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Kapitel 1

Die Ausgangslage der heutigen Betrachtung

Das Bundesjustizministerium hat die Initiative ergriffen, um über einzelne, nach 1945 ergangene Novellen zum Strafgesetzbuch hinaus zu einer großen umfassenden Strafrechtsreform zu kommen. Es nimmt damit gesetzgeberische Bestrebungen wieder auf, die, vor dem ersten Weltkriege beginnend, immer wieder abgebrochen, neu begonnen worden und nie zu Ende gekommen sind. Sie haben wertvolle Entwürfe und Materialien erbracht, aber keine eindeutige Richtung genommen, in der etwa nur weiterzuarbeiten wäre. Diese Erfahrung könnte skeptisch stimmen, zumal ein umfassendes Gesetz mutmaßlich in einer einzelnen Legislaturperiode des Parlaments nicht bewältigt werden kann. Der tiefste Beweggrund für dieses Unternehmen liegt wohl in dem Bedürfnis, nach schwersten Erschütterungen des Rechtsbewußtseins im allgemeinen und des Strafrechts im besonderen in Theorie und Praxis über alle Reformen hinaus zu einer verbindlichen Klärung der Grundlagen zu kommen und die so gewonnenen Erkenntnisse auch gesetzgeberisch auszudrücken. Auch dann und gerade dann, wenn im strengsten rechtsstaatlichen Sinne die Strafrechtspflege von politischen Einflüssen freigehalten wird, ist sie in hervorragendem Maße ein Politikum. Ob ein Gemeinwesen imstande ist, das Strafrecht richtig zu handhaben, es im Mittelmaß zu halten, es weder brutaler Härte noch feiger Schwäche anheimfallen zu lassen, ist ein Prüfstein für seine politische wie für seine sittliche Gesundheit. Es darf nicht verkannt und vergessen werden, daß vielfaches ud grundsätzliches Versagen der Strafrechtspflege eine nicht unwesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung des Nationalsozialismus gewesen ist. Es wäre verhängnisvoll, wenn die furchtbaren Erfahrungen dieser Zeit als wesentliches Ergebnis ein Ausschlagen des Pendels in entgegengesetzter Richtung hervorrufen würde und damit Strafrechtspolitik und Strafrechtspflege in einen undurchbrechbaren circulus vitiosus gerieten. Überragt also das Interesse an einer Klärung der Grundlagen die Summe der möglichen Reformziele im einzelnen, so wird eine solche Besinnung durch eine Reihe von Momenten noch besonders nahegelegt.

Das erste jener Momente liegt darin, daß sich im Bereich der allgemeinen Strafrechtstheorie der Generationen beherrschende Schulenstreit theoretisch und praktisch totgelaufen hat. Weit überwiegend

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wird eine sog. Vereinigungstheorie angestrebt. Es wird anerkannt, daß die Strafe eine komplexe, nicht von einem zentralen Gesichtspunkt zu verstehende Erscheinung ist, die wesentliche Antinomien nicht ausschließt, sondern unaufhebbar in sich birgt.

Das zweite Moment ist die Erfahrung, daß der Grundlagenproblematik des Strafrechts wegen der Bestrittenheit der möglichen Anschauungen durch die Verweisung auf ein Zweckstrafrecht nicht ausgewichen werden kann. Denn die Entwicklung hat unwiderleglich gezeigt, daß ein reines Zweckstrafrecht - welchen Strafzweck man auch voranstellt — vor einer Entwicklung zu totalitärem Mißbrauch nicht bewahrt werden kann, sondern gegen solche Tendenzen wehrlos ist. Der strafrechtliche Relativismus ist ebenso fragwürdig geworden wie eine massive, fundamentalistische Rechtsmetaphysik.

Drittens kann heute eine Fülle kriminologischer, soziologischer und psychologischer Erkenntnisse und neuer anthropologischer Fragestellungen verwertet werden, die zur Zeit früherer Reformversuche noch nicht vorlagen, so wenig auf einem dieser Gebiete von abgeschlossenen Entwicklungen die Rede sein kann.

Diese drei Hauptmomente drücken sich auch sehr deutlich in den Referaten und Diskussionen über die Reforme in der amtlichen Kommission und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit aus.

Ein viertes, wichtiges, ja eigentlich entscheidendes Moment dagegen ist, soweit ich sehe, bisher nur in sehr geringem Maße in den Blick genommen worden: die Frage nämlich, welche Bedeutung die in der modernen Erkenntnistheorie sich vollziehenden Wandlungen für unser Gebiet haben. Das entspricht der bedenklichen Tatsache, daß diese Fragen bisher allgemein in der Rechtswissenschaft keine entscheidende Beachtung gefunden haben. Bei alledem soll das praktische Bedürfnis nicht unterschätzt werden, eine Unzahl von Novellen im Zusammenhang zu verarbeiten sowie praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung der Erkenntnisse der neueren Anthropologie und Biologie ist schon eher unternommen worden als die Revision der erkenntnistheoretischen Grundlagen.

Zwei Einsichten scheinen mir hier bedeutsam: erstens, daß der Mensch im Vergleich zum Tier eine Frühgeburt darstellt. Der Mensch erreicht erst etwa mit anderthalb Jahren die Fähigkeit der Selbsterhaltung, welche die vergleichbaren Tiere schon bei der Geburt haben. Er ist ferner, biologisch gesehen, das „freigestellte” Tier, d.h.: seine Instinktreaktionen sind nicht festgelegt, sondern entscheidend schwächer und vor allem verfehlbar. Aus beiden Tatsachen folgt, daß deR Mensch in grundsätzlich anderer Weise auf Lebenshilfen zum Ausgleich dieser Unterbilanz an Selbsterhaltungsvermögen angewiesen ist. Sein großer tradierbarer Besitz an Erkenntnissen, Fähigkeiten und Ordnungen ist also nicht verzichtbar, sondern konstitutiv und lebensnotwendig. Die Rückführung des

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Menschen aus der Kultur in die Natur, aus der Tradition in die Ursprünglichkeit ist demgegenüber eine lebenzerstörende Utopie. Jede Säuglingsschwester lernt heute, daß ein Kind verkümmert, das man nicht anredet, obwohl Bewußtsein und Sprache unausgebildet sind. Die biologische Notwendigkeit der Überformung durch institutionelle Bildungen m weitesten Sinne, zu denen die Soziologie auch die großen schöpferischen Erfindungen der menschlichen Technik rechnet, macht den alten Naturalismus unmöglich. Seine Wirksamkeit ist jedoch noch keineswegs gebrochen. In wissenschaftlichen wie in anspruchsvolleren populären Darstellungen, die den common sense der Gegenwart wiedergeben, wirkt er noch kräftig. In einem führenden Blatt wie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (Nr. 94 vom 21. April 1956) kann ein ganzseitiger Bericht über Fragen des Strafvollzugs mit dem ebenso lapidaren wie längst überwundenen Satze enden: „Das Verbrechen ist als Funktion von Erbanlage und Umwelt erkannt” (Edgar Kull). Sonst ist anscheinend nichts über den Menschen zu sagen. Aber es genügt, um mit einem heute beliebten Pathos Staat und Gesellschaft anzuklagen. Alle richtigen Beobachtungen und Forderungen geraten dadurch auf die schiefe Ebene. Daß dieser Naturalismus so schwer zu überwinden ist, liegt über seine begrenzten Wahrheitsmomente hinaus in der Neigung zur Eingleisigkeit des Denkens in eindeutigen kausalen Zusammenhängen; daneben aber auch an einer ihm selbst innewohnenden Antinomie. Begründet man den Naturalismus wesentlich biologisch und sieht man deshalb das Verbrechen als biologische Entartung an, so ist die Rückführung des Verbrechens auf Umwelteinflüsse und der Versuch ihrer Behebung unsinnig und schwächliche Torheit. Begründet man ihn ökonomisch und sozial, so ist die Ausmerzung des biologisch Entarteten ebenso sinnlos und eine unmenschliche Brutalität. Beides schließt sich aber bei folgerichtigen Denken aus. Da aber beides ebenso unbestreitbare Wahrheitsmomente enthält, kann die Diskussion darüber kein Ende finden. Eine Art regressus ad infinitum tritt ein. Keine der beiden Anschauungsweisen aber kann, wenn man schon die Verantwortlichkeit des Menschen dergestalt aufhebt oder entscheidend reduziert, noch erklären, von wo aus ein Urteilen, echte Entscheidung möglich ist.

Der Kurzschluß des naturalistischen Denkens, welches Verantwortung und Urteil unmöglich macht, führt zur modernen Dämonologie überindividueller Mächte, wie Judentum, Kapitalismus, deren Vertreter als inkarnierte Träger der biologischen oder ökonomischen Selbstentfremdung des Menschen unter apokalyptischen Vorzeichen vernichtet werden müssen.

Alle Last und Schuld des Menschen wird verzeihend in sozialem Pathos auf den namenlosen Sündenbock des Systems und der Umstände, einfacher des Staats und der Gesellschaft, geworfen.

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Naturalismus beruht auf einer Scheidung von Natur und Geist, welche heute gerade im Verhältnis von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft unmöglich geworden ist. Die Erkenntnis der konstitutiven Notwendigkeit geistig-institutioneller Überformung hat nun eine Renaissance des Idealismus eröffnet. Gewiß nicht einfach des klassischen Idealismus des 19. Jahrhunderts vor dem Auftreten des Naturalismus, aber doch einer sehr deutlichen Fortsetzung. Eine Wertlehre, eine neue Metaphysik der Ideen und Begriffe entwickelt sich. Das dualistische Schema von Natur und Geist, verbunden als „erhöhte Geistnatur” (Hellmuth Mayer), tritt unter Aufnahme der scholastischen Tradition der abendländischen Metaphysik wieder hervor. Der alte circulus vitiosus zwischen Naturrecht und Rechtsmetaphysik auf der einen und von Rechtspositivismus und Zweckdenken auf der anderen Seite setzt sich in einer neuen Phase fort1.

Indessen haben wir nicht nach Natur und Geist, sondern nach dem Menschen zu fragen, der an Natur und Geist teilhat, aber eben als Einheit seiner Selbst und dieser beider etwas grundsätzlich anderes und grundsätzlich mehr ist. Vermögen wir zu diesem Kern, zu diesem Verbindenden, daß alles je für sich zu Fassende überschreitet, nicht ebenso zentral etwas zu sagen, so werden wir auch den Problemen des Strafrechts nicht gerecht werden, in dem alle anthropologischen Fragen an der Verneinung, Zerstörung, an den Grenzen so überaus deutlich und dramatisch sichtbar werden. Jurist sein, heißt die Grenzen der Menschheit kennen und bewahren.


1 Vgl. hierzu die erkenntnistheoretische Untersuchung von Klaus Ritter: „Zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus”, Glaube und Forschung, Band 10, Witten 1955.