Rudolph Sohm und unsere gegenwärtige kirchenrechtliche Situation
Genre: Tijdschriftartikel
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Von Dr. theol. Dr. phil. Gerhard Kuhlmann in Berlin.
Seit der kleinen Monographie über „Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts” von Hans Barion1) ist keine monographische Behandlung dieses repräsentativen Denkers auf dem Gebiete des Kirchenrechts erschienen. War es schon sehr bezeichnend, daß sich ausgerechnet ein katholischer Kirchenrechtler des eminent protestantischen Rechtsdenkers annehmen mußte, so ist es sehr aufschlußreich, daß wohl Versuche auf protestantischer Seite zur Neubegründung einer dezidiert protestantischen Kirche der Idee nach genug vorhanden sind, daß sie aber unseres Wissens alle Sohm in seiner völlig partikularistischen Haltung ablehnen zu müssen glauben. Sohm war und ist eben ein Mann, der völlig aus der Reihe marschiert ist. Sein Name ruft wohl Erinnerungen wach an die Auflösung jeglichen, auch eines protestantischen Kirchenrechts; er ist deshalb der interessante Anreger; aber man kann in unserer Zeit nichts mit ihm anfangen; die protestantische Kirche habe jetzt andere Nöte in rechtlicher Hinsicht; Selbstbehauptung
1) Erschienen 1931 in der Schriftenreihe „Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart” bei J.C.B. Mohr in Tübingen.
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um jeden Preis und die hierzu nötige Neubegründung von so etwas wie rechtlich konstruierter Kirche, Neubegründung des Pfarramtes, Neubegründung schließlich des christlich-protestantischen Selbstbewußtseins. So tönt es aus allen kirchenpolitischen Lagern des Protestantismus, von — um einmal Schlagworte zu verwenden — der Katakombenkirche bis hin zur Volkskirche, die sich ausdrücklich als Arm des Staates versteht und von diesem rechtlich anerkannt sein, d.h. das natürliche Recht des Staates ihrerseits und an ihrem Teile in Anwendung bringen will. Wir verzichten darauf, einzelne Stimmen für diese tatsächliche Lage unter den protestantischen Kirchenrechtlern im theologischen und juristischen Lager beizubringen. Diese Stimmen sind in jedermanns Ohr, dem die Gestalt der Kirche hier auf Erden am Herzen liegt.
Von dieser Einsicht in die einmütige Ablehnung der These Sohms — das Kirchenrecht seht mit dem reinen Begriff der Kirche in prinzipiellem Widerspruch, das Volk Gottes ist unsichtbar, es gibt nach urchristlicher und lutherischer Erkenntnis keine sichtbare, alleinseligmachende Kirche, die Erzeugerin von so etwas wie Recht sei, es gibt nur staatliche, d.h. sichtbare Obrigkeit als einzige Rechtsquelle, es gibt demnach keine geistliche Obrigkeit als selbstherrliche Kirche, die Schlüsselgewalt der Kirche ist nur eine solche, wenn in der Kraft Gottes das Evangelium verkündet wird und Sünden vergeben werden, das besagt gerade der reformatorische Glaubenssatz sola fide, der nicht nur den Glauben erneuert hat, sondern auch die Welt und ihr alleiniges Recht als Recht in schlechthinniger Freiheit wiederhergestellt hat2) — wir sagen: die einmütige Ablehnung dieser These läßt es von vornherein als ein Wagnis erscheinen, dieses Kuriosum in der Geschichte des Kirchenrechts wieder einmal zur Diskussion zu stellen. Denn einmal könnte von den obrigkeitlichen Vertretern der protestantischen Kirche behauptet werden, daß die Schroffheit dieser Thesen Sohms nur für das kanonische Recht gälte, daß aber für die Kirche als soziologischem Phänomen dieser unserer Wirklichkeit wesentlich andere Gesetze des Handelns zu gelten hätten, wie es tatsächlich Harnack, Tröltsch, Holl und andere ausgesprochen haben3); von den dezidiert juristischen Vertretern des Kirchenrechts könnte dementsprechend dargetan werden, daß der Sohmsche Begriff des Rechts als Recht nicht mehr faßbar sei — als Beispiel: Recht ist sittlich notwendige Gemeinschaftsordnung4) —, daß vielmehr noch apriorische Bestimmungen zu solchem Rechtsbegriffe des Rechts dazukommen müßten, wie es denn tatsächlich auch von den juristischen Vertretern des Kirchenrecht von Schönfeld, von Stutz und Köstler, von Bredt und Holstein ausgesprochen worden ist. Auf der anderen Seite erhebt sich für den systematisch-theologischen Denker die Ansicht und Einsicht, daß Sohm so eine Art
2) Etwa R. Sohm „Kirchenrecht” II 1923 p. 150
f., außerdem durch das ganze Schriftwerk Sohms passim.
3) Zu vgl. ist die Diskussion der theologischen und
juristischen Einwände gegen Sohm bei Barion a.a.O.
4) Etwa Sohm „Kirchenrecht” II p. 55. Diese
Quintessenz des Sohmschen „Rechtsbegriffes des Rechts” findet
sich in ähnlichen Formulierungen durch sein gesamtes Schriftwerk
passim.
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von Kommentar zu Gottfried Arnolds unparteiischer Kirchen- und Ketzergeschichte geschrieben habe, daß man, falls man seine rechtskritischen Ausführungen als Anweisungen zum seligen Leben nehmen wolle, man nur bei einem Schwenkfeldianismus in moderner Form endigen oder einem geschichtsohnmächtigen Independentismus nach quäkerischem Muster huldigen könne.5)
Diese Bedenken stehen ideell einer Diskussion der Sohmschen These im Wege, zumal wenn bedacht wird, daß Sohm in einer weltanschaulich und darum auch rechtlich ganz anderen Zeit lebte als wir heute, daß er z.B. an dem Irrlehregesetz des preußischen Oberkirchenrats vom Jahre 1910 mit innerer Erregung Anteil nahm,6) ein Gesetz, das heute nicht mehr weltanschaulich und demgemäß auch nicht mehr rechtlich von Interesse ist, daß Sohm seinen ,Grundriß der Kirchengeschichte’7) abschließen konnte mit der an längst vergangene Zeiten schmerzhaft-wehmütig erinnernden Paraklese: „Eine aufsteigende Bewegung trägt seit dem Beginn unseres Jahrhunderts bis in unsere Tage das christliche und kirchliche Prinzip empor. Noch ist in weiten Kreisen der gebildeten Gesellschaft das Christentum lebendig, sei es bewußt, sei es unbewußt. Noch . . . usw.” Das alles ist nicht mehr aktuell für eine protestantische Kirche, die sich grundsätzlich auf ihr Eigenrecht besinnt oder ihr ,Recht’ dadurch zu wahren sucht, daß sie in den Staat einzugehen beabsichtigt.
Und doch wollen wir eine Diskussion der Sohmschen These neuerlich in die kirchenrechtliche Debatte der Gegenwart einführen. Allerdings mit gewissen Einschränkungen, die nicht anders als systematisch-dogmatisch im weiten, d.h. nicht nur theologischen Sinne zu verstehen sind. Diese Einschränkungen der Sohmschen Problematik des Rechts als solchen sollen uns aber den Horizont öffnen für eine Sicht der weltanschaulichen Problematik im ganzen für eine protestantische Kirche.
Die im engeren Sinne protestantische Debatte der Sohmschen Thesen halten wir für abgeschlossen durch die Schrift des Katholiken Barion. Keiner der protestantischen Kirchenrechtler hat sich gegen diese aus dem Gesamtwerk Sohms unmittelbar herausspringende „Selbstbescheidung des Juristen zugunsten des Theologen”8) gewehrt,
5) So etwa tut G. Wünsch „Evangelische Ethik
des Politischen”, Tübingen 1936, Sohm an allen einschlägigen
Stellen ab; vgl. zum Stellennachweis das Namenregister unter „R.
Sohm” dieses Buches.
6) Vgl. als Quellennachweis G. v. Rohden: „Der Kölner
Kirchenstreit”, 1911 p. 104.
7) Erschienen in 3. Aufl. 1889, p. 200. Diese Schrift
wird gewöhnlich zur Darstellung der Sohmschen Gedankengänge nicht
herangezogen. Sie enthält aber den Kernpunkt seiner Auffassung
von Christentum in eindeutiger und geschlossener
historisch-systematischer Sicht, trotzdem sie in Einzelheiten, ja
selbst in der Kernfrage des Urchristentums überholt und
korrigiert sein mag.
8) Barion, a.a.O., p. 27. Wir zitieren hier noch die
abschließende, freilich nur für den protestantischen
Kirchenrechtler geltende Einsicht Barions aus Sohm a.a.O. p. 26
f.: „Sohm dagegen hat mit imponierendem Scharfblick richtig
gesehen, daß das Kirchenrecht nur um der Kirchenlehre willen
besteht, daß es seine Aufgabe ist, die geschichtliche Form der
Offenbarung zu wahren. Diese Fixierung des Glaubens ist für Sohm
eine unerträgliche Belastung des Gewissens, und darum lehnt er
das Kirchenrecht ab . . .”
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wehren können. Die These Sohms ist dogmatisch begründet, wie es jede grundlegende These eines Geisteswissenschaftlers sein muß, sie ist existentiell gegründet, mit der Wahrhaftigkeit des Forschers in seinem individuellen Dasein verankert. Aus diesem Grund nehmen wir uns die Freiheit, diese existentiell verankerte These Sohms losgelöst von der Person und ihrer zeitgeschichtlich und darum rechtsgeschichtlich bedingten Situation zu nehmen und an Hand ihrer unsere Zeit zu durchleuchten, soweit sie sich einem individuellen Blick öffnet. Dazu gehört, daß man die Richtigkeit der Sohmschen These für sich selbst anerkennt: daß der Rechtswissenschaftler in den Dingen des protestantischen Glaubens nichts auszurichten vermöge, daß unter der Hand des Rechtswissenschaftlers immer und nur ein weltliches Recht zustande kommen könne, daß auch der Theologe, wenn er eine bestimmte Dogmatik geisteswissenschaftlich expliziere und für verbindlich erkläre in einer protestantischen Kirche, unter der Hand aus der Freiheit des Evangeliums eine Rechtsnorm mache, die der genuin lutherischen Erkenntnis zuwiderläuft. Das ist der Unterschied zwischen individuellem Dogma je einer Person und einem öffentlichen Dogma einer Gemeinschaft. Das erste nehmen wir an, ohne damit zu sagen, daß das zweite statthaben soll, weder normativ noch historisch-tatsächlich. Der Christ Rudolph Sohm hat in der ,radikalen Vereinzelung’9), in die er existentiell in seinem Christsein geraten ist, die Unmöglichkeit jedes Kirchenrechts dargetan, weil das Kirchenrecht nur dazu da ist, um eine geschichtliche Form der Glaubenslehre zu umhegen. Dies erkennen wir an. Wir erkennen dagegen nicht an einmal die ursprünglich in der Menschennatur gelegene Form normativer und deshalb durch ein Kirchenrecht umhegter Glaubenslehre, wie sie der Katholizismus ausgebildet hat. Zu anderen erkennen wir nicht an die mannigfachen Versuche auf protestantischer Seite, ihre Glaubenslehre normativ, d.h. auch kirchenrechtlich zu gründen in
9) Diesen Ausdruck entnehmen wir dem bisher vorliegenden theologisch-philosophischen Gesamtwerk von R. Bultmann, ohne damit seinen ausschlaggebenden Terminus der „Geschichtlichkeit” zu akzeptieren. In den Schriften Bultmanns — von seinem Buche „Jesus”, 1926, ab — über die gesammelten Aufsätze „Glauben und Verstehen” 1933 bis zu seinem großen Kommentar über das Johannesevangelium 1941 ist dieser Terminus „radikale Vereinzelung” ein aus den Kierkegaardschen Einflüssen erklärbares Imponderabile der Bultmannschen Sicht des Christentums und seiner metaphysischen Problematik. Wir müssen es uns hier versagen, näher auf diese Dinge einzugehen. Nur ein Buch aus dem Kreis von Bultmann und Heidegger sei hier noch genannt: W. Kamlah: „Christentum und Selbstbehauptung”, Historische und philosophische Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins „Bürgerschaft Gottes” 1940, welches einen eigenen Abschnitt über Sohms Darstellung von Urchristentum und Katholizismus enthält, p. 470 ff. Kamlah sieht — unseres Erachtens zu Recht — Sohm und Overbeck in ihrem Angriff auf das gesamte historisch-rechtlich bestimmte Christentum in einem. Allerdings akzeptieren wir nicht den Kamlahschen Begriff der „Geschichtlichkeit”, um von hier aus das Problem „Christentum und Selbstbehauptung” ebenso elegant wie gefällig aufrollen zu können, wie es Kamlah tut. Das Problem sitzt für uns tiefer. Doch das wird dieser Aufsatz noch dartun.
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einer Scholastik der Bibel, der Bekenntnisschriften oder wohl gar in der Meinung eines einzelnen theologischen Lehrers.
Wir haben damit schon unsere Stellung zu Sohm und der religiösen Gegenwart angegeben, allerdings in reichlich abgekürzter Form, die einer näheren Erörterung bedarf. Diese wollen wir versuchen in der Darlegung von Sohms Sachgehalt, angewendet auf die geistig-religiösen Lage der Gegenwart.
Wir beginnen mit der geistig-religiösen Lage der Gegenwart. Sodann soll der theoretische Sachgehalt der Sohmschen These kurz dargestellt werden, in Sonderheit soll der Geschichtsbegriff Sohms dabei herausspringen. Und zuletzt fragen wir noch: was können wir heute in der beschriebenen geistig-religiösen Lage mit dieser These Sohms, die wir von ihrer existentiellen Verwurzelung lösen mußten, um sie in Reinheit zur Hand zu haben, anfangen, d.h. wo liegt die Gegenwartsbedeutung von Sohms These. Es erübrigt sich wohl, darauf hinzuweisen, daß das Ergebnis solcher analytischen Durchdringung einer einzelnen Person und einer ganzen Zeit lediglich subjektiven Charakter trägt, obschon die existentielle Verwurzelung der kritischen Ansicht ebenso statthaben kann, wie in einer gemeinhin positiven Darstellung genannten Ansicht es angenommen zu werden pflegt. Das Problem einer wahren ekklesia theou bleibt und auferlegt, auch wenn unsere Darstellung der bisherigen Versuche, diese ekklesia geisteswissenschaftlich, also juristisch in unseren Falle, zu rechtfertigen, in eine kritische Aporie ausläuft. Es erübrigt sich vollends zu betonen, daß die kritische Analyse der in Frage stehenden Sachverhalte von einem dezidiert lutherischen Kirchenchristen vorgelegt wird, daß also die kritische Vehemenz der Analyse lediglich aus der theologischen Sache heraus zu verstehen ist. Es mag das dennoch gesagt werden, weil allzu leicht der religiöse Charakter einer abnegatio hominis (Calvin) verwechselt wird mit einem faden Skeptizismus, besonders, wenn der religiöse Gehalt der kritischen Ansicht hintangehalten werden muß, weil er unsagbar bleibt, dies aber nicht im Sinne des Arretons der Mystiker.
II.
Bei der Darstellung der verschiedenen geistig-religiösen Strömungen, die innerhalb des Protestantismus gegenwärtig auftreten, müssen wir summarisch verfahren. Das ganze Material kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht beigebracht werden, dem es zur Hauptsache darum geht, einen Weg zu finden, wie wir mit der Sohmschen These durch diese verschiedenen Strömungen hindurchkommen. Wir können diese Überschau über unsere geistig-religiöse Lage nur in Stichworten bringen und müssen vor allem um Entschuldigung bitten, daß wir nur ganz vereinzelt Namen nennen, die die Sache verdeutlichen könnten.
Das Problem einer geistig-religiösen Überschau über unsere
protestantische Gegenwartslage gliedert sich uns
folgendermaßen:
1. Das Eindringen ursprünglich katholischer Metaphysik in eine
protestantisch fundierte Geistigkeit.
2. Das Eindringen einer gnostischen Richtung über die Mystik von
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Eckart, Paracelsus, Böhme, Hamann her in unsere vorwiegend
protestantische Wirklichkeit.
3. Das Werden einer positiv atheistischen Geistigkeit unter dem
Einfluß Platons.
4. Ein rein pneumatisches Christentum bemüht sich, auf die
Gestaltung der protestantischen Kirche in ihrer Rechts- und
Amtslehre Einfluß zu gewinnen.
In allen vier Richtungen der religiösen Gegenwartslage handelt es sich darum — das mag noch betont werden —, daß ,Gott’ als deus absconditus eingeführt wird, daß es mithin echte Verzweigungen eines ursprünglichen Theopanismus sind, die sich wiederum zum Wort melden. Auch die unter 3. genannte ,atheistische Geistigkeit’ ist nur terminologisch eine solche, in Wahrheit kommt in ihr eine ernste Gläubigkeit zum Ausdruck. Die pantheistische oder auch panentheistische Gläubigkeit, die in unserer Gegenwart eine sehr große, vielleicht die größte Rolle spielt, kommt hier nicht zur Darstellung. Wir wissen uns von ihr wesenshaft geschieden. Es geht hier nur darum, die verschiedenen Einflüsse auf das evangelische Christentum in Hinsicht auf ihre rechtstheoretische Vertretbarkeit an Hand der Sohmschen These abzutasten.
ad 1. Die Wesensbezüge der verschiedenen geistig-religiösen Richtungen sind mannigfach verflochten. Wir versuchen hier eine geistige Rückführung auf ihre ursprünglichen Fundamente. Eine starke Bewegung hat unter den protestantischen Theologenkreisen zumal eingesetzt zur Una Sancta Ekklesia. Die Literatur zu diesem geistig-religiösen Phänomen lassen wir hier beiseite. Wer in der lebendigen Bewegung innerhalb der protestantischen Kirche steht, sieht sie vor Augen, von der liberalen Richtung, die sich um Namen wie Mulert und Frick schart, bis hin zu einer neuorthodoxen Richtung um E. Wolf und H.E. Weber. Was für eine Anschauung von der sichtbaren Kirche liegt diesen Bestrebungen um eine Una Sancta — ob ablehnend oder zustimmend — zu Grunde? Es ist die ursprünglich katholische Sicht der Welt als einer processio dei ad extra (Thomas von Aquin). Das Ganze der uns umgebenden Welt und wir mit ihr wird in einem unmittelbaren Lebenszusammenhang gesehen mit Gott, der grundsätzlich außer der Welt und unserer selbst bleibt als der deus semper maior.10) Alle politischen, wissenschaftlichen und metaphysischen Strömungen läßt der religiöse Denker, soweit er sie überschaut und innerlich durchschaut hat, in der großen coincidentia oppositorum des Nikolaus von Kues zusammenlaufen: Et omnia nomina, quae nominantur, sunt compositorum: compositum autem, ex se non est, sed ab eo, quod antecedit omne compositum. Et licet regio compositorum et omnia composita per ipsum sint, id quod sunt: tamen, quum non sit compositum, in regione compositorum est incognitum. Sit igitur Deus, qui ab oculis omnium sapientum mundi absconditus, in saecula benedictus. Amen.11)
10) Vgl. das Werk des Jesuiten Przywara: „Deus
semper maior” 1940.
11) Aus „Dialogus De Deo Abscondito . . ., Editus a
Nicolao de Cusa”, jetzt bequem zugänglich in der kleinen Schrift:
Nikolaus von Kues: „Der verborgene Gott”, lateinische und
deutsch, Erich Wewel Verlag, 1940.
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Aus dieser Rückbeziehung auf eine ursprünglich in der Menschennatur angelegte, also katholische Erkenntnishaltung ergibt sich für den protestantischen Christen eine grundsätzlich gewährende Haltung den Dingen dieser Welt gegenüber. Es ist die Haltung des christlichen Mystikers, der sich sagt, selbst sagt in der Einsamkeit der für sich seienden Seele: alle menschlichen Bestrebungen in Recht, Politik, Wissenschaft und Ethik erreichen nicht den wesenhaft seienden Gott. Dieser geht eben den zusammengesetzten Dingen dieser Welt voran.
In der Rechtsauffassung nimmt diese ursprüngliche Gedankenrichtung einen eigentümlichen Stand ein: das ,Recht’ der Seele in ihrer ursprünglichen denkerischen Verbundenheit mit Gott wird von dem konkreten Recht keines Staates auch nur annäherungsweise erreicht. Der denkende, diese seine sich an den ,verbergenden Gott’ haltende Haltung überdenkende Mensch wird zwar sich dem konkreten, obzwar immer nur ideell begründbaren Recht irgend eines Staates beugen; er wird aber trotzdem wissen, daß sein ius divinum von dem ius humanum abgrundtief geschieden bleibt. Dieser mystische Standpunkt — wir nennen als einzigen Namen den des Dichters R.M. Rilke — unterscheidet sich von der klassischen katholischen Rechtstheorie in ihrer scharfen Trennung von ius divinum und ius humanum nur insofern, als diese im Grunde ästhetisch-mystische Lebenshaltung für ihre denkerische Erfahrung des Wesensgrundes ,Gott’ keine menschlich-rechtliche Ausformulierung mehr kennt. Das Göttliche — nur im tiefsten Seelengrunde denkerisch zu erleben: die Kombination von nominalistischen Gedanken mit solchen der klassischen deutschen Mystik des Mittelalters — ist immer noch eine Stufe ,größer’ als der Gott, auf den hin je unser ,Recht’ formuliert werden kann und muß.
Diese nur kurz umschriebene Haltung wird bestätigt in weiten Kreisen des Protestantismus, die an der eigentlich kirchlichen Gestaltung ihres Glaubens kein Interesse mehr nehmen. Diese Kreise tragen heutzutage vornehmlich ästhetischen Charakter. Liebenswürdig und vornehm können sie alles Menschliche zur Kenntnis nehmen. Aber an der eigentlichen Gestalt der Kirche, d.h. an dem Bekenntnis zur ausformulierten rechtlichen Kirche nehmen sie keinen Anteil. Wir halten fest, daß die genuine Dogmatik dieser Kreise nur in einer katholischen Weltanschauungslehre gegeben werden kann, die irgendwie den Gedanken der analogia entis in der Vordergrund schiebt. Von hier aus wird die rechtstheoretische Ausformulierung einer protestantischen Kirche überhaupt entwertet, während die katholische Auffassung des Rechtes asl Recht in ihrer zwiespältigen Formung von diesen Kreisen auch abgelehnt wird aus Gründen der Nichtausformulierbarkeit — man verzeihe dieses Wortungeheuer! — des religiösen Selbstbewußtseins selbst.
ad 2. Hier können wir uns sehr kurz fassen. Wir nennen nu einen Namen von Rang: Edgar Dacqué. Damit ist eine ganze Richtung bezeichnet, die in religiöser Weise, aber konfessionell desinteressiert, den christlichen Mythus von Schöpfung, Fall und Erlösung rekonstruiert und ihn so unserer Zeit verkündigen will. Diese
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Richtung ist wesentlich eine Erneuerung der alten naturphilosophischen Richtung, die von Platon über den Gnostizismus bis hin zu den deutschen Naturphilosophen Paracelsus-Böhme-Hamann weist. Wenn wir die letzte Veröffentlichung von Dacqué ,Die Urgestalt’, 1940, nehmen und an ihr das Entscheidende aufzeigen, so ergibt sich ungefähr folgendes Bild: zunächst ist „Mythisches . . . Daseinsdarstellung mit innerer Sicht und dem Wesen nach, und das Wesen ruht im Ewigen” (7). Von dieser inneren Sicht aus entwickelt sich dann der Mythus unserer Natur und unseres Geistes verhältnismäßig leicht, ja elegant, in der Sprache schöpferisch und adlig. Die Gottheit wird nach dem Vorbilde Jakob Böhmes gefaßt als die Polarität von Gott und Sophia. Daraus ergibt sich dann die bei Dacqué allerdings sehr seine Zeichnung von ursprünglicher Vollkommenheit, vom dämonischen Fall und siegreichen Wiederaufstehen vermittels einer den widergöttlichen Dualismus von Geist und Materie zur göttlichen Polarität umgestaltenden Anthropologie. Dies ganze Unternehmen einer christlichen Polaritätsphilosophie ist ebenso interessant wie suggestiv. Kein Wunder also, wenn ihre viele der protestantische Gebildeten anhängen und auf die genuine protestantische Kirchenlehre mit ihrer immer wieder neu unter Beweis gestellten Sucht zu streiten vornehm herabsehen.
Wie stellt sich diese religiöse Geistesrichtung zum Problem des Rechtes? Wie würde sich eine Gemeinschaft von Menschen, die die oben sehr flüchtig gezeichnete Erkenntnis zu ihrem Bekenntnis macht, sich selbst gegenüber anderen Bekenntnisgemeinschaften abgrenzen? Wir wagen keine Antwort zu geben. Einmal deswegen, weil das Recht als Recht noch niemals, abgesehen von Platon selbst, der aber hier außer Betracht bleiben kann, da er nur in der depravierten Darstellung über Plotin und den Gnostizismus in diese Gedankenrichtung Eingang gefunden hat, einen eigenen Bearbeiter aus dieser Gedankenrichtung gefunden hat. Zum andern deshalb, weil wir doch nur auf Vermutungen angewiesen wären, wenn wir nachfühlend so etwas wie ,Recht’ nach der naturphilosophischen Anschauung definieren wollten. Auch der Rekurs auf Schelling hilft da nicht viel. Er ist wohl der heute auftretenden Naturphilosophie sehr nahe verwandt, aber seine Distinktionen betreffs der Jurisprudenz sind doch allzu sehr im Rahmen einer allgemeinen Metaphysik des künstlerischen Genies gehalten, als daß sie hier wirklich zur Namhaftmachung der naturphilosophischen Geistesrichtung in Betracht kommen könnten.
Solche Metaphysik des Menschen lebt immer nur von Gnaden eines excessus des menschlichen Geistes, eines Außersichseins der Menschennatur. Indem das Ich des so erkennenden Menschen aus sich heraus gerät, kann es überhaupt nur solche Feststellungen treffen, wie sie beispielhaft in dem Büchlein von Dacqué vorliegen. Kein Wunder ist es also, wenn rein irdische Belange, wie die rechtliche Abgrenzung der Gläubigen einer bestimmten Konfession ohne Belang sind für einen solchen, den Urgegensatz und die Urpolarität stets mitempfindenden Denker. Im Mythus glauben diese Denker, die Urwahrheit zu besitzen. Der Mythus ist aber nicht irdisch-menschlich durch ein Recht zu beschützen, auch nicht durch ein sakrales Recht zu
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umhegen, sondern der Mythus gibt sich nur kund in seiner Auslegung, die jenseits aller irdisch-menschlichen Ausdrucksfähigkeit ihren schlechthin transzendenten Grund hat.
Wir haben diese naturphilosophische christliche Mythologie in den Kreis unserer Überschau einbezogen, weil an ihr exemplarisch klar wird, wie weite Kreise unserer protest. Christenheit an der rechtlichen Formulierung eines Bekenntnisstandes völlig desinteressiert sind. Es geht nun aber nicht an, daß von positiv protestantisch-kirchlicher Seite einfach der Schluß gezogen wird: also scheiden diese Kreise einer mystischen Naturphilosophie einfach aus bei unserem Vorhaben einer Überschau über die verschiedenen Theorien zu einer rechtlichen Gestaltung der protestantischen Kirche. Nein! Wie viele Pfarrer tragen nicht in ihrer ganzen Tätigkeit derartige mystische Naturphilosophie vor, allerdings nicht in so echter Weise, wie sie ewa von dem heute führenden Paläontologen Dacqué in ursprünglicher Schau expliziert wird. Wenn es aber um die rechtliche Gestalt der Kirche geht, um Kirchensteuer und rechtlichen Schutz ihres Berufes als Pfarrer, dann bekennen sie sich mit einem Male auf irdisch-menschliche Belange: sie vertreten einen rechtlichen Begriff ihrer konfessionellen Eigenkirche, der nach dem, was sie in ihrem ganzen Gehaben auf Kanzel und Schulkatheder vortragen, keinen Boden mehr hat, im Gegenteil!
ad 3. Da ist jedenfalls eine andere Richtung unseres Geisteslebens, die wir als ursprünglich religiös bezeichnen möchten, erheblich konsequenter. Sie erwächst aus einer streng philosophisch-metaphysischen Schulung in Sachen einer Weltanschauung, die sich natürlich nach den verschiedensten Richtungen weit verzweigen kann. Wir nehmen nur den Zweig aus dem Bündel einer philosophischen Weltanschauung, die sich an die in letzter Zeit zur Aufnahme gekommene Existenzphilosophie anschließt. Namen wie Georg Simmel, Max Scheler, Edmund Husserl, Martin Heidegger und Karl Jaspers klingen da in uns auf. Es waren zum Teil unsere akademischen Lehrer, die aber eine Weisheitslehre vermittelten, die weit über den akademischen Raum hinaustragt in eine schlichte Alltäglichkeit, der wir alle verhaftet sind. Aus diesem Grunde mag auch diese ganze Richtung in Hinsicht auf unser gegenwärtiges Problem einer Grundlegung des protestantischen Kirchenrechts noch ihren Platz finden. Die ganze Problematik im engeren Sinne der Phänomenologie mag dahinten bleiben, ihre Genesis mag hier nicht untersucht werden. Nur zwei Bücher aus diesem Kreise wollen wir nennen: Gerhard Krüger ,Einsicht und Leidenschaft’ 1939 und Wilhelm Kamlah, ,Christentum und Selbstbehauptung’ 1940. Hier ist mit Bewußtsein die rein philosophische Möglichkeit zu einer Religion ergriffen. In einem exakt philosophisch explizierten Begriff des Mythus wird in dem ersten der zwei genannten Bücher das Wesen menschlicher Existenz nicht in dem selbstherrlichen Besitz einer Lehre oder eines Systems gesehen, sondern in der jeweiligen Situation des Menschen, darin es diesem Gotte oder jenem gehorcht. Aus dieser Pluralität der Götter gilt es, den Einen Gott zu erheben: Eros, der die Leidenschaft gebiert. Das ist in größter Kürze der Inhalt einer ganzen Schule von Philosophen, die sich der
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Gefahr bewußt geworden sind, die in der Erhebung zum reinen Bewußtsein liegt, wie sie im deutschen Idealismus geübt wurde, und die nun ernster und gründlicher fragen aus ihrer Situation heraus, ob es etwa noch eine andere Erhebung gibt für den Menschen als die zur Logologie, die in einer überwundenen Phase der Philosophie einzig gefordert wurde, die die Philosophie zur bloßen Begriffswissenschaft machte, sie für eine christliche Theologie ungefährlich werden ließ. In der Leidenschaft, mit der etwas getan wird, die als existentielle Haltung also jedwede Handlung einer Person begleitet, um sie dadurch allererst zur Person zu machen, wird die Antwort auf die Frage nach der ,anderen Erhebung’ gesehen.
Das zweite Buch stellt die Frage ganz konkret an das Christentum: ist überhaupt noch angesichts des Vorstoßes ,politischer Selbstbehauptung’ ein Lebensrecht des Christentums zu erweisen? Wir erhalten die für ein beruhigtes christliches Selbstbewußtsein nicht gerade tröstlich Auskunft, daß vielleicht ein neuer Bund politischer Selbstbehauptung mit dem Christentume möglich sei (6). Die Frage nach solcher Möglichkeit wird an das Urchristentum, so wie es der Verfasser von seiner existentialen Metaphysik aus sieht, gerichtet. Kein Wunder, wenn da keine Verbindungslinie sichtbar wird. Nun könnte aber reformatorisches Christentum auf den Plan treten und seine rechtstheoretische Verbundenheit mit der neuen völkischen Gesinnung dartun. Aber diese Fragestellung existiert für den Verfasser dieses Buches nicht. Wir müssen ihm Recht geben: das Urchristentum ist keine rechtlich faßbare Größe, alles, was sich Christ nennt, auch der reformatorische Christ, hat es mit dem Urchristentum zu tun, als Frage an ihn, den Christen wenigstens. Wie kann aber eine rechtlich nicht faßbare Größe einen Bund mit dem politischen Selbstbehauptungswillen eingehen, der zutiefst rechtlich-völkischer Natur ist? Und damit sind wir unmittelbar drin in der Frage, die sich aus der Anerkenntnis Sohms für uns Protestanten heute ergibt. Nicht von ungefähr ist es, daß das Buch von Kamlah mit dem Hinweis auf Overbeck und Sohm schließt, den beiden Männern, die in der Geschichte der protestantischen Theologie begraben wurden, weil sie einem kulturfreudigen Christentum widersprachen: Overbeck auf einem allgemein weltanschaulichen Gebiet, Sohm auf dem konkreten Gebiet der Grundlegung der Rechtswissenschaft. Denn wie könnte einem reformatorischen Christentum, das auf seinen echt religiösen Einfluß auf Rechts- und Staatsbildung stolz ist, härter widersprochen werden als durch den Satz Sohms: „Die sichtbare Christenheit hat nicht den Geist Gottes, ist nicht das Volk Gottes, hat nicht das Wort Gottes.”12)
ad 4. Wir kommen nun zu dem Komplex protestantischer Theologie im eigentlichen Sinne. Die protestantische Theologie ist gegenwärtig am Werke, sich einen neuen Amtsbegriff zu zimmern. Sie muß dementsprechend erst einmal die ekklesia theou abgrenzen gegenüber anderen Bekenntnisgemeinschaften, die irgendein säkulares Telos in der Sprache der Kirche und mit der dazugehörigen Drastik sehr vital zum Ausdruck bringen. Diese Abgrenzung geschieht in
12) Kirchenrecht II 135.
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einem Kirchenrecht, das nach einer glücklichen Formulierung von Josef Bohatec ein pneumatokratisches Recht ist, also zunächst nichts mit dem menschlichen wie auch immer formulierten Recht zu tun hat. Was ist das Pneuma nach urchristlich-reformatorischem Verständnis? Hier gehen nun die Meinungen der Forscher weit auseinander. Das muß so sein in einer protestantischen Kirche, die ja gerade alles eindeutig formulierte Recht der Kirche ablehnt und sich grundsätzlich ihres Ausgestoßenseins in die Welt auf Grund der Erbsünde bewußt ist. Aus diesem einen einzigen Grunde, dem der Erbsünde, könnte man nun schon sagen, daß es kein protestantisches Kirchenrecht gibt, auch kein pneumatokratisches Recht als Recht, das eine geschlossene Gemeinschaft garantierte. Und zwar wäre der Grund für die Ablehnung jedes Kirchenrechts — wir nähern uns Sohm! — folgendermaßen zu formulieren: Nach gemeiner lutherischer Überzeugung und auch dem Calvinismus entsprechend ist die Menschheit, d.h. jeder einzelne Mensch, in die Erbsünde gefallen, seine ganze Natur mit seiner Vernunft, die — modern formuliert — dionysisch oder rein logisch betätigt werden kann, ist so tief pervertiert durch eben diese Erbsünde, daß der Mensch existentialilter nicht weiß, auch niemals durch platonische ,Erweckung’ wissen kann, was die Sünde im scharfen Gegensatz zu allem menschlichen Urteil über Böses und Gutes nun eigentlich ist. Die Erbsünde muß in ihrem ganzen Umfange der ,Schrift’ geglaubt werden, wie es Luther in den ,Schmalkaldischen Artikeln’ unzweideutig ausgesprochen hat. Nun ist uns aber die ,Schrift’ in dem Sinne, wie sie noch Luther gegenwärtig sein konnte, im Laufe der Zeit durch allmähliche Säkularisierung der wissenschaftlich-theologischen Methode zur Untersuchung eines unserer Religion zugrunde liegenden Textes zweifelhaft geworden. Unsere Lage in der protestantischen Kirche ist nun diese: wir bekennen uns zur Erbsünde, d.h. dazu, daß es kein Recht als Recht gibt, durch das wir uns von denen, die sich nicht zu dieser Erbsünde bekennen, abzusondern vermöchten. Diese Erbsünde steht also weder im Vernunft- noch im Tatsinne uns zur Verfügung, wir müssen sie vielmehr einer anderen Instanz glauben. Diese ,andere Instanz’ war zu Zeiten der Reformation die Bibel alten und neuen Testaments. Die Bibel wurde jedoch durch vorurteilslose Behandlung in ihrem übernatürlichen Gehalte durch die protestantische Wissenschaft selbst zur Auflösung gebracht. Die Wandlungen in der Inspirationstheorie innerhalb der protestantischen Lehrtradition zeigen diesen Prozeß der Auflösung an: am Anfang Verbal-, dann Personal- und Realinspiration. Zuletzt wird, nachdem die Auflösung der Bibel hinsichtlich ihres realen Offenbarungsgehaltes von den einsichtigen protestantischen Theologen wenigstens eingesehen worden ist, die viva vox evangelii im Anschluß an eine Luther-Renaissance als testimonium spiritus sancti internum ausgegeben — zu vergleichen sind die modernen Dogmatiken von K. Barth, W. Elert u.a. Zugleich wird in Entsprechung hierzu eine Lehre vom Pneuma ausgebildet, die — mehr nach der sakralen Seite hin (Berneuchen und verwandte Erscheinungen) oder nach der rein rationalen Seite hin (weite Kreise der genuin lutherischen Amtsauffassung
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unter der Führung von Sasse-Erlangen und ebenso weite Kreise der spezifisch unionistischen Auffassung von der ekklesia in der Bekenntniskirche) — durch Darlegungen des neutestamentlichen Befundes unterstützt die ekklesia theou sichern soll gegen jede Beeinflussung und gegen jede rechtliche Nivellierung mit der achristlichen Umwelt.
Das sind in flüchtiger Überschau die Faktoren, die heute auf das protestantische Christentum eindringen, ideell eindringen, mit denen sich also ein protestantischer Christ auseinandersetzen muß. Es mag noch einmal betont werden, daß hier keine apologetischen Absichten verfolgt werden. Gegenüber einer achristlichen Umwelt muß der Abstand in Lebenshaltung, Gesinnung und letzter Beziehung je meines Daseins schon erkannt sein, damit das hier Ausgeführte überhaupt Gehör finden kann. Mit andern Worten: derjenige, der sich an dieser Debatte beteiligt, muß schon die Erbsündenlehre in ihrer schroffen lutherischen Form bei sich selbst anerkannt haben, damit die eigentümliche Problematik, die sich gerade für das Recht als Recht in der Kirche aus dieser Erbsündenlehre ergibt, erkannt und in ihre Diskussion eingetreten werden kann.
III.
Wir sagen thetisch in Hinsicht auf die eben gezeichneten Strömungen allgemein weltanschaulicher aber doch noch auf dem Boden des Protestantismus befindlicher Art und in Hinsicht auf die protestantisch-kirchlichen Bestrebungen zur Neubildung eines Kirchen- und Amtsrechts: ein gemeinsames Kennzeichen tragen sie alle, sie such sich spiritualistisch zu sichern. Der Geist ist das Schibboleth, um das sich je eine Schar der Anhänger in individueller Ausgestaltung drängen soll. Wir halten diese Kennzeichnung fest.
Indem so innerhalb der geistig-religiösen Welt der ,Geist’ als sichtbares Kennzeichen herausgestellt wird, könnte sich diese geistig-religiöse Welt mit Sohm verbinden: er weist alle statische Formulierung eines Kirchenrechtes ab zugunsten einer irrationalen Haltung des Protestanten. Der Protestant ist für Sohm das Irrationale schlechthin, insofern er seinen Kirchenbegriff ,aus der Tiefe seines eigenen Lebens mit Gott schöpft’ (etwa Kirchenrecht II 133 ff. von Luther gesagt). Dieses ,Leben mit Gott’ entzieht sich nach Sohm grundsätzlich jeder Formulierbarkeit. Formulierungen des Rechtes eines solchen ,Lebens mit Gott’ gibt es nicht. Alle Formulierungen des Daseins des Einzelnen mit Gott, also Ausformulierungen des Kirchenrechtes, sind entweder einem Naturrecht oder einer Verbindung desselben mit dem aufklärerischen Collegialrecht entsprungen, sie sind statischer Natur, während das ,Recht’ je einer christlichen Person im protestantischen Sinne ,fließt’.13) Sohm wird nicht müde, seinen Begriff der Geschichtlichkeit jeder Rechtsordnung einzuprägen. Wir nehmen diesen seinen Begriff der Geschichte oder der geschichtlichen Entwickelung grundsätzlich anders, als die Aufklärung ihn nahm, als Fortschritt nämlich, oder als der Katholizismus ihn
13) Kirchenrecht II 39.
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nehmen kann: als Fluktuierendes zwar, aber immer gemessen an der ewig sich gleichbleibenden Gestalt der Kirche als des mystischen, aber doch sichtbaren Leibes des Königs Christus.
Sohm spiritualisiert den Kirchenbegriff so radikal, daß er in keine sichtbare Gemeinschaft mehr eingeht, sondern auf das christliche Individuum beschränkt bleibt, das in protestantisch sein sollender Weise das Evangelium immer wieder neu erlebt. Und damit steht er auf der Seite der Schwärmer im protestantischen Gewande. Er macht die Entwickelung des evangelischen Kirchenrechts auf dem Hintergrunde des kanonischen Kirchenrechts bis zum Ende durch. Kein Wunder, wenn er zuletzt sich selbst aus der protestantischen historisch gewordenen Kirche hinausmanöverierte — wie wir es konstatieren müssen, obschon Sohm selbst nicht den Schritt vollzog. Deshalb bleibt sein Weg ein Torso, in systematischer theologischer Hinsicht eine Aporie, die uns zeigen kann, wohin ein konsequent gefaßter protestantischer Kirchenbegriff führen muß.
Wir dürfen nun aber nicht in den Fehler einer bewußt protestantischen Haltung verfallen und den Weg zurückgehen wollen: in eine protestantisch ausformulierte, mit einem theokratischen oder christokratischen Amtsbegriff versehene Kirche — je nach lutherischer oder reformierter Grundansicht — zurückgehen wollen. Wenn man das doch tut, dann gelangt man — nur beispielhalft genannt und ohne ausgeführte Polemik — zu solch anachronistischen Formulierungen wie die Günther Holsteins von der ,Wesenskirche’14) oder den völlig unmöglichen Anschauungen Georg Wünschs von einer ,Glaubenskirche’15) oder man gerät in eine Scholastik der Bekenntnisschriften hinein, wie sie Edmund Schlink vertritt.16) Der Grundfehler in den verschiedenen Fassungen des protestantischen Kirchenrechts liegt nach Sohm — wir interpretieren seine geschichtstheoretische Auflösung jedes protestantischen Kirchenrechts jetzt rein systematisch-existentiell — darin: die unsichtbare Kirche wird sichtbar im ideellen Sinne gemacht; die berühmte Formulierung der Augustana VII — est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium recte docetur et recte administrantur sacramenta — wird in einer Bekenntniskirche — wir gebrauchen den Ausdruck jetzt nicht im
14) „Die Grundlagen des ev. Kirchenrechts” 1928
passim.
15) a.a.O. passim.
16) „Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften”
1940. Das reformierte Gegenstück steht noch aus; zu vgl. ist
Josef Bohatec: „Calvins Lehre von Staat und Kirche mit besonderer
Berücksichtigung des Organismusgedankens” in „Unters. zur
Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte” 1937, daselbst weitere
Literatur. Die Auseinandersetzung Bohatecs mit Sohm kritisch zu
untersuchen, wäre eine lohnende Aufgabe, die hier aus Platzmangel
unterbleiben muß. Vgl. zum Thema „Calvin und das Kirchenrecht”
jetzt die vorzügliche Einführung in „Die Theologie Calvins” von
Wilhelm Niesel, 1939. Der völlig andere Standpunkt in diesem
wichtigen Stück ihrer Lehre zwischen den beiden Reformatoren
kommt dort gut heraus, allerdings nur für den, der ihn sehen und
vor allem anerkennen will. Vgl. auch den Aufsatz im 1./2. Heft
1941 dieser Zeitschrift von H.D. Wendland: „Pneumatokratie und
Kirchenrecht”; daselbst auch weitere Literatur zum Thema.
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kirchenpolitischen Sinne — als synthetische Definition gefaßt und nicht als analytische Aussage über die wirkliche Kirche; das heißt: in einer Bekenntniskirche wird der totus homo als Bekenntnis zu einer bestimmten Auffassung des Dogmensystems gefaßt, in der faktischen, sichtbaren Kirche wird diese bestimmte Auffassung des Dogmensystems als die rechte Verkündigung und Darstellung des Evangeliums und die rechte Austeilung und der rechte Empfang der Sakramente erst hergestellt und dann erwartet, daß sich innerhalb der sichtbaren Kirche die unsichtbare Una Sancta bilde.
Kein Zweifel ist möglich: Sohm gehört auf die antinomische Seite des Protestantismus. Er hat kirchenrechtlich nachgewiesen, daß alle rechtsphilosophischen Versuche, so etwas wie ein protestantisches Kirchenrecht nun doch noch zu sichern, zu einem verkrüppelten Katholizismus führen. Diese Einsicht müssen wir mitvollziehen. Es geht nicht an, daß wie dem Andenken eines treu-protestantischen Mannes gleichsam eine stille Minute widmen und dann wieder drauflos operieren mit Begriffen, die von eben diesem Manne — wenn auch in anderer Sprache aber doch grundsätzlich — ad absurdum geführt worden sind.
IV.
Wir stehen also mit der These Sohms auf Seiten des antinomistischen Schwärmertums. Alle Rückwege in eine nomistische Kirche sind uns grundsätzlich durch die jener These vorausgehende rechtliche Besinnung versperrt. Dazu kommt heute, daß sich der Staat als Bekenntnisgemeinschaft im totalen Sinne gesetzt hat; er hat in einer vollkommenen Säkularisation aller theologischen Begrifflichkeit als nomistische Verkündigung das Evangelium ,Es werde Ordnung!’ gesetzt und ist gewillt, diesem seinem Ordnungsruf Nachdruck zu verschaffen. Er ist das geworden, was Sohm immer als nie verwirklichtes aber dennoch ideell anzusetzendes Ideal forderte: „Recht ist die selbstherrliche Ordnung einer sittliche notwendigen überindividuellen äußeren Gemeinschaft. Kürzer gesagt: Recht ist sittlich notwendige Gemeinschaftsordnung” (K. II 55). Wenn einzelnen oder einer Gruppe von Menschen dies kraft unserer umfassenden Gemeinschaftsordnung erzeugte Recht nicht konform ist, so müssen diese Glieder, falls sie nicht aus rein politischen Motiven heraus denken und handeln, religiös gesehen zum Katholizismus gehen, der in seiner Dialektik von jus divinum et humanum den Spielraum bietet für eine menschlich-irdische Befriedigung des zweifelnden Individuums. Auch der Rückzug auf eine ,innere’ Gemeinschaft des Hl. Geistes, die nicht mehr rechtlich auszudrücken wäre, ist uns versperrt. Das unterscheidet uns in unserer Situation grundsätzlich von Sohm. Denn der Staat hat ja ausdrücklich das ganze Innere des Menschen in Beschlag genommen, auch die religiöse Möglichkeit des Menschen, indem er sich selbst als das gesetzt hat, zu dem der Mensch sich bekennen soll.
Schien es also, als ob wir auf Grund der Sohmschen These noch den Rückweg zu einem radikal antinomistisch verkündigten Evangelium frei hätten, so zwingt uns eine unvoreingenommene Überlegung
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der gesetzesgewaltigen Kraft des totalen Staates dazu, auch diesen Rückweg als versperrt zu erkennen. Wenigstens im Augenblick, da wir unsere Überlegung anstellen, ist das so. Und geschichtlich, d.h. dem gegenwärtigen Augenblick gemäß müssen wir denken lernen — so gerade will es Sohm. Der Nomos unseres Staates, dem ausschließlich der ganze Mensch mit allen seinen Erkenntnis- und Tatkräften, der Mensch in seinem Be-Kenntnis gehören soll, ist der Wille zur Macht, um mit Nietzsche zu reden. Derselbe Nietzsche hat gleichsam zur Erläuterung dieses seines Bekenntnisses in religiöser, d.h. den ganzen Menschen umfassender Absicht die Worte gesagt gegen die vornehmlichste christliche Tugend der Reue: „Ich liebe diese Art Feigheit gegen die eigene Tat nicht; man soll sich selbst nicht im Stich lassen unter dem Ansturz unerwarteter Schande und Bedrängnis.” Hier wird in Kürze der ganzen christlichen Begriffswelt der Abschied erteilt und dem Enthusiasmus des Leibes und des Blutes das Tor geöffnet.
Wir wollen bei dem Worte ,Enthusiasmus’ noch ein wenig verweilen. Luther hat gerade ihn in seiner eigentlichen Wortbedeutung des Sich-in-Gott-Wähnens für die Erbsünde schlechthin gehalten. Man vergleiche nur die ,Schmalkaldischen Artikel’ passim. Dann wird uns ohne weiteres klar, daß Luther auch den Antinomismus, der uns einzig aus der These Sohms zu folgern schien, unter das Verdikt von der ,alten Schlange’ fallen läßt (Schmalk. Art. III ,Von der Beichte’): „Der Enthusiasmus steckt in Adam und seinen Kindern von Anfang bis zum Ende der Welt, von dem alten Drachen in sie gestiftet und gegiftet und ist aller Ketzerei, auch des Papsttums und Muhammeds Ursprung, Kraft und Macht.”
Die Sachlage für uns Protestanten von heute liegt also folgendermaßen:
Die antinomistische Verkündigung des Evangeliums wird uns entzogen vom Staate, der seinen eigenen Nomos verkündigt.
In diesem Prozeß stehen wir augenblicklich. Dadurch wird uns allen klar, d.h. auch dem, dem die folgende Tatsache aus theologischen Überlegungen noch nicht klar war: unserer Verkündigung des gesetzesfreien Evangeliums war gar keine solche. Dafür ist der Beweis in unserem protestantischen Selbstbewußtsein gegeben, das nur mit innerem Widerstreben sich die Gesetzespredigt vom Staate fortnehmen läßt: die vielfachen Versuche unter uns, eine kümmerliche Aufgabe für eine Volkskirche zu retten, auf Grund derer dem Volke so etwas wie ,Üb’ immer Treu und Redlichkeit’ gepredigt werden müßte.
Unser protestantisches Selbstbewußtsein wird demnach durch die Entwickelung des Staates angegriffen. Unser protestantisches Selbstbewußtsein war es demnach auch immer, das sich durch die These Sohms verletzt fühlte.
Wir müssen demnach unser protestantisches Selbstbewußtsein aufgeben, wollen wir noch unserem protestantischen Glauben leben.
Was ist ,protestantischer Glaube’? Er ist zunächst nicht das, was der Kirchenrechtler Sohm noch an der Jahrhundertwende darunter verstand: das neu erlebte Evangelium. Wir gelangen so nur zu einer Scholastik des protestantischen Evangeliums, die sich orthodox dünkt,
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in Wahrheit aber liberal ist im alten kirchenpolitischen Sinne; oder wir gelangen auf diesem Wege eines Nacherlebens des protestantischen Evangeliums zu einem Pietismus der inneren Seele, die längst durch die säkulare Entwickelung einer medizinischen Diätetik der Seele aufgelöst worden ist. Auf jeden Fall aber befinden wir uns angesichts der staatlichen Beschneidung unseres protestantischen Selbstbewußtseins in einem Antinomismus schwärmerischer Observanz, in den die These Sohms zu deuten scheint. Von diesem schwärmerischen Antinomismus her könnte allerdings ein protestantisches Selbstbewußtsein mit den zu Anfang genannten religiösen Bestrebungen konform gehen. Es könnte — wenn unser einziges Prinzip der Protestantismus wäre, wenn wir nicht zugleich auch Christen sein wollten, Urchristen. Was protestantischer Glaube demnach ist, das können wir nicht durch den Rückgriff auf unsere protestantische Tradition allein erkennen, noch weniger durch mehr oder weniger kräftigen Nomismus des ,Es werde Ordnung’ aus der Gegenwart erschließen, sondern hier muß eine ernste Überlegung stattfinden, inwiefern wir uns denn noch eigentlich Christen nennen können nach dem Jesus von Nazareth, der vor 1900 Jahren zu Jerusalem litt und starb.
Da ist es nun das zweite Mal, daß uns die anerkannte These Sohms zum heimlichen Verhängnis werden kann: das Urchristentum ist eine enthusiastische Größe. Wir sagten mit Bedacht: die anerkannte These Sohms. Denn wir wollen uns im folgenden nicht auseinandersetzen mit den verschiedenen Theorien über die Entstehung des Christentums überhaupt. Wir haben einsehen müssen, daß alle Auffassungen von der Entstehung des Christentums, vom Wesen des Urchristentums und von seinem zentralen Begriff der ekklesia dogmatischer Natur sind: festgelegt von einer gegenwärtigen Entscheidung für ein bestimmtes Verständnis des Evangeliums. Wir können uns demnach hier kurz fassen.
Indem Sohm das Urchristentum als enthusiastische Größe faßt und damit aller Ausdeutung der rechtlichen Strukturen seines ekklesia-Begriffs die Wurzel abschneidet, legt er schon das Fundament zu seinem Antinomismus in Sachen eines protestantischen Kirchenbegriffs. Wir erkennen seine rein rechtstheoretische These an, ohne den Weg in einen grundsätzlichen Antinomismus mitmachen zu können. Hier wird unser Abschied an Sohm konkret: wir benutzen ihn nur, um alle theologischen Meinungen von Urchristentum und Reformation auf ihre Stichhaltigkeit in Sachen eines konkreten Kirchenbegriffs zu prüfen. Jede pneumatokratische Ansicht von einem Gehalt der Kirche lehnen wir, sicher geführt durch die These Sohms, ab. Dieser These Sohms liegt aber wiederum eine bestimmte Metaphysik zum Grunde, sie ist ja nicht ohne weiteres ,Gottes Wort’. Diese Metaphysik der These Sohms lehnen wir zum Schluß auch ab: als Enthusiasmus schwärmerischer Observanz.
Was bleibt uns zur Bestimmung protestantisch-christlichen Glaubens in der Gegenwart? Wir können nur sagen, negativ und abschneidend: unsere Aufgabe ist zunächst, unser christlich-protestantisches
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Selbstbewußtsein aufzugeben, und zwar dies aus rein religiösen Gründen, nicht etwa, weil der Staat dieses Aufgeben von uns fordert. Indem wir unser Selbstbewußtsein aufgeben wollen und müssen, wissen wir uns getrennt von den genuinen Mystikern aller Zeiten, die gerade das Selbstbewußtsein ihrer Seele erhalten wollten, um mit dem Bewußtsein ihrer selbst, gereinigt von allen materiellen Süchten, nun das Arreton des wesenhaften Gottes zu erreichen. Dieses unser Selbstbewußtsein — als kirchliche Protestanten haben wir ein protestantisches Selbstbewußtsein — muß uns erst genommen werden im Leiden, in der Trübsal, im Tode, damit wir sprechen können: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände. Von vornherein ist klar, daß es von einer Widerfahrung unserer selbst, als welche das Gezwungenwerden zum Aufgeben unseres Selbstbewußtseins vielleicht beschrieben werden kann, keine rechtliche Aussage mehr gibt, noch weniger einen rechtlichen Schutz für dieses Widerfahrnis. Ist es doch das Recht selbst in seinem überindividuellen Gemeinschaftscharakter das an seinem Teile und zu seiner Zeit diese Widerfahrung über einen jeden von uns hereinbrechen läßt.
Unsere Erkenntnis, die wir aus einer neuerlichen Betrachtung der These Sohms gewinnen, ist schmerzhaft gering; sie ist nur negativer Art: es gibt kein protestantisches Kirchenrecht — dies ist die These Sohms; es gibt gar kein Recht als Recht für denjenigen, der mit Ernst ein Christ sein will — so müssen wir über die These von Sohm hinausgehen. Jede Meditation vor sich selbst als einem Märtyrer ist nicht christlich, denn eine solche Meditation schafft immer schon so etwas wie ein innerseelisches Recht zur Meditation. Das führt uns in die Geheimnisse des Selbstbewußtseins, das jeder Beanspruchung durch eine außerseelische Macht entzogen scheint. Dieses Selbstbewußtsein gerade ist es, das zum Schweigen gebracht werden muß — so lautet das fragende Bekenntnis der Berichte vom deutungslosen Tode für das menschliche Nichts des Jesus von Nazareth an uns, die wir mit Ernst Christen sein wollen.
Die verschiedenen Versuche, zu einem protestantischen Kirchenrecht und davor zu einem protestantischen Amtsbegriff zu kommen, kennen wir. Zu Anfang dieser Untersuchung wurden uns noch einige Versuche zu einer christlichen Metaphysik gezeigt, die einen spiritualistischen Rechtsbegriff nicht von sich aus fordern, ihm aber auch nicht abgeneigt sind. Wir haben erkennen müssen, daß gerade ein innerer Begriff des Rechts, der nicht mit dem äußeren zusammengeht, der also unangetastet gelassen wird von aller äußerlichen Rechtsordnung, gerade das ist, was in uns zum Schweigen gebracht werden muß, damit das unmythische Wort des wirklichen Gottes gehört werden könne. Diese letzte Einsicht weist uns hin auf die Schwierigkeit einer jeden individuellen Person, also auch auf die Sohms, die darin besteht, das auszudrücken, was man auf Grund seines mythischen Charakters — christlich-protestantisch gesagt: auf Grund der Erbsünde — gerade nicht sagen kann. Luther hat diesen Tatbestand schon im Auge gehabt, wenn er sagt: „Nicht der heißt mit Recht ein Theologe, der Gottes unsichtbares Wesen durch seine Werke wahrnimmt und versteht, — das
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wird an denen klar, die so waren und doch vom Apostel (Röm. 1, 22) töricht genannt wurden. Das unsichtbare Wesen ist seine Kraft, Gottheit, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte u.ä. Die Erkenntnis aller dieser Dinge macht nicht weise und würdig, sondern der heißt mit Recht ein Theologe, der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und im Kreuz dargestellt, begreift.”17)
Wir stehen in einer schweren Krise unseres protestantisch-christlichen Glaubens. Diese Krise ist immer schon mit unserem Selbstbewußtsein gegeben, das notwendig metaphysischer Natur ist, also als individueller Mensch den Ring des Menschseins universal und allgemeingültig begreifen will. Auf das Gebiet des Rechtes angewandt: der Mensch als Mensch drängt zur Gemeinschaftsordnung, zum Recht qua Recht. Wir sind Menschen — auch als protestantische Christen. Darum drängen wir hin zur Rechtsordnung unserer christlichen Gemeinschaft, obschon diese unsere christliche Gemeinschaft gerade kein Recht haben soll, sondern von Gott gehalten wird. Daraus folgt bei einem protestantischen Christen die Aporie jeglicher Rechtstheorie für seine christliche Gemeinschaft. Es ist überflüssig, zu betonen, daß das nur für den protestantischen Christen so ist. Für den katholischen Christen ist die Welt und mit ihr der Mensch von vornherein in einem organischen Zusammenhang mit dem wirklichen Gott, der immer der deus maior bleibt. Für den Katholiken löst sich alle Spannung zwischen den ius divinum und dem ius humanum in dem jubelnden gloria der Messe. Wir wissen uns getrennt von dem fraglosen Hymnus des Katholiken in seinem Bekenntnis zu seinem eigenen, von Gott gewollten Sein. Wir treten ab von der Bühne des Weltgeschehens, von der säkularen oder katholischen ,Theologie der Herrlichkeit’, nachdem uns eine Zeit langen Friedens unter einem landesherrlichen Kirchenregiment unsere eigentliche Aufgabe vergessen ließ: mit Christus die Worte zu spreche und ihnen wirklich nachzufolgen Matth. 9, 13: „Ich bin nicht gekommen zu rufen die Gerechten, sondern die Sünder.” Wer aber weiß um sein Sündersein?
17) Die 19. und 20. These aus der „Heidelberger Disputation” 1518. WA. 1, 353 ff., Übersetzung aus dem Lateinischen von G. Merz in „Zwischen den Zeiten” 1926, 3 ff.