Der gegenwärtige Stand der evangelischen Staatslehre
Genre: Literatuur
1960
|129|
Die sachliche Begrenzung unseres Themas erfordert auch eine zeitliche. Zugleich wäre es falsch, sich zu verhehlen, daß unsere Besinnung sich im deutschen Raum vollzieht, Haltung und Verantwortung der evangelischen Christenheit in Deutschland meint, auf welche allein die Theologie der deutschen Schweiz in Gestalt von Karl Barth und Emil Brunner einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat. Der zeitliche Abschnitt, in dem wir leben, setzt ein mit dem Jahre 1918, mit einem Traditionsbruch, der die Kirche und Theologie in eine unerwartete neue Lage versetzte und zur Neubesinnung zwang — oder hätte zwingen sollen. Daß sich diese Besinnung im oekumenischen Raum zu verstehen und zu vollziehen hat, ist uns heute klarer und selbstverständlicher, als es damals war. Der deutsche Protestantismus von damals glaubte sich, mitgetragen von dem mächtigen Selbstbewußtsein des deutschen Idealismus, in einer führenden und Sonderstellung als der Erbe der von Deutschland ausgegangenen lutherischen Reformation.
Die Zwanziger-Jahre erscheinen uns heute wie eine kurze Atempause zwischen zwei Kriegen und zwei Revolutionen, zwischen zwei Wirtschaftskrisen. Aber sie umschlossen zugleich eine außerordentliche geistige und politische Bewegtheit. Befreit von der Stagnation des „Wilhelminismus”, aber in sich tief uneins, rang das deutsche Volk um sein staatlich-politisches Selbstverständnis. Dieser Kampf vollzog sich im stärksten Maße auf dem Hintergrund und mit dem Einschlag theologischer Besinnung und glaubensmäßiger Entscheidung. G. Holstein, der letzte Systematiker des evangelischen Kirchenrechts, konnte 1926 eine Schrift über „Luther und die deutsche Staatsidee” veröffentlichen, nachdem schon 1921 der religiöse Sozialist G. Wünsch in einer Monographie unter dem Titel „Über den Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung” gehandelt hatte. Ein namhafter Theologie wie F. Brunstäd wurde in einer ungewöhnlichen Weise zum Berater des Kabinetts Brüning, dessen Ausgang durch Unvermögen und Dolchstoß tragisch bestimmt war. Und jene Periode endete mit Gogartens Schrift „Wider die Ächtung der Autorität” und Stapels „Christlichem Staatsmann”. In der gleichen Zeit aber besaß die deutsche Staatsrechtswissenschaft in Berlin eine bis heute nicht überbotene glanzvolle
|130|
Repräsentation in so unterschiedlichen Denkern wie Smend, Triepel, Holstein und Carl Schmitt. Der letztere aber stellte damals die These auf, daß die präzisen Begriff der Staatsrechtslehre säkularisierte Begriffe der Theologie seien. Drohend zeichnete sich mit seinem Begriff der „Politischen Theologie” ein bisher ungeahntes Maß an Ideologisierung ab.
Politische und theologische Existenz verschlangen sich auf das stärkste. Bei aller Kritik kann man jene Zeit nicht einfach als den Ausgang einer fatalen beruhigten Staatskirchlichkeit bezeichnen. Im Gegenteil: noch wurden reformatorisches Kirchentum und deutsche Staatlichkeit in einem genuinen Zusammenhang gesehen und in diesem Zusammenhang zu bestimmen unternommen. Schon während des ersten Weltkrieges hatten gerade nicht nur die Vertreter orthodox-traditionelle Kirchlichkeit, sondern Männer wie Troeltsch, Thomas Mann, Scheler das Selbstbehauptungsrecht Deutschlands mit einer besonderen, von den Lebensformen der „westlichen” Demokratie sich unterscheidenden Staatsidee und Lebensform begründet und verteidigt. In einer theologisch-politischen Verbindung von Luthertum und deutschem Idealismus setzte sich diese Linie fort. Darüber war das deutsche Volk tief gespalten. Der Universalismus allgemein gültiger Ideen stand dem Universalismus der Partikularität gegenüber. Es fehlte nicht an der redlichen Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Aber die verhängnisvolle Irrealität des deutschen Denkens zeigte sich. Der Anspruch auf eine eigene politische Lebensform wurde nicht an den Bedingungen der Moderne geprüft. Und umgekehrt fand man auch nicht den Weg zur Realität der Tradition.
Die Nation löste sich in ein Spektrum von politischen Theorien auf, und eine reiche Zeit war entscheidungslos. Keine der großen politischen und Verfassungsfragen konnte vorangebracht, unwiderruflich und verbindlich ausgetragen werden. Diese herrenlose Erbschaft nahm der Nationalsozialismus in eine gewaltsame Sequester. Er zwang die evangelische Kirche und Theologie — unvorbereitet wie 1918 zur rechtlichen Selbständigkeit —, ihr Verhältnis zum Staat in einer ungewohnten Gegnerschaft neu zu formulieren. Der Ausgang dieses auch von seinen erklärten Gegnern nicht unverschuldeten Abenteuers bedeutete für den deutschen Protestantismus den Verzicht auf Anspruch und Prätension, für sich — und gar für andere! — etwas Besonderes zu besitzen. Und zu seiner eigenen wie der Umwelt Verwunderung bestand das deutsche Volk am 8. Mai 1945 aus siebzig Millionen Demokraten. Man kann aus Deutschland heraus die Lage der evangelischen Staatslehre nicht ohne diesen Rückblick auf unsere eigene Geschichte erörtern. Bei alledem hat die Frage ihre oekumenische Dimension und hat diese selbst in den Jahren von 1933 bis zum Ausbruch des zweiten
|131|
Weltkrieges trotz aller Behinderung nicht verloren: In dem reichen Material der Studienbände für Oxford und Edinburgh findet sich in dem Sammelband „Totaler Staat und christliche Freiheit” auch ein Beitrag von Wendland über „Christliche Freiheit, kreatürliche Freiheit und totaler Staat” (S. 151/1937).
1.
Ich sehe die Aufgabe dieser Betrachtung nicht so sehr in einer orientierenden Berichterstattung über die sehr zahlreichen theologischen Arbeiten zum Staatsproblem, als in dem Versuch, einen gewissen methodischen und sachlichen Grundriß und Umriß zu geben.
R. Smend hat im Evangelischen Kirchenlexikon (III, Sp. 1105 ff.) dem Stande der Staatslehre wie der Staatstheologie eine ungewöhnlich entschiedene Formulierung gegeben. Die Staatstheorie durchlaufe eine Abfolge von Fragen: nach dem, was der Staat sei (antike Theorie im Sinne der Wesensschau), was er dürfe (christliche und an sie anschließende säkulare Kritik), was er solle (positive Frage nach Sinn und Aufgabe). Eine reformatorische Staatslehre gebe es nicht. Die umstrittene Zwei-Reiche-Lehre sei kein konstruktives, sondern nur ein regulatives Prinzip von großer kritischer Kraft. Die festen naturrechtlichen Maßstäbe der Alten Kirche seien aufgegeben worden, während der Gegenstand dieser Bemühung sich von der „Obrigkeit” zum modernen Staat wesentlich gewandelt habe. Der Verschiedenheit äußerer Umstände schreibt Smend es zu, wenn „im deutschen Landeskirchentum einerseits, in dem westeuropäischen Widerstandsbewegungen, Religionskriegen und Neugründungen andererseits gegensätzliche Typen eines wesentlich lutherischen Fürsten-, Untertanen- und Beamtenethos hier, eines sich in Widerstand, Demokratie und Grundrechten auswirkenden Aktivismus dort entstanden sei”.
Der Staatslehre wie der Staatstheologie (der Begriff ohne Wertakzent verstanden) liegt jedoch ein gemeinsames Problem zugrunde: horribile dictu — das ontologische. Für die Staatslehre besteht das ontologische Problem gerade deshalb, weil es unzweifelhaft mit dem klassischen Schema idealer Staatsformen, ihrer Abfolge und Entartung nicht dargestellt werden kann. Gerade eine kritische Staatslehre kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie ein schlüssiges Bild ihres Gegenstandes entwirft und sich an ihm orientiert. Einer solchen, von Einseitigkeit und Verzerrungen kaum freizuhaltenden Gegenstandsbestimmung steht dann die idealisierende Utopie gegenüber. Die finale Betrachtung im Sinne der dritten Phase stellt sich um viele Grade realistischer den Möglichkeiten des Staates. Aber eben um jene vorwärtsblickend zu erfassen, bedarf sie wiederum einer Bestimmung,
|132|
was sozusagen „drin” ist. Der Staat kann nicht sollen, was er nicht vermag. Sie nimmt daher gegebene Grenzen hin und erkennt eigenständige Größen wie Kirche und Familie neben ihm an. Die Staatstheologie andererseits ist nicht eine kirchliche Staatslehre in Konkurrenz zur säkularen Wissenschaft. Sie ist eine Funktion kirchlicher Verkündigung und Lehre. Aber eben darum kann sie nicht von der beschreibbaren Gegebenheit des Staates absehen, die politische Verantwortung in die Selbsttäuschung einer Reihe rein aktualer Entscheidungen auflösen. Um solche aktualen Entscheidungen überhaupt zu ermöglichen, bildet sie eine Staats- und Soziallehre als ein Orientierungsschema aus, ein Koordinatensystem, in welches einzelne Punkte frei eingetragen werden müssen. Diese Dogmatik zweiter Hand vertritt nicht die evangelische Wahrheit zum Heil, aber gibt eine Lebenshilfe für den Glaubensgehorsam. Sie lehrt nicht den Glauben, der rechtfertigt, aber sie lehrt den rechtfertigenden Glauben leben. Sie ist variabel in dem Maße, in dem die politische Wirklichkeit es ist, konstant, soweit jene konstant bleibt, oder sollte es doch grundsätzlich sein. Sie ist ein schlichtes Mittel, aber als solches unentbehrlich. Es ist nichts weniger als sicher, daß die Theologie diese Aufgabe auch angemessen löst. Es scheint mir etwa vieles dafür zu sprechen, daß Luthers Drei-Stände-Lehre, eine solche nichtdogmatisierte Dogmatik zweiter Hand, nicht erst durch mangelnde Weiterbildung, sondern schon im Verhältnis zur Wirklichkeit ihrer Zeit nicht ausreichte. Erträgliche Mängel im Ursprung werden freilich erst dadurch gefährlich, daß die Konzeption nicht mehr in ständiger verantwortlicher Weiterarbeit umgebildet und angepaßt wird. Der Ausgang der großen Dogmenbildung hat auch diese sozial-ethische Funktion der Theologie gelähmt und sie allzu sehr dem Zufall und der Bemühung einzelner überlassen. Ohne Zweifel aber schlagen hier immer die Grundansätze der Dogmatik in Gestalt der theologischen Anthropologie bestimmend durch. Schon die Lehre von der Erbsünde und der Glaubensgerechtigkeit, nicht erst Erwägungen über den Staat verbieten dem Christen sowohl Anarchismus wie politischen Chiliasmus. In einer „christlichen Staatslehre” müssen also drei Elemente zum Ausgleich kommen: die Substanz der biblischen Aussagen über den Menschen, gewisse vorsichtig zu formulierende Grundbestände geschichtlich-politischer Existenz des Menschen, und die breite Fülle der sozialgeschichtlich variablen Formen, in denen sich dies alles darstellt und bewegt. Alles dies kann auch nicht der Christologie im Bereich der Lehre vom Gesetz gleichsam vorgeordnet werden. Es steht vielmehr unter ihrem Vorzeichen, wie in Spannung zu ihr. Gerade die kritische Periode der Staatslehre im Sinne jener Abfolge ist wesentlich durch den Dualismus von Kirche und Staat bedingt. Erst so gewinnt der Mensch eine
|133|
tragfähige Position gegenüber dem Staat. Smends Bestreitung einer reformatorischen Staatslehre verstehe ich deshalb dahin, daß die reformatorische Theologie Aussagen über den Staat nicht an sich macht, so daß eine solche Staatslehre neben andere Staatslehren zu stehen kommt, wie etwa die Jurisprudenz die katholische Naturrechtslehre als eine der konkurrierenden Theorien anerkennt und behandelt. Wohl aber gibt es Staatslehre im Bereich kirchlicher Verkündigung als hilfreiche Interpretation christlicher Existenz. Die Lage der auch heute in vielen Formen vorhandenen evangelischen Staatslehre wird in hohem Maße durch einen Methodenstreit gekennzeichnet, in welchem sich die sachlichen Anschauungen schon weitgehend ausprägen. Der dialektische Charakter des Problems erzeugt ein ganzes Spektrum der Darstellungsformen von fast scholastischer Systembildung bis zur Auflösung der Probleme in den Aktualismus. Barth hat einen theologisch einwandfreien Ausweg aus dieser methodischen Schwierigkeit in dem Gedanken der analogia fidei gesucht als Gegenbegriff gegen die scholastische Lehre von der analogia entis aber auch gegen die schöpfungsmäßige Begründung immanenter Ordnungen, Strukturen usf., die meistens die Tendenz zu einem statischen und zeitlosen Verständnis zeigten.
Aber dieser Ansatz hat, nach den Ergebnissen geurteilt, sein Ziel verfehlt. Es werden ja jeweils zwei vergleichbare Größen benötigt, von denen die eine eine dogmatische Aussage, die andere ein innerweltliches Phänomen ist. In der Anwendung ist jedoch charakteristisch, daß in zahlreichen Fällen die angesprochenen Phänomene in keinem aufweisbaren Verhältnis zu den angezogenen theologischen Loci stehen. Beispielsweise hat die Vielfalt der Geistesgaben in der Gemeinde mit der politischen Gewaltenteilungslehre nichts zu tun. Dieses nicht nur vereinzelte und unzweifelhaft methodisch bedingte Fehlgreifen erklärt sich daraus, daß der Theologe meint, den theologischen Charakter seines Urteils in Frage zu stellen, wenn er sich ernstlich auf die Beschaffenheit des Vorfindlichen, seine historische Intention und seinen systematischen Stellenwert einläßt. Er fällt auf der einen Seite sehr scharfe politische Urteile, läßt sich dann aber auf die Undurchführbarkeit des Vergleichs nicht behaften. Aus der Analogie wird Behauptung oder Postulat. Wenn der früheren Staatstheologie eine Standortgebundenheit anhaftete, so hat sich auf diesem methodischen Wege daran nichts geändert. Wenn diese Theologie biblischer ist, so erreicht sie doch nicht die staatliche Wirklichkeit, und wo sie sie direkt anspricht, bietet sie keine Gewähr gegen willkürliche Urteile.
|134|
2.
Die Theologie würde auch hier ihre eminente Verantwortlichkeit verkennen, wenn sie sachlich von einer exegetischen Untersuchung zu einer noch bedeutenderen, damit „aufgebrochenen” Frage einen ständigen regressus ad infinitum vollzöge, formal im Methodenproblem steckenbliebe, wie dies im Kirchenrecht weitgehend der Fall ist. Der beträchtliche Ertrag der neueren Exegese, von denen ich etwa Cullmann, Schlier nenne, hat zwar die Erörterung verlagert. Die Bewertung ihrer Ergebnisse ist aber so unterschiedlich, daß die Exegese von der Systematik ständig überholt und aufgefangen wird. Das Mißverhältnis von Exegese und Systematik wird in diesem Bereich besonders deutlich. Die Theologie kann hier aber auch nicht einfach nur ex nunc neu anfangen und alles Bisherige nur als Material der Erkenntnis benutzen. Sie wird sich dem stellen müssen, was sie in vergangenen Jahrhunderten, sicherlich mit nicht geringerem Ernst, getan, versucht und angerichtet hat. Auch der heutige Übergang aus der kritischen in die finale Betrachtung im Sinne jener Periodisierung ändert daran nichts. Auch die kritische Epoche hat in unberechenbarem Ausmaß die Staatswirklichkeit mindestens der christlichen Völker mitbestimmt. Was regulativ gedacht war, hat mindestens insoweit konstruktiv gewirkt, als bestimmte Entwicklungen und Tendenzen freigegeben oder zurückgedrängt wurden. So hat unzweifelhaft die lutherische Staatslehre vor ihrem überwiegend patriarchalen Sozialgeschichtsbild genossenschaftliche Elemente zurücktreten lassen. So wenig die theologische Staatslehre die Formenentwicklung der Verfassungsgeschichte selbst in Gang halten kann, so gewiß gibt sie in ihre Kette wesentliche Einschläge. Diese Verhältnisbestimmung würde leidlich befriedigen, wenn nicht das vom Glauben getragene und geformte Selbstverständnis des Menschen in einer sehr viel umfassenderen Weise in diesem Bereich wirksam geworden wäre, mindestens lange Zeit den Gesamthorizont abgegeben hätte.
Unbestreitbar hat die Reformation jene beiden, von Smend skizzierten Haltungen und Richtungen hervorgebracht. Ebenso unbestreitbar ist dabei die Wirksamkeit von Standortbedingungen. Der Gegensatz zwischen dem bäuerlichen und feudalen Norden und Osten und dem städtisch-bürgerlichen Westen ist schon in der Dogmatik im Gefälle vom niederdeutschen Luthertum über das oberdeutsche bis zu Zwingli und Calvin deutlich sichtbar. Dem aber primäre Bedeutung beizumessen, würde zu einer Klassentheologie führen. Smend hat recht, darauf hinzuweisen, daß dieser unterschiedlichen Entwicklung ein Gemeinsames zugrunde liegt. Aber die höchst gegensätzlichen Folgerungen auf allen Gebieten können
|135|
so nicht erklärt werden. Gemeinsam ist den reformatorischen Kirchen der Freiheitsbegriff, ein theologischer, kein philosophischer. Es ist die Freiheit des neuen Aeons. Aber sein Gegenbegriff, die Unfreiheit des alten Aeons, muß im konkreten Lebensvollzug aufweisbar sein. Dieser Freiheitsbegriff ist ein dialektischer. Er enthält ein Noch-nicht und ein Doch-schon. Eben daraus werden nun entgegengesetzte Folgerungen für die Staatslehre gezogen. Der theologische Begriff der Freiheit wird in den philosophischen umgesetzt. Der alte Aeon des Gesetzes wird als Zwang und der neue Aeon als Freiheit vom Zwang im Bereich des Determinationsproblems verstanden. Von hier aus wird dann weiter gefolgert. Weil das Wesen dieser vergehenden Welt Zwang und Herrschaft ist und per Christum solum überwunden wird, ist es sinnlos, eine Mißachtung und Verleugnung der alleinigen Erlöserschaft Christi, wenn man dieses Reich der Freiheit in der Beseitigung oder Ermäßigung herrschaftlicher Formen, immanenter Zwangsläufigkeiten und Gesetzlichkeiten zu verwirklichen unternimmt. Das hieße das Evangelium von neuem zum Gesetz, nicht zum „neuen Gesetz” machen. Auch wird in diesem Zwang, in dieser Härte das erhaltende Handeln Gottes zur linken Hand geahnt und geglaubt. Aber entscheidend ist ein christologisches Motiv. Wer die Heteronomie dieser Welt angreift, zeigt, daß er die Rechtfertigung aus dem Glauben nicht durchhält. Genau umgekehrt wird argumentiert: Weil das Evangelium Freiheit ist, muß und kann der vergehende Aeon in der Gestalt menschlicher Herrschaften und Autoritäten als schon überwundener zurückgedrängt, diese herrliche Freiheit über Gerechte und Ungerechte aufgerichtet, jedermann als ein Angeld des Reiches Gottes zugewendet und keinesfalls vorenthalten werden. Wer jener Heteronomie, wo immer er sie trifft, nicht entschlossen widersteht, der zeigt, daß er noch unter dem vergangenen Gesetz lebt, daß er die ganze Fülle der in Christus erschienenen Erneuerung nicht glaubt, hinter dem bewahrenden, aber letztlich in den Tod führenden Gesetz Deckung sucht. So ist dem einen geschichtliche Herrschaft nicht notwendig ein Rest unverletzten Ursprungs, aber gewiß ein Zeichen göttlichen Bewahrungswillens, dem anderen selbstmächtiges menschliches Beharren, als pouvoir personel von Grund auf verdächtig.
Sind so für die politische Theologie des Alltags verhängnisvolle Gleichsetzungen erfolgt, so gewann dieser Fehlweg tragische Züge und Ausmaße in den außenpolitischen Konflikten der Gegenwart. Denn die einen kämpften in verzweifelter Leidenschaft dagegen, daß ihnen durch das calvinische Neu-Rom ein neues Gesetz in Gestalt der heiliggesprochenen Autonomie und Demokratie auferlegt werde. Die anderen kämpften mit nicht geringerem inneren Einsatz dafür, daß die Freiheit Christi in der für Demokratien
|136|
sicheren Welt jedermann zugewendet werde. So viele rein weltliche Ideen und Interessen in diese Kämpfe eingeflossen sind, so wären sie doch nicht so vergiftend in die Tiefe gedrungen, wäre die Gemeinschaft der Christen nicht so außer Kraft gesetzt worden, wenn nicht eben als mächtigste Kraft dieser Gegensatz sich ausgewirkt hätte. Für die falschen Gleichsetzungen einer unzulänglichen Theologie aber sind Ströme von Blut geflossen, durch sie ist das Verhältnis der Völker durch Generationen gestört worden. Die Absolutheit des politisch-moralischen Urteils schien die Absolutheit der Selbstdurchsetzung, den Amoklauf des brandstiftenden Michael Kohlhaas zu rechtfertigen. Hinter diesen katastrophalen Entladungen steht die Staatstheologie ohne zulängliche Bewußtheit immer noch in der gleichen unbewältigten Kontroverslage.
So gesehen, ist die heute gängige Polemik unsachgemäß. Die wechselseitige Bezichtigung der natürlichen Theologie oder des Schwärmertums mag im einzelnen noch so begründet sein. Sie ist doch immer nur eine Selbstrechtfertigung aus den Fehlern des anderen. Denn der Fehler liegt innerhalb der Grenzen der reformatorischen Theologie selbst und ist jener gemeinsame, von dem gesprochen wurde. Wer die reformatorischen Kirchen wesentlich als Konfessionen sieht, muß sich für diejenige entscheiden, die das Zentrale für ihn am besten bewahrt hat. Wer diese Kirchen wesentlich als Einheit sieht (womöglich mit dem Pathos vernünftiger Selbstverständlichkeit), wird sich sagen lassen müssen, daß eben in dieser Einheit das Geheimnis des gleichzeitigen „Noch-nicht” und „Doch-schon” preisgegeben und in Gegensätze aufgelöst worden ist. Der eschatologische Charakter der biblischen Botschaft ist an diesem Orte der Bewährung, so oft man sich auf ihn berufen hat, nicht durchgehalten worden. Die Entscheidungen der Staatstheologie fallen in der Ekklesiologie.
3.
In diesem Horizont als Hilfsmittel verstanden, wird sich die „Staatstheologie” zu allererst zu ihrem Gegenstande selbst zu bekennen haben: weniger zum Staat in seinen höchst wandelbaren Formen, sondern zur politischen Existenz überhaupt. Denn so gewiß hier alle Ansprüche und Gestaltungen vom Evangelium her auf ihre Vorläufigkeit verwiesen werden, so wenig wird damit die politische Existenz selbst aufgehoben. Es ist nun ein bemerkenswerter Fortschritt, daß in Staatslehre und Staatstheologie dieses Problem nicht mehr primär im Verhältnis von Macht und Recht gesehen wird. So schwierig deren Zuordnung praktisch immer sein wird, so hat sich doch die Erkenntnis durchgesetzt, daß beide in einer unlösbaren
|137|
Verschränkung bestehen, in deren Auflösung die Klärung nicht zu suchen ist. Denn die Gerechtigkeit, die jemand zuteil werden soll, setzt ihn als Gegebenheit voraus, hinter welche nicht mehr zurückgefragt werden darf. Es hat uns zu genügen, daß der Nächste — als einzelner wie als Volk — da ist. Die politische Existenz verläuft hier weder rein sachlich nach immanenten Gesetzen der Selbstbehauptung, noch kann sie in eine totale Solidarität aufgehoben werden. Diese Erkenntnis hat sehr praktische Folgen. Es ist weder erlaubt, die allgemein gültigen Regeln des rechtlichen Umgangs, insbesondere des Völkerrechts außer Kraft zu setzen, noch von der eigenen Existenz mit aller Last und Schuld abzusehen, sich hinter andere Gemeinschaften und Ideen zu verstecken. Ich habe im Bereich des Strafrechts versucht, mit deutlichem Bezug auf politische Fragen, diese Grundsituation der kainitischen Menschheit zu beschreiben: Dieser Mensch kann weder ganz für sich sein, noch zu heiler Gemeinschaft kommen. Der Versuch, dieser Lage auszuweichen, erzeugt das bürgerliche wie das politische Verbrechen.1 Nicht ein sogenannter politischer Realismus, sondern das Aushalten dieser Lage ist uns als ontologischer Gehorsam gegen von Gott selbst geschaffene Tatsachen geboten. Wir Deutschen schwanken hier besonders zwischen Gewaltsamkeit und Selbstentäußerung.
Ähnlich gelagert ist das Problem von Autorität und Freiheit, von Herrschaft und Genossenschaft, welches im Staat immer von neuem gelöst werden muß. Daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen, bekennt mit der Lehre der ganzen Kirche auch Barmen V. In diesem verbindlichen Handeln für andere aber liegt unvermeidlich ein Moment der Autorität, der kontingenten Gestaltung, auch der Heteronomie, welches von der Zustimmung, der Genossenschaft, dem Bund, der Kondeszendenz her nicht grundsätzlich und vollständig aufgehoben werden kann, so wenig sich dieses Handeln von seinem Gegenüber lösen und absolut setzen kann. Da die konkrete Verfassungsordnung nur eine Schwergewichtsverteilung innerhalb dieser Grundsituation bedeuten kann, gibt es auch vom Standpunkt des Glaubens her keine ideale Staatsform, auch nicht auf dem Wege der Annäherung, wie etwa Calvin für die gemäßigte Aristokratie, Barth für die Demokratie votiert hat. Auch innerhalb der modernen Massensituation mit ihren schwer kontrollierbaren Tendenzen sind im Staat die Grundelemente von Amt und Bürgerschaft erhalten geblieben. Er kann weder vorzugsweise vom Amt, noch allein von der Bürgerschaft her verstanden werden. Dagegen ist uns geboten, die Strukturtatsachen eben dieser
1 Dombois, Mensch und Strafe, in: Glaube und Forschung, XIV, 1957.
|138|
modernen Massengesellschaft radikal ernst zu nehmen, denen gegenüber die Kirche weder zeitlose noch vergangene noch zukünftige Idealformen zu vertreten hat. Die Wirksamkeit des Staates zeigt ambivalente Züge: Er schützt und pflegt auf der einen, er straft und verdrängt das negativ Gewertete auf der anderen Seite. Ein überwiegend koerzitives Verständnis von Stand und Recht verzerrt den Tatbestand und kann nur das entsprechende Mißverständnis eines Freiwilligkeitsstaates hervorbringen. Eine solche, immer noch sehr wirksame Sicht, ist vom Evangelium her nicht zu begründen. Der Satz J. Heckels, „Der Nichtchrist gehorcht dem weltlichen Regiment vermöge des von Gott über ihn verhängten Zwangs, der Christ aus der ihm von Christus geschenkten Freiheit”, ist als Antithese und im Nachsatz schief.2 Denn der Nichtchrist handelt aus einer Mischung von Spontanität, Gemeingeist, Bequemlichkeit und Furcht vor Strafe. Jene Darstellung der tatsächlichen Lage ist aus der Rechtfertigungslehre nicht zu begründen. Nicht nur die Zwangsläufigkeiten der gefallenen Welt, sondern jedes mögliche Handeln in natürlicher Freiheit ist in die incurvatio des Menschen einbegriffen und gerade dieses. Man sieht, wie hier der Übergang der theologischen Beurteilung in den philosophischen Begriff der Determination den Tatbestand verzerrt. — Auch im Zeitalter der finalen Staatslehre sind wir nach den Grenzen des Staates gefragt. Es war aus der Lage von 1945 verständlich und dennoch nicht förderlich, daß die Bischöfe Berggrav und Dibelius, beide bewährt in der Auseinandersetzung mit dem totalen Staat, in ihren Büchern sich wesentlich auf eine liberale Staatsbegrenzung einließen. Die Frage entscheidet sich jedoch an der Finalität. Der Staat, der für Recht und Frieden zu sorgen hat, ist nicht bestimmt und befugt, den Gegenstand seiner Sorge selbst zu erzeugen. Die Staatstheologie bezeugt den trinitarischen Glauben, nicht allein den freilich fast verschwundenen I. Artikel, wenn sie dem Staat Recht und Aufgabe bestreitet, durch eine Tötung des alten Menschen in Gestalt der alten Gesellschaft den Menschen neu zu schaffen und zur Vollendung zu führen. Dies wird überall daran deutlich, daß der Staat sich an seine eigene Ordnung nicht bindet, sich nicht behaften läßt. So nimmt das staatliche Gesetz die Struktur des ius divinum an, welches alles menschliche Recht grundsätzlich durchbricht und außer Kraft setzt. Von dieser nova lex wird dann auch der konkrete Inhalt von Gut und Böse neu bestimmt, nicht mehr als vorgegeben angesehen. Den Ansatz eines ius divinum selbstmächtiger Vollendung aufzuweisen und ihn gegen den usus civilis legis abzugrenzen, den die Kirche immer bejahen muß, ist eine Hauptaufgabe der gegenwärtigen
2 Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre, ThEx H. 55, München 1957, S. 177.
|139|
Staatstheologie. Teleologie und Eschatologie müssen radikal unterschieden werden. Sodann hat die evangelische Staatslehre in zwei Richtungen eine auffallend wenig bemerkte Fortbildung erfahren, die trotzdem auf einem stillschweigenden Konsensus beruht. Sie bewegte sich seit langem in der einfachen Dualität von Kirche und weltlichem Regiment. Indem sie die Ehe als Ursprung aller Ordnungen betrachtete, war sie stillschweigend bereit, den Staat gleichsam als die große Familie, als alleinigen Repräsentanten weltlicher Ordnung anzusehen. Obwohl nur kurze Zeit unter dem Einfluß des Hochliberalismus der Staat direkt als alleinige Quelle des weltlichen Rechts (zeitweilig sogar des kirchlichen!) angesehen wurde, fand der Souveränitätsanspruch des Staates zwar eine Begrenzung des Gebrauchs, aber keine Bestreitung im Ansatz. In der Gegenwart ist die Pluralität eigenständiger Rechtsträger wieder in den Blick gekommen, vor allem im Verhältnis von Ehe und Familie zum Staat, welche dieser ordnen und schützen, über die er aber nicht verfügen kann. Darin ist eine bedeutsame Verschiebung des Staatsverständnisses zu erblicken. Hier besitzt die in der Gemeinschaftsarbeit von Theologen und Juristen entwickelte Institutionenlehre ihre besondere Bedeutung. Die zweite Wandlung liegt im Verhältnis von Kirche und Staat selbst. Das Schlagwort vom Ende des Konstantinischen Bundes, über welches Barth, seine Doppeldeutigkeit beleuchtend, schon vor Jahrzehnten Wichtiges gesagt hat, hat einer klareren Betrachtung Platz gemacht. Die Kirche respektiert nach wie vor den Staat und wirkt in vielfacher Weise mit ihm zusammen. Aber anders als früher sieht sie seine Entscheidung für ihren inneren Bereich nicht einfach als verbindlich an, sondern prüft sie nach eigenen Maßstäben. So bedeutet eine bürgerliche Ehescheidung keineswegs, daß der Geschiedene kirchlich wiedergetraut werden müßte. Eine staatliche Einwirkung auf die Verfassungsstruktur wird beiderseits grundsätzlich abgelehnt. Dieses freie Verhältnis ist noch nicht auf einen Nenner zu bringen, zeigt aber eine wesentliche Veränderung des Gesamthorizontes. Nach alledem kann die Legitimität und Notwendigkeit staatstheologischer Aussagen nicht wohl bestritten werden. Politische Predigt ohne eine geklärte Anschauung muß in Willkür ausarten, so wenig diese Anschauung zum System gebildet werden kann. Sie erfordert ein Ernstnehmen der Staatswirklichkeit — und dazu gehören Kenntnisse der konkreten Situation. Erst unter dieser Voraussetzung, nicht an ihrer Stelle hat der neuerdings aufgetretene Gedanke einer politischen Tugendlehre seinen Platz, das heißt gewisser Verhaltensgrundsätze, die dem Christen ziemen, wenn seine Gerechtigkeit eine bessere sein soll. Bei alledem wird es sich „mit dem Staate nicht anders verhalten, als es sich mit dem Menschen überhaupt verhält”.