Exkurs II

Ethik und Geschichte

Die Debatte um die christliche Ethik geht unbefangen vom Standpunkt des heutigen Betrachters aus. Sie prüft die Möglichkeiten, die der Mensch als ethisches Subjekt in der Gegenwart für die Zukunft hat. Der Inhalt des ethischen Handelns ist das Objekt dieses Subjektes. Alles Vorgegebene ist nur Material dieses Handelns. Die Frage, in welcher Weise tatsächlich bisher der christliche Glaube sozialgeschichtlich wirksam geworden ist, wird höchstens als historische gestellt, nicht aber als Erkenntnismittel für unsere eigene ethische Situation. Eine knappe Übersicht über die hauptsächlichsten rechtsgeschichtlichen Wirkungen findet sich in dem bereits zitierten Artikel in RGG3 Bd. V, Sp. 821 ff. Eine einfache Untersuchung der keineswegs erst neu zu erhebenden Tatsachen ergibt, daß am wirksamsten gewesen sind die Forderungen und Folgerungen des Glaubens, dogmatische, disziplinäre, kirchenrechtliche Entscheidungen der Kirche ohne jede Abzweckung auf den Zustand der Welt.

Die Christenheit hat ihre Zeit und Welt am wirksamsten dadurch verändert, daß sie ihres Glaubens lebte, und für ihr eigenes Leben daraus Folgerungen zog. Aus Stiftung und Befehl Christi nahm sie Recht und Legitimation so zu handeln. Ob wir ihre Auslegung des Evangeliums heute noch für richtig halten, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Sie handelte jedenfalls für ihren eigenen Lebensbereich und ohne die Absicht, der nichtchristlichen Welt damit etwas Gutes zu tun oder die bestehende Ordnung nach christlichen Grundsätzen zu ändern — sofern sie nicht selbst davon betroffen und behindert war. Wenn römische Bischöfe die Heirat von patrizischen Frauen mit Freigelassenen billigten und ermöglichten, so zogen sie die Folgerungen aus der Taufgemeinschaft, wollten damit aber nicht die Sozialverfassung Roms reformieren. Gleichwohl ist das von solchen Entscheidungen ausgelöste Gefälle bedeutend gewesen.

Wirksam gewesen sind sodann die Forderungen der Liebe, die nichts weiter erstrebt, als den konkreten, vor den Füßen liegenden Nöten

|112|

eines Einzelnen oder einer Gruppe abzuhelfen. So ist z.B. das Krankenhaus- und Hospitalwesen, die Siechenpflege entstanden und durch alle Zeiten durchgehalten worden. Zum Teil handelt es sich dabei um Nöte, die trotz Änderung ihrer Erscheinungsformen im Grundsatz nicht behebbar sind wie Krankheit und Alter.

Neben jenen beiden Motiven ethischen Handelns steht als drittes Motiv das der Hoffnung. Die christliche Hoffnung aber auf das, was aussteht, ist zunächst und zu allererst nach biblischem Verständnis die Hoffnung auf das, was Gott selber zur Erfüllung seiner Verheißungen und in der Wiederkehr Christi tut. Diese Hoffnung richtet sich also auf eine unserem Handeln sozusagen gegenläufige Bewegung der Heilsgeschichte. Unverkennbar gibt es aber auch ein ethisches Handeln, welches aus der Hoffnung geboren ist und welches diesem Kommen Gottes und der Wiederkunft Christi entgegenzugehen trachtet, in dem es eine bessere Gerechtigkeit schon in dieser Welt zu verwirklichen versucht. Insoweit dieses Entgegengehen des Menschen mit dem Kommen Gottes auf eine Ebene und in einen Rang gestellt wurde, sind die Bewegungen der christlichen Hoffnung in der Geschichte der Kirche als Schwärmerei verurteilt worden, von niemand schärfer als von Luther, der mit dem Gesetz, das hinter uns liegt, auch eine Gesetzlichkeit verurteilte, welche das Reich Gottes mit eigener Macht zu verwirklichen meint.

Die Vorstellung, man begnüge sich, soweit die Motive des Glaubens und der Liebe wirksam würden, mit der Gegenwart, erst wenn dasjenige der Hoffnung ins Spiel komme, trete die Eschatologie hervor, ist ein seltsamer Fehlschluß. Indem jene Bischöfe der Taufgemeinschaft den Vorrang vor den Connubialgesetzen gaben, brach das Reichsrecht des Reiches Gottes das Landrecht der Staaten und Völker. Daß man diese oder jene „Ordnung” oder Regelung gegenständlich ins Auge faßt und ändert, ist eine partielle Form des Handelns und für die Beschreibung geschichtlicher Prozesse unzureichend.

Die Liebestätigkeit der Kirche war für die unbarmherzige Humanität der Antike, wie Harnack gezeigt hat, ein völliges Novum, der Einbruch völlig neuer, umwälzender Kräfte. Die Liebe aber, die größeste unter jenen Dreien, ist die einzige, die niemals aufhört, da ja der Glaube zum Schauen und die Hoffnung durch Gegenwart erfüllt wird. In der Liebe allein gibt es keine Differenz zwischen Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit. Jene Drei, von denen der Apostel spricht, haben alle, jedes in seiner Weise ihren eschatologischen Bezug.

|113|

Dennoch ist die christliche Ethik, auf die modi der Zeit betrachtet, in die Gefahr geraten, zeitlos, ungeschichtlich zu werden. Sie durfte davon ausgehen, daß das Alte vergangen und sie darum von den Bindungen an das Gesetz der Tradition frei sei. Nicht nur der belastenden, abgestorbenen, auch der bedeutenden Vergangenheit war damit der Nimbus genommen. Da aber zugleich das Wesentliche der Zukunft als das von unserem Tun unabhängige Kommen Gottes verstanden werden mußte, so schien auch sie für das menschliche Handeln keine theologische Bedeutsamkeit zu haben, sie sah kein Ziel vor sich, auf das hin gedacht und gehandelt werden konnte. Waren also Vergangenheit wie Zukunft, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen, entwertet, so mußte die Gegenwart, das Jetzt und Hier, überragende Bedeutung gewinnen. Das konnte als aktualistische Jeweiligkeit der sich ergebenden Fragen verstanden werden, aber auch als beinahe metaphysische Beständigkeit der immer wiederkehrenden Grundprobleme und Grundformen des menschlichen Zusammenlebens. Je mehr der Traditionszusammenhang zwischen Altem und Neuen Testament, auch die Kontinuität der Kirche selbst in Frage gestellt wurde, desto mehr mußten dann einerseits die immanenten Strukturen ungeschichtlich-absolute Bedeutung gewinnen, während sich andererseits ein Aktualismus entwickelte, der mit den Momenten der Kontinuität nichts mehr anzufangen wußte. So konnte Gerhard Ebeling mit Recht feststellen, daß nach Aufgabe des Traditionsprinzips die reformatorischen Kirchen mit dem Traditionsproblem nicht fertig geworden seien. Um die Überwindung der verfehlten Antithese von Ordnungsdenken und Aktualismus hat sich nach dem Kriege die gemeinsame rechtstheologische Arbeit von Juristen und Theologen bemüht, insbesondere durch Entwicklung der Institutionentheorie. Jener Gegensatz hatte sich aber so sehr in den Vorstellungen festgesetzt, daß diese Versuche nach Intention und Gehalt ständig mißverstanden und mißdeutet wurden.

Diese Lage hat sich nun durch eine fast allgemein gewordene Tendenz zur sogenannten Vergeschichtlichung wesentlich verändert. Freilich werden die Begriffe Geschichte und Geschichtlichkeit in einem so unterschiedlichen und oft von der Wirklichkeit abgelösten Sinne gebraucht, daß das Gemeinte kaum erkennbar und die Berechtigung ihrer Verwendung zweifelhaft ist.

Für die Fortbildung der Ethik waren hier drei Erfahrungen wesentlich:
der rasche Umbruch der Lebens- und Denkformen
die weitgehende rationale Gestaltbarkeit sozialer Strukturen

|114|

die Möglichkeit, umfassende Zielvorstellungen, Modelle und Utopien zu bilden und einzusetzen.

Von der ersten Tatsache sind unsere Betrachtungen ausgegangen.

Dabei spielt eine besondere Beschleunigung eine Rolle. Relativ stabilere Verhältnisse erlaubten es bisher, das Problem der Veränderung in seiner Bedeutung zurücktreten zu lassen. Die Vorstellung der Unwandelbarkeit im Wandel ist freilich immer Theorem und niemals Wirklichkeit gewesen — ihm haben die konkreten Personen immer, selbst wenn sie jener Vorstellung huldigten, zuwidergehandelt. Fehlte auch das Bewußtsein von Geschichte, so fehlte doch nicht die Geschichte. Geschichtliches und ungeschichtliches Denken sind vergleichbar: zur Geschichte selbst gibt es im menschlichen Bereich keinen echten Gegensatz. Die Bedeutung, welche diesem Denkgegensatz beigemessen wird, ist fast eine Art von Begriffsrealismus, der die Vorstellung für die Wirklichkeit nimmt. Das Geschichtsbewußtsein begründet nicht Geschichtlichkeit, sondern verändert sie nur von innen. Diese Vergeschichtlichung ist also eine nur relative Erscheinung. Sie ist zugleich im Zusammenhang mit dem bereits beschriebenen Wandel der natürlichen Religion zu verstehen.

Die Verhältnisse anzugehen, aus denen wenigstens zum Teil menschliche Nöte hervorgehen, z.B. in der Form vorbeugender Sozialhygiene, lag bis in die Gegenwart in großen Bereichen außerhalb der Möglichkeiten. Eine wirksame Entwicklungshilfe hätte noch vor 30 Jahren außerhalb der ökonomischen und währungspolitischen Möglichkeiten der Industrienationen gelegen und hängt auch heute von dem erst nach dem Kriege erreichten hohen Stand ihrer Produktivität ab. So konnte der erfahrene Nationalökonom Oswald von Nell-Breuning SJ davon sprechen, daß es jetzt für diese Nationen eine Pflicht zum Reichtum gebe — um nämlich etwas zu haben, was wirksam für die armen Nationen eingesetzt werden könne. Um die Voraussetzungen vieler Nöte anzugreifen, muß die soziale Struktur in einem bestimmten Grade rationalisiert, funktionalisiert worden sein. Erst in der Moderne kann die soziale Struktur in so großem Umfang Gegenstand der planmäßigen Gestaltung sein. Jedenfalls hat der Grad dieser Gestaltbarkeit in der Geschichte zugenommen. Die Möglichkeiten ethischen Handelns haben also nicht immer den gleichen Umfang und die gleiche Struktur gehabt. Es ist absurd, das Fehlen von Verhaltensweisen zu beanstanden, welche außerhalb der geistigen und ökonomisch-technischen Möglichkeiten lagen. Andererseits sind die Voraussetzungen unseres heutigen verfügenden Handelsn, insbesondere die Struktur der technischen Zivilisation

|115|

gerade vorgegeben! Unsere Existenz wird von Bedingungen bestimmt, die der Mensch zwar weitgehend selbst geschaffen hat, von denen er sich aber in actu gerade nicht freimachen kann, während sein ethisches Handeln die dadurch eröffneten Möglichkeiten wahrnimmt. Angesichts dieser veränderten Lage ist die Beurteilung jener — früher oft sehr schnell als schwärmerisch abgelehnten — Hoffnungsethik vorsichtiger geworden. Es ist dabei vor allem zu prüfen, inwieweit erst die Veränderung der uns gegebenen Möglichkeiten Handlungsbereiche eröffnet hat, die früher als verschlossen gelten mußten. Ist die Welt in einem grundsätzlichen Sinne und jedenfalls in höherem Maße lenkbar, gestaltbar geworden, so fragt sich mit erneuter Dringlichkeit, inwiefern die damit gegebene Möglichkeiten im strengen Sinne etwas mit der christlichen Hoffnung, mit Verheißung und „Gerechtigkeit” zu tun haben.

Wenn eine Spielart christlicher Theologie sich für verpflichtet und berechtigt hält, die Veränderung der Welt als Aufgabe zu proklamieren, so könnte sie diese Aufgabe nicht erfüllen, ohne gleichzeitig die Situation des Menschen in den Gegebenheiten der Moderne neu zu interpretieren. Die bloße Veränderung, Verflüssigung, Offenheit als solche ist blind und leer — es wird lediglich der bisherige, mehr auf die Gegenwart bezogene Aktualismus in einen futurischen radikalisiert. In Wirklichkeit kann die Theologie ihre Aufgabe in keinem wie immer verstandenen Sinn erfüllen, wenn sie nicht jene Aufgabe der Interpretation angreift. Darauf beruht es, daß das Programm der existenzialen Interpretation in einem formalen und methodischen Sinne, unabhängig von der Bindung an bestimmte philosophische Entwürfe, eine so weite Anerkennung gefunden hat. Existenzbestimmend aber ist als vorgegeben der technische und rationale Charakter der Epoche selbst, also das, was verstanden, angenommen, benutzt, aber gerade nicht verändert werken kann. Gerade der technisch-rationale Charakter führt zur Verwechselung des Vorgegebenen mit dem Beherrschbaren. Die Theologie kann jene Aufgabe der Interpretation nur leisten, wenn sie diese sozialen Strukturen in ihrer anthropologischen Bedeutsamkeit verstehen lernt und sachgemäß auslegt. Dazu besitzt sie kaum methodische Voraussetzungen. Sie besitzt eine große philologische Arbeitstradition, durch welche sie erstrangige Leistungen in der modernen Auslegung der kanonischen Texte hervorgebracht hat. Sie hat sodann an der modernen Erforschung der Geistesgeschichte teilgenommen und betreibt ihre systematischen und historischen Fächer im entsprechenden Stil. Dies alles eröffnet aber einen Zugang zur realen

|116|

Geschichte noch nicht. Die reale Geschichte der Formen des Miteinanderlebens der Menschen ist eine andere als die Geschichte der menschlichen Reflexion. Beides steht in Wechselwirkung, aber kann nicht aufeinander zurückgeführt werden.

Zukunft, Hoffnung und Eschatologie in eins zu setzen, ist ein Kurzschluß, aus dem schon viele kostspielige Brände entstanden sind. Werden sie bei begrifflicher Unterscheidung zu nahe aneinandergezogen, so ist der Kurzschluß nahezu unvermeidlich, und man weiß zuweilen nicht, ob er beabsichtigt, eingeplant ist. Der Kurzschluß der Reflexion gewinnt dann reale Bedeutung, freilich eine zerstörende. So aber kann die Hoffnung zum utopischen Mittel des Heils werden, bei dem ein opus operatum sich zwangsläufig einstellt.

Solche Dinge resultieren ganz wesentlich aus dem Übergehen der Geschichte, und zwar der eigenen Geschichte der Kirche, welche man in richtige und falsche Lehren aufteilt, damit vergegenständlicht und ihrer Bedeutung beraubt hat. Mit Pauschalurteilen über den konstantinischen Bund und den Humanismus Melanchthons erreicht man die notwendige Dimension des Urteils und der Teilhabe an dem Geschehenen nicht.

Die christliche Ethik läuft demnach in ihrem Ansatz wie in ihren spontanen Wirkungen, ihrer Effektivität aus mehrfachen Antrieben. Diese Antriebe sind sowohl die des Glaubens wie die der Liebe, wie der Hoffnung. Das eine verdrängt das andere nicht. Sie macht dabei selbst eine sozialgeschichtliche Entwicklung durch, in der die Bedingungen ihrer Wirksamkeit verarbeitet werden.

Eben dieser Bedingtheiten ihrer Wirksamkeit müßte sie sich bewußt werden. Es handelt sich um die Erfahrungen, welche die Kirche in ihrer Geschichte im Umgang mit der Welt gemacht hat.