Kapitel 5

Verbrechen und Sozialstruktur

A

Das vorangehende Kapitel hat mit der Unterscheidung von Statusstrafrecht und Funktionsstrafrecht an soziologische Fragestellungen herangeführt. Es ist irreal, ein abstraktes Sittengesetz mit seinen strafrechtlichen Folgerungen einem ebenso abstrakten Menschen gegenüberzustellen, der an einem ebenso abstrakten Menschen handelt. Man billigt zwar dem Menschen vielfache Bedingtheiten entschuldigend zu, zieht aber eine Bedingtheit des Strafrechts selbst nicht in Betracht. Das in ihm ausgedrückte Sittengesetz ist entweder zeitlos oder in der Geschichte jedenfalls zur vollen Entfaltung gelangt, so daß man von dieser Höhe der Erkenntnis nur noch herunterkommen kann. Aber ohne eine geklärte Einsicht in die vorgegebene Struktur sozialen Miteinanderseins kann die

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Strafrechtstheorie nicht auskommen, muß ihr Menschenbild unvollständig oder von naiven Unterstellungen abhängig sein. In Sozialformen weitreichender Vergemeinschaftung, wie sie besonders in frühen (keineswegs einfach als „primitiv” anzusprechenden) Zeiten, aber mit größter geschichtlicher Wirksamkeit zu allen Zeiten vorhanden sind, ist der Mensch mit seinem ganzen Leben in die Gemeinschaft eingebunden und zugleich von ihr getragen — niemals jedoch so, daß er sich nicht aus ihr zu entfernen vermöchte. Umgekehrt gibt es Sozialformen, welche ein außerordentlich hohes Maß von Für-sich-Sein des Menschen rechtlich anerkennen und schützen, oft sogar unter Zurückdrängung und im Widerspruch zu soziologischen Fakten. Die Rechtsgestaltung folgt keineswegs einfach dem soziologischen Befund. Sie akzentuiert, steigert oder schränkt ihn in seiner Wirksamkeit ein, bindet oder entbindet in bewußter Setzung zum balancierenden Ausgleich. In großen Gefügen mit starker Isolierung des Einzelnen treten ferner strenger verpflichtete Gruppen freier Wahl und Verpflichtung auf, die stellvertretend sich einem schärferen Gesetz unterwerfen, vorbildlich und richtunggebend für die Gesamtheit auf sich nehmen, was nicht jedermann auferlegt werden kann, und damit eine echte soziale Funktion erfüllen. Es gibt kein Rechtsaxiom, daß nur das Rechtens sein könne, was von jedermann gefordert werden kann.

Grundsätzlich handelt es sich auch hier um ein Problem der Identität. Keine noch so weitreichende Vergemeinschaftung vermag das Für-sich-Sein des Menschen radikal aufzuheben. Das wird in der Verfehlbarkeit jeder solcher Bindung grundsätzlich sichtbar. Aber ebensowenig gibt es ein radikales Für-sich-Sein des Menschen. Eine solche Aseität ist ein Prädikat Gottes, der da sagt: „Ich bin, der ich sein werde”, der Für-sich-Sein und zugleich Sich-selbst-Transzendieren für sich in Anspruch nimmt. Nicht allein die präzisen Begriffe der Staatsrechtslehre sind seit langem säkularisierte Begriffe der Theologie, wie Carl Schmitt unwiderlegt gezeigt hat, sondern in gefährlichem Maße auch der juristische Personbegriff. Ein Humanismus, der ein solches An-sich-Sein und Für-sich-Sein des Menschen auch nur als Richtpunkt nähme, wäre eine einzige Gotteslästerung.

Das Problem kann auch nicht mit einer Faustregel der Rechtsvermutung gelöst werden, daß im Zweifel für das Individualrecht des Menschen oder umgekehrt das Sozialrecht der Gemeinschaft zu entscheiden sei. Man kann es auch nicht mit dem formallogischen Ausgleich lösen, das dem einzelnen Menschen als Recht zukomme, was unter Respektierung des Rechtes aller anderen bestehen könne. Eine Einsicht in die vorgegebene Struktur dieses Verhältnisses ist erforderlich.

In einem Kreis, der sich mit moderner Gruppenpädagogik befaßt, hörte ich einmal die Umschreibung, daß die Gemeinschaft immer

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aus dem Einzelnen und der Gemeinschaft bestehe. Umgekehrt könnte man, nicht ganz so plastisch, sagen, daß der Einzelne immer zugleich in seinem Für-sich-Sein wie in seiner Gemeinschaftsbezogenheit bestehe. Die Gemeinschaft ist weder das Produkt des Einzelnen noch der Einzelne das Produkt der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft transzendiert immer den Inbegriff des Einzelnen und der Einzelne transzendiert immer zugleich die Gemeinschaft. So sind sie korrelativ und wechselseitig füreinander konstitutiv. Der Satz „der Einzelne ist nicht, die Gemeinschaft ist alles” ist ebenso unhaltbar wie jede denkbare Umkehrung. Diese Interdependenz ist in einer eindeutigen logischen Formel nicht auszudrücken, da die ihr innewohnende Antinomie dem Satz vom Widerspruch entgegensteht. Das bedeutet, daß die Identität menschlichen Für-sich-Seins ebensowenig eine menschliche Möglichkeit und ein menschliches Ziel sein kann wie die Idealität menschlicher Gemeinschaft. Die letztere wäre wiederum nur eine potenzierte Form des menschlichen Für-sich-Seins, welche die Zwischenexistenz zwischen Identität und Nichtidentität, Internität und Externität nicht aufheben könnte. Der christliche Glaube verneint radikal alle Identität individueller wie kollektiver Selbstverwirklichung und fordert den Gehorsam für das Durchhalten der Zwischenexistenz. Die Existenznot, welche diese bedeutet, kann nicht mit immanenten Mitteln überwunden werden. Wäre das möglich, so bedeutete dies in Wahrheit nur die Entfaltung der Identität des Menschen, potentieller Möglichkeiten, mit denen er die Nichtidentität überspringen könnte. Nur was alle menschlichen Möglichkeiten frei transzendiert, kann diesen Widerspruch lösen. Der Glaube ist eben die Bereitschaft, dies an sich geschehen zu lassen, das nach Gottes Willen an uns geschehen soll12. Die Zwischenexistenz ist allein in der Paradoxie der Inkarnation überwunden und wird dem Menschen in der communio sanctorum, der Teilhabe am Heiligen, in der vorweggenommenen Eschatologie zugeeignet. Das bis zu den letzten Dingen währende Verdikt über Kain und sein Geschlecht ist hier aufgehoben. Der Widerspruch, in der der Mensch lebt, ist mit einer endzeitlichen Verheißung an der Wurzel angegriffen. Wie sehr dies mit Schuld und Strafe zusammenhängt, zeigt der Text der Offenbarung Johannis (Kap. 12 V. 10):

Der Verkläger unserer Brüder ist verworfen, der sie verklagte Tag und Nacht bei Gott.

Diese Erkenntnisse haben für das konkrete Strafrecht erhebliche Tragweite. Es ist nicht das Ziel menschlicher Geschichte, daß der Mensch in fortschreitend höherem Grade in freier sittlicher Selbstbestimmung zu sich selbst komme. Der objektive Vorgang, zunehmender Individualisierung und Subjektivierung löst auf der einen Seite den Menschen aus der Identität mit dem Mitmenschen


12 Credo ecclesiam. Von der Kirche heute, Kassel 1955, S. 12.

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heraus, stellt ihn auf sich selbst, überlastet ihn damit in seiner Entscheidungsfähigkeit und führt ihn grundsätzlich nur auf die andere Seite dieser Korrelation. Je mehr er von der Respektierung fremder Rechte (vgl. Kapitel 4 — Statusstrafrecht) zur Erfüllung aktiver Verpflichtungen geführt wird (Funktionenstrafrecht), um so mehr nähert er sich dem Scheitern am Gesetz und der Aufhebung des Rechtscharakters sozialer Verbindlichkeiten, der Aufhebung seines eigenen Rechtsstatus. Nur zwischen diesen Grenzwerten und nicht in progressiver Annäherung an einen von ihnen vermag er in der Vorläufigkeit, im Rechte zu existieren. Die Relativierung zeitlicher Existenz bedeutet nicht eine Vergleichgültigung, sondern die Inanspruchnahme eines sehr präzisen begrenzten Rechtsraumes, innerhalb dessen allein rechtliche Existenz möglich ist. Der Fortschrittsgedanke im Geschichts- und Menschenbild der Aufklärung und des Idealismus hat den begrenzten Wahrheitswert, daß in der Tat in der Herauslösung des Menschen aus kollektiven Gruppen, die sich als wesentlich identisch verstehen, die Eigenständigkeit des Menschen überhaupt erst rechtlich zur Darstellung kommt. Aber eben dies führt ihn in die Vereinzelung und Existenznot seiner Nichtidentität mit dem Mitmenschen, welche weder durch ethische Anstrengungen noch durch kluge Gedankenoperationen zu überwinden ist. Jene Anschauungen irren in der Vorstellung eines linearen oder spiralenhaften Fortschritts. Diese Geschichte ist gleichsam ein gekrümmter Raum, der in sich zurückläuft13.

 

B

Die jeweilige Sozialstruktur beeinflußt auch die Struktur des Strafrechts in hohem Grade. Strafe ist nicht ein zeitloses Abstraktum. Man kann vielmehr den Satz aufstellen: Je höher der Grad der Vergemeinschaftung, desto mehr trägt das Strafrecht auf der einen Seite diskretionäre, auf der anderen Seite leibhafte Züge.

I a. Diskretionäres Strafrecht (Recht zum Strafen). Bei enger sozialer Verbundenheit läßt ich der Inhalt dessen, was die Gemeinschaft fordert und zu fordern genötigt ist, um so weniger im voraus und abschließend regelhaft festlegen. Es entstehen Treue- und Gehorsamspflichten, die zwar einen rechtlich-konkreten und keineswegs unbegrenzten Umfang haben, aber doch inhaltlich nicht voll rationalisierbar sind. Das gilt für die familienhafte Verbundenheit im Sippenstrafrecht wie für das rechtlich hoch entwickelte Lehnswesen mit seinem Tatbestand der Lehnsuntreue, der Felonie. Es gilt aber auch in der Moderne im Militärstraf- und Disziplinarrecht und um Beamtenrecht mit ihren besonderen Delikten der Feigheit, der Disziplinverletzung, des standeswidrigen Verhaltens usw. Den


13 Vgl. hierzu im größeren Zusammenhang die verfassungsgeschichtlichen Ausführungen in „Politische und christliche Existenz” aaO.

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hier strafrechtlich geschützten Verpflichtungen entspricht, ja geht voraus eine mehr oder minder hochgradige Vergemeinschaftung des Lebens. Aus dieser folgt notwendig, daß sich die Anforderungen auf einen weiten Bereich der Haltung und Lebensführung erstrecken. Diese Anforderungen aber sind nur personal zu beurteilen und nur von dem, der unter der gleichen Verpflichtung steht und in der Hierarchie dieser personalen Werte einen höheren Rang einnimmt, kraft dessen er zu fordern berechtigt und zu urteilen befähigt ist. Der Täter kann nicht in radikaler Trennung als isoliertes Subjekt verstanden werden, wenn nicht eben der Inhalt der Vergemeinschaftung von vornherein in Frage gestellt werden soll. Diese relativ hohe Identität von Richter und Täter bedeutet also mehrerlei:
1. Der Inhalt der Forderungen kann nicht regelhaft, rational begrifflich von der gesamten Lebensführung des Verpflichteten abgelöst werden.
2. Es entscheidet derjenige, dessen Autorität selbst verletzt ist.
3. Auch die Verteidigung gegen den Vorwurf kann wegen dieser engen Bindung nicht bis zum äußersten getrieben werden, unterliegt nicht so sehr formalen als inneren Bindungen, die durch den Respekt, durch die Autoritätsunterworfenheit begründet werden. Ein Sohn wird dem erzürnten Vater mit Freimut sagen, wo er irrt und falsch sieht. Aber er wird ihm gegenüber nie wie ein Angeklagter vor dem öffentlichen Gericht auftreten können, der jede Chance der Dialektik, jede Beweislücke ausnutzt und auszunutzen berechtigt ist. Im Gegensatz dazu ist in einem solchen Verhältnis die Verletzung der Wahrheit selbst schon eine weitere Verletzung des Rechtsbandes.
4. Anderseits begrenzt die vorausgesetzte personale Verbundenheit und die konkrete Rechtspflicht des Gewalthabers zur Fürsorge und pfleglichen Behandlung den immer möglich bleibenden Mißbrauch. Man kann deshalb etwa im Militärstrafrecht die Grundsätze gesetzesstaatlicher Unverbundenheit — d.h. der Verbundenheit nur durch das allgemeingültige Gesetz — mit diesen besondern Bedingungen einer eng verbundenen, auf Tod und Leben gestellten Gemeinschaft auszugleichen versuchen. Aufheben kann man diese Besonderheit nicht, und man hüte sich hier die Quadratur des Zirkels zu versuchen.

I b. In geringerem Maße, aber doch deutlich, ist mit einer solchen Sozialstruktur die Direktheit und Leibhaftigkeit der Strafe verknüpft, vom diskretionären Strafrecht der Eltern in der körperlichen Züchtigung angefangen. Wer vergemeinschaftet ist, ist es eben als ganzer Mensch und nicht nur in subjektiver Innerlichkeit, die von vornherein im Gegensatz zur Äußerlichkeit des Rechts und der leiblichen Konkretheit verstanden wird.

Nicht ein absoluter zeitloser Personbegriff hat die allmähliche Ablösung des diskretionären und leibhaften Strafrechts

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hervorgebracht, sondern ein bestimmtes Verständnis von Person und eine geschichtliche Sozialentwicklung, die den Einzelmenschen wesentlich unverbunden und nur in weit entfernten Großverbänden vereint, nebeneinander sieht und stellt. Die geschichtliche Relativität eines scheinbar allgemeingültigen Personbegriffs wird gerade dadurch sichtbar, daß dieser ja die Aufhebung der unmittelbaren personalen Rechtsbindung und des entsprechenden Rechtsvollzuges von Person zu Person voraussetzt. Das zeigt sich überall dort, wo auch in den modernen, durch abstrakte Regeln geordneten Gemeinwesen notwendig konkrete Bindungen eingegangen werden müssen (Heer, Beamtentum, neuerdings z.T. auch der wirtschaftliche Betrieb) und dieselben Strukturen in veränderter Form fortdauern. Auch die Betriebsgemeinschaft erzeugt heute in steigendem Maße wechselseitige Treueverpflichtungen, wenn diese sich auch bisher wesentlich arbeitsrechtlich auswirken.

II. Dem personalen, direkten, diskretionären und leibhaften Recht und Strafrecht folgt ein indirektes, unpersönliches regelhaften, subjektives und ethisches. Es ist das Strafrecht der Gegenwart, dessen Bild sich schon aus dem Gegenbild ergibt. Es bedarf hier keiner besonderen Beschreibung. Aber es ist eben keine absolute Bildung. Das zeigt sich in der Fortentwicklung, welche diese Fragen in der Gegenwart genommen haben.

Ein pervertiertes Widerbild dieser Problematik finden wir in den Strafrechtsformen, welche sich in den modernen totalitären Staatssystemen entwickelt haben. Hier tritt die Paradoxie auf, daß die neue Vergemeinschaftung des tödlich isolierten Menschen gerade in einer ungeheuren abstrakten, grundsätzlich unpersönlichen Planstruktur versucht wird. Hier wird wieder diskretionär und gesetzlich ungebunden, aber in hemmungsloser Direktheit der Mensch an Leib und Leben gestraft in ungeheuren willkürlichen Strafhöhen und in Formen, die in Zuchthaus und Zwangsarbeit den Menschen leiblich vernichten, nicht ohne ihn möglichst in der Arbeitsfunktion ausgebeutet zu haben. Unter dem Vorwande der Rückkehr der vermißten personalen Vergemeinschaftung tritt eine unpersönliche Kollektivierung ein. Genauer: Dem Menschen, der sich einfügt, versucht man mit allen Mitteln das beglückende Gefühl einer neuen unmittelbaren Mitmenschlichkeit, lebendiger Brüderlichkeit zu geben. Um so radikaler und brutaler wird in der Scheidung des letzten Gerichts derjenige ausgestoßen und behandelt, der sich aus dieser Gemeinschaft entfernt oder von vornherein nicht zu ihr gehört. Dabei wird grundsätzlich der angebliche oder tatsächliche politische Täter wesentlich härter behandelt als selbst der schwerste Kriminelle. Denn er hat das dargebotene Heil verdammlicherweise verschmäht, während der Kriminelle noch mit einer ökonomischen Strafrechtstheorie, zuweilen mit den Resten sozialer Mißstände entschuldigt wird. Die Existenz solcher Mißstände für das vorfindliche System

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aber wird grundsätzlich bestritten und jede Entschuldigung damit abgewiesen. So kommt man zu der Ungeheuerlichkeit, daß man den bürgerlichen Eigentumsschutz in jeder Weise angreift, aber einen geringfügigen Felddiebstahl am sozialistischen Eigentum als zuchthauswürdiges Verbrechen behandelt. Denn es wird auch hier radikal-idealistisch das Sollen des Plans und der vollkommenen sozialistischen Ordnung mit dem Sein gleichgesetzt. Es gehen also die sehr wirksamen, aber normativ nicht direkt ausdrückbaren Selbstbeschränkungen völlig verloren, welche im personalen Strafrecht in der wechselseitigen persönlichen Verbundenheit, hingegen im rational-gesetzlichen Strafrecht in der Ermäßigung der veräußerlichten, vergesetzlichten Anforderungen liegen. Das totalitäre Strafrecht hat also von beiden ihm vorangehenden Systemen die Anforderungen übernommen und die dem Schutze des Menschen dienenden Begrenzungen abgestreift. So aus dem Gleichgewicht geraten, wendet es sich in voller Schärfe gegen den Menschen.

Aber man soll diese Perversion nicht so schnell abtun, die eine gefährliche Möglichkeit moderner Existenz darstellt. Die Vergesetzlichung und Rationalisierung sozialer Ansprüche, die steigende Betonung individualistisch verstandener Einzelrechte, die immer tödlicher werdende Vereinzelung des Menschen, die ebenso steigende Subjektivierung und Auflösung des Schuldbegriffs führt zur immer stärkeren Herabsetzung der direkten sozialen Ansprüche an den Menschen, während zugleich eine ebenso steigende Vergemeinschaftung der Lebensfunktionen an diesen immer höhere formale Ansprüche erzeugen muß. An diesem Widerspruch droht mit dem modernen sozialen Leben auch das Strafrecht zu scheitern. Der Kultus der Individualität schlägt leicht in das Gegenteil um. Die heilsamen Begrenzungen dessen sind durchaus rechtliche, aber sie sind normativ kaum faßbar, sondern liegen im Rahmen der Interpretation und der praktischen Handhabung.

Die Theorie des Strafrechts kann von der sozialen Struktur, in der es entsteht und wirksam wird, nicht absehen: Sie bestimmt die Chancen seiner Wirksamkeit. Eng geschlossene Gruppen vermögen relativ hohe Anforderungen an ihre Glieder durchzusetzen und Verstöße wirksam zu bestrafen, ohne von vornherein in unerträglichen Gegensatz zwischen Sein und Sollen zu geraten. So erklärt es sich etwa, daß frühe Sozialformen im Rahmen ihrer Vorstellungen eine relativ sehr hohe Sexualmoral durchzuhalten vermögen. Dies ist eben durch den hohen Grad der Vergemeinschaftung bedingt, welher Lebenshilfe, Kontrolle und Strafe miteinander zu verbinden ermöglicht. Löst sich der Mensch zu relativ hoher Eigenständigkeit, so sinken in eben dem Maße diese Chancen: die Anforderungen werden formal und immer negativer, weil schließlich nur noch das Unterlassen des öffentlich Anstößigen, nicht mehr positive Erfüllung bestimmter Wertvorstellungen erfaßbar ist. Mit dem Rechtsbegriff

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hat diese Einschränkung nichts zu tun. Sie ist lediglich sozialgeschichtlich bedingt. Die viel und grundsätzlich gerühmte Sozialisierung des Strafrechts hat den bedeutenden Vorteil einer durchgängigen Verfolgung strafwürdiger Taten, der Herausnahme des Strafrechts aus der Willkür privatrechtlicher Beziehungen und der Sicherstellung unparteiischer Beurteilung im möglichen Maße. Aber es gibt keinen absoluten Fortschritt. Jeder Fortschritt wird mit entsprechenden Verlusten erkauft14. Die Beseitigung von Willkür und Unrecht wird durch ein hohes Maß von Formalisierung, vor allem aber mit der Vernichtung der intermediären Gewalten, durch eine steigende Isolierung des Menschen erkauft, der immer weniger wesentliche Dinge mit dem Mitmenschen gemein hat. Sie beruht auf der fortschreitenden Individualisierung und also recht eigentlich auf dem Gegenteil dessen, was ihr Name besagt. Die Desintegration des Prozeßrechtsverhältnisses im Strafrecht wird in Kapitel 7 noch besonders darzustellen sein.

Ebenso amphibolisch und doppeldeutig ist der parallele Vorgang der sog. Humanisierung des Strafrechts. Sie beseitigt mit älteren Rechtsformen Dinge, die für uns schlechthin unvollziehbar geworden sind und wesentlich aus dem magischen Weltbild stammen. Aber wie wird wie die Sozialisierung mit der Tatsache erkauft, daß der Mensch immer weniger legitime Formen der persönlichen Einwirkung auf den Mitmenschen hat. Nur mühsam versucht mit sehr problematischen und relativ unwirksamen Mitteln der moderne Strafvollzug die Realität der verlorengegangenen Kontakte wiederherzustellen. Sozialisierung beruht also auf Individualisierung der Existenz, Humanisierung auf Funktionalisierung und damit Entpersönlichung von Strafe und Vollzug. Die Hauptform moderner Strafe, der Freiheitsentzug, beruht ja gerade darauf, daß der personale Raum der Besserung und Besinnung frei von Eingriffen ausgespart wird (vgl. Kapitel 12).

Die Vergemeinschaftung erleichtert um den Preis wesentlicher Freiheitsrechte die positive Erfüllung traditioneller und konventioneller Anforderungen, die Individualisierung erschwert sie. Radikal gibt es weder das eine noch das andere. Ohne ein hohes Maß von Tradition und Konvention kann auch die Einzelexistenz nicht durchgehalten werden, ohne in einem Strudel sinnloser Konflikte unterzugehen. Anderseits kann keine Vergemeinschaftung durchgehalten werden, wenn nicht in echter Freiheit ihre Glieder sich für Tradition und Konvention entscheiden und sich in ihnen sinngemäß zu verhalten verstehen. Das monarchische wie das demokratische Staatsrecht ist ohne Royalisten bzw. Demokraten nicht zu vollziehen. Die Summe der staatsrechtlichen Normen erschöpft den Bestand der Verfassung keineswegs. So kann auch das Strafrecht nicht im


14 Vgl. Paul Tillich: „Systematische Theologie”, I S. 260.

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disjunktiven Gegensatz zu außerstrafrechtlichen sozialen Anforderungen — mit oder ohne Sanktion — recht verstanden werden, sondern nur in ihrem Gesamtzusammenhange. Die prinzipielle Gegenüberstellung von Recht und Moral ist sozialgeschichtlich bedingt. Mit Recht wendet sich Arndt aaO. gegen diesen wie andere Dualismen eines Trennungsdenkens.

Die soziale Individualisierung lebt weithin von den unbewußten Resten vergangener Vergemeinschaftung wie von dem Vorbild engerer Gemeinschaften, welche einen bestimmten Standard des Verhaltens richtunggebend aufrechterhalten. Die Vergemeinschaftung lebt von der freien Erfüllung durch Zwang nicht ersetzbarer heteronomer Rechtsgestaltungen. Der isolierte Mensch stellt um so höhere Anforderungen an den Mitmenschen und die Gesamtheit, je mehr er entwöhnt wird, soziale Verpflichtungen als eigene zu erfüllen, und zerschlägt im Protest gegen Tradition und Konvention die Mittel der Erfüllung seiner eigenen Lebenswünsche.

Alle diese Erwägungen machen es zum obersten Gebot, die Interdependenz der Erscheinungen gegen Prinzipiendenken und Geschichtskonstruktionen im Blick zu behalten.

 

C

Die Doppelpoligkeit der menschlichen Zwischenexistenz zeigt sich nun auch in der Gestaltung des positiven Strafrechts. Wir finden die höchsten Strafen sowohl beim stärksten Angriff auf die Einzelperson, beim Mord, wie bei der Antastung der gemeinsamen Lebensgrundlagen, beim Hoch- und Landesverrat. Die hohen Strafen im letzteren Bereich sind nicht etwa die Frucht eines sozusagen traditionellen Mißbrauchs, der politische Ordnungen gegenüber dem Einzelmenschen überwertet. Auch ist eine eine begriffliche Trennung ein positivistischer Fehlschluß. Im Angriff auf den Einzelnen ist immer auch die Gemeinschaft, im Angriff auf die Gemeinschaft der Einzelne in Mitleidenschaft gezogen. Auf beiden Seiten nehmen nun die Strafhöhen mit der Intensität des Angriffs und der angenommenen Gefährlichkeit ab, so daß etwa einfacher Diebstahl und einfacher Widerstand gegen die Staatsgewalt in der Bewertung nicht mehr zu unterscheiden sind. Das hat es erträglich gemacht, daß man sich in Anordnung und Gliederung des geltenden Gesetzes über das systematische Verhältnis der Tatbestände offensichtlich kaum Gedanken gemacht hat. Der Versuch jedoch, einer der beiden Reihen einen wertmäßigen Vorrang zu gewähren, scheint mir ein Denkfehler zu sein. Konstruiere ich das Ganze von der einen Seite her, so verliere ich unweigerlich das ergänzende Gegenmoment aus dem Auge. Stelle ich das Ganze eindeutig voran, so gehen mir wesentliche Momente rechtlichen Schutzes des Individuums in unberechenbarem Maße in Strafrecht und Strafprozeß verloren. Aber das Umgekehrte gilt genau ebenso. Das eine haben wir sehr deutlich im

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Nationalsozialismus erlebt; die Gegenentwicklung beginnt sich bei uns gegenwärtig abzuzeichnen. Es ist deshalb auch nicht möglich, dem Einzelnen einen gewissen Bereich von Individualrechten wie eine Art Vorausvermächtnis unbedingt zu sichern, und erst den Rest des Rechtsraums nach Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit zwischen Einzelnen und Gemeinschaft zu teilen. Ich fürchte, daß dem Artikel 1 des Bonner Grundgesetzes über die Unverletzlichkeit der Würde des Menschen dieser methodisch unmögliche Versuch zugrunde liegt.

Erich Fechner hat das Verdienst, in einer besonderen Untersuchung über die soziologische Grenze der Grundrechte14a deren geschichtlich-zeitbedingten Charakter evident gemacht zu haben. Wie notwendig das ist, zeigt schon der Verfassungstext selbst, der davon spricht, daß diese Würde und diese Menschenrechte Grundlage „jeder” menschlichen Gemeinschaft seien. Das ist geschichtlich unhaltbar, wenn es irgendeinen konkreten Sinn haben soll, und bedeutet die Versetzung geschichtlicher Ideen in den Götterhimmel der Metaphysik. Entgegen diesem Absolutheitsmythus will Fechner sie als absolut im Sinne der Unverzichtbarkeit und Fundamentalität für ein hohes und spätes Menschentum der europäischen Völker verstehen und schildert die konkreten Bedrohungen durch die soziale Wirklichkeit und die daraus folgende Bereitschaft des Menschen selbst, sie preiszugeben.

Es handelt sich hier recht eigentlich um die Unantastbarkeit eines innersten Personkerns, welcher etwa durch Gehirnwäschen und ähnliche Dinge grundsätzlich verletzt wird. Das hat sehr konkrete rechtliche Folgen und wird doch zugleich in seiner Negativität im Alltag nicht sehr sichtbar. Diese Negativität erzeugt den Sog, den Begriff möglichst weitgehend positiv auszudeuten, etwa im Sinne der sozialen Gleichheit. Die Zubilligung eines gewissen angenommenen Normalstandards wird heute schon vielfach mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden und dieser damit seines Sinnes beraubt. Je mehr er positiv konkretisiert wird, desto mehr kommt der Begriff in Konflikt mit unausweichlichen sozialen Erfordernissen. Weithin wird er auch einfach individualistisch mißverstanden und zur Bestreitung jedes, auch des legitimsten staatlichen Herrschaftsanspruchs benutzt. Eine so hochgradige Mißbrauchbarkeit deutet, sowenig man ex abusu ad usum argumentieren kann, auf Schwächen der These selbst. Ihnen kann aber nicht mit einer quantitativen Einschränkung oder illoyalen Interpretation begegnet werden. Parallel zu gleichen Zusammenhängen im Bereich des Schuldproblems ist vielmehr darauf hinzuweisen, daß die Würde des Menschen aus seiner Verantwortlichkeit stammt. In früheren Sozialformen hat man die hohe Würde der Amtsträger aus ihrer nicht funktional abgelösten, sondern mit der Person verbundenen Amtslast hergeleitet. Heute betont jeder


14a Tübingen 1954 (Recht und Staat, Heft 177).

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Gewalthaber, daß er nicht mehr sei als jedermann. Aber es handelt sich um die Frage, ob er damit doch nur an einer allgemeinen Unverantwortlichkeit des Denkens, Redens und Handelns teilgewonnen hat, oder ob jeder einzelne nun seinerseits bereit ist, die Verantwortlichkeit seiner Würde auf sich zu nehmen. Es gibt jedenfalls keine Würde ohne Verantwortlichkeit. Daß jene Bereitschaft vorhanden ist, muß füglich bezweifelt werden. Dies ist nicht allein eine ethische Frage,die dann als Frage der Gesinnung letztlich unentscheidbar bliebe. Die Gesinnungsethik vergeht wir Spreu vor dem Winde, wenn sie sich nicht in die Bereitschaft zur rechtlichen Verantwortlichkeit verdichten läßt. Selbstverantwortlichkeit und Letztverantwortlichkeit ist Souveränität. Wenn man nach dem Zusammenbruch des souveränen Nationalstaats jedermann diese königliche Würde zuspricht, so ist dies in einem sozialen und rechtlichen Gefüge, das überall an die Grenzen der Judiziabilität stößt, weit mehr der Notschrei eines Ertrinkenden als die stolze Proklamation eines Prinzips. Dabei sehe ich weit mehr Kräfte, die in die Tiefe ziehen, als solche, die schwimmen helfen.

Die von Richard Lange formulierte Geschichtskonstruktion eines Weges „von der Staatsstrafe über die Zweckstrafe zur Rechtsstrafe” ist unwirklich. Denn wenn etwa Mitte des 19. Jahrhunderts von Staatsstrafe gesprochen werden konnte, so allenfalls im Zuge des Hegelschen Idealismus als Absolutierung der Rechtsstrafe, welche im Bereich der Identitätsphilosophie als Staatsstrafe erscheinen mußte. Die Zweckstrafe ist der Gegenschlag des Naturalismus, der heute ohne Zweifel hinter uns liegen muß. Die Rechtsstrafe als Drittes ist, wenn sie überhaupt etwas klar Umrissenes ist, nicht im Sinne der Bekannten einseitigen Rechtstheorien der Strafe zu sehen, zumal offenbar das Zweckmoment der Resozialisierung kräftig einbezogen sein soll. Rechtsstrafe kann demnach eigentlich nur heißen, daß ein mit deutlichem Übergewicht auf die Einzelperson ausgerichtetes Strafrecht in direkter Übersetzung des Artikels 1 GG gemeint ist. Dieses Pathos der Persönlichkeitsrechte verkennt die Wirklichkeit15.


15 Richard Lange: „Grundfragen der deutschen Strafrechtsreform”, in verschiedenen Fassungen vorliegendes Referat, abgedruckt in der Schweizer Zeitschrift für Strafrecht, Jahrg. 70 S. 373ff.