IV

Die umfangreiche geschichtliche Ableitung, die in dem Bisherigen gegeben wurde, ist nicht um ihrer selbst willen entwickelt worden. Entscheidend kann immer nur der Ertrag sein, welchen sie für eine strukturelle Betrachtung ergibt. Dieser Ertrag liegt in zwei Richtungen.

1. Erstens ergibt sich, daß alles Rechtsdenken in seiner Struktur ein doppelschichtiges ist. Alles Recht lebt von dem Gegenüber einer transzendenten Rechtfertigung. Recht ist gerechtfertigte Macht, gerechtfertigt durch die Übereinstimmung seines Trägers mit Sein und Willen Gottes. Unrecht ist ungerechtfertigte Macht. Deshalb folgt die Rechtstheorie der Rechtfertigungstheologie. Dieses Gesetz der Transzendenz gilt auch für das autonome Rechtsdenken. Auch wo der Mensch prometheisch sich selbst rechtfertigt, tut er es doch nur im Protest, in der Auflehnung, mit schlechtem Gewissen. Sobald diese Selbstsetzung einer kritischen Besinnung unterliegt, tritt die Transzendenz sofort wieder sichtbar hervor. Der Transzendenz der allgemeinen Vernunft, des Gesetzes gegenüber der Willkür des Einzelnen. Und an die Stelle dieser Vernunft tritt dann die sich selbst verwirklichende Vernunft der Geschichte oder der Ökonomie. Ja, diese Transzendenz verschlingt schließlich gerade radikal auch die rechtliche Existenz des Einzelnen.

Aus jener Doppelschichtigkeit des Rechtsbegriffes erklärt sich die Tatsache, daß Recht und Unrecht in tatsächlicher Hinsicht genau die gleichen Inhalte haben können. Ich darf nicht töten, aber ich darf es in der Notwehr und im Kriege als einer rechtliche geordneten Form des Kampfes. Die

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rechtlich geordnete Geschlechtsbeziehung in der Ehe wird außerhalb dieser zur Unzucht, deren Begünstigung strafbar sein kann, usw. Von jener Erkenntnis her ist unbeschadet der Besonderheit juristischer Methodik die Autonomie der Rechtswissenschaft begrifflich abzulehnen. Theologie und Rechtswissenschaft entspringen aus der gleichen Wurzel. Die Rechtfertigungslehre der Theologie handelt von der Rechtfertigung des Sünders gegenüber Gott; die Rechtfertigung des Rechtes handelt von der Rechtfertigung des menschlichen Handelns in der Welt. Der Blickpunkt beider ist also ein entgegengesetzter, der Ausgangspunkt ist der gleiche.

Diese Erkenntnisse stimmen überein mit der Lehre von der Schöpfung und vom Menschen, welche Karl Barth im Band III seiner Kirchlichen Dogmatik entfaltet hat, und die bisher in ihrer Bedeutung für die Soziallehre noch keineswegs ausgewertet ist. Wenn die Existenz des Menschen durch das Gegenüber zu Gott konstituiert wird, so entspricht dies völlig dem Ansatz, der hier strukturell für die Entstehung alles Rechtsdenkens aufgewiesen worden ist. Aber in jener Schöpfungslehre steht dieses Gegenüber nicht allein: zugleich ist der Mensch erst wirklich Mensch im Gegenüber zum anderen Geschlecht. Dies entspricht zugleich der Doppelforderung aller Ethik: Du sollst Gott lieben und Deinen Nächsten wie Dich selbst. Es zeigt sich, daß dies keine bloße Forderung ist, sondern zugleich den existenziellen Relationen entspricht, in denen der Mensch lebt. Eva, die Adam zugeführt wird, ist der Prototyp des Nächsten, ist der erste Nächste. Der Begriff des Nächsten ist nicht allein ein ethischer, sondern auch ein zentraler Rechtsbegriff. Denn der Mensch, der aus dem Gegenüber zu Gott seine Existenz und damit ein Existenzrecht empfängt, der damit auf Grund eines verliehenen, transzendent gerechtfertigten Rechtes handelt, handelt doch nur rechtlich und bleibt in seinem Recht, wenn er gegenüber dem Menschen, auf welchen sich dieses Recht bezieht, ebenfalls wieder rechtlich handelt. Auf diesem Ansatz ergeben sich die zwei inhaltlichen Bestimmungen des Rechtsbegriffes, nämlich Personalität und Zweiseitigkeit. Recht ist nur dort wirkliches Recht, wo es echtes persönliches und damit unaufhebbares Recht ist. Ein Recht, das der bloßen einseitigen Verfügung eines anderen, seiner liebevollen oder gewalttätigen Willkür unterliegt, ist kein Recht. Ich habe dies bereits in früheren Schriften an Problemen des Strafrechtes zu zeigen versucht.*


* Krise des Strafrechts — Krise des Richteramts in: Gerechte Ordnung, Furche-Verlag Tübingen 1948. / Vom Sinn der Strafe — Deutsches Pfarrerblatt Februar 1949. / Politische Gerichtsbarkeit — Verlag „Kirche und Mann”, Gütersloh 1950.

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Die Grenzen des Rechtsbegriffs zeigen sich beispielsweise in der Abgrenzung zwischen dem Strafrecht der Erwachsenen und dem Jugendstrafrecht. Der Erwachsene wird als voll rechtsfähige Person für seine Taten uneingeschränkt rechtlich verantwortlich gemacht; der Jugendliche unterliegt in dem Maß seiner Unreife der erzieherischen Verfügung, welche jenseits des Rechtes liegt, und nur im Maß der Reife rechtlicher Verantwortung. Auch die Stellung des Angeklagten ist eine Rechtsstellung. Das materielle Strafrecht wird sachlich bedingt durch das formale Recht des Strafprozesses. In gewissem Betracht ist der Prozeß vor dem (materiellen) Recht. Dieser Strafprozeß als Rechtsverhältnis ist das Minimum rechtlicher Ordnung, der Grenzwert des Rechtes, jenseits dessen die nackte, rechtlose Gewalt beginnt. Dies zeigt sich deutlich darin, daß selbst die politisch-emotionalen Entscheidungen der politischen Gerichtsbarkeit noch in die Prozeßform gekleidet werden, und keineswegs nur um das Gesicht zu wahren.

Die Rechtsform des Prozesses ist also der Minimalwert; diesem Minimalwert steht ein Maximalwert dort gegenüber, wo das Recht der echten Zweiseitigkeit positiv gestaltet wird, das Gewaltverhältnis aufgehoben wird. Jenseits dessen stehen Liebe und Gnade. In diesem Sinne ist auch rechtstheoretisch die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Aber es handelt sich nicht darum, daß Gewalt ein quantitatives Weniger und Liebe ein quantitatives Mehr an Recht bedeutet. Vielmehr sind beide wirklich gegenüber dem Recht etwas ganz Anderes, jedoch mit dem Unterschied, daß das eine das Recht negativ, das andere es positiv aufhebt. Das Recht kann also nicht implizit aus einer wie immer bestimmten Idee, sondern nur explizit aus seinen Grenzwerten bestimmt werden, nicht aus Abstraktionen, sondern aus existenziellen Relationen; Personalität heißt die Relation des Menschen zu Gott, Zweiseitigkeit die zum Menschen; die Aufhebung der Relation führt ins Unrecht, ins Nichtrecht. Herrschaftliche und genossenschaftliche Elemente sind also im Wesen des Rechtes notwendig nebeneinander enthalten.

Das Recht steht zwischen Gewalt und Liebe und verknüpft beides in eigentümliche Weise. Von hier aus werden auch die typischen Fehllösungen dieses Problems als solche recht verständlich. Die eine besteht darin, daß der Mensch das ihm verliehene Recht als ein absolutes ansieht, welches er gerade als ein göttliches recht mit unbedingter Härte in der Welt durchsetzt. Zu den umgekehrten Fehllösungen gehört der Irrtum des alten Patriarchalismus, der glaubte, das aus der Liebe begründete Amtsrecht der Fürsoge gegenüber dem Nächsten auf diesen als reines

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Objekt anwenden zu können. Dies ist eine Art institutioneller Chiliasmus. Das Reich der Liebe wird dadurch verwirklicht, daß man mit liebevoller Willkür und nach bestem Vermögen jedem das Seine gibt. Eine weitere Fehllösung liegt darin, daß man alle Rechtsverhältnisse in die Form des Vertrages überführt und damit das Recht zu einer völlig verfügbare Größe macht und zugleich seines transzendenten Bezugs beraubt.

Das Merkmal der Zweiseitigkeit besagt also, daß das echte und ursprüngliche personale Recht immer einen verantwortlichen, selbständigen rechtlichen Partner haben muß. Dies kann sowohl im Verhältnis der Über- und Unterordnung wie der Nebenordnung verwirklicht werden. Von hier aus ergeben sich sehr weite Perspektiven für die Gestaltung aller sozialen Ordnungen.

Nun hat Eduard Spranger in einem kritischen Aufsatz über das Naturrechtsproblem* die negative Folgerung aus der formalen Allgemeinheit der Sittengebote gezogen, daß aus ihnen und der ganzen Naturrechtsdebatte nichts weiter übrig bleibt als ein allgemeiner „Mutualismus”. Ich kann jedoch nicht finden, daß dieses Prinzip der Wechselseitigkeit und Zweiseitigkeit aller sittlichen und Rechtsbeziehungen von so geringer Bedeutung sei. Beruht nicht gerade der Machtcharakter internationaler Beziehungen darauf, daß die Völker das Recht, das sie für sich selbst in Anspruch nehmen, den Nachbarn verweigern und bestreiten? Seit 300 Jahren bekämpften die Franzosen die politische Einheit Deutschlands, die Deutschen in 150 Jahren diejenige Polens, die Alliierten erklären das Völkerrecht, für dessen universale Gültigkeit sie zu fechten vorgaben, auf Deutschland nicht für anwendbar, weil es keine Regierung besitze. Die überwältigende Mehrzahl der Rechtsstreitigkeiten zwischen Einzelpersonen sind nicht echte Streitfragen über die Auslegung von Gesetzen und Verträgen — denn dann bedürfte es nur genossenschaftlicher, vereinbarter Schiedsgerichte —, sondern sie entspringen dem Versuch des einen, Rechte des anderen zu bestreiten, die er selbst in der gleichen Lage mit Entschiedenheit beanspruchen würde. Personalität und Zweiseitigkeit des Rechtes verknüpfen sich hier so eng, daß beide nur als zwei Seiten derselben Sache angesehen werden können.

Aber zwischen jener Personalität, und damit einer Freiheit der Gestaltung und Selbstbehauptung, die nicht zugunsten einer allgemeinen Gesetzlichkeit aufgelöst und harmonisiert werden kann, und jenem Merkmal der Zweiseitigkeit besteht nun zugleich auch ein tiefer Gegensatz und


* Universitas 1948, S. 405 ff.

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Bruch. Unvermeidbar ist der Mensch gezwungen, das Gebot der Zweiseitigkeit zu gestalten, ohne es doch jemals ganz zu können, weil das Recht im Ansatz doch immer ein Stück Selbstbehauptung, der Ausdruck der Gravitation der Gewichts- und Machtverhältnisse ist, weil es in die Konkretheit gegebener Verhältnisse eingebettet ist. Der irdische Gesetzgeber mit seinem Anspruch, zu wissen und zu bestimmen, was Gut und Böse sei, tritt damit als ein Usurpator an die Stelle Gottes des Schöpfers, ohne doch dieser Aufgabe der Gesetzgebung sich entziehen zu können. Als gefallene Schöpfung ist der Mensch gerade frei in der Trennung von Gott; darin liegt seine Selbstsucht, seine Eigenliebe, vermöge deren er dem Tod verfallen ist, die alles befleckt, was er ist und tut.

Diesen Bruch kann kein wie immer gearteter Gerechtigkeitsbegriff überwinden und heilen. Recht und Gerechtigkeit stehen in einer unaufhebbaren Dialektik. Der Mensch zwischen Gott und dem Nächsten ist notwendig ungerecht. In dieser Zwischenstellung aber liegt gerade der echte existenzielle Charakter alles Rechtes. In diesen Bruch, der mit menschlichen Mitteln nicht aufgehoben werden kann, ist Christus als die wahre Gerechtigkeit eingetreten — und er allein. Wie also der Mensch sein Recht allein aus dem existenziellen Gegenüber zu Gott empfängt, so wird dieses durch seinen Abfall zerstörte Recht durch Christus allein wieder hergestellt und zugleich auf die letzte Gerechtigkeit ausgerichtet. So ist nach dieser Struktur des Rechtes das Recht nicht allein christologisch, sondern in seiner Fülle und Ganzheit nur trinitarisch zu verstehen, weil hier eine Interzession zwischen Gesetz und Gericht tritt.

2. Jene ausführliche Entwicklung der Phasen der Rechtsgeschichte diente in der Hauptsache dem Nachweise bestimmter Strukturen. Es zeigte sich als zweites Ergebnis ein Miteinander und Gegeneinander institutioneller und eschatologischer Momente. Sie verhalten sich zueinander wie Schöpfung und Gericht, wie Bejahung und Verneinung, wie Plus und Minus. Man könnte aus diesen historischen Darlegungen zu dem skeptischen Urteil kommen, die Geschichte bestehe nur darin, daß eine Periode fruchtbarer Täuschungen durch eine solche zerstörender Wahrheiten abgelöst werde. Aber das trifft dennoch nicht die Sache. Denn es gibt doch die echte Wirklichkeit eines Charisma und einer Traditio, auch wenn sie mit der Erschöpfung und der Todverfallenheit alles Menschlichen einem sichtbaren Ende zugehen. Wo das Charisma nicht mehr ist, wo die Gnade der Schöpfung nicht mehr wirkt, zeigt sich die Gewalt der Dämonen. Platt und banal ist nur die Auffassung, die allein auf die Kräfte des Menschen baut und von jenen

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beiden nichts mehr weiß. Sie macht sich gerade dadurch, wie wir in der Gegenwart allzu deutlich erlebt haben, selbst wehrlos. Seit die Königlichkeit aus der Welt gegangen ist, herrschen die Manager und Diktatoren weit unumschränkter als jemals die Könige — und vor allem ohne deren echte Personalität. Jenes Miteinander von Institutio und Eschatologie, von Schöpfung und Gericht trägt deshalb auf einer zweiten Ebene ebenfalls existenziellen Charakter. Was sich hier im großen Rahmen der Gesamtgeschichte vollzieht, ist zugleich das Schicksal jenes Einzelnen. Aber zwischen jenen beiden besteht ebenfalls der gleiche tiefe Bruch, von dem wir bereits gesprochen haben. Ich kann zwar mein Recht gegenüber einem rechtlosen Räuber mit guter Überzeugung verteidigen; gegenüber dem Einwand der letzten Ungerechtigkeit alles menschlichen Rechtes ist der Mensch im Tiefsten wehrlos. So wird in der Gegenwart alles konkrete Recht von dem abstrakten rationalen Gesichtspunkt einer universalen und totalen Gerechtigkeit von der Wurzel her in Frage gestellt. Ein weiser alter Jurist sagte mir einmal: Wir werden beherrscht vom Teufel der Gerechtigkeit. Ein Beispiel dessen haben wir in der Entnazifizierung erlebt. Der Versuch, auch die letzte Verantwortlichkeit des belanglosen Einzelnen noch zu erfassen, hat uns unfähig gemacht, die Verantwortlichkeit der wirklich Schuldigen geltend zu machen; so wurden schließlich die Gauleiter zu Mitläufern. Die rationale Verallgemeinerung aller Dinge führt zur Aufhebung alles konkreten Rechtes, weil man nicht mehr wagt, der gleichzeitigen Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit dieses menschlichen Rechts ernsthaft ins Auge zu sehen. Weil man diese zwar noch theoretisch anerkennt, sie aber als eine quantitative auffaßt und verkennt, kommt man zu einer eigentümlichen Selbstzerstörung. Angesichts dieser Selbstzerstörung, dieses eschatologischen Gefälles im Rationalismus ist es oft schwer, den Glauben an die Transzendenz des jüngsten Gerichts zu bewahren. In jenen Bruch, der mit menschlichen Mitteln nicht überwunden und insbesondere aus dem Bewußtsein des Menschen nicht mehr ausgenommen werden kann, tritt wirklich einzig und allein Jesus Christus ein. Allein von hier aus ist eine neue Existenz möglich, die in aller Vorläufigkeit mit dem Blick auf das Ende aller Dinge in der Zeitlichkeit zu leben vermag. Jene beiden existenziellen Strukturen des Rechtes treffen sich also in einem und demselben Punkte. Man kann die eine als die vertikale räumliche Struktur bezeichnen, vermöge deren der Mensch das Recht von oben empfängt, um es an den weiter zu geben, der in irgend einem Betracht seiner Macht unterliegt. Die andere Struktur ist eine horizontale, eine zeitliche. Es ist der Mensch auf dem Wege von der Schöpfung zum Gericht. Der Mensch steht

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existenziell an dem Punkte, wo jene beiden Linien sich schneiden, an dem Nullpunkt des Achsenkreuzes, an welchen das Denken des Cartesius freventlich den autonomen Menschen gestellt hat. An dieser Stelle vermag der Mensch aber nur zu stehen, weil Christus dort für ihn gestanden hat.

Aus allem ergibt sich ein dreifacher Ansatz für die Rechtstheorie. Immer handelt es sich um das Problem, auf welcher Grundlage der Mensch einen echten rechtlichen Standort, einen Rechtsstatus zu behaupten vermag. Das Problem des Rechtsstatus, der Statusrechte ist der Angelpunkt, an welchem die positive Rechtstheorie ansetzen muß. Einen solchen Rechtsstatus besitzt der Mensch:

1. Auf Grund der Schöpfung. Der schöpfungsmäßige Status des Menschen ist in der Vaterschaft Gottes begründet. Auch der gefallenen Schöpfung hat Gott in seiner Langmut mit der Fähigkeit zur Fortpflanzung einen zeitbegrenzten Status belassen. Daher hat alle menschliche Vaterschaft ihren Grund in derjenigen Gottes. Rechtsgeschichtlich hat der Mensch nun seinen Stand nirgends kraft Geburt, sondern immer kraft Aufnahme des Neugeborenen in die Familie. Obwohl das Recht der Aussetzung längst beseitigt ist, ist diese rechtsgeschichtliche Tatsache doch strukturell überaus aufschlußreich für die Wurzel des Rechtsstatus des Einzelnen. Er hat seinen Status auf dieser Ebene nicht als Mensch, sondern als Kind. Mit der Institutio ist immer die Traditio verknüpft, deren Kehrseite das Rechtsinstitut der Rezeption darstellt.

Es ist für die Gegenwart bezeichnend, daß die totalitären Tendenzen aller Staaten auf Grund der weltanschaulichen Verleugnung der Schöpfung überall versuchen, das Eigenrecht der Familie zu bestreiten und aufzuheben; damit treffen sie aber zugleich die Personalität des Menschen an seiner Wurzel. Diese Aufhebung der Familie geschieht auch dort, wo man vorgibt, das Recht der Kinder gegen die Eltern zu vertreten.

Dem Mikrokosmos natürlicher Existenz in der Familie, im Vater-Kind-verhältnis steht der Makrokosmos volklicher Existenz in der Rechtsform des Staates gegenüber. Wo immer von einer Überwindung des Staates die Rede ist, kann man sicher sein, auf eine pseudoeschatologische Heilslehre zu stoßen. Bolschewismus und Faschismus wenden sich mit religiösem Pathos gegen den (bürgerlichen) Staat, dessen formale Rechtsordnung die Klasse oder die Rasse, das Volk knechtet, und ordnen den Staat radikal der politischen Kirche unter; Katholizismus und Liberalismus werfen jenen beiden als Exzesse staatlicher Macht das vor, was Exzesse des Glaubensfanatismus sind, der sich des weltlichen Schwerts bedient; sie fordern Unterordnung des Staates unter das Recht. Jeder wirft also dem anderen

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den Mißbrauch staatlicher Macht vor. In der spiritualistischen Entwertung des Staatsbegriff als der rechtlichen Form eigenständiger und natürlicher Besonderheit sind sich alle einig. Aber jedenfalls duldet dieser Rationalismus nichts Partikulares. Auch der Nationalsozialismus ist diesem Gesetz der Totalität und Verallgemeinerung verfallen, obwohl er das Gegenteil zu wollen behauptete.

2. Die bloße Menschenqualität des Menschen wirkt als Rechtsprinzip rechtserzeugend nur dort, wo der Gedanke der Bestimmung des Menschen ins Auge gefaßt wird. Von der Schöpfung her ist der Mensch immer nur in der ihm mitgegebenen Qualität als Mann oder Frau, als Angehöriger einer Sippe oder eines Volkes rechtlich zu begreifen. Dem tritt der eschatologische Gedanke der Bestimmung in einer eigentümlichen Negativität gegenüber. Hier kommt der Mensch gerade abgesehen von allen seinen bürgerlichen, geschichtlichen, natürlichen Qualitäten als nackte Person in Betracht. Deswegen kann niemand von einem Stand des Menschen reden, sondern immer nur vom Ehestand, Berufsstand oder dergleichen. Der Gedanke der Bestimmung hat rechtsgeschichtlich immer nur dazu gedient, konkrete Ordnungen aufzuheben, wie beispielsweise die Unfreiheit auf Grund dieses Gesichtspunktes unter dem kirchlichen Einfluß abgewandelt oder aufgehoben worden ist; aber es werden nicht positive Ordnungen geschaffen. Diese Bestimmung und die daraus dem Menschen zugesprochenen Rechte werden nun immer in einer bestimmten Art und Weise inhaltlich aufgefaßt; es muß sich aber immer um Bestimmungsinhalte handeln, die als allgemein-menschliche verstanden werden können. Ist der Mensch zur vernünftigen Autonomie bestimmt, so werden ihm von dort her bestimmte Freiheitsrechte zugesprochen; sieht man die Erfüllung der menschlichen Existenz in der Durchsetzung seiner Rasse oder dem Vollzug der ökonomischen Entwicklung, ist er also durch seine Klasse bestimmt, so verliert er jedes Eigenrecht, erhält dafür aber das Recht zur Durchsetzung dieser kollektiven Ziele. Hat er wie der Puritaner in dieser Welt eine Heilsbestimmung zu bewähren, so folgen daraus wieder ganz bestimmte Ansprüche auf Freiheitsrechte. Die Zahl der Variationen ist damit noch nicht erschöpft.

Aber jede positive Prädestination schließt zugleich eine negative begrifflich ein — die Prädestination ist immer eine doppelte. Die dieser Bestimmung entgegenstehenden Menschen werden als prinzipiell rechtlos, die objektiven Rechtsordnungen als unrechtmäßig angesehen und deswegen schrankenlos bekämpft. Der Status dieser Menschen wird einfach

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aufgehoben, wie derjenige der Juden unter Hitler, der bürgerlichen Klassen unter den Sowjets und der Nazis nach dem amerikanischen Entnazifizierungsgesetz. Die Entwicklungstendenzen des modernen politisierten Strafrechts vom Prädestinationsgedanken her habe ich in den erwähnten Schriften näher dargestellt. Hier entsteht ein rationales ius divinum ex praedestinatione, welches an historischer Bedeutung und Durchschlagskraft das ius divinum der römischen Kirche weit überragt.

Aus der universalistischen Struktur dieses notwendig rationalen Bestimmungsgedanken ergibt sich, daß dieses Rechtsdenken nicht gewillt ist, im Konfliktsfalle irgend ein geschichtlich-besonderes Recht zu respektieren. Im Gegenteil glaubt es seine Mission zu verraten, wenn es ein solches partikulares Recht von schöpfungsmäßiger Freiheit bestehen läßt. Von da aus übt der Gleichheitsgedanke seine sinnlos zerstörenden Wirkungen aus. Daß etwa ein Volk noch eine echte eigenständige Form der Verfassung entwickelt, erscheint deshalb fast undenkbar. Die formale Gleichsetzung der Bestimmung des Menschen mit seiner Freiheit, die theoretische Verknüpfung von Autonomie und Heteronomie, die in allen Systemen vorgenommen wird, darf nicht über den rigorosen militanten Charakter dieses Rechtsdenkens täuschen. Nur diejenigen Lebensbereiche können freigelassen werden, deren Ausrichtung auf jene Bestimmung nicht heilsnotwendig erscheint, und das sind meist nur sehr wenige.

Hier müssen nun ebenso viele Systeme solchen Rechtsdenkens entstehen, wie es ausgeprägte Vorstellungen von der Bestimmung des Menschen gibt. Es gibt daher nicht ohne weiteres gegenüber dem Status ex praedestinatione des einzelnen Menschen ein Menschenrecht, sondern so viele Menschheitsrechte wie eschatologische Geschichtsphilosophien vorhanden sind. Zur Zeit sind dies nur drei, und vielleicht können es überhaupt nur drei sein, weil diese drei Geschichtsphilosophien den Zerfall der trinitarischen Einheit des Christentums darstellen.*

Es sind die liberale, die naturalistische und die materialistische. Zwischen diesen bestehen selbstverständlich noch außerordentliche praktische Unterschiede. Wir Deutschen, die auf der einen Seite vom linientreuen Liberalismus der Amerikaner erzogen werden und deren Rechtsordnung dementsprechend auf dem Gebiete der Verfassung und der Sozialordnung konsequent umgestaltet und ihrer gewachsenen Eigenheit beraubt wird, und die auf der anderen Seite vom linientreue Marxismus der Sowjets terrorisiert


* Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Die Einheit der Christenheit und die Spaltung der Welt, Zeitwende 1949 H. 1.

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werden, haben die Auswirkungen dieses neuen ius divinum in besonderem Maße kennengelernt. Der von der partikularen Abstammungsgemeinschaft getragene und insofern von der (gefallenen) Schöpfung herkommende Staat eschatologisiert sich immer mehr zur Heilsgemeinschaft. Deswegen sind es auch immer mehr Staatensysteme in einer ganz neuen — oder wenn man will ganz alten — Form des Kultbundes, der Weltanschauungsgemeinschaft.*

3. Jene beiden Linien des Rechtsdenkens unterscheiden sich wie konkret und abstrakt, besonders und allgemein, geschlossen und offen, aber auch wie positiv und negativ. Aus dem einen entstehen die Bürgerrechte, aus dem anderen die Menschenrechte. Zwischen jenen beiden aber steht eine dritte Linie. Es ist das Recht der neuen Schöpfung. Der Einzelne erlangt in der Kirche ein Bürgerrecht durch die Taufe, einen Status ecclesiasticus, also auch kraft einer Aufnahme, die zugleich eine Traditio ist. Der Canon 87 des codex iuris canonici:

baptismate in ecclesia catholica homo instituitur** persona

besagt positiv-rechtlich das Gleiche, was der theologische Satz von Karl Barth negativ ausspricht: „Der natürliche Mensch hat keine Existenz vor Gott”.


* In diesem Zusammenhang kann man auch die existenziellen Hauptformen politischer Haltung verständlich machen:
der Konservative sieht sich durch ein irrationales geschichtliches Faktum legitimiert, er sieht sich im Besitze im Recht, er weiß von der Schöpfung, aber nicht vom Gericht;
der Radikale aller Richtungen stellt alles von letzten rationalen Wertungen und Zielen her in Frage und hebt überall die Kontingenz des Geschichtlichen auf, er weiß vom Gericht, aber nicht von der Schöpfung;
zwischen beiden steht der Liberale: er weiß weder von der Schöpfung noch vom Gericht und meint die tiefen Gegensätze beider mit der Selbstmächtigkeit seines guten Willens und zweckhaften Denkens zu überwinden. Er ist dem Phänomen des Glaubens am fernsten.
In einer rationalisierten sozialen Ordnung tritt der Konservative zurück; an seine stelle tritt der Liberale, der die selbstgeschaffene, nicht vorgegebene Ordnung nunmehr verteidigt. Liberalismus und Radikalismus tragen von Anbeginn an ideologischen Charakter. Der echte Konservative ist ein Feind ideologischen Denkens. Trotzdem entwickelt sich in einer rationalen Umwelt unter dem Zwang der Selbstbehauptung und des Gegensatzes — auch im Widerspruch zu ihrem Sachgehalt — eine konservative Ideologie, die als solche ebenso fragwürdig ist wie die ihrer Gegner.
Es dürfte deutlich sein, daß dies bruchstückhafte Vereinseitigungen menschlicher Vollexistenz sind, die ihre trinitarische Einheit allein in dem Miteinander von Gesetz, Gericht und Gnade findet.
** Man beachte die hier wiederkehrende Ableitung von „instituere”.

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Altkirchlich galt der Satz: ecclesia consistit in episcopo, clero et omnibus stantibus; diese Stehenden — zu denen natürlich auch Bischof und Klerus mitzählen — sind diejenigen, die an der Auferstehung Christi teilhaben und deshalb im Gottesdienst — im Gegensatz zu Büßern und Katechumenen — stehen dürfen. Hier hat wiederum der Begriff des Status seinen echten Platz. Die Partikularität des Taufstatus und die eschatologische Universalität der Kirche treffen sich in der Communio des Altarsakraments.

Diesem mikrokosmischen Recht der Einzelnen in der Kirche entspricht das Existenzrecht der Kirche als Ganzes. Daß es ein solches Existenzrecht eigenständiger Art, ein Statusrecht der Kirche gibt, ist eine der großen Früchte des Kirchenkampfes für das Rechtsdenken des Protestantismus. Hinter diese Erfahrung kann und darf nicht mehr auf Sohmsche Positionen zurückgegangen werden. Von hier aus ergibt sich der echte Ansatz für ein evangelisches Kirchenrecht. Wie Familie und Staat, Mensch und Völkergemeinschaft, stehen sich auch Christ und Kirche gegenüber. Die Begriffspaare sind immer miteinander gegeben. Wie das „Autoritäts” (Urheber)-Verhältnis Gott-Mensch sein Spiegelbild und Abbild in der menschlichen Vaterschaft, in der unaufhebbaren Grundrelation des Menschen hat, kraft deren er Kind ist und immer bleibt, auch wenn er längst mündig ist, so spiegelt sich die neue Schöpfung, in einer ganz bestimmten Weise. Es ist die bedeutsame, ja zentrale anthropologische Einsicht Karl Barths, daß der Mensch nicht durch irgendwelche Eigenschaften oder Fähigkeiten konstituiert wird, sondern daß er in zwei Grundrelationen existiert: der Relation zu Gott und derjenigen zum Nächsten.

Die Grundrelation des Menschen zu Gott vollzieht sich in foro interno und kann daher auch nur in foro interno der Kirche durch den Status ecclesiasticus rechtlich zum Ausdruck gebracht werden, von dem schon gesprochen wurde. Die Relation zum Nächsten wird rechtlich repräsentiert in der Ehe. Der Bund Gottes mit dem Menschen ist in der heiligen Schrift immer wieder unter dem Bilde des Bräutigams und der Braut, der zukünftigen Ehe gesehen worden und umgekehrt die Ehe unter dem Blickwinkel jenes Verhältnisses. Davon zeugt auch die Liturgie und Lehre der Kirche. Der Kampf um das Zölibat der Geistlichen ist nicht der um ein die subjektive Freiheit einschränkendes Kirchengesetz, sondern um das zentrale Verständnis der geistlichen Existenz des Menschen: ob diese nämlich, ob das Verhältnis des Menschen zu Gott dasjenige zu dem Nächsten kat’ exochen, dem Ehegatten, ausschließe oder einschließe. Nur so ist die Tatsache zu verstehen, daß der evangelische Pfarrerstand mit einer fast

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gesetzlichen Ausnahmslosigkeit geheiratet hat; und nur diese Alternative, nicht eine liberale Wahlfreiheit läßt das Wort Jesu in Matth. 19, 12 zu.

Es gibt also ein eigenständiges Kirchenrecht nach innen und außen. Das innere Kirchenrecht entspringt aus den Sakramenten, aus der neuen Schöpfung. Diese neue Schöpfung vollzieht sich durch den Bund. Der noachitische Bund und jede Bundschließung des Alten Testaments ist nur ein Ausdruck der Langmut Gottes, der diese Schöpfung trotz ihrer Gefallenheit bestehen läßt, sie in einem — durch den Tod begrenzten — Recht bestätigt und mit seinem Gerichtszorn innehält. Im Bund der neuen Schöpfung hält Gott nicht nur inne, sondern entäußert sich in der Inkarnation all seiner Gewalt. Gerade hierdurch begründet er einen neuen Status des Menschen, der an diesem Heilsgeschehen Teil erlangt. Das äußere Kirchenrecht, das Recht der Kirche auf Öffentlichkeit kann sie nur aus ihrer Bestimmung herleiten. Hier kommt sie in dem Augenblick und in dem Maße in Konflikte, als der Staat selbst diese Bestimmung zu verwirklichen in Anspruch nimmt, wie im laizistischen Frankreich, in den Oststaaten und in Ländern mit nichtchristlicher Staatsreligion. Die strukturelle Besonderheit der Kirche liegt nun gerade darin, daß sei eine partikulare Besonderheit von Getauften und zugleich eine universale Bestimmung des Menschen vertritt. Sie verknüpft also die Strukturen jener beiden Linien in eigentümlicher Weise miteinander. Das ist relativ unproblematisch und zugleich verdeckt, wo das Christentum Nationalreligion ist. In jener Abweichung von beiden Linien liegt nun gerade die Funktion der Kirche. Gegenüber der Verabsolutierung des Einzelnen und des Staates hat sie die Universalität menschlicher Bestimmung, gegenüber einem weltlichen Universalismus, der die Bestimmung des Menschen im Diesseits zu erfüllen trachtet, die Besonderheit des Einzelnen zu bewahren und die Erkenntnis wach zu halten, daß dem Menschen die letzten Dinge nicht in die Hand gegeben sind. Beides kann sie nur, wenn sie eine wirkliche reale und zugleich universale Gemeinschaft ist. Beide Aufgaben hat sie oft genug verfehlt, indem sie entweder zur Nationalreligion wurde oder einen universalen Machtanspruch mit diesseitigen Mitteln durchzusetzen versuchte oder aber schließlich sich spiritualisierte und der Welt preisgab. Das Staatskirchentum säkularer Weltanschauungen von heute, die sämtlich die Merkmale der Glaubensgemeinschaft, der Pseudokirche entwickelt haben, ist trotz dieser formalen Ähnlichkeit nicht im Stande, die legitime Funktion der Kirche in der Welt zu übernehmen. Denn es vermag die Besonderheit des Einzelnen und der einzelnen Nationen nur in sehr geringem Maße zu achten. Umgekehrt ist der universale

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Anspruch des älteren Nationalismus (Jeanne d’Arc-Kult, Alldeutschtum, Panslavismus) nur die Kulisse einer Selbstvergötterung der Völker. Die Kirche hat also eine echte Rechtsposition und Funktion in der Ökonomie der sozialen Ordnungen zwischen Staat und Völkergemeinschaft, ohne daß sie dadurch auf die Ebene jener herabgezogen, ohne daß ihre Geistlichkeit dadurch verfälscht wird. Seitdem mit dem Christentum eine zugleich universale wie eschatologische Tatsache in die Welt getreten ist, kann hinter diese nicht mehr zurückgegangen, die Existenz der Kirche nicht mehr aufgehoben, sondern sie nur durch eine Pseudokirche ersetzt und verfälscht werden.

Der Bereich des Geistlichen hat also eine dreifache Struktur: kraft der Taufe hat der Christ in foro interno ein Recht in der Kirche. Kraft ihrer Bestimmung hat die Kirche ein Recht in foro externo auf die Freiheit der Verkündigung. Indem sie und nur sie allein partikulare Existenz und universale Bestimmung kraft ihrer Mittlerstellung zu vereinen vermag, gibt sie beiden erst einen materialen Sinn. Die Isoliertheit des einzelnen Menschen — auch in seinem Heilsegoismus! — wird ebenso positiv überwunden wie die formale Negativität des Denkens ex praedestinatione. Deswegen und nur deswegen — nicht aus eschatologischer Gleichgültigkeit! — kann der Apostel die gegebenen Ordnungen „en kyrio” bestätigen, da sie damit zugleich von Grund auf verändert sind.

Daß diese drei Status des Menschen und die ihnen entsprechenden großen Ordnungen einen gegenseitigen Bezug besitzen, ist nach dem vorher Gesagten verständlich. Von da aus gilt es eine neue Lehre von der Ordnungen zu entfalten.

Die gesamte Rechtstheorie nimmt ihren Ausgang von dem Phänomen und dem Problem der Macht. Wie der Mensch Eins werde mit der Macht Gottes, wie er von da her sein Handeln in der Welt als rechtliches rechtfertigt, ist das entscheidende Problem aller Rechtstheorie, welches nur theologisch gelöst werden kann.

Die Geschichte der letzten 400 Jahre ist in einer eigentümlichen Weise durch die Flucht vor diesem Problem der Macht gekennzeichnet. Indem die Reformation die geistliche Macht der Hierarchie beseitigte, vermochte sie doch nicht die Unterwerfung der Kirche unter ihr wesensfremde Mächte und die Entstehung einer absoluten Staatsgewalt zu verhindern.

Indem die französische Revolution das traditionale, hierarchisch-feudale System politischer Macht beseitigte, vermochte sie doch nicht die Unterwerfung der Demokratie unter die ihr wesensfremden Mächte des Geldes und die Entstehung einer selbstgesetzlichen Ökonomie zu verhindern.

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Gegen diese richtete sich die leidenschaftliche Auflehnung der marxistischen Arbeiterbewegung. Aber indem sie nunmehr auch jede eigenständige ökonomische Macht radikal beseitigte, konnte auch sie nicht verhindern, daß nunmehr eine einzigartige Kumulation religiös-dogmatischer, politischer und ökonomischer Macht in der Gestalt des Sowjetsystems entstand, welche den Menschen schärfer unterdrückt als jemals vordem Klerus, Adel und Bürgertum, ja ihn geradezu völlig verschlingt.

Diese Tragödie der abendländischen Menschheit wurde allerdings eingeleitet von jener Bewegung des 12. Jahrhunderts, die bewußt versuchte, die Kirche dadurch für ewige Zeiten zu sichern, daß sie sich selbst zum Staate machte, und dazu half, die Staatsmacht grundsätzlich zu brechen und ihrer eigenständigen Würde zu berauben. Nur zu gern ließ man sich nominalistische Theorien gefallen, welche den Staat auf dem Vertrage aufbauten, weil er damit seine religiöse Qualität verlor. So hat jene erste Verschiebung des metaphysischen Gleichgewichts zwischen den großen Ordnungen der Welt durch den päpstlichen Spiritualismus Alexanders III. das spätere Unheil in Bewegung gesetzt. Revolutionen beginnen von oben.

Das Problem der Institutionen ist in den innerkirchlichen Erörterungen in den letzten Jahren über das Rechtsproblem zu kurz gekommen. Die Mehrzahl der mit diesen Fragen befaßten Theologen verhandelt über Recht und Gerechtigkeit in der Abstraktion von konkreten Gestaltungen und ermangelt zudem existenzieller Rechtserfahrung ebensosehr wie positiver juristischer Materialkenntnisse. Die Institutionen werden im allgemeinen in nominalistischer Weise unkritisch vorausgesetzt. Indem man einen allgemeinen Gerechtigkeitsbegriff in das Zentrum der Erwägungen stellt, nimmt dieser zugleich inhaltlich einen totalen Charakter an. Vom Gerechtigkeitsbegriff her konstruiert auch Emil Brunner in höchst ungesicherter Weise Aussagen über den „gerechten” Staat, die „gerechte” Wirtschaft usw. Weil die Basis dieser Abstraktion zu schmal ist, schleichen sich dann bei konkreten Aussagen die subjektiven politischen Vorstellungen des Autors ein. Erst recht augenfällig ist die Subjektivität solcher Aussagen bei Barth.

Es war der Sinn der vorausgegangenen Ausführungen, zu zeigen, daß die verschiedenen Materialgründe der Rechtfertigung, die den drei Glaubensartikeln entsprechen, auch zu verschiedenen Folgerungen für die Rechtstheorie führten, ebenso wie aus außerchristlichen Materialgründen abweichende Gerechtigkeitsvorstellungen zwangsläufig erwachsen. Immer beruft sich der Mensch auf Heilstatsachen; der Verschiedenartigkeit dieser Heilstatsachen entspricht die Verschiedenheit seiner Folgerungen. Die

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Abstraktion von diesen — grundsätzlich (wenn auch zuweilen nur formal) transzendenten — Heilstatsachen führt zu einem immanenten Gerechtigkeitsbegriff, der mit dem Wesen der Sache operiert. Hier aber wird man entweder gezwungen, auf den Zweck zurückzugreifen und teleologische Momenten hinzuzuziehen oder auf die institutionellen Gegebenheiten sich zu stützen, wiederum ohne einen Zugang zu der Ableitung, der Wurzel dieser Institutionen zu haben. Dieser „Sachlichkeit der Dinge” verfallen sehr viele Humanisten, die das Zweckdenken mit gutem Instinkt scheuen, aber ebensowenig bereit sind, sich glaubend auf eine Heilstatsache zu stellen. In etlichen alltäglichen Dingen hat diese Haltung etwas für sich, aber für die geistesgeschichtliche Bewegung des Rechtsdenkens ist sie ohne Kraft.

Wichtiger als diese redlichen Selbsttäuschungen ist die aus der unkritischen abstrakten Verwendung des Gerechtigkeitsbegriffs abzuleitende Eschatologisierung des Rechtsdenkens, die sich hier einschleicht. In der eingeschränkten Eschatologie des nur teleologischen Denkens steckt noch ein gewisses Moment freier Verfügung. Das Denken von den letzten Dingen her begründet jedoch einen nur schwer aufhebbaren psychologischen Zwang. Die Ableitung aller Rechts- und Ordnungsvorstellungen aus einem rational erkennbaren und damit auch realisierbaren letzten Wert hebt den Charakter dieser letzten Gerechtigkeit als einer schlechthin ganz anderen und damit ihre echte Transzendenz auf. Es entsteht ein negativer Katholizismus des Schwärmertums, welches nicht durch die Herstellung der Hierarchie, sondern durch die Infragestellung und Destruktion aller gegliederten Stufungen das Reich Gottes darzustellen und näherzubringen trachtet. Dies geschieht gleichermaßen im theologischen wie im säkularen Denken. Die evangelische Theologie hat in den letzten Jahrzehnten diesen Dingen ungerüstet gegenübergestanden und sie sogar weithin entscheidend gefördert. Man gefällt sich darin, rationalistischer zu sein als die Rationalisten. Die Krisis wird zum Zustand. Gerade dies ist Eschatologisierung.

Aus dem oben systematisch Gesagten ergibt sich, daß die Rechtfertigung aus dem eschatologischen Moment der Bestimmung immer nur zu negativen Qualifikationen, zu Freiheitsansprüchen führen kann. Von daher hat auch die Kirche rechtsgeschichtliche sehr große Wandlungen der konkreten Rechtsordnung abgeleitet, vor allem auf dem Gebiete des Eherechts und in der Beseitigung des Instituts der Unfreiheit. Aber dieses Moment muß immer in der Relativität dieser Zeitlichkeit gehalten werden, wenn es nicht zur dämonischen Zerstörung, zum Selbstgericht werden soll. Denn die Rechtfertigung dieser Haltung liegt in der endgerichtlichen Entmächtigung

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alles Menschlichen begründet. Wer dieses Endgericht vorwegnimmt, richtet sich selbst. Diese eschatologische Geschichtsbewegung der Entmachtung hat das Gegenteil der erstrebten Wirkung erreicht. Sie ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft. Der Goethesche Mephisto ist ein harmloses Gespenst gegen diese im Menschen schlummernde Möglichkeit.