Kapitel 13

Zur geistesgeschichtlichen Lage des Strafrechts

Die bisherigen Erörterungen der amtlichen Kommission haben sich wesentlich im Bereich der Strafzwecke, der teleologischen Betrachtung der Strafe bewegt. Aber ausgegangen wurde zugleich von der Erkenntnis, daß ein reines Zweckstrafrecht weder theoretisch noch praktisch möglich ist und vor einem Mißbrauch nicht bewahrt werden kann. Von einer Vereinigungstheorie könnte deshalb auch nur gesprochen werden, wenn in dieser auch die Wahrheitsmomente der objektiv-absoluten Strafrechtstheorie miteinbezogen sind.

Ein führender Dogmatiker wie Mezger hat dieses Problem auf eine verhältnismäßig einfache Weise zu lösen versucht. Er scheidet Sinn und Wesen der Strafe auf der einen, ihre Zwecke auf der anderen. Über das Verhältnis beider Gesichtspunkte spricht er sich nicht des näheren aus, unterstellt aber eine immanente sachliche Einheit. Vor der großen Reformkommission sagt er ohne weitere Erörterung, daß beides sich auf einer höheren Ebene zur Einheit finden werde. Dieser Haltung entspricht auch weitgehend die Stellungnahme der Kommission in der Aussprache. Man erklärt eine

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metaphysische Begründung des Rechts für notwendig und eine Zweckbetrachtung für unzulänglich, umschreibt aber diese angerufene Begründung nicht näher. Es scheint zu genügen, daß man die Vorfindlichkeit und Unentbehrlichkeit der Strafe gegenüber grundsätzlichen Versuchen ihrer Ablösung bejaht. Man ist in der Begründung „konservativ”, in der Handhabung „fortschrittlich”; so können auch die Kritiker einer metaphysischen Begründung und die Skeptiker sich zufriedengeben. Denn diese Metaphysik kostes nichts. Genau dem gleichen Weg ist auch derjenige der neueren theologischen Autoren gegangen, der am intensivsten versucht hat, sich mit den Problemen des weltlichen Strafrechts auseinanderzusetzen, Emil Brunner, in seinem Buch „Das Gebot und die Ordnungen”. Was hier vorliegt, kann man philosophisch als gemäßigte Scholastik bezeichnen. Der ontologische Gesichtspunkt (das Wesen) steht in Korrespondenz mit dem teleologischen (den Zwecken). Das eine trägt und begrenzt das andere in einer nicht näher geklärten Weise. Darin liegt ein bestimmtes Grundschema scholastischen Denkens, auf welches ich in anderem Zusammenhange schon hingewiesen habe41.

Zwar wird auch hier nicht mehr der Anspruch erhoben, damit innerhalb eines großen, folgerichtig aufgebauten, umfassenden Systems zu stehen. Aber für das konkrete Problem scheint es zu genügen; die geistige Grundstruktur ist jedenfalls erhalten. Wie nahe Emil Brunner der antiken Philosophie steht, ist bekannt und tritt insbesondere in seinem Buch über die Gerechtigkeit noch stärker hervor. Es ist zugleich die Ursache, weshalb er im ganzen innerhalb der neueren evangelischen Rechtstheologie der Nachkriegszeit so geringe Bedeutung erlangt hat. Denn diese hat sich gerade mit Erfolg bemüht, idealistische Kategorien abzulösen.

Die Beschwörung ungenannter metaphysischer Grundlagen und der sachlich gewiß berechtigte praktische Rückzug auf die Anerkennung der Strafe als Gegebenheit scheint mir noch keine Lösung des Problems zu sein. So gewiß es nicht Aufgabe einer Ministerialkommission ist, philosophische Fragen zu lösen, so ist in deren Verhandlungen doch selbst das Erforderliche über die Unausweichlichkeit gewisser Grundentscheidungen gesagt worden. Mit anderen Worten: Auch wenn diese Fragen nicht Gegenstand der gesetzlichen Normierung sind, wird sich die Kommission über ihr Verständnis des Wesens der Strafe klarwerden müssen, wenn weder die Tatsächlichkeit des Phänomens noch die Verweisung auf die Strafzwecke ausreicht. Die für die Kommission zur Entscheidung gestellte Frage, ob eine gesetzliche Umschreibung der Strafzwecke im allgemeinen Teil des Gesetzbuches angezeigt und möglich sei, macht dies noch dringlicher, weil sei eine Klärung des Gesamtverständnisses unausweichlich macht.


41 „Naturrecht und christliche Existenz”, S. 14f.

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In den Verhandlungen der Kommission bleibt es bei jener Aporie. Man beschwört etwas, was man nicht nennt, was da sein sollte, aber nicht aussprechbar ist. Deutlicher äußert sich einer der Mitglieder und Gutachter, Richard Lange, in seinem Beitrag zu den Grundsatzfragen42. Die Strafrechtswissenschaft führt sich etwa wie die Bewohner einer Stadt, die nach langer, bedrohlicher Belagerung durch ein unvermutetes Ersatzheer befreit sind und nun wieder darangehen, in friedlicher Arbeit die Felder zu bestellen und die Kriegsschäden zu beseitigen. Die barbarischen Horden des Naturalismus sind abgeschlagen und der Raum für die Persönlichkeit, für einen neuen Idealismus ist frei. In diesem Sinne werden auch in einer ausdrücklichen Bezugnahme die allgemein bedeutsamen Erkenntnisse gewertet, welche die moderne Naturwissenschaft für unser Weltbild beigebracht hat. So fordert Lange denn, daß das Strafrecht wieder unter die Herrschaft „absoluter Werte” gestellt werden müsse. Im übrigen beruft er sich in seinen relativ knappen Darlegungen auf die ausführlichen Thesen von Wieacker in dessen Buch „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit” (S. 346ff.).

Gehen wir aber auf diesen zurück, so finden wir etwas wesentlich Anderes. Auch er bewegt sich unter Berufung auf Max Scheler und Nikolai Hartmann im Raum einer neuen Wertphilosophie. Aber er spricht nicht von Werten im Plural, sondern allein vom Rechtswert im Singular, der für sich allein und ausschließlich für die Rechtswissenschaft konstituierend sei (S. 356). Es ist hier die allmählich unumstrittene Erfahrung berücksichtigt, daß der Positivismus keine echte Möglichkeit des juristischen Denkens darstellt, sondern bei folgerichtiger Durchführung seinen Gegenstand selbst unter den Händen verlieren muß. Aber mit der Berücksichtigung dieser negativen Erfahrung ist noch nichts über die positive Lösung gesagt. Diesen Rechtswert im Singular unterscheidet Wieacker mit Bestimmtheit von den einzelnen Werten, die das Recht enthält und schützt und denen er ausdrücklich eine sekundäre, abgeleitete Stellung einräumt. Er verwahrt sich zugleich gegen den Vorwurf des Formalismus, der bei dieser Einordnung der Werte naheliegt. Bemerkenswert aber ist die Weise, in der Wieacker zu diesem Rechtswert kommt. Er soll und muß geglaubt werden! Er ist also kein Gegenstand rationaler Erkenntnis, ebensowenig ein Postulat der Vernunft, sosehr die Forderung dieses Glaubens postulatartigen Charakter hat. Der Rechtswert als Gegenstand eines für die Rechtswissenschaft fundamentalen Glaubens! Das ist also auch mehr als eine Arbeitshypothese. Es ist wiederum ein Glaube ohne ein personales Gegenüber, ein Glaube an eine Richtigkeit, aber immerhin ein Glaube. Es sprengt damit die Grenzen des von Lange an die Stelle des Zweckrationalismus gesetzten Wertrationalismus. Er geht auf Bereiche über, welche im formalen Sinne theologische Struktur


42 Materialienband I, besonders S. 73.

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haben. Wenn ich glaube, was ich aus logischen Entschlüssen nicht ableiten und auch nicht als Vernunftschluß postulieren kann, so gebe ich mich mit diesem Glauben einer sich offenbarenden Wirklichkeit hin. Das ist bereits ein theologische Phänomen. Aber anderseits steht Wieacker mit alledem auch im Bereich des Wertrationalismus. Denn dieser geglaubte Rechtswert soll nun seinerseits geeignet sein, unmittelbar das ganze System der Rechtswissenschaft in seiner Rationalität zu tragen. Er bleibt zugleich im Bereich des Idealismus, indem er diese geglaubte Wirklichkeit in einer unpersonalen metaphysischen Größe als Rechtswert oder Rechtsidee zu finden meint.

Wesentlich anders trotz jener Rückverweisung Lange. Er spricht von diesen Werten im Plural, offenbar den gleichen, welchen Wieacker an ganz anderer sekundärer Stelle unterbringt. Bei ihm ist nicht vom Glauben die Rede. Er spricht von „absoluten Werten”, vom „Wertgefüge der Idee der materiellen Gerechtigkeit”, von „übergreifenden Wertgesichtspunkten”43. Worin diese bestehen, ist freilich nur schwer zu erschließen und wird in erstaunlich geringem Maße auszusprechen unternommen. Wir finden die Berufung auf Artikel 1 des Bonner Grundgesetzes, in welchem die Würde des Menschen für unantastbar erklärt wird, eine Institutionalisierung der Kantschen Philosophie. Ein führender Jurist sagte einmal zur Bonner Verfassung, ihre Besonderheit liege darin, daß sie versuche, die Probleme des 20. Jahrhunderts mit denen des 19. zu lösen. Nach dieser Interpretation müssen wir nunmehr annehmen, daß wir mit Kant einen neuen Staatsphilosophen erhalten haben und endgültig in das 18. Jahrhundert zurückgefallen sind. Dies entspricht freilich der restaurativen Tendenz der Gegenwart. Aber keine Zeit wird von der Aufgabe befreit, sie selbst zu sein.

Deutlicher als die Darstellung Langes selbst sind die Bezugnahmen, so auf den Hegelschen Grundsatz, jeder solle vom anderen als Person behandelt werden. In noch weiterem Maße wird auf Hegels Strafrechtstheorie durch Benutzung eines Zitates von Hellmuth Mayer hingewiesen, in dem es heißt: „Der Mensch als Person, als geistiges Wesen, ist nicht als einzelner an sich selbst, sondern überhaupt nur in der sittlichen Gemeinschaft freier Menschen wirklich, die sittliche Gemeinschaft ist also nicht Beschränkung des einzelnen oder Zwang gegen ihn, sondern sein Lebensgrund und tragende Lebensordnung, das sittliche Leben nicht Beugung des Willens unter eine Norm, sondern erhöhte, zu ihrem warhen Selbst gebrachte Geistnatur.”

Diese Ausführungen von Mayer zeigen eine ausgesprochen scholastische Struktur. Der Gegensatz von Natur und Übernatur ist so in die Innerweltlichkeit übersetzt, daß die Bestimmtheit des


43 Lange: „Grundfragen der deutschen Strafrechtsreform”, aaO. S. 373ff.

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Menschen durch die Werte der Erhebung der Natur durch die Übernatur entspricht. Die Transzendenz der Übernatur ist preisgegeben und zur Idealität ermäßigt.

Aus modernen anthropologischen Einsichten wird bei Lange das Wesen des Menschen in der Fähigkeit zur „finalen Überdetermination” gesehen, wodurch sich der Streit um den Determinismus erledigt habe. Wenn auch nicht einfach eine Harmonie zwischen den vielfältigen Erkenntnissen der modernen Anthropologie und Biologie behauptet wird, so wird doch aus ihnen wesentlich die Freigabe des Menschen zur sittlichen Selbstbestimmung als das ihn eigentlich Auszeichnende abgeleitet und als möglich dargestellt.

Mir scheint in alledem ein grundlegendes Mißverständnis der Lage vorzuliegen, welche durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft auch auf unserem Gebiete eingetreten ist. Mit der Begrenzung der klassischen Kausalgesetze auf den Makrokosmos und der Tatsache der sog. Nichtobjektivierbarkeit, mit der Heisenbergschen Unsicherheitsrelation und dem Komplementaritätsgesetz ist nicht etwa ein neuer Indeterminismus freigegeben. Die Nichtobjektivierbarkeit bedeutet vielmehr, daß die Gegenstände der Erkenntnis auch im geisteswissenschaftlichen Bereich nicht mehr in der gewohnten Weise objektiviert, d.h. vom erkennenden Subjekt abgelöst werden können. Es scheint mir daher schlechthin verboten zu sein, von absoluten Werten zu rede, wenn dieses Wort einen präzisen Sinn haben soll. Die Theologie hat sich schon mit den schwerwiegenden Folgen des Problems der Nichtobjektivierbarkeit befaßt und ist damit noch keineswegs am Ende. Die Rechtswissenschaft hat dieser Fragestellung noch keinem Raum gegeben. Mit der Nichtobjektivierbarkeit der Gegenstände der Erkenntnis fällt aber zugleich die Eindeutigkeit des erkennenden Subjekts dahin. Es muß daher mit aller Deutlichkeit gefragt werden, was der hier verwendete Personbegriff bedeuten soll. Offenbar meint man, gerade mit der Eindeutigkeit des Subjekt- und Personbegriffs das Entscheidende zu verteidigen. Dieses Ziel ist aber mit den verwendeten Mitteln nicht zu erreichen. Nicht nur die sog. „absoluten Werte”, sondern der Wertbegriff schlechthin setzt eine Trennung derselben vom Menschen, ein Für-sich-Bestehen, ebenso voraus wie die übliche im Strafrecht verwendete Rechtsgüterlehre. Ist aber dieser Begriff der Werte und Güter aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht verwendbar, so kann der Mensch nur aus spezifischen Relationen, aus Beziehungen und Bezügen zur Tat, zum Verletzten, zum Richter in der besonderen Lage verstanden werden, um welche es hier geht. Sowohl das Schema von Natur und Übernatur wie das von Mensch und Werten liegt noch vor den Fragestellungen, in welche wir gestellt sind. Wir leben in einem Zeitalter nicht allein nach Kant, welcher uns den Rückgriff in eine fundamentalistische Metaphysik versperrt, sondern in einem

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Zeitalter nach Planck. Planck aber ist von Kant ebenso weit entfernt wie Kant von der Metaphysik vor ihm. Die Äußerungen von Wieacker sind so charakteristisch, daß sie hier im vollen Text aufgenommen werden müssen:

„Nach dem Zerfall der objektiven Ordnungen der Wirklichkeit und des Gedankens kann Gerechtigkeit als Wirklichkeit nur mehr im persönlichen Rechtsgewissen des Menschen erscheinen. Das Rechtsgewissen ist der Personalität des Menschen zugehörig, nicht nur oder wesentlich biologische oder psychologische Eigenschaft des Individuums oder der Menschenart. Die transzendente Herkunft des Rechtsgewissens ist das einzige unerläßliche Axiom, dessen die Wiederherstellung des Rechtsglaubens bedarf.
Rechtsgewissen ist vollkommen verstehbar nur als Erscheinung eines überpersönlichen Wertes in der Person. Denn Rechtsgewissen ist offenbar Rechtseinsicht, d.h. persönliche Erfahrung eines absoluten Wertes. Dieser Wert ist nicht ausschöpfbar und bestimmbar als eine allgemeinste Norm, die „von jedem das gleiche” fordert, sondern als jeweils einzigartiger und spontaner Befehl an die einzelne Person aus Bereichen, die unserer methodischen Erfahrung unzulänglich sind. Religion erkennt im Rechtsgewissen den Ruf einer höheren Personalität; dem methodischen Nachdenken genüge hier die Unerforschlichkeit seiner Herkunft und die Gewißheit seiner Existenz44.
Die Forderung der konkreten Orientierung des Rechtsgewissens an der Wirklichkeit schützt aber auch vor dem Einwand, die wenigen axiomatischen Ableitungen aus dem persönlichen Gewissen seien im Grund nur die Neufassung einer altbekannten formalistischen Rechtsbestimmung. Denn diese Verpflichtung fordert vom Rechtsgewissen eine sachlogische Orientierung an den Dingen und Menschen, die den konkreten Inhalt jedes gerechten Rechts im höchsten Grade bestimmbar macht.” (S. 357).

Wieacker lehnt eine theologische Begründung des Rechts als ebenso unmöglich wie unnötig ab (S. 339, 358). Indessen hat schon Emge mit Recht bemerkt, daß jede Rechtsphilosophie auf einer bestimmten Religionsphilosophie beruhe. Mehr noch: Ein solcher rechtsphilosophischer Standpunkt ist ohne eine theologische Vorentscheidung über das Verhältnis von Glauben und Wissen nicht durchzuhalten. Geht man den theologischen Voraussetzungen Wieackers nach, so trifft man auf einen radikalen Nominalismus, der einen ganz bestimmten Platz in der Geistesgeschichte hat. Eine solche Haltung kann zum Positivismus führen, braucht es aber nicht. Sehr viel typischer ist ein radikaler Personalismus, der nun alles an dem dünnen Faden subjektiver Erkenntnis und Entscheidung aufhängt.


44 Sie beruft sich damit — wie jedes persönliche Denken — auf eine persönliche Entscheidung, die Entscheidung zum Rechtsglauben (S. 355).

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Wer auch nur ein wenig in der theologischen Debatte der Gegenwart steht, wird sich bei den Formulierungen Wieackers bis in das einzelne Wort hinein an die Formeln einer bestimmten Theologie erinnert fühlen. „Die personale Entscheidung des je und je Angerufenen” usw. Damit stimmt genau überein die summarische Feststellung der Zerstörtheit der objektiven und gedanklichen Ordnungen, mit denen zusammen nun gerade der Jurist seinen eigenen Lebensbereich allzu schnell preisgibt. Eine bestimmte theologische Position — und um eine solche handelt es sich bei Wieacker aller Reserve gegen die Rechtstheologie zum Trotz — hat eben ihre kennzeichnenden Konsequenzen, ihre typischen Ausdrücke und erzeugt ebenso typische Begrenzungen des Blicks. Zu diesen Merkmalen gehört die Gegenüberstellung der (zerstörten) objektiven Ordnungen und der Personalität der Entscheidung des Rechtsgewissens. Eigentlich kann man diese Dinge besser und klarer beim Theologen haben als in der Übersetzung und rechtsphilosophischen Verkleidung. An die Stelle der — freilich unmöglichen — naturrechtlichen „objektiven” zeitlos-absoluten Generaldefinition von Gerechtigkeit tritt die Subjektivität des glaubenden Rechtsgewissens. Gegen diesen radikalen Personalismus gelten alle die Gründe, welche Gerhard Gloege in seinem Aufsatz in „Kerygma und Dogma”45 geltend gemacht hat.

Indessen gibt es jene Personalität des Rechtsgewissens, die sich per subsequens an der Wirklichkeit orientieren soll, in dieser Abstraktion gar nicht. Sie ist nur eine Subjektivierung jener scholastischen Generaldefinition, ihre Verlagerung in das Bewußtsein. Sie folgt dem scholastischen Grundaxiom „operari sequitur esse” und damit der Grundstruktur dieses Denkens überhaupt. In Wahrheit gibt es das Rechtssubjekt nur in gewissen typischen Rechtslagen und Rechtsrollen, als Habender, der Respektierung, als Nichthabender, der Wiederherstellung seines Rechts beansprucht, als Regierender oder Regierter, als Täter, Verletzter oder Richter, als Inhaber von Sachherrschaft, als Mann, Frau, Kind usw. Es gibt nicht objektive, wenigstens im Grundsatz und Schema absolute unveränderliche Ordnungen, sondern Grundrelationen, Grundbezüge, Grundprobleme, das von Führung und Gefolgschaft, von Mensch und Sache, das der Geschlechter und der Generationen, dasjenige von Schuld und Haftung, usf. Ohne diese Relationen ist der Mensch überhaupt rechtlich nicht existent. „Wer” etwas tut, wird bestraft. Ihre Lösungen wechseln, aber doch nur in langen, sich nicht willkürlich vollziehenden Entwicklungen, die Probleme als solche sind von der menschlichen Existenz unablösbar. Die Personalität des Menschen kann nicht dadurch gesichert werden, daß man sie vorweg von alledem abstrahiert und sozusagen ihr Schäfchen von rechtlicher Subjektqualität und Grundrechten ins Trockene bringen läßt.


45 Jahrg. I Heft 1 S. 23ff.

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Dieser Versuch scheitert immer wieder. Es ist nur die Hypostasierung einer atomisierten Sozialordnung. Der Mensch wird gerade dadurch gehalten, daß diese Verhältnisse zum rechtlichen Auftrag kommen. Immer, auch im Eigentumsproblem, handelt es sich um die rechtliche Gestaltung eines Verhältnisses zu einem Gegenüber. Dies wird nun vom Menschen immer nach zwei entgegengesetzten Seiten verfehlt: durch Verhärtung wie durch Auflösung. Das erstere tritt ein, wenn eine historische Gestaltung über ihre Lebensdauer hinaus sich als absolute, zeitlose versteht; ebenso aber, wenn die Gestaltung selbst ihren Relationscharakter verliert: wenn die Sachherrschaft zur absoluten Verfügungsgewalt, die Strafe aus einer Restitutionsfunktion zum absoluten moralischen Urteil wird, usw. Umgekehrt relativiert die Auflösung die Verbindlichkeit geschichtlicher Lösungen in willkürlicher Weise, vor allem versucht sie, die Grundrelationen als solche, als Determinationen des Menschen abzulösen ode wenigstens aus der rechtlichen Gestaltung zugunsten vollkommener individueller Freiheit zu entnehmen; zur Begründung dient dann die falsche These, daß das Recht wesentlich oder überwiegend Zwang sei und deshalb im Widerspruch zur freien sittlichen Selbstbestimmung stehe, ihr qualitativ unterlegen sei. Wie schon in anderem Zusammenhang hervorgehoben, hat die Rechtstheorie gegen die gleichen häretischen Versuchungen zu kämpfen wie die christliche Theologie wie diese immer nach zwei Seiten, gegen Verabsolutierung und Schwärmertum. In diesem Relationscharakter aller rechtlichen Ordnung (mißverstanden in der aufgeklärten Vertragstheorie) ist die Unablösbarkeit des Rechts mit seiner Relativität und Dienstbarkeit für den Menschen grundsätzlich ausgeglichen.

Der Ordnungscharakter des Rechts hält die Bezogenheit des Menschen als seine Grundverfaßtheit durch, ohne die der Mensch weder ist noch im Rechte ist. In dieser Bezogenheit ist allein auch die Personalität des Menschen aufgehoben und bewahrt, sie ist nicht eine Qualität an sich. Sie geht unter, wenn sie in der Ordnung aufgeht;sie wird aber ebenso zerstört, wenn sie meint, sich aus den Relationen lösen oder diese, was auf dasselbe hinauskommt, beliebig und willkürlich gestalten zu können. Wieder treffen wir auf die Existenz des Menschen im Raum des Rechts zwischen bestimmten Grenzen, auf die implizite, nicht explizite Existenz. Im Gegensatz dazu macht die idealistische Rechtstheorie immer wieder den unmöglichen Versuch, die explizite Existenz als Rechtssubjekt, Person, Personwürde in den Griff zu bekommen. Die Existenz an sich, sozusagen ein subjektives „Ding an sich”, ist aber nicht objektivierbar, deshalb auch rechtlich nicht darstellbar. Das Gewissen, auch das Rechtsgewissen wird überfordert, wenn es sich als Bewußtsein dieses juristischen „Subjekts an sich” verstehen und in beliebigen Lagen entscheiden soll. Es kann sich nur recht verstehen, wenn es sich von vornherein in den existentiellen und damit zugleich

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rechtlichen Relationen versteht. Deswegen ist die rechtliche Verfehlung, haftungsbegründendes Verhalten, subjektiv gesprochen vorwerfbare Schuld „Verfehlung einer notwendig institutionell verfaßten Wirklichkeit, in welcher die Verpflichtung gegenüber dem Nächsten konkret gestaltet ist”46.

Deshalb nehmen auch die aufs höchste formalisierten und typisierten Vorgänge des modernen Verkehrs in Gestalt von Beförderungsbedingungen, Bankbedingungen usw. von ganz allein sofort wieder quasi-institutionelle Rechtsformen an, können sie von der Interpretation des aktuellen einzelnen Geschäftswillens nicht zulänglich erfaßt werden. Nicht eine formale Rechtslogik, sondern die Existenzialität des Rechts, sein Relationscharakter, setzt sich unversehens wieder durch. Man tut nicht nur etwas, sondern ist mit einem Mal Bankkunde, Verkehrsteilnehmer, so wenig man darin aufgeht. Der Unterschied zu älteren Rechtsformen ist wesentlich der, daß man damals mit einer gewissen Ganzheit in solchen Bezügen lebt, und daß zugleich diese Bezüge zu einer Ganzheit geordnet waren, während man heute diesen Bezügen gewissermaßen nur schichten- und bruchstückweise angehört. Ehedem gehörten etwa Anteil an der Markgenossenschaft oder am dinglichen Lehnbesitz, Erbfolge und Geschlechtsverband, politischer und kirchlicher Status (sämtlich Relationen!) in einem Gefüge zusammen und bedingten einander. Heute sind die Relationen getrennt, man hat die verschiedenartigsten Rechtsbeziehungen lebensmäßig bedeutsamer Art ungeordnet nebeneinander. Aber der Relations- und Statuscharakter rechtlicher Existenz wird als solcher dadurch nicht berührt47.

Gerade diese gewisse und nie wirklich vollkommene Schlüssigkeit der Zusammenordnung der Lebensbereiche eröffnete geschichtlich die Möglichkeit zur Entwicklung auch des juristischen Subjektbegriffs, der dann ohne diese Zuordnung immer deutlicher überlastet wird. Die Integration und Desintegration der Institute je für sich wie in ihrem Verhältnis zueinander ist ein entscheidender Vorgang für das Verständnis der Rechtsgeschichte und der gegenwärtigen Lage der Rechtswissenschaft. Die Vorstellung einer linearen Entwicklung des Menschen zur freien sittlichen Selbstbestimmung als Einzelsubjekt ist ein fortschrittlich-idealistischer Geschichsmythos und die falsche Verabsolutierung und Verherrlichung höchst zeitbedingter, überdies mißverstandener Vorgänge und Erscheinungen. In diesen Zusammenhang gehört auch die schon dargestellte Integration der Strafe als öffentliche Institution aus ihren geschichtlichen Elementen und deren nachfolgende Desintegration ebenso wie die Ausbildung des Schuldbegriffs und seine spätere Gefährdung und Zersetzung.


46 Vgl. Dombois: „Grundprobleme des Eheschließungsrechts”, aaO.
47 Über den Relationscharakter der dinglichen Sachherrschaft vgl. Dombois: „Mensch und Sache”, aaO. S. 329ff. — ferner auch „Politische und christliche Existenz”, aaO. S. 115ff.

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Entstehung, Entfaltung und schließlich Ausscheidung des Schuldbegriffs im Strafrecht wie in dem ebenso personenrechtlichen Bereich des Eherechts (Ehescheidungsrechts) stehen in präziser Parallele. Beide haben zur Voraussetzung die Vorstellung und Erkenntnis der Irreversibilität, d.h. der echten Geschichtlichkeit rechtlicher Akte, der strafbaren Tat wie der Eheschließung, die nur vorwärts entwickelt, nicht zurückgenommen werden können außer durch ein wirkliches Geschehen.

Dem Weltbild grundsätzlich reversibler Kausalvorgänge entspricht der Begriff eines juristischen Subjekts, welches als frei verfügendes von dem beliebigen Gegenstand seines Handelns als Existenz an sich unberührt bleibt und unberührt bleiben soll. Ein naturwissenschaftliches Weltbild, welches echte Geschichte, nämlich unumkehrbare Vorgänge, kennt, welches eine unendliche, aber begrenzte Welt annehmen muß, welches die Gültigkeit der Kausalgesetze als statistische Tatsache auf den Bereich des Makrokosmos begrenzt, eröffnet, ermöglicht und erfordert zugleich neue Formen des geisteswissenschaftlichen Denkens. Denn Kausalität ist beliebige Verfügbarkeit und Wiederholbarkeit — und dem kausalen Denken entspricht das ethisch-normative, soweit es als ausschließliche Kategorie verstanden wird. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch des normativen Denkens muß gerade für die Jurisprudenz gebrochen werden, wenn sie ihrer gegenwärtigen Aufgabe gerecht werden soll. Sie kan sich nicht mit der summarischen Feststellung über die Zerstörtheit der Ordnungen und Gedanken zufriedengeben, die Wieacker für viele vorgetragen hat, um sich auf das Rechtsgewissen des Subjekts wie auf eine treibende Eisscholle im Sturm der Zeit zurückzuziehen. Denn in den Grundbezügen bleibt der Mensch unausweichlich und in ihnen ist er rechtlich eigentlich Mensch, weil er in ihnen für den Mitmenschen verantwortlich ist. Der Mensch ist verantwortlich — oder er ist nicht Mensch. Dies ist die rechtliche Bedeutung der biblischen Botschaft für das Recht. So begründet diese Bedeutsamkeit die Nichtbedeutungslosigkeit seines Handelns im Angesicht der letzten Dinge. Freilich ist nun — darin sieht Wieacker recht — die Fähigkeit und Bereitschaft entscheidend zurückgegangen, diese Verantwortlichkeit, diese Rechtsexistenz institutionell auszuprägen, den Rechtsraum zu gestalten. Die Gefährdung dessen liegt paradoxerweise sowohl im Idealismus wie im Naturalismus. Denn der Idealismus objektiviert vom Menschen abgelöste, „absolute” Begriffe, Ordnungen, Wesenheiten, Werte metaphysischer Art, während der Naturalismus im weitesten Sinne alles für verfügbar erklärt und damit seiner eigentlichen, nämlich geschichtlichen Bedeutung entnimmt. Das „An-sich” des Objekts wie das „An-sich” des Subjekts fallen auseinander. Das Vermögen, die großen Institutionen klar auszuprägen und sinngemäß durchzuhalten, bleibt immer eine bewunderungswürdige schöpferische Leistung; sie wird um so mehr sichtbar, je mehr sich die Dinge destruieren. Die Objektivierung wie die Subjektivierung

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des Rechtsdenkens verhindern also gemeinsam gerade das, worum es ihnen ehrlich geht, das Menschsein des Menschen im Recht. Nichtobjektivierbarkeit darf nicht dahin mißverstanden werden, als ob dadurch Erkenntnis einfach nur subjektiviert und relativiert wird. Sie führt vielmehr zu der umgekehrten Einsicht, daß nicht nur das Subjekt den Gegenstand der Erkenntnis durch den Akt des Erkennens verändert, sondern auch der Gegenstand der Erkenntnis das erkennende Subjekt. Das gilt für Erkenntnis wie für menschliches Handeln überhaupt. Der Mensch als Erkennender und Handelnder kann nicht reines Subjekt, Subjekt an sich bleiben, ja er ist es nie gewesen, weil er nur als Erkennender und Handelnder existiert. Der Mensch lebt in diesem Spielraum seiner Beziehung zu den Gegenständen seiner Erkenntnis und seines Handelns, kurz seiner Welt — er kann sich weder von ihr lösen, um zu sich selbst zu kommen, noch kann er in ihr aufgehen. Wieder kommen wir auf den Grenzcharakter menschlicher Existenz, ihr Eingefangen- und Gehaltensein zwischen Grenzwerten. Der Mensch, der den Vater mörderisch angreift, will frei von der heteronomen Macht, die durch ihre schöpferische, zeugende Willkür ihn selbst ins Leben gerufen hat, zu sich selbst kommen, und der Blutschänder sucht das Aufgehen in einer bergenden Welt, um von seinem „Für-sich-Sein” loszukommen. Er geht unwissend schicksalhaft zur Mutter, weil er sich gerade an den Anderen, der auch der legitime Ehegatte immer bleibt, nicht wagen will. Denn dort müßte deshalb er auch immer noch zugleich selbst ein Anderer, Nichtidentischer bleiben. Das schlechthinige „Zusichselbstkommen” wie das „Entwerden” ist dem Menschen versagt. Vom Rechte wissen, heißt die Grenzen des Menschen kennen, Recht pflegen, heißt diese Grenzen gegen vordergründige Irrtümer, aber auch gegen die illegitimen — die auch so begreiflichen! — Versuche des Menschen zur Selbsterlösung verteidigen. Weil die Verirrungen des menschlichen Rechtsdenkens mit der tiefsten Not menschlichen Lebens so unmittelbar zusammenhängen, darum haben sie auch in ihrer Verderblichkeit noch immer den metaphysischen Rang des gefallenen Engels, der schön ist, aber traurig, tragisch verstrickt und friedlos. Man hat mit Recht gesagt, daß der Goethesche Mephisto im Verhältnis zu Faust verharmlost und verkleinert ist. Die Kraft, die hier gemeint ist, ist auch im strebenden Menschen, sie ist die Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft. Darum steht das Recht im rechten Verstande immer etwa wie ein Engel mit dem Flammenschwert vor den Pforten des Paradieses und verwehrt die einfache, billige Rückkehr aus eigener Macht. Es ist schwer, dieses Schwert mit menschlicher Hand zu führen; aber es geschieht, um dem Menschen den Raum des Lebens zu erhalten, ihm in den Raum zu erhalten, in dem er in dieser Zeitlichkeit leben kann. Wer hier nicht weiß, was er tut, der ist nach dem apokryphen Worte des Evangeliums verdammt. Dieses Wissen wird, wie mir scheint, in der richterlichen Praxis von der

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Erfahrung her stärker aufbewahrt als in der juristischen Theorie. Und doch ermangelt dieser Praxis in gefährlicher Weise das Maß der Erkenntnis und des Bewußtseins, ohne welche auf die Länge die Dinge nicht durchgehalten werden können. Erfahrung ist vollends kein Freibrief für Gedankenlosigkeit.

Nichtobjektivierbarkeit ist also nicht die Steigerung, die Potenzierung des Agnostizismus, die Auftürmung weiterer Hindernisse auf dem Wege zur Erkenntnis zu denen, welche Kant schon errichtet hat, sondern sie eröffnet ihr gerade neue Wege. Juristisch ausgedrückt heißt das, daß das Recht seiner Struktur nach Relation, und zwar wechselseitige Relation bedeutet, daß auch das Statusrecht kein Recht an sich, sondern ein Ort im Verhältnis zu anderen Orten, zu anderen Statusrechten ist. Deshalb heißt „instituere” sowohl den Menschen lehren, nämlich sich deshalb an dem Orte recht verstehen lehren, an dem er steht, als auch ihn in das Recht setzen, in dem er leben kann. Deshalb ist auch die Strafe Institution, unablösbar wie alle echten Institutionen, ein Setzen in einen status negativus, den der Mensch zuvor, selbst in der Entfernung von der Mitmenschlichkeit, selbst gewählt hat, nicht ohne den offenen und verborgenen Sinn, ihn in diesem status negativus nicht stehenzulassen, sondern ihn darüber hinauszuführen. So ist die Strafe die negative Institution zu allen positiven Institutionen. Daraus wird verständlich, daß die Strafe überall dort angegriffen werden muß, wo die negativen Möglichkeiten des Menschen optimistisch verkannt und geleugnet werden, letztlich nie ohne Zusammenhang mit geschichtsphilosophischer, religionsphilosophischer, pseudotheologischer Spekulation.

Ein weiteres Moment, welches neben der Nichtobjektivierbarkeit aus dem Bereich der Naturwissenschaft für die Geisteswissenschaften von Bedeutung ist, ist das Phänomen der Komplementarität. Es gibt wesentliche Erkenntnisgegenstände, welche nicht eindeutig, sondern nur alternativ beobachtet und beschrieben werden können. Es sind Erscheinungen, deren zweifache Erscheinungsweisen nicht gleichzeitig beobachtet werden können, aber im Wechselbezug stehen, trotz der Identität des Gegenstandes auswechselbar sind. Fassen wir die eine Eigenschaft ins Auge, so verschwindet uns die andere aus dem Blick, und umgekehrt. Komplementarität treffen wir auch im Geistesleben. Wir können das Gleich entweder statisch oder dynamisch, kontinuierlich oder diskontinuierlich auffassen und darstellen, haben aber jeweils immer nur einen Aspekt des Ganzen und verlieren in dem Maße der folgerichtigen Durchführung des einen Aspekts den anderen. Nur der Mangel an denkerischer Konsequenz verdeckt dann oftmals die notwendige Einseitigkeit, die dann wieder den schärfsten Denker zur Aufdeckung und weiteren Vergewaltigung der Wirklichkeit anreizt. Es ist eine verhältnismäßig primitive, aber dennoch sehr weit verbreitete Selbsttäuschung, das eine gegen das andere Moment als das Höhere oder Eigentümliche auszuspielen.

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Eine Reihe von Hauptproblemen des Strafrechts scheint mir nun gerade unter Berücksichtigung ihrer komplementären Struktur hinreichend darstellbar zu sein:
1. Das Verhältnis von Tatstrafrecht und Täterstrafrecht und damit dasjenige von Freiheit und Determination.
2. In einer anderen Betrachtungsweise, im Raum der Anthropologie, wiederholt sich das gleiche Problem im Verhältnis von Ontologie und Ethik.
3. Ebenso verhalten sich Statusstrafrecht und Funktionsstrafrecht zueinander.
4. Auf einer weiteren Ebene das Verhältnis von Rechtsstrafe und Zweckstrafe.
5. Damit zugleich das Verhältnis der Strafzwecke, und zwar sowohl zwischen Abschreckung und Besserung wie zwischen Generalprävention und Spezialprävention.
Im einzelnen sei auf die Darstellung in den entsprechenden Kapiteln verwiesen.

Nichtobjektivierbarkeit bedeutet die Umsetzung der Erkenntnisgegenstände aus der unzulänglichen expliziten Definition in die implizite Definition durch Beziehung der Grenzwerte, zwischen denen, in deren Raum das Phänomen sich vollzieht und lebt, das aber positiv abschließend nicht definierbar ist. Komplementarität bedeutet demgegenüber die positive Darstellung der Struktur in den Grenzen und unter den Voraussetzungen der Nichtobjektivierbarkeit. Nichtobjektivierbarkeit und Komplementarität sind einander ergänzende Modi der Darstellung und Definition. Die darin beschlossenen Erkenntnisse lassen sich gerade durch die Eindeutigkeit der bisherigen Aussageweise nicht erfassen, sie scheinen weniger präzise, sind aber in den Grenzziehungen in Wahrheit nicht weniger prägnant. Kausales, ethisches, normatives Denken ist im Gegensatz dazu von linearen Eingleisigkeit. Diese Denkformen hängen in sich ebenso zusammen wie mit einem absoluten Subjekt- und Objektbegriff und setzen die fundamentale Trennung beider voraus. Die Rechtswissenschaft hat sich angewöhnt, nur solche Aussagen als spezifisch juristische gelten zu lassen, welche dieser logischen Struktur entsprechen. Sie ist damit in eine ihrer nicht würdige, nur geschichtlich zu erklärende Abhängigkeit von bestimmten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, insbesondere von der Prädikatenlogik geraten, jenseits deren sie fürchtet, die ihr gemäße Prägnanz und Entscheidungsfähigkeit zu verlieren. Daran ist so viel richtig, daß die Übersetzung in moderne Denkformen weithin noch fehlt. Der Rückweg in einen neuen Idealismus ist deswegen ein begreiflicher, aber nichtsdestoweniger verhängnisvoller Ausweg, weil er die Krise des Weltbildes der klassischen Physik außer acht läßt und die Rechtswissenschaft in diese verwickeln läßt. Sie droht endgültig hinter die

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Zeit zu geraten und nur noch die Methoden einer sozialen Ordnungstechnik zu liefern. Sie könnte eines Tages nur noch auf die Technische oder Handelshochschule passen.

An vielen Stellen trifft man auf Ausbruchsversuche, wie in dem mehrfach zitierten Aufsatz von Adolf Arndt, der die Rechtskraft der positiven Satzung durch das Erfordernis einer Übereinstimmung mit dem Rechtsbewußtsein ergänzt sehen will, in dem von dem verfehmten Carl Schmitt eingeführten Begriffspaar on Legalität und Legitimität, welches der Bereichstrennung von positivem und Naturrecht und damit ihrer disjunktiven Objektivation entgegenwirkt, usf.

Die immense Fülle des technischen Stoffes, welcher der klassischen Systematik immer mehr entwächst, droht die Jurisprudenz als Wissenschaft zu ersticken, und selbst die lebensnotwendigen Funktionen ins Ungewisse zu bringen. Dazu gehört besonders das Gebiet des Strafrechts, auf welchem die Rechtstheorie eine erstaunliche Unsicherheit in den Grundfragen gezeigt hat, in dem es immer zugleich um ein politicum wie um ein humanum, um den Menschen wie um die Gemeinschaft geht.