen mußten, verleugneten sie in der Praxis dort, wo sie ihnen politisch unbequem war. Der Protest was im übrigen sicherlich insofern unzulänglich, als er mit Selbstverständlichkeit eine gegenständlich-eindeutige, einheitliche Haltung als notwendiges Ziel der Erkenntnis im Auge hatte und höchstens praktische Schwierigkeiten der Urteilsbildung zugestand. Es war eine relativ einfache Vorstellung, als könne und müsse anstelle einer früheren, ziemlich selbstverständlichen Bereitschaft zur Anerkennung der gegebenen Formen des Handelns nunmehr ein ebenso einfacher und durchgreifender Widerspruch treten. Gerade wenn das ein gewisser Konformismus war, so war die Umkehrung in einen bloßen Nonkonformismus keine Lösung des in Wahrheit gar nicht gesichteten Problems. Sicherlich konnte hinter diese Erkenntnis und die damit erreichte Stufe der Besinnung nicht

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zurückgegangen werden. Es ging darum, weiterzudenken. Deshalb hat diese Kritik und Haltung insoweit Recht, als sie sich jedenfalls nicht mit einem unauflöslichen, unversöhnlichen Antagonismus der Haltungen zufrieden geben will. Der Christ muß danach fragen, was diesen Bruch, auch und gerade für ihn — und die Welt, überwindet.

Wir haben also zwei Lebensrichtungen in der gegenwärtigen Kirche, die für die Situation typisch sind und ihr sinngemäß entsprechen. Dies ist einmal die Bewegung der Kommunitäten und Dienstgemeinschaften, die den Widerspruch des Glaubens, die Konversion der nachbürgerlichen Struktur mehr oder minder deutlich, mindestens virtuell entfalten. Es ist bedenklich und bedauerlich, daß die Ökumene von diesen Kräften keinen Gebrauch macht und sich im Gegensatz zu früher und zu ihren Anfängen aus den Volkskirchen zusammensetzt. Sie verliert damit mehr als eine Kraft der Spontaneität, nämlich ein wesentliches Element der heutigen kirchlichen Existenz, welche nicht mehr auf einen einheitlichen subjektartigen Kirchenbegriff zurückgeführt werden kann.

Wir haben sodann, wenn auch vorerst mehr in Umrissen und in der Intention eine ökumenische und universalistische Bewegung zur Weltverantwortung, die offenbar aus inneren Gründen nur schwer in die Gemeinden und die Existenz des Einzelnen vermittelt werden kann. Dazwischen fehlt durchaus eine zeitgerechte Form nachbürgerlichen Christentums, welches insoweit auf die keineswegs abgestorbene, aber zu einer zu kurzen Decke gewordene Tradition zurückverwiesen und einer tiefgreifenden Unsicherheit anheimgefallen ist. Tradition und psychologisches Bedürfnis eines einlinigen Glaubens- und Personbegriffes stehen der Gewinnung einer entsprechenden Haltung höchst wirksam entgegen.