Religion und Recht als theologische und kirchliche Gegenwartsfrage
Genre: Tijdschriftartikel
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Von Prof. D. Dr. Dedo Müller.
Die gegenwärtige rechtliche Lage der Kirche kann nur verstanden werden, wenn man sie als einen Sonderfall für die Krise ansieht, in der sich nun schon seit Menschenaltern das Verhältnis von Christentum und Kultur und darüber hinaus von Religion und Kultur befindet. Darin liegt die Schwere der hier aufgetretenen Verwicklungen, darin auch die grundsätzliche und die allgemein menschliche Bedeutung einer befriedigenden Lösung all der Einzelfragen begründet, die hier aufgebrochen sind. Es geht überhaupt um Sinn und Recht der Religion in der Welt, in der wir heute stehen. Jahrhunderte haben daran gearbeitet, das vom Mittelalter überkommene Verhältnis zwischen Religion und wirklicher Welt, zwischen Glaube und Leben, zwischen deutschem Volkscharakter und Christentum zu lösen. In zähem Ringen lernte ein Kulturgebiet nach dem anderen sich „autonom” verstehen: die Politik, die Wissenschaft, die Kunst, die Erziehung. Das Ende dieser ungeheuren Entwicklung war eine „Privatisierung” nicht nur des Christentums, sondern der Religion überhaupt, die ihnen jede konkrete Bedeutung für die kulturelle Gesamtleistung absprach. Die Kirche stand — das dürfte der beherrschende Eindruck ihrer Haltung sein — dem allen zu wenig verstehend, zu wenig aufgeschlossen, zu konservativ, zu starr, zu negativ gegenüber, so daß die Entwicklung über sie hinwegging und der Eindruck entstand, daß die kulturelle Schöpferkraft des Christentums erschöpft sei. An dieser Entwicklung hat das ganze Abendland teilgenommen. Da, wo die Kirche wie in England noch eine öffentliche Macht ist, hat sie doch der praktischen, der strukturellen Abkehr des Lebens vom Christentum nicht gewehrt, sondern sich nur damit abgefunden, ja, wie uns im Hinblick auf die Haltung etwa der anglikanischen Kirche gegenüber der skrupellosen Machtpolitik des eigenen Landes scheinen will, sich in ihren Dienst gestellt.
Die deutsche Gegenwart gewinnt ihr geistig-geistliches Gesicht durch das Innewerden dieser Lage. Das Wissen um die Notwendigkeit einer neuen Verbindung von Glauben und Leben, von Religion und Kultur ist erwacht. Auch die Kultur eines Volkes gründet zuletzt, so wissen wir, in den Quellbereichen echten religiösen Lebens. In dieses Erwachen spielt nun die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Christentum hinein. Offenkundig meinen nicht alle, die von Religion reden, das Christentum. Ja, nicht wenige lehnen es leidenschaftlich ab. Welchen konkreten Sinn also hat die neue Frage nach der Religion? Ist in ihr nur die letzte Stufe jenes Auflösungsprozesses erreicht, insofern nun auch das religiöse Bewußtsein sich vom Christentum emanzipiert? Oder ist die Stunde für eine neue Verbindung von Christentum und Kultur angebrochen? Wer heute die wirkliche Lage treffen und Klarheit über das Verhältnis
1) Nach einem in Dresden vor Pfarrern gehaltenen Vortrag.
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von Christentum und Welt gewinnen will, muß also den Bogen ganz weit spannen und darf der Frage nach dem Sinn des religiösen Erwachens unserer Tage nicht ausweichen.
In diese allgemeine und wahrlich nicht ganz einfache Lage stellen wir uns hinein mit der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Recht als einer theologischen und kirchlichen Gegenwartsfrage. Wir haben es in keiner Weise in der Hand, die Frage nach irgendeiner Seite hin zu entlasten oder zu vereinfachen. Es kann sich nur darum handeln, sie eben gerade in der ganzen Beziehungsfülle zu sehen, in der sie in Wirklichkeit steht.
Wir haben hier zunächst einen Blick auf das Selbstverständnis des Recht, also auf das Rechtsbewußtsein und die Rechtsphilosophie der Gegenwart zu werfen. Denn es muß uns wichtig sein, die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Religion nicht von außen an die Rechtswissenschaft heranzutragen, sondern zu erfahren, wie der Jurist selbst darüber denkt. Da fällt auf, daß das Problem der Beziehung von Religion und Recht, wenn auch zahlenmäßig sich „nur sehr wenige Juristen” ausdrücklich damit beschäftigen,2) doch neuerdings in sehr nachdrücklicher und gewichtiger Weise in den Bereich der rechtsphilosophischen Selbstbesinnung getreten ist.3)
2) Poppitz, Religion und Recht. Über ihr
Verhältnis nach der Lehre der gegenwärtigen deutschen
Rechtswissenschaft (Archiv d. öffentl. Rechts N.F. 1937 S. 129
ff.)
3) Nur einige hier in alphabetischer Reihenfolge
aufgeführte Beispiele seien herausgegriffen. Karl Th.
Buddeberg: „Gott und Souverän. Über die Führung des Staates
im Zusammenhang rechtlichen und religiösen Denkens” (Archiv d.
öffentl. Rechts 1937, 257 ff.). Hans Gerber, Leipzig:
„Die religiösen Wurzeln staatl. Autorität und Macht” (Deutsche
Theologie 1936 S. 141 ff.). „Über das Verhältnis von Religion und
Recht” (Ev. Diaspora 1938 S. 94 ff.). „Recht — Staat —
Bekenntnis. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Recht und
Religion, Staat und Kirche.” (Zeitschr. für Theologie und Kirche
1935 S. 97 ff.) „Das christl. Verständnis von Schöpfungsordnung
und Staatsordnung” (Dtsch. Theologie 1936 S. 219 ff.).
Günther Holstein: „Die Grundlagen des ev.
Kirchenrechts”, 1928. Arnold Köttgen, Greifswald:
„Glaube und Recht” (Lutherjahrb. 1935 S. 36 ff.). Hans
Liermann: „Deutsch. ev. Kirchenrecht”, Stuttgart 1933. —
„Göttl. Recht” (Luther. Kirche 1935 S. 52). „Recht u.
Sittlichkeit” (Archiv d. öffentl. Rechts 1938 S. 178 ff.).
Johannes Poppitz: „Religion u. Recht” a.a.O. — „Die
Grundfrage des Staatskirchenrechts. Der Anspruch des Staates und
das geistliche Wesen der Kirche.” Leipzig 1938. — „Bemerkungen
zur wissenschaftl. Problematik des Verhältnisses von Staat und
Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Theologie Karl
Barths” (Archiv f. ev. Kirchenrecht, N.F., S. 361 ff., Berlin
1937). Walther Schönfeld: „Der Positivismus und das
Kirchenrecht” (Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie, XXX., S.
14 ff.). Walter Simons: „Religion und Recht.” 1936.
Erik Wolf: „Richtiges Recht und ev. Glaube” (Nation vor
Gott 1937 S. 243 ff.). „Große Rechtsdenker der deutschen
Geistesgeschichte. Ein Entwicklungsbild unserer
Rechtsanschauung.” Tübingen 1939.
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Die erste Frage, die für diese rechtsphilosophische Besinnung bestimmend ist, ist das Wirklichkeitsproblem und wird von Poppitz so formuliert: „Gibt es Religion im Recht? . . . wirken sich im Rechtsleben und im Rechtsdenken religiös-metaphysische Elemente aus, vor allem, können sie den Gehalt des Rechts bestimmen? Gibt es geoffenbartes Recht? Lebt das Recht im letzten Grunde aus religiösen Quellen und wird es durch religiöse Haltungen bestimmt?”4) Dabei wird Wert darauf gelegt, daß diese Frage der Rechtswissenschaft nicht von außen aufgedrängt wird, „sondern aus der Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft heraus” „sich von selbst” stellt. „Diese hat sich im Kampfe gegen den Positivismus und seine ,rein’ juristische Methode auf de dem Recht innewohnenden5) Werte besonnen, die Wendung zum ,Rechtsidealismus’ gefordert und in die Wege geleitet und bekennt heute, daß aller Idealismus metaphysisch begründet sei.”6)
Diese Sätze lassen deutlich erkennen, daß es durchaus sachliche Gesichtspunkte sind, die das Problem Recht und Religion entstehen lassen. Es ist die Frage nach der Wirklichkeit, nach dem Ursprung und Wesen des Rechts, die hier zu einer Auseinandersetzung mit der Religion treibt. „Ein dunkles Gefühl sagt gerade uns Juristen heute, daß wir für unsere juristische Arbeit einen Untergrund suchen müssen, von dem aus wir bisher in der Regel nicht zu arbeiten pflegten”, sagt Arnold Köttgen.7) Der Jurist will mit der Frage nach der Beziehung von Recht und Religion dem Gebot der Sachlichkeit nicht untreu werden, er will es nur radikaler befolgen. In diesem Sinne redet Köttgen von „jenem für den zeitgenössischen Juristen so charakteristischen Fortdrängen von einem rein begrifflichen Denken, das uns blind gemacht hat gegenüber allem sachlichen Gehalt”, und das „ja schließlich nichts anderes als dieses Suchen nach einem neuen Fundament aller menschlichen Rechtssatzung” sei. Es ist das Recht selbst, das „mit der Unbedingtheit der in ihm zur Geltung kommenden Entschiedenheit über sich selbst hinausweist”.8) Es wird als „eine ernste Aufgabe der Staatslehre — vielleicht die ernsteste —“ angesehen, „die religiösen Wurzeln staatlicher Autorität und Macht aufzuzeigen”.9)
Es ist damit also klar zum Ausdruck gebracht, daß die Hinwendung der Rechtswissenschaft zum religiösen Problem keine einfache Preisgabe der Autonomie des Rechtsdenkens ist, die der nun abgeschlossenen letzten Epoche der Rechtsentwicklung das Gepräge gibt. Die Rechtswissenschaft hat „irgendwie ein Gefühl dafür bekommen, daß jene Säkularisierung der Rechtsordnung, die die Vergangenheit uns hinterlassen hat, kein letztes Wort sein kann”.10) Sie
4) Religion und Recht a.a.O. S. 129.
5) Sperrung von uns.
6) Religion und Recht a.a.O. S. 130.
7) Lutherjahrbuch 1935 S. 36.
8) Gerber, Über das Verhältnis von Religion und Recht
a.a.O. S. 100.
9) Gerber, „Die religiösen Wurzeln staatlicher
Autorität und Macht” S. 144. Sperrungen von Gerber.
10) Köttgen a.a.O., s. 36.
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radikalisiert deshalb ihre Frage nach dem Wesen des Rechts. Aber es kann keine Rede davon sein, daß sie ihre Autonomie zugunsten einer neuen heteronomen Überwältigung durch religiöse Gesichtspunkte wieder aufgäbe. „Die Menschlichkeit des irdischen Gesetzgebers ist eine unaufhebbare Tatsache. Die Geschöpflichkeit menschlicher Rechtssatzung kann daher nicht durch einen (zum mindesten nach evangelischer Auffassung illegitimen) Rückgriff auf übermenschliche Mächte verdunkelt werden.”11) In derselben Richtung der Sicherung der Sachlichkeit und Nüchternheit der rechtsphilosophischen Besinnung liegt der nachdrückliche Hinweis auf Luthers Wort: „Die Welt kann nicht nach dem Evangelium regiert werden!” „Darum ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelium regieren wollen, das ist ebenso, als wenn der Hirt in einem Stall Wölfe, Adler, Schafe zusammenbrächte und ließe alle frei untereinander gehen und spräche: da weidet und seid gut und friedlich untereinander, der Stall steht offen, Weide habt ihr genug, Hund und Keulen braucht ihr nicht zu fürchten. Hier würden die Schafe wohl Frieden halten und sich friedlich so weiden und regieren lassen, aber sie würden nicht lange leben und kein Tier vor dem anderen bleiben.”12) Findet sich hier also von vornherein jede religiöse Gefühlsschwärmerei entschieden abgewehrt, so versteht sich erst recht von selbst, daß auch jede machtmäßige Überwältigung der autonomen Rechtssphäre durch die organisierte Religion außer Frage steht. Hier wird nicht nur aller imperiale Machtwille der Kirche, sondern auch jede dogmatische Konstruktion abgelehnt, die zu seiner Fundierung dienen könnte. „Es gibt nach evangelischer Auffassung keinen Stellvertreter Gottes auf Erden, der in seinem Namen Recht setzen könnte, und es wäre daher eine Überschreitung der uns in unserer Menschlichkeit gesetzten Schranken, wollten wir etwa den Rechtscharakter dieser oder jener Entscheidung durch Berufung auf Gott und seine Allmacht unter Beweis stellen.”13) Diese Ablehnung jeder statisch-religiösen Rechtsbegründung ändert aber nichts daran, daß dem Rechtsdenken gerade dort, wo das Recht „aus seinem eigentümlichen sachlichen Gehalt heraus verstanden” wird,14) sich die Verankerung des Rechts in einer überzeitlichen Welt aufdrängt, die allein die Idee des Rechts vor Entartung bewahren kann. „Recht atmet ewige Gerechtigkeit!”15) „Das Zeitliche Wandelt mit dem unaufhaltsamen Schritt der Geschichte fort und jedes noch so nachdrücklich betonte Heute ist im Bereich der geistigen Entwicklung morgen schon ein Gestern.”16 Es ist also das Wirklichkeits-, das Ursprungsproblem, das hier zur metaphysisch-religiösen Fragestellung treibt.
11) Köttgen S. 44.
12) Von Gerber zitiert in „Die religiösen Wurzeln
staatlicher Autorität” (Deutsche Theologie 1936 S. 143 f.).
13) Köttgen, Lutherjahrbuch 1935 s. 44.
14) Köttgen, S. 45.
15) Gerber über das Verhältnis von Religion und Recht.
Ev. Diaspora 1938 S. 100.
16) Erik Wolf: Große Rechtsdenker, S. 566.
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Der zweite Anlaß zu einer Begegnung von Recht und Religion in der Rechtswissenschaft der Gegenwart ist das Entscheidungsproblem. Es ist eingesehen, daß der Positivismus mit seiner Gleichsetzung von Recht und staatlichem Gesetz die unausweichliche Frage nicht beantworten kann, wo eigentlich die letzte tragende Substanz, der eigentlich verpflichtende Gehalt des Rechts herkommt. Es geht dabei nämlich um „die Wertungen, die in jedem wirklichen Recht enthalten sind und sich hier im formalen Gewande eines Gebots oder Verbots auswirken sollen”.17) Es geht um die Frage, woher diese Wertungen kommen. Folgende Möglichkeiten der Beantwortung dieser Frage scheiden heute aus:
a) Die Antwort des Liberalismus, der eine personale Ableitung vom Individuum, vom Menschen her versucht. Hiergegen spricht die geschichtliche Erfahrung des Parlamentarismus. Er ruhte auf der „grundsätzlichen Gegensätzlichkeit von Staat und Recht”. „Die vornehmste Aufgabe der von diesen Parlamenten erlassenen Gesetze” mußte „die Beschränkung des Staates zugunsten der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Glieder” sein. „Eingriffe in Freiheit und Eigentum bilden den typischen Inhalt der damaligen Rechtsnorm”.18) Das Ergebnis mußte die Zerstörung der das Leben tragenden Ordnungen zugunsten einer schrankenlosen Freiheit des Individuums sein. Bezeichnend, daß von hier aus „elementare Eingriffe in die individuelle Existenz”19) nicht mehr gewagt werden — wofür die Abschaffung der Todesstrafe, überhaupt die Umwandlung der Strafe in Erziehung das markanteste Beispiel ist.
b) Unmöglich ist auch die Antwort des Rechtspositivismus, für den Recht und staatliches Gesetz identisch sind. Hier läuft letztlich alles auf das „sic volo, sic iubeo” hinaus. Damit aber kann keine wahre Autorität begründet werden. Hier bleibt die Frage unbeantwortet, woher eigentlich die Verbindlichkeit aller gesetzlichen Vorschrift für den Unterworfenen kommt. Hier läuft alles auf die ultima ratio des Zwanges hinaus. Dieser Rückgriff aber auf die reine Faktizität des Rechts, also auf den Satz: „Recht gilt lediglich, soweit es sich in der Wirklichkeit durchzusetzen vermag”,20) ist doch nur das Eingeständnis, daß eine wirkliche Substanz fehlt.
c) Unmöglich ist auch die Antwort der Naturrechtstheorie im Sinne der Stoa und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die „von der zeitlichen Bedingtheit des Rechts, von ihrer völkischen und geschichtlichen Gestalt” abstrahiert.21) „Ein Naturrecht, das nur in den Sternen hängt, ist ein Recht ohne Praxis und damit Nichtrecht.”22)
Von hier aus läßt sich vor allem der Geschichtswandel des Rechts nicht begreifen. „Es gibt kein Recht, das, den Einflüssen von Zeit und Raum entzogen, ewige Geltung hätte.”23) Es gibt nur Recht,
17) Köttgen, S. 46.
18) Köttgen, S. 39.
19) Köttgen, S. 43.
20) Köttgen, S. 40.
21) Poppitz, Religion und Recht, S. 143.
22) Poppitz, S. 150.
23) Köttgen, S. 47.
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das sich „notwendig vom Menschen her bestimmt und sich daher mit diesem Menschen wandeln muß’.24) Ebenso wissen wir aus unserer historischen Erfahrung, „daß alles Recht ich in einem Volke und mit einem Volke wandelt und wandeln muß, wofern es seine soziale Aufgabe erfüllen soll”.24) Es kann kein ewiges unwandelbares Recht geben, „weil wir Menschen Gottes Weisungen immer nur in den Grenzen unserer Existenz zu begreifen vermögen”.24)
d) Schließlich ist hier auch die Flucht in ein autoritativ festsetzbares ius divinum verwehrt, wie es die katholische Kirche für möglich hält. Es gibt kein „geoffenbartes Recht”. Auch hier wird der Menschlichkeit des Rechts, dem Wandlungscharakter aller irdischen Verhältnisse nicht oder doch nur auf dem Wege eines das Prinzip im Grunde preisgebenden Kompromisses Rechnung getragen. Man denke auch an die verhängnisvolle Konservierung und Verabsolutierung irdischer Rechtsverhältnisse durch die Kirche und die sich von da aus ergebende Beziehungslosigkeit zu allem vorwärtsdrängenden Gestaltungswollen des völkisch-politischen Lebens.
Die rechte Antwort auf die Frage nach der tragenden Substanz kann nur lauten: das Recht ruht zuletzt auf einer Entscheidung, die nicht rational begründbar und nur glaubensmäßig vollziehbar ist. Es ist die Entscheidung für einen letzten Sinn des Lebens, für ein also mit gläubiger Inbrunst ergriffenes Fundament alles Seins. „Die Gemeinschaft ist in die Entscheidung gestellt!” Das Recht ist „Funktion substantiell bestimmter Gemeinschaft”. „Aber da diese eben zunächst nur verborgene Möglichkeit ist, so kommt sie erst in der Entscheidung über sich selbst zutage.”25) „Eine Rechtsordnung ohne Gott” ist „sinnlos”.26)
Nicht minder dringlich ist die dritte Frage nach der Religion, die sich auf die Verwirklichung des Rechts bezieht. Auch hier wird heute gesehen, daß es ohne eine irgendwie geartete religiöse Orientierung nicht geht. Das hängt mit dem Vorhergehenden auf das engste zusammen. Es werden „die religiösen Wurzeln staatlicher Autorität und Macht” wiederentdeckt.27) Es geht hier um die Tatsache, daß die Rechtsverwirklichung in der Geschichte immer in irgendeinem Sinne mit dem Staat zusammenhängt, daß der Staat aber Macht ist. „Macht ist das Prinzip des Staates, wie der Glaube das Prinzip der Kirche und die Liebe das der Familie ist” (H. v. Treitschke). Dabei steht fest, daß die einfache Identifizierung von Staat und Recht im Sinne des Rechtspositivismus unmöglich ist. Der Staatsrechtler Gerber macht in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von potestas und auctoritas. Potestas bezeichnet „Kompetenz, eine Zuständigkeit innerhalb der staatlichen Ordnung, eine Amtsbefugnis sachlicher Art”; potestas ist Amt. Aber ein
24) Köttgen, S. 47.
25) Gerber, Recht — Staat — Bekenntnis, S. 108.
26) Liermann in „Lutherische Kirche” 1935 S. 53.
27) Gerber in „Deutsche Theologie” 1936 S.
141.
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Gefüge von Ämtern ist noch kein Staat, „ein Bündel von Zuständigkeiten keine politische Macht”.28) Es muß noch auctoritas, „Befehlsgewalt”, hinzukommen. Aber das ist keineswegs nur „die äußere Amtsbefugnis, die einfache Trägerschaft einer staatlichen Funktion”, sondern „ein Gewichtigkeit, eine bestimmte Wirkungsmächtigkeit, die gewisse Träger eines Amtes haben”. Es ist die „innere Wirkungsmächtigkeit des Amtsträgers”29) — wie ja auch das deutsche Wort Autorität „die Geltungskraft einer Person”29) bezeichnet.
Es wird nun gesehen, daß die auctoritas nicht einfach aus der potestas abzuleiten ist. Sie kommt nicht ohne weiteres aus dem Amt. „Sie muß einen eigenen Grund haben.”29) Er liegt in folgendem: „Politische Führung bedeutet sachlich Wegweisung im Leben einer staatlich verfaßten Gemeinschaft.”30) Denn sie ist eine „Einheit unter einer Vielzahl von ,freien’ Einzelnen”. „Einheit unter Menschen” aber „ist stets freie Gestaltung”.30) Voraussetzung dafür ist das „Selbstverständnis” der Gemeinschaft. Eine ungeheure Aufgabe! „Gemeinschaft ist Einheit unter Menschen als freien Persönlichkeiten.”31) Will Gemeinschaft in der Wirklichkeit bestehen, muß sie sich den Weg dazu innerlich bahnen. Zweierlei gehört zu solchem Selbstverständnis: „Wissen um die Möglichkeiten des Gemeinlebens” und „die Gewißheit von der Sinnhaftigkeit solch möglichen Seins”.31) Der Freie steht vor Möglichkeiten und „unter einem verpflichtenden ,Soll’” „absoluten, d.h. menschlicher Willkür entrückten Sinnes”. „Gemeinschaft führen bedeutet daher, einer Vielzahl von Menschen nicht nur die Möglichkeiten übergreifenden Gemeinlebens zeigen, sondern vor allem, sie von der absoluten Sinnhaftigkeit solcher Wegweisung überzeugen.”31) „Alle politische Führung ist und muß sein entscheidendes Bekenntnis zu der absoluten Sinnhaftigkeit der Gemeinschaftsmöglichkeit, die zu verwirklichen sich die Führung zum Ziel gesetzt hat.”31) „Der Träger eines Führungsamtes in der staatlich verfaßten Gemeinschaft muß mit seiner Haltung das Bekenntnis zum letzten Sinngrunde des Gemeinlebens, dem er dient, vertrauenswürdig zur Geltung bringen”,32) sonst gibt es keine Gefolgschaft, keinen Gehorsam, keine Fügsamkeit, keine Willigkeit, sondern nur Anordnung und Befehlsanspruch. Sonst gibt es keine Verwirklichung wahrer Gemeinschaft, sondern nur Tyrannis oder Diktatur oder Fremdherrschaft. Zugleich stößt das Rechtsdenken — einmal aus der positivistischen Verkrampfung gelöst — auf die Tatsache, daß die Rechtsidee nie rein verwirklicht wird. „Das positive Recht ist die Gerechtigkeit in Knechtsgestalt.” Es gehört geradezu zum Wesen des positiven Rechts, „ebenso sehr gerecht wie ungerecht zu sein, weil keine Wirklichkeit ihre Idee jemals voll erreicht”.33) „Die Idee ist, da sie in unsere Hände gerät, nie ganz wirklich.”34) Damit ist die
28) Gerber, S. 144.
29) S. 145.
30) S. 146.
31) S. 147.
32) S. 147 f.
33) Schönfeld über den Begriff einer dialektischen
Jurisprudenz 1929 S. 13; zitiert auch bei Poppitz, Religion und
Recht, S. 150.
34) Poppitz, S. 150.
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Frage der Verwirklichung in ihrer konkretesten Bedeutung gestellt. Und gerade so drängt sie wieder zu metaphysisch-religiöser Besinnung.
Damit sind einige der Ansatzpunkte für die Erörterung des religiösen Problems in der Rechtsphilosophie der Gegenwart bezeichnet. Es fragt sich nun, was dieser Sachverhalt theologisch bedeutet. Wie kann es von dieser religiösen Fragestellung aus zur Begegnung mit christlicher Theologie und christlichem Glauben kommen? Diese grundsätzliche Frage will auch dann noch gestellt sein, wenn bei den „sehr wenigen” Juristen, die sich heute „ausdrücklich mit der Frage des Verhältnisses von Religion und Recht beschäftigen”,35) die Geneigtheit zu solcher Begegnung besteht. Denn auch sie sprechen ganz deutlich von einer Bedingung: die Sachlichkeit des Rechtsdenkens darf nicht aufgehoben oder auch nur angetastet werden. Es gibt heute keinen Juristen, der sich mit der religiösen Frage etwa deshalb beschäftigte, weil es eine Kirche gibt oder weil das von der Kirche gewünscht wird. Der einzige Grund für das Auftauchen der religiösen Frage in der Rechtsphilosophie ist vielmehr eine vertiefte Sachlichkeit. Es fragt sich, ob christlicher Glaube und christliche Theologie sich damit abfinden können. Denn ihnen geht es ja doch nicht nur um die religiöse Frage als eine im Menschen aufbrechende Möglichkeit. Ihnen ist es um die ganz bestimmte Antwort auf die religiöse Frage zu tun, die, wie sie überzeugt sind, Gott selbst in Christus gegeben hat. Ist es aber von da aus möglich, jenes Kriterium der Sachlichkeit anzuerkennen, das von juristischer Seite aus so unmißverständlich als einzig zulässiger Grund zur Erörterung der religiösen Frage bezeichnet wird?
Vom Begriff der Begegnung her kann die Frage noch schärfer gefaßt werden. Ist das Christentum, sind christlicher Glaube und christliche Theologie wirklicher Begegnung fähig, oder müssen sie etwa, um sich nicht selber aufzugeben, entweder auf Unterwerfung oder, wenn das nicht mehr möglich ist, auf Selbstabkapselung bestehen? Daß sie heute unter Berufung auf mannigfaches Versagen in der Geschichte weithin wirklichere Begegnung für unfähig gehalten werden, kann nicht wohl bezweifelt werden. Man sieht die Kirche als „gesonderten Lebensraum”, der beziehungslos neben Kultur und Geschichte steht und jede verstehende Auseinandersetzung mit der Umwelt ablehnt.36) Demgegenüber ist hier nun die Wesensfrage
35) Poppitz, Religion und Recht a.a.O. 130.
36) So erhebt etwa Ernst Krieck in seiner
„Völkisch-politischen Anthropologie” 1936 im Unterschied von der
hoffnungsvolleren Anschauung, die er in seiner letzten Schrift
„Volkscharakter und Sendungsbewußtsein” 1940 vertritt, die
Anklage: „Die christliche Kirche ist der Ursünde der Absonderung
verfallen. Es war geschichtlich notwendig, daß die Kirche als ein
gesonderter Lebensraum für sich entstand, als das römische
Imperium die Völker um das Mittelmeerbecken entweder in ihrem
Eigenleben zertreten oder sie mit Vernichtung ihrer politischen
Funktion, ihrer Selbständigkeit in Verfall ➝
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zu stellen. Sie allein kann entscheiden — auch über das empirische Verhalten der Kirche. Es gehört zum Wesen der reformatorischen Kirchenauffassung, daß die Kirche sich immer neu ihrem Ursprung verbinde und von daher erneuere. Entspricht es also dem Wesen christlichen Glaubens und christlicher Theologie, für echte Begegnung offen zu sein? Dürfen sie sich resigniert in sich zurückziehen, oder auf Überwältigung und Unterwerfung bedacht sein? Die Frage stellen, heißt sie beantworten. Begegnung schließt folgende Verhaltensweisen aus: Feindseligkeit, Gleichgültigkeit, Verständnislosigkeit, Vergewaltigungs- und Vernichtungsabsicht. Das alles sind Verhaltensweisen, die dem christlichen Glauben wesensmäßig versagt sind. Nur um den Preis der Selbstpreisgabe könnte er sich so verhalten. Schon vom Liebesgebot her wird das unmittelbar anschaulich. Den anderen lieben heißt zum mindesten, ihn verstehend ernst nehmen. Für dieses Gebot gibt es keine Grenzen. Es ist unbedingt. Es gilt auch dem Feinde. Hier könnte dann freilich die andere Gefahr echter Begegnung auftauchen, daß nämlich Liebe im Sinne des christlichen Glaubens schwärmerische Selbstpreisgabe wäre. Es ist aber deutlich, daß es sich dabei um ein moralistisches Mißverständnis handelt.37) Denn Liebe im Sinne des christlichen Glaubens will ja zuletzt nichts anderes sein als die Einstrahlung der Liebe, mit der Gott uns liebt, in das Element der menschlichen Verantwortung und des zwischenmenschlichen Verhaltens. Liebe im christlichen Sinne des Wortes kann überhaupt nur theologisch, nicht moralisch beschrieben werden. Dann aber schließt das Liebesgebot auch das Moment der unbedingten Freiheit dem anderen gegenüber in sich. Mit derselben Souveränität, mit der Gott seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte (Matth. 5, 45) soll hier der Mensch dem Menschen begegnen aus einer letzten strömenden Lebensfülle heraus, die unabhängig ist von dem, was der andere tut. Von da aus gesehen muß nun gesagt werden, daß dem christlichen Glauben eine geradezu unbedingte und unbegrenzte Begegnungsbereitschaft und -vollmacht wesenseigentümlich ist. Mit der Bereitschaft und Vollmacht der Begegnung steht und fällt christlicher Glaube. Hier liegt ebenso der Grund seiner Wirksamkeit wie seins Versagens in der Geschichte.38)
➝ getrieben hatte, da mit der politischen Funktion auch
die religiöse Lebensmitte der Völker zerbrochen war und sie zu
einem bloßen unschöpferischen Vegetieren herabgedrückt worden
waren. Da erstand die Kirche als religiöses Imperium als
Gegenbereich gegen Rom, um sich dann selbst als neues Rom, als
neues imperiales Lebens- und Herrschaftsbereich aufzutun. Seitdem
ist Religion zum Mittel für den Zweck priesterlicher Herrschaft
herabgesetzt worden.” S. 61.
37) Es wäre einer Untersuchung wert, inwieweit hinter
der Säkularisierung der letzten Jahrhunderte nicht auch eine
Selbstpreisgabe der Kirche steht, die auf dieses Mißverständnis
des Liebesgedankens zurückgeht, nach dem Liebe heißt, ganz auf
den Boden des anderen hinübertreten, ihm das Feld überlassen, mit
allem einverstanden sein, was er tut und redet.
38) Auch in bezug auf die von Ernst Krieck
bezeichneten geschichtlichen Entwicklungen wäre zu fragen, ob
jene auch von ihm als berechtigt ➝
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Wie kann es nun von da her gesehen heute zu wirklichen Begegnung zwischen Recht und Religion, zwischen Rechtsphilosophie und Theologie kommen? Die religiöse Voraussetzung dafür ist in dem Pauluswort bezeichnet: „Wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knechte gemacht, auf daß ich ihrer viele gewinne . . . Ich bin jedermann allerlei geworden . . . Solches aber tue ich um des Evangeliums willen, auf daß ich sein teilhaftig werde.” (1. Kor. 9, 19, 22 f.). Gerade die tief verstandene und voll ausgelebte Verpflichtung Gott gegenüber bedeutet hier unbedingte Offenheit gegenüber dem Menschen. Anteil am Evangelium gibt es nur in der unbedingten und unbegrenzten Begegnungsbereitschaft. Damit ist die Grundverfassung bezeichnet, die auch die unerläßliche Voraussetzung echter Begegnung zwischen Glaube und Recht in der gegenwärtigen Stunde deutscher Geschichte darstellt. Es wird sich jetzt für uns nur darum handeln müssen, diese Grundverfassung noch weiter zu entfalten und zu konkretisieren. Der Christ, der Theologe muß dem Juristen ein Jurist werden, um Anteil am Evangelium zu bekommen. Es handelt sich dabei um eine Abwandlung des Grundproblems der Verwirklichung, der Fleischwerdung des Evangeliums — letztlich um das Mysterium der Leibwerden Christi, die sich ja doch nicht un dem einmaligen geschichtlichen Ereignis der irdischen Existenz Jesu erschöpfen, sondern, auch nach den Aussagen des 2. und 3. Artikels, als das fortwirkende, nun bis an das Ende aller Tage währende, sich also auch nie erschöpfende Urgeheimnis aller Geschichte erweisen will. Danach bin ich also nicht schon darin Christ, daß ich in Dogma und Bekenntnis um die Offenbarung Gottes in Christus weiß, sondern erst so, daß mir Christus zum schaffenden Urwort wird, das mich wandelt und in mir Gestalt gewinnt. Es geht nicht um Worte, es geht um das Wort. Christus will von mir als das „Licht der Welt” verstanden und erfahren sein, das mich durchstrahlt und das seine Leuchtkraft an all den wechselnden Inhalten des Weltlebens erweisen will, die der Wandel der Geschichte hervorbringt — so wie ja auch die Sonne ihre Strahlungskraft an schlechterdings allen Weltinhalten erweist, auf
➝ anerkannte Übernahme römischen Erbes nicht auf echter Begegnungsbereitschaft beruhte — und von dem Augenblick an unfruchtbar wurde, als sie schwand. Krieck selbst ist hier zu neuen Einsichten gelangt, wenn er in seinem letzten Buche sagt: „Es gibt keinen Gegensatz zwischen deutschem Volk und Christentum und darf keinen geben . . . Eines darf von allen Seiten her nie vergessen werden: die Germanen haben seinerzeit von dem vielgestaltigen und vielspältigen Christenglauben das übernommen, was ihrem angeborenen Glauben und rassemäßigen Weltanschauen gemäß war. Das gilt nicht nur für den sogenannten Arianismus der Goten, sondern ebenso für das benediktinische Christentum in den ersten Jahrhunderten des Reiches, bis die sogenannte kluniazensische Reform antigermanische Wege gegen das Reich ging. Viel enger und größer gehen rassische Art und christlicher Glaube zusammen bei Luther. Es gibt da keinen echten, in den Grund dringenden Gegensatz zwischen dem Deutschtum und dem Christentum, sondern eine Gemeinsamkeit der Grundhaltung, wie das vorliegende Buch erneut nachweist” (Volkscharakter und Sendungsbewußtsein 1940 S. 164).
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die ihr Licht fällt. Diesen Wandlungs-, Durchleuchtungs- und Durchwärmungsprozeß gilt es zu beschreiben. Wir wollen es mit dem Begriff der Haltung versuchen. Er will zweierlei besagen. Einmal, daß es sich um eine Wesensbestimmtheit des Menschen handelt. Der Begriff der Haltung will der Abspaltung des gläubigen Bewußtseins vom Gesamtleben entgegen wirken. Dogmatische Korrektheit reicht zu fruchtbarer Begegnung nicht aus. Ihre Fruchtbarkeit entscheidet sich nicht schon an dem, was wir reden — so wenig gleichgültig es ist —, sondern erst an dem, was wir sind. Es geht um die Ergriffenheit des Gemütsgrundes von Christus und um die Rückstrahlung dieser Ergriffenheit in unser Verhalten. Von christlicher Haltung werden wir nur dort reden, wo die Christlichkeit sich auch im Schweigen bewährt. Es geht um die Einstrahlungskraft des Glaubens.
Sodann aber spricht der Begriff der Haltung von der Indirektheit der Bezeugung des Glaubens. Das eben ist das Wesen der Gestalt. An ihr wird alles bis in ihre Leibhaftigkeit hinein zum Medium für einen innersten Sinn und Gehalt. Es geht insofern um die Rückstrahlungskraft des Glaubens.
Wir beschränken uns dabei hier auf die Frage nach der dem christlichen Glauben gemäßen Geisteshaltung, die in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsdenken der Gegenwart ja vornehmlich in Frage kommt.
Wir wollen sie mit den drei Begriffen: unbedingt realistisch, unbedingt kritisch und unbedingt konkret erläutern. Es handelt sich im ganzen also um die Einstrahlung des Glaubens an den Gott des Evangeliums Jesu Christi in das Denken. Im christlichen Glauben handelt es sich um das „hängen und verlassen” (Luther) des Herzens auf einen Gott, der heilig ist, also jenseits ebenso aller menschlichen Denk- wie aller kultischen oder sittlichen Darstellungsfähigkeit liegt. „Was Gott ist, wird in Ewigkeit kein Mensch ergründen” (C.F. Meyer) — diese Erfahrung findet hier ihre nachdrückliche Bestätigung. „Gott ist großer als unser Herz” (1. Joh. 3, 20). Die ganz und gar dynamischen Folgen, die sich daraus für das menschliche Denken ergeben, sind unübertrefflich plastisch und zum Ablesen deutlich von Luther beschrieben, wenn er sagt: „Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner, nichts ist so groß, Gott ist noch größer, nichts ist so kurz, Gott ist noch kürzer, nichts ist so lang, Gott ist noch länger, nichts ist so breit, Gott ist noch breiter, nichts ist so schmal, Gott ist noch schmäler und so fortan ist’s ein unaussprechlich Wesen über und außer allem, was man nennen und denken kann.”39) Deutlich ist hier zunächst, daß das menschlicher Denken nie an die Wirklichkeit Gottes heranreicht. Aber es gewinnt für die Erkenntnis Gottes gleichwohl die Bedeutung eines indirekten Ausdrucks- und Erkenntnismittels. Ich kann die Jenseitigkeit Gottes erst dann wirklich überzeugend erfassen und aussprechen, wenn ich alle Möglichkeiten der empirischen Wirklichkeitserkenntnis erschöpft habe. Es ist, wie wenn ich auf den Horizont zu laufe und erst im
39) WA. 26, 339, 39 ff. 33.
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Laufen immer neu erkenne, daß er mir stets wieder entweicht. Ein nicht mehr entweichender Horizont wäre kein Horizont mehr. So befreit auch erst die immer neue Bereitschaft zum Ausmessen aller Denkmöglichkeiten von der Illusion, als ob Gott gedacht werden könnte.
Die intellektuelle Haltung, die sich daraus ergibt, stellt sich also nun zuerst als unbedingter Realismus dar. Und zwar wollen wir von unbedingtem dialektischem Realismus reden. Das menschliche Weltdenken vollzieht sich hier nämlich immer unter der Perspektive des göttlichen Weltdenkens. Die Welt wird begriffen nach Möglichkeit so, wie sie von Gott gedacht wird. Sie wird als die Schöpfung Gottes gedacht. Die empirische Wirklichkeit wird hier also immer auf Gott als die letzte überempirische Urwirklichkeit bezogen. Gott erscheint in der wirklichen Welt, aber er erschöpft sich nie in der wirklichen Welt. Die empirische Welt will hier also als die von Gott gedachte und geschaffene Wirklichkeit unbedingt ernst genommen, aber sie will nie mit Gott verwechselt sein. Das bedeutet in seinen denkerischen Konsequenzen einen unbedingten dynamischen Realismus. Der Denker weiß hier, daß es darum geht, die Wirklichkeit so zu begreifen, wie Gott sie begreift — und daß nur Gott selbst sie ganz begreifen kann. Wir können die Welt im Grunde nie so denken wie sie ist, wir können aber wissen, daß sie von Gott gedacht wird. Das bedeutet zugleich Grenze menschlichen Denkens und denkbar mächtigsten Denkanbrieb, wie bei der Wanderung auf den Horizont zu. Zugleich Demut und höchste Aktivität. Uns ist eben die Aufgabe gestellt, den Gedanken, die Gott in seiner Schöpfung denkt, so nahe zu kommen, als es möglich ist — d.h. unter Ausnutzung aller menschlichen Denkmöglichkeiten. Die menschliche Denkleistung kann hier nie den Anspruch erheben, identischer Ausdruck der gottgeschaffenen und -gewollten Wirklichkeit selbst zu sein. Sie ist bestenfalls ein stammelndes Nachreden des göttlichen Schöpfungswortes, für das wir den höchstmöglichen Grad von Genauigkeit und Beziehungsnähe anzustreben haben, ohne doch je die völlige Entsprechung erreichen zu können.
Das bedeutet für die Begegnung mit dem Rechtsdenken einen höchstmöglichen Grad von Ehrfurcht, von Nüchternheit und über allem von Demut. Beides: es müssen all die irdischen Realitäten gesehen werden, die zum Wesen des Rechts gehören. Hier will also alles, was dem Gesprächspartner wichtig ist, liebend ernst genommen sein. Hier darf sich eine Theologie des Rechts nicht vom Rechtspositivismus übertreffen lassen, dem an einer Abtrennung des Rechtsdenkens von aller Metaphysik gelegen war, weil er in ihr die Nüchternheit des Rechtsdenkens bedroht sah. Zugleich muß aber aller Zusammenhang eben dieser irdischen Realitäten des Rechts mit den letzten göttlichen Geheimnissen anerkannt werden da, wo sie sich etwa in der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit aufdrängen, so beunruhigend und undeutbar sie auch sein mögen.
Die konkreten Konsequenzen eines solchen unbedingten dialektischen
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Realismus können hier nur angedeutet werden. Sie seien nur insoweit erläutert, als an ihnen die Möglichkeiten echter Begegnung beispielhaft deutlich werden können. Zunächst ist zu sagen, daß eine christliche Theologie des Rechts alle Ergebnisse der Rechtsphilosophie ihrer Zeit aufnehmen wird, die zur Erkenntnis des wirklichen Rechts etwas beitragen. Alle aus echtem Wahrheitswissen stammenden Feststellungen gehen in das theologische Bewußtsein ein, das hier zu einem unbedingt universalistischen Realismus verpflichtet ist. Hier begegnen wir uns mit einer Zuordnung von Philosophie und Religion wie Max Wundt sie gegeben hat, der der Philosophie eine Stelle innerhalb der Religion anweist. Ihm ist es „eine unmögliche Auffassung, daß die Philosophie eine vollkommen selbständige, von der Religion unbedingt losgelöste Weltansicht begründe, eine Rückkehr zu dem Satz von der doppelten Wahrheit, dessen Behauptung zu allen Zeiten nur ein Ausdruck der Verzweiflung gewesen ist, weil man anders die religiösen Wahrheiten vor der vordringenden Macht neuer philosophischer Einsichten nicht glaubte retten zu können. Die große Linie des christlichen Denkens bei den germanischen Völkern ist aber ganz wesentlich durch den Kampf gegen diesen Satz und die fortgesetzten Versuche, ihn zu überwinden bestimmt”.40) Man kann diesen Sachverhalt von jeder Rechtsphilosophie aus verdeutlichen. Man mag etwa an die von Rudolf Stammler hervorgehobenen Wesensmerkmale denken, der das Recht als „einheitliches Ordnen” und als „verbindendes Wollen”41) versteht und seinen „unbedingten Gültigkeitscharakter”42) hervorhebt. Auch keiner der Züge, die die positivistische Rechtsphilosophie feststellt, darf der theologischen Besinnung unwichtig sein. Man mag hier an die Anliegen denken, die etwa bei Rudolf Sohm in der Neutralität des Rechtsbegriffs, in der Technizität des Rechts und in der Wissenschaftlichkeit des Rechts gemeint sind. Die Theologie soll ja nicht an die Stelle der Jurisprudenz treten, sie soll die Jurisprudenz nur unbedingt ernst nehmen und ihr dazu verhelfen wollen, sich selbst unbedingt ernst zu nehmen. Unbedingt ernst nehmen heißt aber hier, schlechterdings alles empirisch Wirkliche am Recht anerkennen, aber dieses empirisch Wirkliche zugleich in seiner unabdingbaren, sachgegebenen dialektischen Bezogenheit auf seinen letzten Sinn und Ursprung sehen.
Das gilt nun auch in bezug auf die Realitäten, die für die konkrete Rechtsfindung und -verwirklichung entscheidend sind: Person (Individuum), Volk und Staat. Wieviel hier an der Universalität der Betrachtung liegt, wird daran deutlich, daß
40) Idealismus und Christentum,
BlfDeutschePhil. Bd. II Heft 2 (1928) S. 154 ff., zit. bei Joh.
Poppitz, Religion u. Recht, im Archiv des öffentlichen Rechts Bd.
28 S. 141.
41) Lehrbuch der Rechtsphilosophie 1922 S. 50: „Das
Recht bedeutet eine eigene Art, menschliches Zusammenleben zu
führen.”
42) S. 52 f.: „Der Rechtsbegriff bedeutet nichts als
ein Verfahren des Ordnens. In diesem Sinn ist er von unbedingter
Gültigkeit.”
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die aufklärerisch-humanistisch-liberalistische Rechtsphilosophie offenbar nur das Individuum, der Positivismus nur den Staat mit seiner Zwangsgewalt gesehen hat. Eine einseitig kollektivistische Heraushebung des Volkes würde in derselben Richtung liegen. Nur die richtige Zusammenschau aller dieser Faktoren kommt dem Phänomen des Rechts wirklich bei. Aber hier zeigt sich nun wieder, wie entscheidend es ist, daß auch über die Zusammenschau dieser Faktoren hinaus die Sinn- und Ursprungsfrage unverkürzt gestellt wird. So genügt es etwa nicht, die empirische Bedeutung des Individuums für Rechtsfindung und Rechtsverwirklichung erkannt zu haben. Es ist gewiß nicht bloßes Rechtsobjekt. Es ist verantwortlicher und zur Entscheidung aufgerufener Rechtsträger, von dessen Willigkeit es abhängt, ob das Recht sich verwirklicht; aber es steht auch seinerseits in existentieller Abhängigkeit von der inneren Bejahung und Hingabe an den Sinn des Rechts, das allen autarkischen Individualismus überwinden und der Gemeinschaft einordnen und verbinden will. Und das ist ein Sachverhalt, der nur metaphysisch aufgehellt werden kann. Köttgen hat im Hinblick hierauf mit Recht gesagt, daß „jede echte Rechtsordnung streng heteronome Ordnung”43) ist. „Die Aufgaben werden den Volksgliedern gestellt und nicht von ihnen gestellt, denn es ist über sie verfügt.”43a) So muß sich im Individuum immerfort der Ausgleich zwischen Freiheit und Gebundenheit vollziehen. Und das stellt nun eben vor die Ursprungsfrage. „Das innerste Wesen aller Individualität ist Geheimnis.” „Die Frage, wie es zur Begründung individueller Lebensexistenz kommt, ist uns Menschen unbeantwortbar.”44)
Ebenso stellt das Volk vor die Ursprungsfrage. Das Volk ist „soziale Individualität”. Ihrer bedarf das Volk zu seiner inneren Geschichtsmächtigkeit. „Unter sozialer Individualität ist eine übergreifend, den ganzen Menschen beanspruchende eigene Lebensganzheit zu verstehen, die aus schicksalhafter Bestimmung, nach dem Walten der Vorsehung, aus einem unbedingten Schöpferwillen — oder wie wir es sonst bezeichnen wollen — zur Wirklichkeit in der Welt kommt und in dem auf dieses Ganze hin und dabei einander zugeordneten Leben einer Vielzahl von Menschen sich gestaltend durchsetzt.” Soziale Individualität, also auch Volk, ist „seinem Urgrund nach Geheimnis der Schöpfung”.44)
Der Staat wiederum ist der Ort der realen Rechtsverwirklichung. Weder das Individuum, noch die Familie, noch das Volk können Recht aus eigener Souveränität verwirklichen. „Das Schwert ist die Kraft und die wirkende Macht, ja geradezu das Leben des Gesetzes, welches die Bösen hindert und die Guten schützt. In summa werden wir also hier gelehrt: Wo Gesetz gegeben wird, da muß zugleich das Schwert eingesetzt werden, damit das Gesetz lehre, was
43) Glaube und Recht. Lutherjahrbuch 1935, S.
43.
43a) Poppitz, Religion und Recht S. 146.
44) Gerber, Volk und Staat. Grundlinien einer
deutschen Staatsphilosophie, Zeitschrift für deutsche
Kulturphilosophie Bd. 3, S. 37, 38, 31 zit. bei Poppitz a.a.O. S.
146.
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zu tun und zu lassen ist, das Schwert aber es durchführe und diejenigen strafe, die durch Tun oder Unterlassen sich vergehen, dadurch, daß es die Gottlosen mit Gewalt zwingt zum Tun und Lassen. Denn ohne Schwert ist das Gesetz nutzlos und nur ein Grund zur Vervielfachung der Untaten. Andererseits ist das Schwert ohne Recht tyrannisch und eine wütende Bestie. Beides aber, Gesetz und Schwert miteinander verbunden gibt ein schönes und gesichertes Gemeinwesen.”45)
Die theologische Besinnung wird da, wo sie lebendig ist und wo sie sich selbst versteht, immer eine die einzelnen Momente isolierende Betrachtung erschweren und auf einer ganzheitlichen Anschauung bestehen. Es gilt, alle göttlichen Strahlen zusammenzuschauen, die im irdischen Recht aufleuchten.
Eine christlich-theologische Geisteshaltung ist weiterhin unbedingt kritisch. Das hängt letztlich damit zusammen, daß der Gott des christlichen Glaubens Richter ist, dessen Wort „lebendig und kräftig und schärfer als ein zweischneidig Schwert” ist (Hebr. 4, 12) und daß alles menschliche Denken sich diesem alle Verhüllungen durchdringenden Urteil unterstellt weiß. Die unbedingt kritische Geisteshaltung, die sich daraus ergibt, erweist sich im Wissen um die Notwendigkeit gewisser grundlegenden Unterscheidungen und im Ringen um die rechte Entscheidung in der Deutung des Rechts. Es geht um die Unterscheidung von Gott und Götze, Schöpfer und Schöpfung, Gott und Welt, endlich und unendlich, zeitlich und ewig und zugleich um die Erkenntnis, wie unerklärlich tief und unausrottbar die Neigung des Menschen zur Verwischung dieser Unterschiede ist.
Für die rechtsphilosophische Besinnung bedeutet dies die Verpflichtung zu äußerster Hellhörigkeit gegenüber falscher, oft unbewußter, metaphysischer Akzentuierung empirischer Größen. Zunächst wird aller Neigung gewehrt, das Recht selbst absolut zu setzen. Ferner wird etwa der statisch-katholische Begriff des ius divinum deshalb abzulehnen sein, weil er den göttlichen Ursprung und die geschichtliche Gestalt des Rechtes nicht unterscheidet und nicht sehen läßt, daß alles Recht Menschenwerk ist. „Gerade weil wir das Fließen und dauernde Sichwandeln des einzelnen Rechtssatzes im Strom der Zeit erkennen, sehen wir ihn auch als Menschenwerk an und wagen nicht — aus Ehrfurcht vor dem Göttlichen — für ihn göttlichen Ursprung in Anspruch zu nehmen. Aber wir wissen auch um die Heiligkeit der Rechtsordnung als solcher . . . Insofern haben wir den Glauben an ein göttliches Recht.”45a) Auch das Naturrecht im aufklärerischen Sinne wird abzulehnen sein, weil es „von der zeitlichen Bedingtheit des Rechts, von ihrer völkischen und geschichtlichen Gestalt abstrahiert”46) und die abstrakte Idee absolut
45) WA. 14, 664, 30 (H.W. Beyer, Luther und das
Recht S. 15).
45a) Liermann: Göttliches Recht. Lutherische Kirche
1935 S. 52.
46) Poppitz a.a.O. S. 143.
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setzt, ohne zu sehen, daß „die Idee nur darin wirklich eine Idee ist, daß sie sich verwirklicht”.47) Durchschaubar wird nun auch die verkappte Absolutsetzung der Technizität des Rechts im Positivismus, der „von der Idee des Rechts”48) abstrahiert — in der Meinung, damit aller Deutungsnotwendigkeit ledig zu sein, ohne zu sehen, daß sie unausweichlich ist und nur entweder bewußt und kritisch oder unbewußt und unkritisch vollzogen werden kann.
Schließlich ist die dem christlichen Glauben entsprechende Geisteshaltung unbedingt konkret. Und zwar in dem doppelten Sinn, daß es in ihr um das wirkliche Recht der Geschichte, das empirische Recht geht und daß zugleich nach der positiven Bedeutung eben dieses empirischen Rechts für die Verwirklichung des Reiches Gottes gefragt wird. Im unbedingten Realismus unseres ersten Gesichtspunktes handelt es sich um die Betrachtung des Rechts vom ersten, im unbedingten Kritizismus unseres zweiten Gesichtspunktes vom zweiten, jetzt um die Betrachtung vom dritten Glaubensartikel her. Das Recht ist ein Stück Welt, aber es hat, wie die Welt überhaupt, eine Bedeutung für das Reich Gottes. Es ist nicht selbst Reich Gottes. Aber es ist, wie die Welt überhaupt, Kampfplatz, es ist Ort für die Verwirklichung, es ist Gefäß und Organ, es ist Gleichnis für das Reich Gottes.49) Es bedarf der Durchstrahlung und Heiligung durch den Heiligen Geist. Für das Rechtsdenken muß daraus der denkbar stärkste Antrieb folgen, die Frage nach dem bestmöglichen Recht bis zum letzten ernst zu nehmen. Die Ablehnung des ius divinum und des Naturrechts darf nicht die Folge haben, der Frage nach dem besten Recht alle Aufmerksamkeit zu nehmen. Gerade weil gesehen ist, daß es hier auf Erden kein „geoffenbartes Recht” gibt, muß an die Frage nach dem besten Recht der letzte Ernst gesetzt werden, wenn die Scylla eines skeptischen Positivismus und die Charybdis eines schwärmerischen Idealismus umschifft werden soll. Es gibt kein absolut vollkommenes, aber es gibt mehr oder weniger vollkommenes und unvollkommenes Recht. Der Unterschied liegt in dem Grad seiner Gleichniskraft, seines Organ- und Gefäßcharakters (vgl. bes. hierzu meine Ethik a.a.O. S. 156 ff.). Das Recht muß immer als Gestalt, Gefäß und Organ der Gerechtigkeit verstanden werden können. Es muß im Dienste der Gerechtigkeit stehen. Sonst hört es auf, Recht zu sein. „Recht ist nicht Gerechtigkeit; aber im Recht wirkt die Idee der Gerechtigkeit.”50) Es geht hier um die Verwirklichung, um die Erscheinung eines letzten Sinnes im wirklichen Recht. Dieser erschöpft sich weder in der Ordnungs- noch in der Gemeinschaftsfunktion des Rechts. Auch seine Bedeutung für Volk und Staat macht
47) W. Schönfeld bei Poppitz S. 143.
48) W. Schönfeld: „Der Traum des positiven Rechts.”
Archiv f. civ. Praxis NF. 15 S. 1 ff., zit. bei Poppitz S.
143.
49) Vgl. hierzu die genaueren Erläuterungen in meiner
Ethik. Der ev. Weg der Verwirklichung 1937 S. 149 ff.
50) Gerber, Recht — Staat — Bekenntnis S. 106.
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noch nicht seinen letzten, alles andere, auch Volk und Staat erst begründenden, tragenden und erfüllenden Sinn aus. Dieser liegt — so sehr das all unseren Denkgewohnheiten zuwider laufen mag — allein in Gott und seinem Reich. Nur was vor Gottes Urteil bestehen kann, ist gerecht. Dieser Gedanke muß die heilige Unruhe aller Rechtsgestaltung sein. „Wenn die Theologie nicht wäre, die da sagt: es ist ein Gott!, so würde das Recht Gewalt heißen, denn wer es in der Hand hat, der tut’s. Ob aber solche Gewalt Recht sei, darüber wird unser Herrgott disputieren.”51) Der Wert einer konkreten Rechtsgestalt liegt danach also in ihrer Durchstrahlungsfähigkeit mit den schlechthin letzten Sinngehalten des Lebens. Ein Recht, das nicht mehr als Gefäß und Organ für den letzten Sinn des Lebens verstanden werden kann, ist reif zum Untergang. Alle wirklich schöpferische Rechtsgestaltung setzt das Wissen um diesen Sachverhalt voraus. So beginnt der Kodex Hammurabi um 2000 v. Chr., ein „mitten in städtischer Zivilisation stehendes Gesetzgebungswerk”52) nicht mit dem geschriebenen Wort, sondern mit einem Bilde: Der König empfängt vom Sonnengott die Gesetzestafeln. „Gott ist selber Recht.” (Sachsenspiegel.) „Deswegen ist eine Rechtsordnung ohne Gott sinnlos. Denn dort erhebt das menschliche Recht aus sich heraus Ansprüche, die es überhaupt nicht oder nur notdürftig unter Berufung auf seine naturgegebene Notwendigkeit oder auf den rohen Machtgedanken begründen kann.”52)
Vor allem fällt hier auf die Aufgabe der Rechtsverwirklichung, der Handhabung des Rechts durch Menschen das hellste Licht. Schon der Gesetzgeber muß, „wenn er auch souverän über dem Rechtssatz seht, sich dabei bewußt sein, daß auch er sich unter die göttliche Idee des Rechts zu beugen hat. Wenn die Gesetzgebung zu einem beliebigen Spiel mit Normen ausartet, ohne daß die Verantwortung für das Recht in seiner Gesamtheit dahintersteht, dann entsteht ein Scheinrecht”.53) Das gleiche gilt für „die Handhabung des Rechts in Rechtsprechung und Verwaltung. Hier muß zwar die Bindung an die vom Gesetzgeber geformten Rechtssätze eine engere sein um der Sicherheit der Rechtsgenossen und um der Ordnung willen, die nicht aufgelöst werden darf. Aber auch hier gilt, daß der Buchstabe tötet und der Geist allein es ist, der lebendig macht. Wenn dann in Fällen eines Konfliktes zwischen geschriebenem Gesetz und Rechtsidee, wenn das auf die Spitze getriebene formale Recht zum offenbaren Unrecht wird, der Buchstabe am Geist gemessen werden soll, tritt als Maßstab wiederum jene höchste Verantwortung für das Recht auf, die nur aus seinem göttlichen Ursprung aufgenommen werden kann”.53)
Schließlich aber fällt die Frage des Sinngehaltes auch beim Gehorsam entscheidend in die Waagschale. Gewiß muß das Recht erzwungen werden können. Das hängt mit seinem Unbedingtheitscharakter zusammen. Aber kein Recht kann auf bloß mechanische
51) Luther. Zit. bei Gerber: Die religiösen
Wurzeln staatlicher Autorität und Macht S. 141.
52) Liermann, Göttliches Recht S. 53.
53) Liermann, S. 54.
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Unterwerfung gegründet werden. Es ist ein Unterschied, ob freudig oder widerstrebend gehorcht wird. Am sichersten gegründet ist eine Rechtsordnung in freiem und freudigem Gehorsam. Das entspricht auch am meisten ihrer Würde. Aber das ist nur dort möglich, wo das Recht „als die normative Mitte der freien Selbstverwirklichung von Gemeinschaft”,54) als im Dienste einer letzten Sinnhaftigkeit stehend, wenn es als gerecht empfunden und anerkannt wird. Je mehr eine Staatsregierung es versteht, die Mehrheit der Staatsbürger von der Gerechtigkeit des Rechts zu überzeugen und je mehr auch die Mittel des Rechtszwanges „als Hilfe zur Verwirklichung der völkischen Lebensordnung und als Schütz vor deren Zerstörung geachtet werden”, „desto mehr wird die Gewalt als Mittel der Durchsetzung des Rechtes ausgeschaltet”.55) Zutiefst liegt für den christlichen Glauben der Sinn des menschlichen Lebens in den drei Urbeziehungen zu Gott, zum Menschen und zur Welt, die sich für ihn in der dreifachen Verantwortung des rechten Glaubens, der rechten Liebe und der rechten Hoffnung konkretisieren.56) An diese Urfunktionen ist letztlich auch das Problem der Rechtsgestaltung und Rechtsverwirklichung gebunden. Es geht zuletzt darum, das Recht zu diesen letzten Bestimmungen des menschlichen Lebens in eine positive Beziehung zu setzen. Daß damit kein ius divinum und kein ein für allemal feststehendes Naturrecht gesetzt ist, wird von hier aus noch einmal ganz unausweichlich deutlich, insofern die Irrtumsfähigkeit des Menschen bis in die Tiefe dieser Urfunktionen hinabreicht. Auch im Glauben, Lieben und Hoffen kann der Mensch noch immer seine Bestimmung verfehlen. Er kann an Endliches glauben, als ob es Gott wäre, er kann der Liebe einen individualistischen, die Gemeinschaftsbindung in Familie, Volk und Rasse zerstörenden Sinn geben; er kann entweder in schwärmerischem Idealismus auf die Welt, statt für sie hoffen, oder er kann ihr in hoffnungsloser Resignation gegenüberstehen. Die Möglichkeit des Irrtums reicht bis in diese letzten Wurzelschichten der Seele hinein, in denen geglaubt, geliebt und gehofft wird.
Diesen Urfunktionen die letztmögliche Tiefe, Klarheit und Kraft zu geben, das macht, anthropologisch gesehen, den unterscheidenden Sinn der christlichen Religion aus.
Von hier aus läßt sich das Verhältnis von Christentum und Religion bestimmen. Auch im Christentum geht es um die allgemein menschlichen Fragen, die im religiösen Erleben überhaupt aufbrechen. Es schließt die Fragen der natürlichen Religion nicht aus, sondern ein; aber es radikalisiert sie und macht sie so erst beantwortbar. Es nimmt vermöge seines dialektischen Realismus und Universalismus alle Erfahrungsinhalte des religiösen Erlebens in sich auf, klärt sie vermöge seines unbedingten kritischen Gehalts, stellt sie vermöge seiner
54) Gerber, Recht — Staat — Bekenntnis S.
106.
55) Georg Wünsch, Ev. Ethik des Politischen 1936 S.
543 f.
56) Vgl. meine Ethik a.a.O. S. 117 ff.
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unbedingten Konkretheit in den Dienst der Verwirklichung des Reiches Gottes und erfüllt sie so.
Welche Bedeutung hat unter diesem Aspekt das Recht? Das mindeste, was von ihm gesagt werden kann, liegt in der Sprache der dogmatischen Tradition des Luthertums im usus politicus und elenchticus legis. Es hat die Bedeutung, die Sünde in ihren gröbsten Erscheinungsformen aufzudecken, nach Möglichkeit einzudämmen und so auf die volle Offenbarung der Gnade Gottes in Christus vorzubereiten und für den letzten und tiefsten Sinn des Lebens hellsichtig und empfänglich zu machen. Darüber hinaus ist ihm aber doch auch der usus tertius, der usus didactibus zuzusprechen, insofern das Recht nach der geschehenen Offenbarung in Christus immer auch die Aufgabe hat, die in dieser Offenbarung enthaltenen Erkenntnisse soweit in sich aufzunehmen, von dem in Christus erschienenen Weltenlicht so viel aufzufangen und in die Welt hineinstrahlen zu lassen, als eben das ihm eigene Strahlungsvermögen zuläßt. Versucht man davon konkret-anthropologisch, statt abstrakt-theologisch zu reden, so ist zu sagen, daß der auf mannigfache Weise als Gesetzgeber, Richter und Untertan an der Rechtsfindung, Rechtsgestaltung und Rechtsverwirklichung beteiligte Mensch unentrinnbar in der dreifachen Verantwortung des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung steht und damit alles Rechtshandeln durchtränken muß. So sieht Luther das Recht zuletzt im Dienste der Liebe — wobei unter Liebe nur eben die Lieben zu verstehen ist, mit der Gott die in der Schöpfung gesetzten Ordnungen durchstrahlt und zur bindenden Voraussetzung auch für alle Lebenserfüllung des einzelnen macht. Die Liebe ist somit das Urgesetz, das auch die Nichtchristen bindet. „Die Natur lehret, wie die Liebe tut, daß ich tun soll, was ich mir wollt getan haben . . . also soll man handeln . . ., daß immer die Liebe und natürlich Recht oben schwebe. Denn wo du der Liebe nach urteilest, wirst du gar leicht alle Sachen scheiden und unterrichten ohn alle Rechtsbücher. Wo du aber der Liebe und Natur Recht aus den Augen tust, wirst du es nimmermehr so treffen, daß es Gott gefalle, wenn du auch alle Rechtsbücher und Juristen gefressen hättest, sondern sie werden dich nur irrer machen, je mehr du ihnen nachgehest.”57) Die Liebe Gottes ist immer, gerade weil sie unbedingte Liebe ist, auch stets unbedingt kritische Liebe. Sie hebt den Unterschied zwischen weltlichem und geistlichem Regiment nicht auf, sondern läßt auf ihn das grellste Licht fallen. Aber gerade weil es hier nie weder das Verhältnis der Identität noch das der Beziehungslosigkeit geben kann, tritt die Aufgabe der richtigen Zuordnung und d.h. der größtmöglichen Beziehungsnähe erst in das hellste Licht. Im Ringen hierum liegt der Sinn der Welt- und auch der Rechtsgeschichte. „Denn weltliche Herrschaft ist ein Bild,
57) WA. 11, 279, 19 ff.; vgl. hierzu H.W. Beyer, „Glaube und Recht im Denken Luthers”, Lutherjahrbuch 1935 S. 76 f., und Georg Wünsch, Evangelische Ethik des Politischen S. 544.
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Schatten und Figur der Herrschaft Christi. Denn das Predigtamt wo es ist, wie es Gott geordnet hat, bringt und gibt ewige Gerechtigkeit, ewigen Frieden und ewiges Leben wie St. Paulus solches hochpreist (2. Kor. 4). Aber das weltliche Regiment erhält zeitlichen und vergänglichen Frieden, Recht und Leben. Aber dennoch ist’s eine herrliche göttliche Ordnung und eine treffliche Gabe Gottes, der es auch gestiftet und eingesetzt hat und auch will erhalten haben, als man aller Dinge nicht entbehren kann.”58)
Von dieser Grundbesinnung aus lassen sich nun die Konsequenzen für die kirchliche Rechtsgestaltung in aller Kürze bezeichnen. In ihrer eigenen Rechtsgehalt läßt die Kirche erkennen, ob es ihr um die richtige Zuordnung von Religion und Recht und damit überhaupt von Religion und Kultur ernst ist.
Das richtige Verhältnis kann aber nach zwei Seien hin verfehlt werden: ebenso in einer Überschätzung wie in einer Unterschätzung der Rechtsgehalt. Diese Gefahren lassen sich nur durch eine eindringende theologisch-juristische Besinnung überwinden.
Es zeigt sich zuerst wieder die Bedeutung eines strengen Sach- und Wirklichkeitsdenkens. Nur von einer theologischen Besinnung aus, die das Recht wirklich ernst nimmt, läßt sich die richtige Kirchenrechtspraxis gewinnen. Die gegenwärtige Rechtsnot der Kirche wurzelt nicht nur in schlechtem Willen, sondern in mangelnder Erkenntnis. Aber es geht dabei nicht um abstrakte, sondern um konkrete Theologie, nicht nur um das Bekenntnis, sondern um die richtige Konkretisierung der Bekenntnisinhalte in einer überzeugungskräftigen Rechtsgestalt. Wir wissen nun: die Kirche kann in ihrer Rechtsgestaltung weder vom ius divinum noch vom Naturrecht ausgehen. Beide Male ist die Wandelbarkeit des Rechts und die Begrenztheit und Irrtumsfähigkeit menschlicher Rechtserkenntnis nicht gesehen. Es gilt, die realistische und kritische Grundhaltung zu gewinnen, in der christlicher Glaube sich konkretisiert. Es gilt, die köstliche Nüchternheit und Gelassenheit zu gewinnen, die aus Luthers Wort vom Naturrecht spricht: „Man hebt jetzt an zu rühmen das natürliche Recht und natürliche Vernunft, als daraus kommen und geflossen sei alles geschriebene Recht. Und ist ja wahr und wohl gerühmet. Aber da ist der Fehl, daß ein jeglicher will wähnen, es stecke das natürliche Recht in seinem Kopfe . . .”59) Es gilt nach dem relativ besten Recht für die Kirche zu suchen und dabei zu sehen, daß damit nicht die Parole der Resignation, sondern das Gebot des höchstmöglichen Krafteinsatzes ausgegeben ist. Es handelt sich darum, das Recht zu finden, das in der ihm eigenen Indirektheit hic et nunc möglichst klar und kräftig das Wesen der Kirche ausdrückt und in
58) Luther WA. 30 II 554.
59) WA. 51, 211, 36.
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Wirkung setzt. Zwingt so die realistische Grundhaltung, zu der christlicher Glaube verpflichtet, zu radikal nüchterner und umfassender Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Rechts, so ist von daher nicht minder eine radikale und umfassende Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Kirche gefordert. Auch hier ist es nun so, daß dabei die empirische Kirche in all ihren irdischen Beziehungen, Gebundenheiten und Verpflichtungen in aller Nüchternheit gesehen sein will als das, was sie ist. Es braucht heute wohl keinem evangelischen Christen gesagt zu werden, wie unvollständig sich in ihr das wahre Wesen der Kirche ausdrückt. Jeder der Anklagen, die heute gegen sie erhoben werden, soll ernst genommen werden. Aber das alles darf von dem hier geforderten dialektischen Realismus her nur dazu dienen, die Frage nach dem Wesen der Kirche desto dringender zu machen. Das eine darf ohne das andere nicht sein. Beide im evangelischen Lager im Kampf um die Rechtsgestalt der Kirche hervorgetretenen Einseitigkeiten müssen in Zukunft vermieden werden. Sowohl das einseitige Aufmerken auf die Mängel der empirischen Kirche wie das abstrakte, die konkrete Lage der Kirche in die theologische Besinnung nicht mit hineinnehmende Fragen nach ihrem Wesen. Denn wer nur von der empirischen Kirche und ihren Mängel ausgeht, muß, wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt hat, geneigt sein, die Kirchenfrage allzu haftig mehr von außen her, mehr nur unter anthropologisch-pädagogischem Aspekt, durch bloße modernisierende Anpassungen an eine gegebene geschichtliche Lage als aus universal theologischer Wesensschau heraus lösen zu wollen. Er wird dabei nicht nur in die Gefahr geraten, die Substanz der Sache zu gefährden, sondern auch sein eigenes Tun um die tiefere Aufmerksamkeit zu bringen, die es doch nur eben von der Würde dieser Sache her gewinnen könnte. Wer aber die Frage nach dem Wesen der Kirche abstrakt stellt, muß in die Gefahr geraten, sich im Widerspruch zum Wesen der Kirche die lebendige Beziehung zu der konkreten geschichtlichen Situation zu verlieren, in die Gott die Kirche gestellt hat. Er muß überdies damit rechnen, unverstanden zu bleiben oder mißverstanden zu werden. So droht von der einen Seite eine Verkürzung der Wahrheit, von der anderen der Liebe, die doch beide gleich unveräußerlich zum Wesen der Kirche gehören.
Bei der somit geforderten Wesensbesinnung geht es aber vor allem um die Frage nach dem Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Steht die sichtbare Gestalt der Kirche in einem theologisch definierbaren Verhältnis zum Wesen, zur Substanz der Kirche, oder ist hier alles akzidentiell und dem Wechsel und Zufall der geschichtlichen Umstände überlassen? Die Antwort kann hier nur angedeutet werden. Entscheidend ist die das Neue Testament beherrschende Bestimmung, daß die Kirche „Leib Christi” ist. Sie wird — in einer Zeit, die sonst reich ist an Verkennungen dieses Sachverhalts und in der viele Wurzeln unserer heutigen Kirchennot liegen — am realistischten erläutert von Vilmar, für den „die Kirche eine Fortsetzung des Daseins, Lebens und Wirkens Jesu Christi” ist, „eine Expansion seiner Person”, „sein eigenes Ich, dargestellt in
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einer Gemeinschaft zur Erlösung berufener Menschen”.60) Vilmar ist, wie er meint, „im Widerspruch mit fast allen Dogmatikern der evangelischen Kirche”, aber im wesentlichen in Übereinstimmung mit seinem Zeitgenossen Theodosius Harnack, überzeugt, „daß eine abstrakte Lehre von einer unsichtbaren Kirche als der in dieser Zeit allein wahren Kirche nicht Lehre der evangelischen Grundbekenntnisse sei, daß dieselben den Zustand der Kirche, in welchem sie aus lauter vere credentes bestehe, als einen jetzt sofort realisierbaren und zu postulierenden oder jemals in der Welt realisierten (realisiert gewesenen) nicht darstellen”61) und versteht demgemäß mit Artikel XV der Conf. Aug. unter „sichtbarer Kirche” „das Institut”, „durch welches Vorsorge getroffen wird, daß die reine Lehre des Evangeliums und der rechte Gebrauch der Sakramente allen folgenden Geschlechtern, für alle Zukunft bis zum jüngsten Tage, mit voller Sicherheit überliefert wird”.62) Von diesem Grundverständnis der Kirche aus ist die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Recht und nach dem richtigen Kirchenrecht zu suchen.
Von wesentlicher Unvereinbarkeit des Rechts mit dem Wesen der Kirche zu reden ist danach nur möglich, wenn man, wie Sohm dies getan, das Recht nur als empirische, die Kirche aber nur als metaphysische Größe betrachtet und nicht gelten lassen will, daß das Wesen der Kirche eben gerade im Sichtbarwerden des Unsichtbaren, in der Menschwerdung Gottes, in der Fleischwerdung des Wortes liegt und daß auch das empirische Recht nur wirklich verstanden werden kann, wenn man es in seinem dialektischen Zusammenhang mit dem überempirischen Recht zu sehen wagt. Auch geschichtlich zeigt sich, daß die Kirche ihr Wesen gar nicht ausdrücken kann, wenn sie sich dazu nicht auch gewisser Formen des Rechts bedient. Gewiß handelt es sich hier in der Ämterordnung nicht gleich um vollausgeformtes Recht. Es ist „urförmiges Recht”, wie Günther Holstein in glücklicher Formulierung sagt, dessen Feststellungen hier überhaupt als grundlegend anzusehen sind. Charisma und Amt stehen nicht in dem Widerspruch, in dem Sohm sie sieht. Schon Harnack hat richtig gesehen, daß das Charisma Autorität begründet und Anerkennung und Gehorsam fordert, Holl, daß die Kirche „eine irdisch-himmlische Größe zugleich” ist. „Sie ist jenseitig in ihren Ursprüngen und reicht doch aufs Bestimmteste in das Greifbare hinein.”63) „Mit und in dem Wirken des Pneuma entstehen die die Kirche leitenden Ämter; daher diese denn auch den Aufbau des Leibes Christi als konkret-geschichtlicher Gemeinschaft zu vollziehen vermögen” (Eph. 4, 11 ff.).64) Wenn die Kirche wirklich „die Fülle des, der alles in allem erfüllt”, zur Darstellung bringen will (Eph. 1, 23), muß sie sich aller Ausdrucksmittel bedienen, die wesentliche Inhalte ihrer
60) Dogmatik 1874 II 183.
61) S. 203.
62) S. 202.
63) Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II 1928
S. 62.
64) Heinz-Dietrich Wendland: Geist, Recht und Amt in
der Urkirche. Archiv für ev. Kirchenrecht 1938, S. 289.
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Botschaft darzustellen vermögen. Es hängt lediglich mit der humanistischen Verflüchtigung dieses Tatbestandes zusammen, wenn neuerdings besonders in der dialektischen Theologie das Wort als das einzige legitime Ausdrucksmittel für das Wesen der Kirche angesehen wird. Das heißt, die Menschwerdung Christi nicht ernst nehmen. Gott ist in ihm in alle Beziehungen der menschlichen Existenz eingegangen. Er hat wirklich irdischen Leib angenommen. Das hat ein Jurist, W. Schönfeld, so klar gesehen, daß ich hier in seinen Worten fortfahren kann: „Infolgedessen hat auch die Kirche, worin sie Christus gleicht, ihren irdischen Leib und ihre irdische Sprache.”65) „Spricht aber die Kirche in der Sprache der Völker zu den Völkern, so lebt sie auch in der Art der Völker unter den Völkern, wie Christus solches auch getan hat, als er auf Erden weilte. Sie kann das Erdenleben der Völker nur vollenden, wenn sie sich mit ihm einläßt, ohne in ihm aufzugehen. Infolgedessen nimmt wie auch am Recht der Erde teil, wiewohl sie überirdisch und darum überrechtlich ist.”66) Es gehört zur Universalität der in Christus geschehenen und immerfort geschehenden Gottesoffenbarung, daß sie alle Grundelemente des Weltlebens durchstrahlen und sich in allen im irdischen Leben enthaltenen Sprachmöglichkeiten ausdrücken muß. Hier das Recht ausnehmen wollen heißt, nicht nur der christlichen Gottesoffenbarung ihre Universalität, sondern auch dem Recht seine Würde, seine grundlegende Bedeutung für den Bestand des irdischen Lebens nehmen.
Wenn diese Andeutungen hier genügen müssen, um die Fruchtbarkeit des unbedingten dialektischen Realismus, der christlicher Theologie wesenseigentümlich ist, für das Problem der kirchlichen Rechtsgestaltung zu veranschaulichen, so muß hierzu nun gleich hinzugesagt werden, daß kirchliche Besinnung auch gleichzeitig stets unbedingt kritisch sein muß. Auch hier müssen wir uns mit veranschaulichenden Hinweisen begnügen. Es geht hier um die Anwendung jener dem christlichen Glauben eigentümlichen Fundamentalunterscheidungen auf das Rechtsproblem. Zunächst geht es hier nun um die Unterscheidung von Wesen und Rechtsgestalt der Kirche. Beides ist nie identisch. Die Rechtsgestalt ist nie eine erschöpfende Darstellung des Wesens der Kirche. Das hängt mit den Grenzen zusammen, die von Natur der Plastizität des Rechts in bezug auf geistliche Wesensgehalte gesetzt sind. Es fehlt noch eine Theologie des Rechts, die hier schon ein ganz deutliches Bild geschaffen hätte. Aber wenn wir uns an die wenigen Züge halten, die ohne weiteres ins Auge fallen, an den Ordnungs-, den Sozialcharakter und den Unbedingtheitscharakter des Rechts, so ist ebenso klar, daß die Kirche zu ihrer Selbstdarstellung — man denke an alles, was mit geistlicher Zucht, mit Liebe und Gemeinschaft und mit der Dauerhaftigkeit ihres
65) W. Schönfeld: Der Positivismus und das
Kirchenrecht S. 57.
66) S. 58.
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Bestandes zusammenhängt — gar nicht auf diese Züge des Rechts verzichten kann und daß es wiederum wesentliche Gehalte des christlichen Glaubens gibt — man denke an alles, was mit Glauben und Anbetung zusammenhängt — die durchaus überrechtlicher Art sind. Es will hier also Ausdruckskraft und Ausdrucksgrenze des Rechts klar gesehen und voneinander unterschieden sein. Es gehört deshalb zum wesentlich-evangelischen Verständnis des Kirchenrechts, daß Recht und Glaube voneinander unterschieden werden — im Unterschied zur katholischen Auffassung.
Diese kritische Grundhaltung bewährt sich auch hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Staat. Die Kirche, die sich selbst versteht, will mit ihrer Rechtsgestaltung nicht so etwas wie in Staat im Staate sein — einfach deshalb nicht, weil sie damit vor dem Urteil Gottes nicht bestehen könnte. Die Kirche weiß genau, daß alle Vollmachten empirischer Rechtsverwirklichung ausschließlich dem Staate zustehen. Sie weiß sich in dieser Hinsicht in jeder möglichen Rechtsform an den Staat gebunden — auch im Vereinsrecht, das man mancherseits als eine Art Fluchtmöglichkeit vor dem Staat zu verstehen scheint. Der Staat allein hat die Vollmacht der materialen Rechtsetzung und Rechtsverwirklichung, obwohl er nicht der letzte Ursprung des Rechts ist. Gerade die deutliche Unterscheidung von Staat und Kirche schaltet hier jede Gegensätzlichkeit aus. Es kommt zu wirklicher Gemeinschaft mit dem Staate, „den sie begründet und vollendet, weil sie ihn ergänzt. Sie weiß sich mit dem Staate mit und ohne Konkordate in Konkordanz”.67) In der Kirche geht es im Unterschied vom Staat, der die Aufgabe und Vollmacht realer Verwirklichung hat, um urbildliche Verwirklichung,68) nämlich um die möglichst deutliche Darstellung und Pflege all der Gotteskräfte, die zutiefst auch die verborgenen Wurzelkräfte des Staates ausmachen. „Denn weltliche Herrschaft ist ein Bild, Schatten und Figur der Herrschaft Christi. Denn das Predigtamt, wo es ist, wie es Gott geordnet hat, bringt und gibt ewige Gerechtigkeit, ewigen Frieden und ewiges Leben . . . Aber das weltliche Regiment erhält zeitlichen und vergänglichen Frieden, Recht und Leben.”69)
Von hier aus fällt auch Licht auf das Problem des richtigen Kirchenrechts. Wie es rechten und unrechten Glauben gibt, so reicht die menschliche Irrtumsfähigkeit wie in das Rechtsdenken so natürlich auch in die kirchliche Rechtsgestaltung hinein. Hier fordert kirchliche Haltung ein Höchstmaß von Unterscheidungsvermögen. Es gibt für die kirchliche Rechtsgestaltung relativ geeignetere und ungeeignetere Rechtsauffassungen und Rechtsformen. Es handelt sich darum, die bestmöglichen zu finden. Es darf heute als ausgemacht gelten, daß die für die kirchliche Rechtsgestaltung ungeeignetste Theorie die des Positivismus ist. Ihre Überwindung ist nur deshalb auch für die Gegenwart noch immer nicht so selbstverständlich, als sie es
67) Schönfeld, S. 62.
68) Vgl. hierzu meine Ethik a.a.O., S. 428 ff.
69) Luther: WA. 30 II 554.
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eigentlich sein sollte, weil Rudolf Sohm sie tragischerweise mit so viel echtem geistlichen Pathos vertreten und ihr darum eine kirchliche und außerkirchliche Wirkungsmächtigkeit gewonnen hat, die ihr weder vom juristischen noch vom kirchlichen Standpunkt aus zukommt. Geradezu verführerisch klingt etwa ein Satz wie der: „Vor allem: die Kirche ist kraft ihres Ideals und Wesens die Christenheit, das Volk und das Reich Gottes, der Leib Christi auf Erden. Es ist undenkbar, daß das Reich Gottes menschliche (rechtliche) Verfassungsformen, daß der Leib Christi menschliche (rechtliche) Herrschaft an sich trage. Das Wesen des Rechts ist dem idealen Wesen der Kirche entgegengesetzt. Wie Rechtsordnung mit dem Wesen des Staates in Einklang, so steht Rechtsordnung mit dem innersten Wesen der Kirche im Widerspruch.” Diese Sätze sind deshalb so verführerisch, weil sie aus radikaler Wesensbestimmung zu stammen scheinen, in Wirklichkeit aber nur scheinrealistisch, nämlich abstrakt positivistisch verfahren, insofern sie die Leiblichkeit aus dem Wesen des Leibes Christi realiter weglassen und dem Begriff des Leibes Christi alle Konkretheit nehmen. Sie sind auch auch scheinkritisch, weil sie nicht zwischen Unterschied und Gegensatz unterscheiden. Wer sagt, daß der Unterschied zwischen geistlich und weltlich auch einen Gegensatz im Sinne der Beziehungslosigkeit fordert oder mit ihm identisch sei? Unkritisch aber sind diese Anschauungen auch deshalb, weil sie eine sehr zeitgebundene Rechtstheorie wie die des Positivismus nicht von dem Wesen des Rechts unterscheiden, das von daher eben nicht in der Tiefe erfaßt werden kann.
Gerade in der Auseinandersetzung mit Sohm wird deutlich, wie kirchliche Rechtsgestaltung immer nur dort gelingen kann, wo sich eine unbedingt konkrete Haltung mit einem unbedingten Realismus und Kritizismus zu einer untrennbaren Einheit verbindet. Es geht in der kirchlichen Rechtsbesinnung und Rechtsgestaltung eben weder bloß um die abstrakte, nur scheinrealistische Beantwortung der Wesensfrage, auch nicht um die bloße scheinkritische Unterscheidung von Substanz und Gestalt, Form und Inhalt der Kirche, sondern es geht um Wesensverwirklichung, also um die Einstrahlung des Wesens in die Gestalt, um die Beziehung zwischen Form und Inhalt der Kirche. Es geht bei der Rechtsgestaltung um die Frage, welche Rechtsformen und Rechtshandlungen heute am besten geeignet sind, um das unsichtbare, geistliche Wesen der Kirche zum Ausdruck und zur Darstellung zu bringen. Es geht um die indirekte Verkündigung der Kirche in der Rechtsgestalt, die sie sich gibt. Dabei kann es sich nie um eine bloße Absonderung von der Welt oder nur um Gegensatz zur Welt, es kann sich immer nur um Einstrahlung in die Welt, um tiefste Verbindung mit der Welt und tiefste Verantwortung für die Welt, also auch für Staat und Volk handeln. Denn konkret handeln heißt eben, immer um Verwirklichung in dieser Welt und für diese Welt ringen. Wie sehr demgegenüber Sohm im bloßen
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scheinkritischen Gegensatzdenken stecken bleibt, das bei der Feststellung des Unterschiedes, den es sofort als Gegensatz versteht, stehen bleibt, statt nun die Frage der konkreten Beziehung zu stellen, zeigen folgende Sätze: „Das geistliche Wesen der Kirche schließt jegliche kirchliche Rechtsordnung aus. In Widerspruch mit dem Wesen der Kirche ist es zur Ausbildung von Kirchenrecht gekommen.” „Das Wesen der Kirche ist geistlich; das Wesen des Rechts ist weltlich. Die Kirche will durch das Walten des göttlichen Geistes geführt, regiert werden; das Recht vermag immer nur menschliche Herrschaft, irdischer, fehlbarer, der Zeitströmung unterworfener Natur hervorzubringen. Die Kirche hängt an der sachlichen Wahrheit, d.h. daran, daß in Wahrheit Gottes Wort und Gottes Wille verkündet, der Welt dargebracht, in Wirksamkeit gesetzt wird. Das Recht hängt umgekehrt grundsätzlich an der Form (summum ius summa iniuria) . . . Es hängt damit zusammen, daß das Recht zwar nicht begrifflich den Zwang fordert, aber doch der zwangsweisen Verwirklichung zustrebt, während das Wesen der Kirche den Zwang verabscheut.” Hierzu ist nun zu sagen, daß keiner der hier aufgezeigten Wesensunterschiede verwischt werden soll. Es soll nur aus dem Unterschiede nicht sofort ein ausschließender Gegensatz gemacht, sondern nun eben die Frage gestellt werden, welche Bedeutung bei dieser Sachlage das Recht für die Verwirklichung, für die Gestaltwerdung der Kirche haben kann. Nie kann das Recht selbst Inhalt der Kirche, es kann immer nur Form sein. Der Wert jeglicher kirchlichen Rechtsform und Rechtstat hängt von dem Deutlichkeitsgrade ab, in dem sie vom Wesen der Kirche Zeugnis zu geben vermögen. Die Stärke der Rückstrahlungskraft entscheidet. Damit ist ein Sachverhalt bezeichnet, der bei jeder Art von Rechtsverwirklichung gilt. Bei der Kirche tritt er nur mit besonderer Empfindlichkeit zutage. Die Kirche hat „ihre Ordnung nicht im Geiste und Sinne weltlicher Herrschaft aufzustellen und zu handhaben”.70) Schon diese Einsicht kann vor gefährlichen Illusionen kirchlicher Rechtsgestaltung bewahren. Sie warnt vor jedem Rechtsformalismus wie vor jeder Anwendung von Zwang in Glaubensdingen. Einer Kirche ist weder schon durch eine sauber paragraphierte Verfassung, noch etwa durch energisch durchgeführten Rechtszwang geholfen. Reformationen der Kirche lassen sich nicht schon mit Gewaltmaßnahmen, etwa Absetzungen und Verfassungsentwürfen durchführen. Wie empfindlich der Mensch von heute gegen Glaubenszwang aller Art reagiert, zeigt die Rolle, die der Toleranzgedanke in den religiösen Auseinandersetzungen unserer Tage spielt. Es kommt alles darauf an, mit welchem geistlichen Gehalte alle diese Rechtshandlungen vom Verfassungsentwurf bis zur unbedeutendsten Kanzleimaßnahme hin gefüllt sind. Letztlich geht es darum, mit welcher Kraft und Reinheit im kirchlichen Rechtshandeln die Grundfunktionen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zur Wirksamkeit kommen. Es gibt vor dieser Verantwortung keine Flucht hinter
70) Theodosius Harnack: Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment. 1862 Neudruck 1934 S. 67.
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Theorien, Paragraphen oder Machtbefugnisse. Es geht in allem Kirchenrechtsdenken und -handeln immer zugleich und untrennbar um ein Höchstmaß von dogmatischer Klarheit, lebendiger Glaubenskraft und seelsorgerlicher Liebe. Die Überwindung der Kirchenrechtsnot ist nicht nur eine dogmatische, sondern immer auch gleichzeitig eine ethische Frage und umgekehrt. Das Kirchenrecht der evangelischen Kirche wird „aus einer dogmatisch-theoretischen eine praktisch-ethische Angelegenheit”, „die zwar nicht ohne das Dogma, wenngleich nicht in dem Dogma zu erledigen ist”.71)
So treten in der Kirchenrechtsbesinnung und -gestaltung noch einmal alle Grundprobleme der Rechtsbesinnung überhaupt in besonders helles Licht. Es kann ja auch gar nicht anders sein, als daß sich erst in der Hinwendung auf die höchsten und verletzbarsten Inhalte des menschlichen Erlebens, daß sich erst in der Begegnung mit dem Heiligen Würde und Grenze des Rechts in letzter Deutlichkeit zeigten. Was die Welt ist, kann zuletzt immer nur im Lichte Gottes erkannt werden. Insofern sind die Bemühungen, der Kirche die richtige Rechtsgestalt zu geben, von allgemeinster symbolischer Bedeutung für das Rechtsleben überhaupt.
So stellt die Frage kirchlicher Rechtsgestaltung zuletzt vor eine sehr persönliche Frage und Verantwortung. Sie ist in einem Wort Gottfried Herders bezeichnet, zu dem sich der Freiherr vom und zum Stein im Vorgefühl seines nahen Todes bekannte:
„So laßt uns denn im Wirken und Gemüt das Ich uns mildern, daß das bess’re Du und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft auslöschen und uns von der bösen Unart des harten Ich unmerklich sanft befrei’n.”
71) W. Schönfeld: Der Positivismus und das Kirchenrecht S. 61.