IV. Die Rechtsstruktur des bürgerlichen Zeitalters

 

Wenn hier im folgenden vom bürgerlichen Zeitalter und von der Struktur eine bürgerlichen Sozialordnung die Rede ist, so muß dies im Zusammenhang der Rechtsgeschichte eindeutig definiert werden. Das bürgerliche Zeitalter beginnt mit der Ausbildung schuldrechtlicher Verträge, für welche, wie wir sahen, die älteren Rechtsordnungen keinen Platz hatten. Noch das Gaius-Schema, die bis in das ausgehende 19. Jahrhundert maßgebliche Anordnung des Lehrstoffs des Römischen Rechts, teilt das gesamte Zivilrecht in personae, res und actiones ein. Dieses Schema hat noch der geltende Codex juris canonici von 1917 als Anordnungsprinzip übernommen. In diesem, auf frühe rechtsgeschichtliche Perioden zurückverweisendem Schema ist ersichtlich für das Gebiet des Schuldrecht überhaupt kein Platz. Das deutsche BGB von 1900 dagegen ordnet den Stoff in: Allgemeiner Teil (Personenrecht) und Recht der Rechtsfähigkeit (Schuldrecht), Sachenrecht. Die Sachen werden zu Objekten, welche das Subjekt zur Erfüllung seiner verbal begründeten Verpflichtungen benötigt. Die Sache hat aufgehört, den Menschen zu qualifizieren, nachdem dieser sie qualifiziert hat.17

Im Sinne der Weberschen Rechtssoziologie ist der schuldrechtliche Vertrag der Zweckkontrakt. Es ist ein verbaler (mündlicher oder schriftlicher) Vertrag zwischen Gleichberechtigten auf zukünftige Leistung im Rahmen des objektiv Möglichen und sittlich Zulässigen — regelmäßig, aber nicht begriffsnotwendig zweiseitig. Es handelt sich also nicht mehr um die gegenwärtige Veränderung des Rechtsstandes von Personen oder Sachen, sondern um die Disposition über die eigene Handlungsfähigkeit, die durch die Erfüllung der versprochenen Leistung in der Zukunft betätigt, damit zugleich aber durch Erfüllung wieder freigesetzt wird. Nur in Bezug auf den schuldrechtlichen Vertrag gibt es den Begriff der Erfüllung. Die statusrechtliche Anwartschaft dagegen, die wir betrachteten, fällt an. Der schuldrechtliche Vertrag setzt eine rechtsfähige Einzelperson voraus,

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ein Rechtssubjekt, welches über seine Güter oder Handlungsmöglichkeiten als Objekte verfügt, ohne durch Rückbindungen an Familie oder ökonomische Gruppe, Markgenossenschaft oder Zunft gebunden zu sein. Sie ermöglicht insbesondere den Handelsverkehr über weite Entfernungen, die Ausbildung eines Anweisungswesens, des Wechsels, des Schecks, der Abtretung und Verwertung von Forderungen, kurz eines Gesamtsystems einander zugeordneter Verpflichtungen unter Gleichen, die insgesamt ein Umlaufsystem ausmachen.

Dieses System begründet für die Beteiligten eine besondere, unverwechselbare Existenzsituation. Der Kaufmann, der seine Güter in Umlauf bringt, der Handwerker, welcher Lieferungsverpflichtungen übernimmt, ist darauf angewiesen, daß die Zusagen erfüllt werden, welche sie erhalten. Infolgedessen wird der Geschäftsverkehr planmäßig auf ein Höchstmaß verläßlicher Erfüllung der verbalen Verpflichtungen gestellt. Es ist die Ehre des Kaufmanns, prompt und ohne vorgeschützte Einwendungen seine Verpflichtungen zu erfüllen. Unerbittlich fordert die Kaufmannschaft eine strenge Zahlungsmoral, die Bereitstellung der Mittel zur Erfüllung anfallender Verpflichtungen unter Zurückstellung anderer Interessen oder gar Konsumwünsche. Sie ächtet ebenso unerbittlich den Bankrotteur und stößt ihn ohne Rücksicht auf sein Verschulden aus ihrer Gemeinschaft aus. Wenn die Kette der Zahlungen an einer Stelle bricht, handelt es sich nicht um ein individuelles, vielleicht bedauerliches und entschuldbares Versagen, sondern um die Gefährdung aller. Der Rigorismus dieser Moral ist also nicht idealistisch; er wird nicht um seiner selbst willen ausgebildet, sondern entspringt einer harten system-immanenten Notwendigkeit. Das Risiko des Zahlungsausfalls ist viel zu groß, viel zu existenzbedrohend, als daß man sich ihm ungeschützt aussetzen könnte. Die Kaufmannschaft muß daher nicht nur die Zahlungsmoral sichern; sie ist auch darauf angewiesen, daß die für Streitigkeiten geltenden Rechtsnormen einfach und übersichtlich sind, daß schnelles Gericht und noch schnellere Vollstreckung gewährleistet wird. Das Verkehrsrecht bedeutet also nicht nur in sich eine Rationalisierung durch die zweckhafte Ausnutzung von Verfügungsmöglichkeiten; es zwingt auch aus Gründen der Sicherheit zur Rationalisierung des materiellen und des Prozeßrechts. Aber die Gewährleistung der Vertragserfüllung durch Rechtsverfolgung reicht ebenfalls noch nicht aus, um die untragbaren Risiken auf ein tragbares Maß zu begrenzen. Der Kaufmann muß von vornherein nach dem Maß des Risikos Deckung durch

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Sicherheiten suchen, sei es durch Pfandbestellung, Sicherungsübereignung oder Bürgschaft. Dabei ist die reale Pfandbestellung insoweit noch systemwidrig, als dadurch die umlauffähigen Wirtschaftsgüter bis zur Abwicklung des Grundgeschäfts festgelegt werden. Infolgedessen benutzt man zu solchen Sicherungen häufig Inventar, Schmuck und dergleichen Dinge, die nicht primär zum Umlauf bestimmt sind.

Es zeigt sich aber an dieser Stelle, daß das System des Realrechts und dasjenige des Schuldrechts nicht nahtlos miteinander vereinbart werden können, auch nicht dadurch, daß man das Sachenrecht generelle zum Erfüllungsmittel für das Schuldrecht degradiert. Beide Systeme unterscheiden sich auch durch weitere Merkmale. Im Realrecht kommen nur wenige typische Rechtsgeschäfte vor, deren Inhalt sich selbst interpretiert; was etwa die Übertragung des Eigentums meint, braucht nicht weiter gesagt zu werden. Im Schuldrecht dagegen gibt es verbale Verträge mit unendlich variablem Gehalt, die eben darum Gegenstand des Streites und der Auslegung sein können. Von da aus ändert sich auch die Rolle der Urkunde. Im Realrecht verbrieft sie hauptsächlich die Tatsache des Rechtsgeschäfts und ist ihrem Inhalte nach relativ unproblematisch. Im Schuldrecht dagegen ist sie der Träger der wesentlichen Aussage; von ihr aus entwickelt sich recht eigentlich erst eine juristische Hermeneutik, eine Methodenlehre der Auslegung.18

Das geschilderte bürgerliche Sicherungsbedürfnis ist also nicht Ausdruck des Gewinnstrebens, der Profitgier oder umgekehrt des Ausweichens vor normalen Lebensrisiken. Es ist durch die Struktur des Systems zur Erhaltung der Existenz schlechthin notwendig. Es kann daher so wenig verdächtigt oder ethisch in Frage gestellt werden wie die Forderung an den Kraftfahrer, auf einer bestimmten Straßenseite zu fahren. Das Sicherheitsstreben und das Besitzbewußtsein des Bürgers ist daher auch ein anderes als das des Bauern. Der Bauer braucht Vorräte zur Überbrückung der erntelosen Zeit, Zugvieh und Geräte zur Bestellung des Bodens. Sein Besitzgefühl heftet sich verständlicherweise daran, in der Überzeugung, damit die Mittel der zukünftigen Ernte in der Hand zu haben. Hat er geerntet, so freut er sich seines Besitzes wie eines gewonnenen Sieges, den er über einen widerständigen Gegner errungen hat. Daß er hier viele Schlachten gewinnt und doch den Krieg verliert, weil die Erde länger dauert als sein Leben, tritt dabei zurück.

Der Unterschied des Lebensgefühls liegt entscheidend darin, daß der Bauer sich auf das verläßt, was er hat, der Bürger dagegen

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darauf, daß andere tun, was sie ihm schuldig sind, der Schuldner durch Zahlung und der Staat durch Sicherung oder Beitreibung. So entsteht auch das oft verhöhnte Anhängigkeitsgefühl des zipfelbemützten Bürgers gegenüber dem Fürsten, der ihn beschützen soll, dem Adler, unter dessen Flügeln sich ruhig bügeln läßt. Der Jurist, der das Verhältnis von Anspruch und Erfüllung, von Risiko und Deckung durchdenken lernt, erfährt in doppelter Weise die Gebrechlichkeit des Wortes. Wie wenig gewährleistet das bloße Wort das tatsächliche Vermögen oder auch nur das ehrliche Wollen der Erfüllung! Wie wenig gewährleistet der schriftliche Text die sinngemäße Auslegung, wenn die zunächst gleichlaufenden Interessen gegenläufig geworden oder die ursprünglichen Partner fortgefallen sind. Angesichts dieser nüchternen, sich immer erneuernden Erfahrung muß das Vertrauen auf die Wörtlichkeit des Wortes als die Sache von Leuten erscheinen, die von den realen Geschäften dieser Welt, von der Wirklichkeit der Lebensvollzüge zwischen Menschen keine zulängliche Anschauung besitzen. Und dennoch ist die bürgerliche Welt insgemein vom rede- und geschäftsgewandten Advokaten bis zum akademischen Philologen verliebt in dieses zwischen Wahn und Wirklichkeit so seltsam schillernde Wortwesen, mit dessen Expansion auch die Expansion dieses Lebensbereiches und Lebensgefühls Hand in Hand gegangen ist. So begreiflich das ist, so unbegreiflich ist doch zugleich die Distanzlosigkeit, die im Mißverhältnis zu dem gleichzeitigen Anspruch kritischer Freiheit steht.

Der bürgerliche Subjektbegriff, von dem ausgegangen wurde, ist freilich zugleich hypothetisch wie exzentrisch. Seine Ablösung aus sozialen Bindungen ist niemals so groß gewesen, wie es der Abstraktion des damit verbundenen Freiheitsbegriffs entspricht. Nur schrittweise und gradweise hat sich auch der Bürger aus den Zusammenhängen herausgelöst, die sein ökonomisches Handeln einschränken. Aber diese Hypothese war höchst wirksam, weil sie wie ein Leitmotiv wirkte, ein Präjudiz, eine Auslegungsregel für den Grenzfall, wonach im Zweifel immer die Freistellung zu eigenständigem Handeln vorangehen sollte. Diese Hypothese war insofern exzentrisch, als die Spitzenleistung der Entwicklung nicht mit der politischen Herrschaft gleichbedeutend war. Im Gegenteil hat das Bürgertum als politische Größe in der gesamten Periode seiner Ausbildung gegenüber der Entstehung des modernen Flächenstaates den kürzeren gezogen. Das Ende der großen Monarchien 1918 war zugleich das Ende der bürgerlichen Epoche, bevor auch nur einigermaßen durchgehend bürgerliche politische Formen sich durchgesetzt

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hatten. Dies ist nicht zufällig. In dem Augenblick, in dem ökonomisch und rechtlich durch die freie Begründung von Erfüllungsverpflichtungen sich ein Verhältnis von Subjekt und verfügbaren Objekten durchsetzte, mußte zugleich auch ein Bereich unverfügbarer Rechtsbeziehungen entstehen. Mit Recht hat Max Weber darauf aufmerksam gemacht, daß in der älteren Rechtsgeschichte gerade solche Rechtskonflikte durch Vereinbarungen zwischen den Beteiligten geklärt wurden, welche wir heute allein der öffentlichen Gewalt zuweisen. Wenn damals der Totschlag durch Wergeldzahlung ausgeglichen, durch Bußleistungen beigelegt wurde (compositio),19 so ist für uns heute die strafrechtliche Ahndung der Tat selbstverständlich. Der Entstehung des öffentlichen Rechts aber und der Strafe mit dem Absolutheitsanspruch der Sittlichkeit entspricht rechtsgeschichtlich die des schuldrechtlichen Vertrages und des absoluten, verfügbaren Eigentums als abstraktes Recht.

Auf diese Weise entsteht ein Dreiersystem aus zwei Begriffspaaren. Auf der einen Seite steht das freie Rechtssubjekt den verfügbaren Objekten seiner Herrschaft gegenüber. Andererseits ist dieses freie Rechtssubjekt dem öffentlichen Recht unterworfen. Dieses Hoheitsrecht aber gliedert oder spaltet sich in die politische Herrschaft und die Herrschaft des Sittengesetzes durch das Strafrecht. Da in beiden Gegensatzpaaren das gleiche bürgerliche Subjekt vorkommt, so entsteht eine Art Dreiecksystem, in dem der Scheitelpunkt eben dieses Subjekt ist. Dies Subjekt, sein Freiheitsrecht bildet zugleich den Motor der Fortentwicklung. In einer späten Zeit hat Goethe ohne besondere rechtsphilosophische Abzweckung diesen Systemgrundriß klassisch dargestellt, wenn er in „Wilhelm Meister” von den drei Ehrfurchten spricht, der Ehrfurcht gegenüber dem, was über uns, was neben uns und was unter uns ist. Wird hier jedes einzelne Moment durch den Begriff der Ehrfurcht mit einer besonderen Würde umkleidet, so ist doch der Aufriß des Schemas vollkommen deutlich. Das freie Subjekt sieht sich den Ansprüchen des Staates wie der Sittlichkeit unterworfen, den Mitbürgern gleich und den Objekten seiner Herrschaft prinzipiell überlegen. Die uns geläufigen rechtlichen Hauptbegriffe wie Strafe, Eigentum, Staat, die Entgegensetzung von öffentlichen und Privatrecht — alle diese Unterscheidungen sind erst historisch erwachsen, nicht kategorial vorgegeben. Sie sind in ihrer folgerichtigen Durchbildung in einer Entwicklung entstanden, die für uns erst in dem entscheidungsreichen 13. Jahrhundert beginnt.