Wendland, H.D.

Pneumatokratie und Kirchenrecht

Genre: Tijdschriftartikel

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Pneumatokratie und Kirchenrecht

Professor Dr. theol. Heinz-Dietrich Wendland, Kiel

 

Zu den theologischen Werken, denen in der gegenwärtigen Lage die Wissenschaft des Kirchenrechts ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden hätte, scheint mir neben Wilhelm Maurers „Sakrament und Bekenntnis” (Berlin 1939) vor allem Josef Bohatec’, „Calvins Lehre von Staat und Kirche mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens” zu gehören,1) das es verdient, weit mehr als bisher in die Diskussion einbezogen zu werden. Nicht nur,


1) Breslau 1937, M. & H. Markus, Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Heft 127, XVIII u. 754 S.

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weil es ein reiches Quellenmaterial, zuvörderst naturgemäß aus Calvin, jedoch auch aus anderen Reformatoren wie Luther, Melanchthon, Butzer vor uns ausarbeitet und die reformatorischen Kirchenordnungen zum Vergleiche mit den Lehren Calvins heranzieht, auch nicht nur, weil es eine sehr energische Auseinandersetzung mit Sohm durchführt, die von großer Tragweite ist, sondern vor allem aus zwei weit bedeutsameren Gründen: es zeigt erstens, wie die Reformatoren mit sicherem Griff entscheidende Aussagen und Erkenntnisse des Neuen Testaments über die Ordnung und Leitung wie über die Ämter der Kirche zur Geltung gebracht haben, und wie zweitens das, was dem Neuen Testament und den Reformatoren als seinen Schülern an der Ordnung und den Ämtern der Kirche theologisch gültig war, uns in der gegenwärtigen Lage des Kirchenrechts von neuem anspricht und auffordert, uns von neuem über seine letzten Grundlagen in der göttlichen Wirklichkeit der Kirche klar zu werden, ja für die Gestaltung der Ämter der Kirche heute unmittelbar fruchtbar wird. Bohatec weist auf diesen Sachverhalt nirgends direkt hin; seine Untersuchungen wollen historisch sein, aber er springt uns als Ergebnis dieser Untersuchungen förmlich entgegen. Eine Bestätigung hierfür ist es, daß heute auch andere auf Probleme stoßen und zu Lösungen gelangen, die in die gleiche Richtung weisen wie die Arbeit von Bohatec. Wieder wäre insbesondere auf die neue Schrift von Wilhelm Maurer, „Gemeindeamt, Gemeindezucht, Konfirmation”2) hinzuweisen, die über eine „hessische Säkularerinnerung”, wie der Untertitel lautet (nämlich die Vierjahrhundertfeier der Ziegenhainer Kirchenzuchtordnung und der Kasseler Kirchenordnung 1939) weit hinausführt, insbesondere in den bedeutsamen Schlußthesen, in denen der Kirchenhistoriker, der zugleich Theologe ist, seine Folgerungen für die Gegenwart zieht. Auch diese Thesen (S. 108-118 a.a.O.) bedürfen der sorgfältigen Beachtung in der weiteren kirchenrechtlichen Arbeit.

Es ist weder die Absicht noch besteht die Möglichkeit dazu, hier das umfangreiche und gelehrte Werk Bohatec’ nach allen Seiten hin — er spricht über das Naturrecht und den Staat, über die Kirche und ihre Verfassung, über Staat und Kirche und endlich über die einzelnen Stände im Staatsorganismus — auszuwerten oder zu beurteilen. Das Letztere muß der Calvinforschung überlassen bleiben. Hier soll nur auf ein Mittelstück des Werkes, dasjenige über die Ordnung der Kirche nach Calvin hingewiesen werden, weil in diesem wichtige Beziehungen zum Neuen Testament aufleuchten, die zugleich wieder für das rechte Verständnis und die rechte Gestaltung der Kirche in ihrer Lage im 20. Jahrhundert von höchster Bedeutung sein dürften. Es ist die in der Kirche und der Theologie heute neu aufbrechende Frage nach dem Wesen und der Ordnung der Ämter der Kirche, und es ist die Frage nach der Bedeutung der neutestamentlich-apostolischen Kirchenordnung für die Gegenwart,


2) Kassel 1940, Joh. Stauda Verlag, Schriftenreihe des Pfarrervereins Kurhessen-Waldeck, Heft 2, 120 S.

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auf die uns die weitverzweigten Untersuchungen Bohatec’ teils direkt, teils indirekt Antworten geben. Und diese Antworten stehen erfreulicherweise zu mancherlei Traditionen und Anschauungen, die im Kirchenrecht noch immer mitgeschleppt werden, in klarem Gegensatz. Positiv gewendet bedeutet das: es leuchten an den Reformatoren wie am Neuen Testament heute neue Seiten auf, die bisher gleichsam unbelichtet geblieben sind; es gewinnen Erkenntnisse unmittelbare, gegenwärtige Lebensbedeutung, die der gelehrte Hochmut noch vor einem Menschenalter als mittelalterliche Überbleibsel und bedauerliche, zeitgeschichtlich bedingte Gebundenheiten bezeichnet hätte.

Beginnen wir mit dem Ergebnis der Analyse der Kirchenordnung bei Calvin, so lautet die neue These von Bohatec, die Sohm gegenüber umfassend aus den Quellen begründet wird: „Das Recht und die Kirche stehen nicht in Widerspruch; denn das innerste Wesen des kirchlichen Rechtes und das innerste Wesen der Kirche ist geistlich” (580). Das Recht in der Kirche ist das Recht Christi; das Recht Christi aber ist Wortrecht und Geistrecht, da Christus durch sein Wort und seinen Geist wirkt. Alle kirchlichen Ordnungen, die von Wort und Geist bestimmt und geregelt werden, sind pneumatisch. Das gilt von der Kirchenverfassung wie von der Kirchenverwaltung. Das Ordnungsrecht der Kirche ist „ein pneumatisches Ordnungsrecht des Wortes und der Seelsorge, kurz die Regel des organisch-pneumatischen Wollens in der Kirche” (571). „Geistliches Recht ist das aus dem heiligen Geist stammende heilige Recht” (572). Hier wird also bewußt zusammengenommen, was Sohm so scharf getrennt hatte. Es leidet aber nach den jüngsten Untersuchungen zum Neuen Testament keinen Zweifel, daß Bohatec bzw. Calvin (wenn er diesen richtig interpretiert hat) in diesem entscheidenden Punkte das Neue Testament auf ihrer Seite haben.3) Auch W. Maurer kommt im Wesentlichen zu demselben Ergebnis, wenn er in seinen Arbeiten den Zusammenhang des Kirchenrecht mit dem Sakrament bloßlegt und hier zu gänzlich neuen, überraschenden Einsichten kommt, oder wenn er sagt: „Das eigenständige Recht der Kirche ist Liebesrecht, erwachsend aus der heiligenden und scheidenden Gewalt von Wort und Sakrament und bestimmt, diese Heiligkeit vor der Profanisierung zu schützen und dadurch, wenn auch nur negative, zum Heil der Seelen beizutragen.”4) Wort und


3) Vgl. meine kurz zusammenfassende Darstellung in „Geist, Recht und Amt in der Urkirche”, Archiv für ev. Kirchenrecht 2. Bd., Heft 5, 1938, S. 289 ff., insbesondere die Schlußthese S. 300: „Wir haben in der Urkirche von Anfang an gottgesetztes Kirchenrecht, pneumatisch begründete und von der Einheit der Liebe und Bruderschaft umfangene, durchdrungene Ordnung, in welcher einzelne Ämter besondere Dienstleistungen verrichten, die auch ihrerseits auf göttliche Stiftung und Einsetzung und pneumatische Gaben zurückgehen. Dieses in der Sphäre des Pneuma lebende Recht ist vom profanen wie vom kultischen Recht zu unterscheiden.” Mit dem letzteren ist das kultische Recht sowohl des Heidentums als auch des Judentums gemeint.
4) W. Maurer, Gemeindezucht, Gemeindeamt, Konfirmation S. 18.

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Sakrament sind der Boden für ein eigenständiges kirchliches Recht. Ebensogut kann dieses „Liebesrecht” genannt werden; denn es erfließt aus der Agape, „es stützt und schützt die brüderliche Gemeinschaft”.5) In der Tat ist Gott und Gottes Geist nicht nur Ursprung und Quell des weltlichen Rechtes und aller Gerechtigkeit in den Ordnungen menschlicher Gemeinschaft, sondern auch der Quell der höheren, neuen Ordnung, die der Kirche als dem neuen Gottesvolke einwohnt, indem diese nicht mit irgendeinem irdisch-geschichtlichen Volke oder einer geschichtlichen Ordnung identisch sein kann. Es ist die Ordnung des „Friedens”, wie Paulus sagt (1. Kor. 14, 33. 40), und dies ist ebensoviel, als wenn er sagte: es ist die Ordnung des Heils; denn Friede im neutestamentlichen Sinne ist das Heil Gottes, das Grundgesetz und Kraft und Ordnung des göttlichen Reiches bedeutet. Aus diesem entspringt eine Ordnung höher als alle menschliche Vernunft, eine Ordnung, die ebensowohl die Liturgie der Kirche als die Ordnung der anderen „Dienste” und Ämter in ihr aus sich gebiert. Sie ist weiter nach 1. Kor. 12-14 die Ordnung, die um der oikodome, der Auferbauung der Gemeinde willen notwendig ist, sie steht im Dienste des Ganzen, aller Brüder der einzelnen Gemeinde, ja der ganzen Christenheit und ist damit die formgewordene Handlung der Liebe. Es gibt ein Recht, in dem sich Liebe inkarniert. Dieses Recht gibt es nur in der Kirche, aus dem Pneuma. Wiederum wächst Recht in der Kirche aus der Tatsache, daß der Apostel eben Apostel und Geistesträger ist, aus seiner geistlichen Vaterschaft in seinem Verhältnis zu den Gemeinden (1. Kor. 7, 40; 4, 14 ff.); hier entspringt seine Autorität, sein Recht, die Gemeinden zu leiten, der Anspruch auf Gehorsam, den er erhebt. Wiederum fordert Paulus von seinen Gemeinden die Anerkennung derer, die freiwillig Dienstleistungen für die Gemeinde übernommen haben (1. Kor. 16, 16; 1. Thess. 5, 12-13). So sind überall das Pneuma und die Agape sichtbar als Wurzeln des kirchlichen Rechtes und der kirchlichen Ordnung. Man tut nur gut, nicht von „Verfassung” u.Ä. zu sprechen. Die bürgerlichen Rechtsbegriffe und politischen Vorstellungen haben hier so wenig etwas zu suchen wie die vor-bürgerlichen. So hat auch Calvin erkannt, daß die geistliche Ordnung der Kirche und ihre pneumatische Jurisdiktion von der politischen durchaus verschieden sind und mit ihr nicht vermengt werden dürfen (543). Die Gewalt der Amtsträger der Kirche kann nur pneumatisch sein; denn das Amt hat pneumatischen Charakter. Calvin bildet den außerordentlich wichtigen und folgenschweren Begriff der „Ordnung des heiligen Geistes” (Ordre de S. Esprit), und die „Pneumatokratie” ist das Prinzip der Calvinischen Kirchenverfassung (432, 443). Man muß sagen, daß diese Formel Calvins den neutestamentlichen Tatbestand vollständig sachgemäß zusammenfaßt und wiedergibt. Er ist auch hier Exeget des Neuen Testaments. Gerade die lutherische Theologie wird gut tun, sich mit diesen Seiten der Arbeit von B. gründlich zu beschäftigen, damit wir alle in der Handhabung


5) Maurer a.a.O. S. 109.

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der überlieferten konfessionspolemischen Schablonen („gesetzlicher Biblizismus” in diesem Falle, als der übliche lutherische Vorwurf gegen Calvin) zum wenigsten etwas vorsichtiger werden. Nach B. hat Calvin das Pneuma zugleich dynamisch und organisch wirkend gefaßt: es ist als die Gegenwart Christi das einende Band im Organismus der Kirche und die alles durchströmende Lebenskraft, die ihr von Gott durch Christus zukommt (442). Organismus- und Geistgedanke sind unzertrennlich verbunden (425). „Wer Christentum sagt, sagt heiliger Geist” (435). Wir fangen heute ja erst wieder mühsam und kümmerlich genug an, das zu buchstabieren, was das Neue Testament unter dieser gegenwärtigen, wirkenden Wirklichkeit des heiligen Geistes verstanden hat. Dort ist es ja in der Tat so, daß allein durch diesen Geist Kirche ist und alles in ihr, Gottesdienst und Ämter, im Geiste wirkt und geschieht, sind doch auch und gerade die Leiber der Christen Ort und Wirkungsstätte des heiligen Geistes. Auch dies entspricht dem Neuen Testament, wenn Calvin erkennt, daß die Verfassung der Kirche ihrem Gottesdienst entsprechen muß; denn beide sind pneumatischer Art (441). Ein Gedanke von großer Tragweite und kritischer Kraft!

Von solchen Zusammenhängen aus legt sich die Frage nahe, ob auch Calvin den heiligen Geist als den creator spiritus, als den zur Verleiblichung auf Erden drängenden Geist verstanden habe, wie dies im Neuen Testament geschieht.6) B. hat sich, soweit ich sehe, nicht direkt hierzu geäußert. Und ist diese Verleiblichung des Pneuma nicht eine Fortwirkung der Inkarnation? Erst von diesen Fragen aus wird sichtbar, warum es zu einer eigenen Ordnung und Gestalt der Kirche in dieser Welt kommen muß, und warum zweitens natürliche Gaben und Ordnungen, deren auch die Kirche nicht entraten kann, doch einer Umwandlung, einer Neuordnung und Neubestimmung bedürfen. Oder wie könnte einfach mit natürlichen Ordnungen und Gaben der Aufbau des Leibes Christi geschehen? Lehrt Calvin nach B. (444) eine „prästabilierte Harmonie” „zwischen den Forderungen der Schrift bzw. des heiligen Geistes und der Natur”, so hätte man an diesem problemreichen Punkte noch nähere Belehrung erwartet, wie das Verhältnis des heiligen Geistes zur Natur und Vernunft genauer gedacht ist; nur gegen die rationalistische Souveränität der Vernunft hat B. den Gedanken Calvins abgegrenzt. Hier bricht das Problem des Naturrechts im reformatorischen Denken und des Humanismus in Calvins Kirchenverfassungslehre auf. Unterscheidet er sich hier nicht vom Neuen Testament, das wohl Ordnungen des Schöpfers kennt, aber nicht den antiken, den stoischen Natur- und Kosmosbegriff? Diese Fragen hat B. nicht beantwortet, obwohl er auf den humanistischen Zug bei Calvin (Wiederherstellung der kirchlichen antiquitas seine


6) Vgl. hierzu H.-D. Wendland, Die geistleibliche Gestalt der Kirche, Luthertum 1939, Heft 8/9, S. 230 ff.

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Forderung) und in den lutherischen Kirchenordnungen aufmerksam macht (397 f. u. Anm. 80 z. S. 398, vgl. auch W. Maurer, der Mit Bezug auf die Ämterlehre von „humanistischem Biblizismus und Traditionalismus” bei Butzer und Calvin spricht, a.a.O. S. 37). Jedenfalls dürfte das Problem Kirchenordnung und natürliche Ordnung etwas leicht genommen sein, wenn man sich dem Glauben an eine natürliche Harmonie zwischen beiden ergibt; an anderen Orten weiß auch Calvin, wie es mit der Natur menschlicher Ordnungen eigentlich bestellt ist. Hat die These Bohatec’ von der Pneumatokratie bei Calvin Recht, so muß sich streng genommen aus ihr ergeben, daß in der pneumatischen Kirchenordnung alle natürliche Ordnungs- und geschichtlichen Rechtselemente eindeutig unter die Herrschaft Christi gebracht und durch diese umgewandelt und neubestimmt werden müssen. In den Forderungen Calvins zur Wahl der kirchlichen Amtsträger macht sich diese Tendenz denn auch bemerkbar, wenn Calvin einen mittleren Weg sucht, der zwischen monarchistischer Autokratie auf der einen und anarchistischer Massenherrschaft auf der anderen Seite hindurchführt (493). Freilich könnte hier auch wieder ein humanistisches Staatsideal eingewirkt haben. Jedenfalls aber sieht Calvin deutlich Gefahren, die aus der Natur des Menschen und der von ihm ausgehenden politischen Gestaltungsversuche emporsteigen.

Das eine aber hat B. deutlich zu machen verstanden, daß die Schnittlinie, die der moderne Spiritualismus durchs Neue Testament und durch die Lehre der Reformatoren gelegt hat, unmöglich stimmen kann: als wenn nämlich zwar im „Evangelium”, in Heilsbotschaft und Glaube ewige Wahrheit läge, Kirchengestalt und -ordnung dagegen, Kirchenämter Größen rein zeitgeschichtlicher Bedingtheit seien, bestenfalls für eine Epoche gültig oder nützlich, und daß man hier mit der berühmten „lutherischen Freiheit” verfahren könne, um alle möglichen, gerade üblichen oder nützlich erscheinenden Ordnungen und Ordnungsgedanken in die Kirche hineinzubringen. Diese angeblich lutherische Freiheit hat mit dem, was die Reformatoren so nennen, nichts zu tun, es ist vielmehr die Freiheit der Willkür, die sich durch die angebliche „Unsichtbarkeit” der Kirche zu ihrem Tun ermächtigt glaubt.

Calvin und Luther aber kennen ein göttliches Kirchenrecht, eine in Gottes Offenbarung durch Wort und Sakrament festgelegte Grundordnung der Kirche, ein von Christus der Kirche eingestiftetes Amt. Sie gehören mit zur Offenbarung selber, zur Heilsbotschaft! Diese Erkenntnis hat im 19. Jahrhundert Wilhelm Löhe wieder zurückgewonnen, und sie taucht in unseren Tagen an mehreren Stellen zugleich von neuem empor.7) Es gibt eine


7) Zu Löhe siehe jetzt Siegfried Hebart, Wilhelm Löhes Lehre von der Kirche, ihrem Amt und Regiment, Neuendettelsau 1939, ferner vor allem Hans Asmussen, Die Kirche und das Amt, München 1939, auch Wendland in dem in Anm. 6 angeführten Aufsatz sowie in „Die Kirche als göttliche Stiftung” (Theologia militans Heft 23), Leipzig 1938.

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Leiblichkeit der Kirche, die zu ihrem Auftrage, ihrem Wesen, ihrer Substanz gehört und mit der zugleich die Kirche selber zerstört werden würde! B. zeigt sehr eindrucksvoll gegen Sohm, R. Seeberg u.a., daß Luther keineswegs jede äußere Ordnung der Kirche als menschlich und veränderlich angesehen habe, daß vielmehr sowohl Luther als die lutherischen Bekenntnisschriften ein „göttliches Recht” kennen; d.h. sie sehen dies göttliche Recht in jeder „Ordnung, die sich unmittelbar auf das Evangelium gründet und darin als unwandelbarer Wille Gottes sich bezeugt”, wie z.B. in der Einsetzung des Predigtamtes (388). „Alle nach dem Evangelium eingesetzten Ordnungen sind de iure divino” (392). Ist damit zugleich gegeben, daß es auch Ordnungselemente in der Kirche gibt, die nicht de iure divino im Sinne göttlicher Stiftung durchs Evangelium und den heiligen Geist sind, wie auch die Reformatoren mehrfach betont haben, daß es Formen des kirchlichen Handelns und Lebens gebe, die nach Zeit, Ort und Lage der Kirche verschieden seien und sich ändern könnten, so ist doch klar, daß die Formen de iure humano auszurichten sind nach den göttlichen Grundordnungen der Kirche, wenn sie überhaupt einen kirchlichen Dienst sollen ausrichten können. Dies gilt z.B. von allen Formen kirchlicher Verwaltung, insbesondere von der Ordnung des kirchlichen Geldwesens. Je weiter entfernt eines dieser menschlich-geschichtlichen Ordnungselemente an sich von dem göttlichen Auftrage und Endziele der Kirche Jesu Christi ist, desto mehr und desto strenger bedarf es der Einfügung in die aus dem heiligen Geist stammende Grundordnung der Kirche, die mit den drei Größen Wort, Sakrament (Gottesdienst) und Amt hier nur kurz angedeutet werden kann. Luther und Calvin hatten in ihrer Zeit besondere Veranlassung, hinsichtlich des Predigtamtes nachzuweisen, daß es aus Christi Einsetzung hervorgehe, und auf einem mandatum des Herrn selber beruhe. Wir unsererseits heute haben allen Grund, darauf hinzuweisen, daß alle Ämter der Kirche eben wirklich Kirchenämter sind, d.h. pneumatische Ämter, was vor allem auch von allen den neu entstandenen Ämtern in der Kirche gilt, über deren Sinn und Einfügung in die Gesamtordnung der Kirche wir uns bisher nur allzu wenig Gedanken gemacht haben, z.B. von dem Amte der Gemeindehelferin, der Vikarin, des Katecheten, des Vorlesers, der den Lesegottesdienst hält, ebenso natürlich von den älteren, z.T. schon im 19. Jahrhundert der Kirche wiedergeschenkten Ämtern wie der Diakonisse und dem Diakonen, ferner dem Organisten und Chorleiter (Kantor), den Juristen der kirchlichen Verwaltung usf. So steht es jedenfalls im Neuen Testament, daß alle Ämter pneumatisch sind, und wenn die Kirche sich über diese Urordnung ihres Seins hinwegsetzen will, wie sie es in den letzten Jahrhunderten getan hat, in denen viele Ämter säkularisiert und verbürgerlicht sind oder aber aus äußeren Arbeitsnotwendigkeiten entstanden, ohne daß man viel überlegt hätte, was sie wohl eigentlich mit dem Baugesetz des Leibes Christi zu tun hätten,

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dem sie doch eigentlich hätten dienen sollen, so erfährt sie als Strafe für ihren Vorwitz den Verfall.8)

Hier ist es nun höchst bedeutsam zu erfahren, daß auch Calvin die Ämter der Kirche als pneumatisch-charismatische Ämter begriffen hat, da Christus „in den von ihm eingesetzten Ämtern durch seinen Geist wirksam gegenwärtig ist” (429 f.); es sind „alle Träger der öffentlichen Ämter pneumatische Persönlichkeiten” (427). Sie sind „spirituales praefecti” oder „organes de son sainct Esprit” (428 u. Anm. 198 hierzu). Sie führen daher ein geistliches Regiment, dessen Gewalt von der weltlich-politischen wohl zu unterscheiden ist. Mit Recht hat Calvin besonders das Diakonenamt (von dem auch Luther sagt, daß nach dem Predigtamt kein höher Amt in der Kirche sei) in die pneumatische Sphäre gerückt (430).

Damit ist nun das schwerwiegende Problem von Amt und Charisma aufgeworfen. Hans Asmussen hat uns jüngst gezeigt, wie Amt und Geistesgabe im Neuen Testament unlöslich zusammengehören: kein Amt ohne Charisma, kein Charisma ohne den Dienst, zu dem es führt und berechtigt —,9) und so haben auch wir wieder zu fragen: wo sind die Gaben in unseren Gemeinden, in unserer Kirche? Man muß sie suchen und sehen lernen. Wer an die gegenwärtige Macht des heiligen Geistes glaubt, der nicht bloß in der apostolischen Zeit der Kirche gegeben war, weiß, daß auch heute in der Kirche Gaben gegeben sind. Es gehören Liebe, Ehrfurcht und geistliche Erkenntnis dazu, sie aufzudecken und für den Dienst an der Gemeinde fruchtbar zu machen. Daß Kirchenämter neu entstehen können, lehrt sowohl die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts als die unmittelbare Gegenwart. Die Not der Kirche, die der Organe bedarf, treibt sie gleichsam hervor. So bedarf die Kirche heute mehr denn je wieder der freiwilligen Dienstleistungen, die von sog. Laien ausgeübt werden. Daher ist in der Tat die Ämterordnung der apostolischen Zeit weder ein Gesetz noch ein in jeder Lage künstlich nachzuahmendes Schema. Bindende Grundordnung ist aber, daß alle kirchlichen Ämter, auch diejenigen der Verwaltung und äußeren Leitung, gebunden sind an Wort und Sakrament, daß sie alle aus dem Pneuma leben müssen — oder sie sterben als Funktionen der Kirche ab —, daß sie alle mittel- oder unmittelbar dem priesterlichen Auftrag der Kirche dienen. Bindende Grundordnung ist ferner, daß es Kirche nicht geben kann ohne den Dienst der Verkündigung und der Spendung der Sakramente, ohne den Dienst der Lehre (Theologie) und der christlichen Unterweisung, ohne den Dienst der Liebe, ohne Verwaltung und


8) Zur Ämterfrage in der gegenwärtigen Lage der Kirche vgl. außer H. Asmussen vor allem noch W. Stählin, Vom göttlichen Geheimnis, Kassel 1936, S. 97 ff.; H.-D. Wendland, Die Ämter in der Kirche, Niederdeutsches Luthertum 1940, Nr. 13/14, S. 99 ff., und von demselben, Die Laienämter in der Kirche Ev. Deutschland 1941, Nr. 8, S. 48 f.
9) H. Asmussen a.a.O. S. 232 ff.

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mancherlei äußere Zurüstung für den Gottesdienst, auf den alle Ämter ausgerichtet sind. Verbindlich und bleibend sind die von den Aposteln geordneten bzw. durch ihr Zusammenwirken mit den Gemeinden entstandenen Ämter der Verkündigung, der Gemeindeleitung, der Diakone, der Verwaltung. So wenig man ein geschlossenes Ämtersystem im Neuen Testament finden kann, so deutlich ist doch diese Grundordnung, die Mannigfaltigkeit nicht aus-, sondern geradezu einschließt, da es sich ja um den Leib Christi handelt, um einen „organischen” Zusammenhang und wiederum um die alles Schematismus spottende Fülle des pneumatischen Schöpfergeistes. Nur daß diese nicht mit regellosem Enthusiasmus zu verwechseln ist! Dieser Täuschung sind auch große Forscher erlegen. Ihnen gegenüber war die Tendenz Calvins keineswegs bloß ein gesetzlicher Biblizismus, sondern die theologisch und kirchlich gleich legitime wie notwendige Frage nach der Einheit und dem Zusammenhange der kirchlichen Ämter in der Schrift. Mir will scheinen, daß die Anschauungen der Reformatoren an diesem Punkte vielfach der geschichtlichen Wirklichkeit weit näher waren als die kirchenrechtlichen, mit allen möglichen politischen Begriffen arbeitenden Konstruktionen der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts, weil sie wirklich in pneumatischer Gleichzeitigkeit mit den Aposteln lebten. Auf der anderen Seite war Calvin gebunden an die kirchlichen Notwendigkeiten und Aufgaben seiner Zeit, wie jedes christliche Geschlecht an die seinigen. Er versuchte sie vom Neuen Testament her zu ordnen und zu verstehen. Das bleibt vorbildlich und eine bindende Lehre für alles Kirchenrecht. Das Calvin eigentümliche Verlangen und Drängen nach dem geordneten Zustande, der constitutio der Kirche hat ihn dabei sicher, so etwa hinsichtlich der Vierzahl der Ämter, zu Systematisierungen geführt, die wir nicht mehr festhalten können. Hinsichtlich der Presbyter und Diakonen aber ist es ihm gelungen, unaufgebbare Elemente der neutestamentlichen Kirchenordnung wieder zum Leben zu erwecken. Man muß hier nur die Ausführungen Maurers über den Diakonat bei Luther und in den alten, lutherischen Kirchenordnungen hinzunehmen, um ein vollständiges Bild zu erhalten.10) Es ist ja nun wirklich nicht so, als ob dies älteste Luthertum nur das vereinsamte Predigtamt der späteren Zeit gekannt habe! (Ich bemerkte gegen ein mögliches Mißverständnis ausdrücklich, daß B. weit entfernt davon ist, dgl. zu behaupten.) Und es gilt, sich hier die Warnung Maurers vor Augen zu halten, daß wir nicht die ausgeprägten konfessionellen Gegensätze ohne weiteres in die Werdezeiten der evangelischen Kirchen zurücktragen dürfen.11)

Es ist eine besondere Absicht der Darstellung von Bohatec’, das organische Prinzip im Denken Calvins sichtbar zu machen und seinen Zusammenhang mit der Christusherrschaft oder der


10) W. Maurer a.a.O. S. 27 ff. „Die Reformation hat den biblischen Diakonat neu begründet” (S. 29).
11) a.a.O. S. 7.

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Pneumatokratie zu zeigen. Da der organische Gedanke einmal in der Staatslehre, und hier naturgemäß in engem Zusammenhange mit dem Humanismus Calvins und seinen antiken Quellen (1 ff.), sodann in der Lehre von der Kirche auftaucht (die Wesenskirche als „mystischer Organismus” (267 ff.), so stellt sich die Frage, ob der antike Begriff sich bei Calvin nicht mit dem paulinischen Verständnis der Kirche als des Leibes Christi verbunden habe. Lehrreich ist zunächst, daß B. schon hinsichtlich des Staates zu zeigen versucht, daß Calvins Anschauung sich nicht ganz mit der antiken, insbesondere aristotelischen, decke (9 ff.), vor allem deswegen nicht, weil er Gott als den Schöpfer und majestätischen Herrscher ehrt, der der Schöpfer auch der Staatsordnung ist. In ihm wurzeln die Souveränität und Autorität der Obrigkeit, nicht in ihr selbst. Was die Kirche anlangt, so soll offenbar schon der Begriff des corpus Christi mysticum zeigen, daß hier der Organismusbegriff gleichsam auf einer anderen Ebene oder in einer anderen Dimension erscheint: auch der „Leib Christi” ist reale Wirklichkeit, aber durch die Setzung der erwählenden Gnade Gottes, also „Leib” in der neuen Dimension der Heilswirklichkeit oder des neuen Aion, in der Sprache des Neuen Testaments geredet. Dann aber ist hier „Leib” oder „Organismus” noch in einem anderen Sinne Gleichnis für das Baugesetz der Kirche Christi als diese Ausdrücke Gleichnisse für den Staat sind, bzgl. dessen sie ja auch schon Bild für eine rechtlich-sittliche Gemeinschaft sind und damit den biologischen Sinn der Termini transzendieren. „Gleichnis” heißt im neutestamentlichen Sinne ja zugleich immer, daß das Gleichnis von der Wirklichkeit durchbrochen wird, für die es Gleichnis is; so sagt der Apostel, der dies für die Geschichte der christlichen Kirche so unendlich tief wirkende Gleichnis geprägt hat, ausdrücklich, daß Gott es sei, der die einzelnen Charismen oder die einzelnen Glieder am Leibe gegen und gesetzt habe, bzw. der Geist Gottes, durch den wir zu einem Leibe zusammengetauft worden seien (1. Kor. 12, 11. 13. 18. 24 vgl. 4-6). Oder es ist das Haupt Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengehalten wird, wächst, Kraft und Leben empfängt (Ko. 2, 19; Eph. 4, 16). Es ist klar, daß hier der biologisch-organische Begriff durchbrochen und sehr entschieden von der Wirklichkeit, der eschatologischen Heilswirklichkeit der Kirche her umgeschmolzen ist, so daß er nun zum Transparent für die schöpferische Gnadenherrschaft Gottes oder Christi werden kann, deren Wille den Leib und die Glieder zu dem machen, was sie sind. Der „immanente”, natürliche Organismusbegriff ist hierdurch gesprengt. Wie schon der Erwählungsgedanke zeigt, ist auch dieser neutestamentliche Tatbestand auf Calvin nicht ohne Wirkung geblieben. Doch scheint uns B. zuweilen zu ungesichert und direkt von dem organischen Prinzip bei Calvin zu sprechen. Oder tut dies Calvin selber? Ist er in der Anwendung des organischen Gedankens nicht auch bzgl. der Kirche vom antiken, immanenten, kosmischen Organismusgedanken beeinflußt? Das sind Fragen, die wir an B. zu richten hätten. Die Einheit in der

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Vielheit (vgl. 270), die Christus als Haupt der Kirche herstellt, ist eben eine kategorial andere, als die in der Sphäre des Bios, etwa des pflanzlichen Lebens, oder in der des Staates und der Rechtsgemeinschaften, so gewiß das Bild „Leib” nicht dem Zufall oder der Willkür seine Entstehung verdankt, sondern aus der geheimen Zu-Ordnung zu interpretieren ist, die im Gegensatze und durch ihn hindurch zwischen der Welt des Geschaffenen und der Welt der Erlösung und des Reiches Gottes besteht, weil Gott Anfang und Ende, Schöpfer und Vollender ist.

Dieser mystische Christusleib ist Gegenstand des Glaubens (280), nicht identisch mit einem irdischen Ding, Raum oder Ort, aber sie muß externa ecclesia werden, weil die communio der Kirche nicht verborgen bleiben kann (281). Die Wesenskirche muß sich versichtbaren, ohne sich mit der geschichtlichen Gemeinschaft Kirche je einfach decken zu können (286). Wir meinen freilich, der Gegensatz „sichtbar-unsichtbar”, den auch B. ausdrücklich zu einem Gegenstande seiner Darstellung macht (285 ff.), sei so wenig klar und glücklich und vor allem, wie jüngst H. Asmussen wieder energisch betont hat,12) so wenig im Neuen Testament begründet, daß wir ihn endgültig beseitigen sollen. Denn er kann das Verhältnis von Reich Gottes und Welt, von Ewigkeit und Zeit, von Erlösung und Schöpfung, um das es hier geht, gar nicht ausdrücken, und auch die Reformatoren selber sind hier schon in Schwierigkeiten gekommen. Daß das Ewige „unsichtbar” sein müsse, ist das proton pseudos dieses Gedankenganges, der platonisch oder was sonst immer sein mag, aber jedenfalls nicht neutestamentlich ist; denn das göttliche schaffende Pneuma muß und will ja gerade in der Kreatur, also auch zeitlich, sichtbar, welthaft in Erscheinung treten: es steht unter dem Gesetz der Inkarnation und der Leiblichkeit. Es kommt noch hinzu, daß der Gegensatz auch dadurch schief wird, daß er nur von einer bestimmten menschlichen Sinnentätigkeit und -erfahrung genommen ist. Die „unsichtbare” Kirche ist auf alle Fälle sehr „hörbar” und darin gerade sinnenkundig und erfahrbar. Besser ist dann schon das bekannte Bild Luthers von Leib und Seele, obwohl auch in dieses noch der Platonismus hineinzuspielen scheint, wenn er meint, daß die Seele im Leibe lebe, „und auch wohl an (ohne) den leyp” (289). — Immerhin hat B. auch hier treffend gegen Sohm gezeigt, daß Luther


12) Asmussen a.a.O. passim, besonders S. 72 ff. Er steht damit nicht allein, vgl. W. Stählin a.a.O. und meine oben angeführten Aufsätze und Schriften. Zur Lehre der lutherischen Bekenntnisschriften vgl. jetzt Edm. Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 1940, S. 295 ff. „Die Kirche ist niemals ohne die äußeren Zeichen” (296). „. . . wenngleich nur der Glaube die wahre Kirche an ihren Kennzeichen erkennt, so hören diese Kennzeichen doch deshalb keineswegs auf, äußerlich zu sein” (296); vgl. dazu die gegen Sohm gerichtete Anm. 24 ebendort, die gegen die falsche Schlußfolgerung Sohms sich richtet, als ob die Kirche unsichtbar sein müsse, weil nur der Glaube die äußeren Zeichen der Kirche als Zeichen der wahren Kirche erkenne.

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die Kirche nicht in ein unsichtbares geistliches Leben spiritualisiert hat — der moderne Spiritualismus hat die genau entgegengesetzte Tendenz wie das Pneuma im Neuen Testament! —; die Kirche ist für die Reformatoren eben keine civitas platonica, obwohl schon ihr Sprachgebrauch für die spätere, verhängnisvolle Entleerung, Entheiligung und damit auch Entwirklichung der sichtbaren Kirche und für die so entstehende Lehre von zwei Kirchen einen Anstoß gegeben hat. Wo Wort und Sakrament sind, sind sie zugleich Zeichen der „sichtbaren” und der „unsichtbaren” Kirche in einem, unscheidbar, das hat auch Calvin erkannt (286 f.), obwohl sich m.E. bei ihm die Konzeption der unsichtbaren Wesenskirche der Erwählten mit der anderen des Leibes Christi überschneidet. Denn das Gleichnis vom „Leibe Christi” weist entschieden in die Weltwirklichkeit hinein, da wirkliche Menschen (mit ihrem Leibe!) Glieder des Leibes Christi und Wirkungsort des Pneuma sind (1. Kor. 3, 16 f.; 6, 19 f.). Ist das Pneuma die göttliche Dynamis der Verleiblichung, so ist damit die Dualität „sichtbar-unsichtbar” ständig in der Aufhebung begriffen. Da gerade heute die Frage nach der „Sichtbarkeit”, richtig Leibhaftigkeit und Geschichtlichkeit der Kirche mit elementarer Kraft neu erstanden ist,13) ist auch die Analyse dieses Problems in der reformatorischen Theologie besonders wichtig und dankenswert, obwohl heute deutlich gesagt werden muß, daß die reformatorische Theologie nicht ein Ende, sondern einen Anfang darstellt und nicht zur norma normans erhoben werden kann. Sie selber hat eine solche auch niemals sein wollen. Der richtige Ansatz liegt in ihr selber etwa in den Gedanken Luthers über die Christusherrschaft vor: das Reich Christi ist geistlichen Wesens und doch in dieser Welt durch Taufe, Sakrament, Predigtstuhl, Glaube, heilige Schrift und Bekenntnis des Namens Christi; Christus sitzt unsichtbar zur Rechten Gottes und regiert doch seine Kirche durch „äußerliche, sichtbare Zeichen” (402). Er ist das Haupt auch der sichtbaren Kirche, welche er durch Menschen ordnet und regiert (405 f.). Hier ist nun wieder ein wichtiger neutestamentlicher Tatbestand getroffen: nie wirkt der heilige Geit anders denn durch Menschen, die er zu seinen Werkzeugen und Gefäßen macht. Also wird auch die Christusherrschaft in der Kirche stellvertretend durch Menschen ausgeübt, in deren Händen das Kirchenregiment liegt, für das sie Vollmacht, Leitung und Kraft durch den heiligen Geist empfangen. Das ist das Wunder der Leiblichkeit, der Gestalt der Kirche auf Erden, daß Gottes Offenbarung, daß der heilige Geist sich auch hier wieder verkleiden will in Fleisch und Blut der Menschen und es nicht verschmäht, durch Menschen zu wirken. Sie sind nur


13) Siehe die schon genannte Literatur von Asmussen, Stählin, Maurer, Wendland. Vor allem geschieht die ganze Arbeit der „Berneuchener” für Liturgie, Sakrament, Seelsorge, für die Erneuerung geistlicher Lebensordnungen auf dem Boden der neu ergriffenen „Leibhaftigkeit” der Kirche. Hierzu besonders W. Stählin, Bruderschaft, Kassel 1940.

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Mittelspersonen, eine Herrschaftsstellung kommt für sie nicht in Frage, aber diese Mittelspersonen sind in der Kirche notwendig.

Daraus ergibt sich — und so kehren wir noch einmal zu einer wichtigen Frage des Kirchenrechts im engeren Sinne zurück —, daß die Ausübung der kirchlichen Gewalt, die Calvin in die Lehrgewalt, die rechtsprechende und die gesetzgebende Gewalt gliedert, wiederum geistlich sein muß (514). Insbesondere hat Calvin dies für die kirchliche iurisdictio betont, die sich auf die Ausübung der Kirchenzucht bezieht (539 ff.). Von weltlicher Gerichtsbarkeit muß diese gänzlich geschieden werden. Auch hier gilt der allgemeine Grundsatz: „Die Kirchengewalt ist nicht unbeschränkt, sondern dem Worte Gottes unterworfen und in diesem gleichsam eingeschlossen” (516). Insbesondere ist wieder gerade für Calvin, im Gegensatz zu den Behauptungen Sohms, die Schlüsselgewalt geistliche Gewalt, Wortgewalt, nicht aber weltliche Rechts- und Zwangsgewalt (546 ff.). B. betont nachdrücklich Calvins Übereinstimmung mit Luther und darum auch den Gesichtspunkt der Seelsorge als den Calvins Gedanken beherrschenden (551 vgl. 548, 553). Gerade Calvin, der so vielen als der Schöpfer einer gesetzlichen, harten kirchlichen Zwangsordnung gilt, wird von B. als derjenige dargestellt, der die geistliche Gewalt schärfer und mit mehr Erfolg gegen die weltlich-bürgerliche Gerichtsbarkeit abzugrenzen versucht hat als die anderen Reformatoren (563).

An diesem Punkte tritt uns ein durchgehender Grundzug des ganzen Werkes entgegen: es sucht allenthalben die gemeinsame Basis herauszustellen, auf der Luther und Calvin stehen, und arbeitet häufig die Abhängigkeit Calvins von Luther heraus. Man fühlt sich dabei nicht selten an Karl Holl erinnert. Wir müssen diese vielmustrittenen Fragen der Luther- und Calvinforschung überlassen. Das reiche Material, das B. allenthalben vorlegt, erlaubt aber auch demjenigen, der vom Neuen Testament her and die Fragen der Kirchenordnung herantritt, das Urteil, es werde uns durch die Ergebnisse der Untersuchungen von B. schwerer gemacht als bisher, mit runden, leicht zu handhabenden Formeln den theologischen Unterschied zwischen den Kirchenverfassungsgedanken der beiden Reformatoren zu bestimmen. Diese Erschwerung ist ein Verdienst. Es geht nicht um Luther und Calvin, es geht nicht um die geschichtliche Erhaltung oder Selbstbehauptung von Konfessionskirchen, sondern darum, daß uns Luther und Calvin dienen als Ausleger der Hl. Schrift und Wegweiser zu der Bauordnung des Leibes Christi, ohne deren Erkenntnis und Bewährung die Kirche in der heutigen durchgreifenden Krisis ihres gesamten Bestandes an Überlieferungen, Ordnungen und Formen nicht weiter existieren kann.

Wir ringen also heute um die Voraussetzungen für die Erneuerung des evangelischen Kirchenrechtes. Noch sind sie alles andere als klar und bestimmt. Calvins „Pneumatokratie” weist uns auf eine solche Grundvoraussetzung, die wahrlich weder in den noch vorhandenen Kirchenverfassungsformen noch in den Lehren des

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Kirchenrechts so wirksam oder so deutlich erkannt ist, wie es ihr zukommt, weil die Kirche auch in ihren rechtlichen Ordnungen zwar in, aber nicht von dieser Welt lebt.14)


14) Aus der gegenwärtigen Lage der Kirche heraus hat P. Schütz, Das Evangelium dem Menschen unserer Zeit dargestellt, Berlin 1940, die Frage nach dem heiligen Geiste und seiner Verleiblichung in der Geschichte als die Grund- und Urfrage unserer Situation aufgeworfen. Auch hier meldete sich jene neue Anschauung von der Kirche, über die wir gesprochen haben, mächtig zum Worte. An allen diesen Arbeiten wird übrigens scharf deutlich, daß wir uns in einer gänzlich anderen geschichtlichen Lage befinden als die Reformatoren. Sie bedurften um der notwendigen theologischen Polemik gegen eine verfallende, falsche Sichtbarkeit der Kirche, in der die Kirche zur Scheinkirche zu werden drohte, eines anderen Ansatzpunktes als wir heute. Darum wurde für sie die Verborgenheit der wahren Kirche, die niemals aufgeht in der Geschichtlichkeit, so wichtig. Unsere Frontstellung aber ist ebenso notwendig die entgegengesetzte! Nämlich gegen den neuprotestantischen Spiritualismus, der zur vollständigen Auflösung der Kirche führt, weil er die Inkarnation des Sohnes Gottes und die Leibhaftigkeit des Heiligen Geistes verachtet. — Wir vergessen dabei nicht, daß auch schon die Reformatoren gegen die Verachtung kirchlicher Ordnung sich wenden mußten. Was sie kommen sahen, hat aber inzwischen vollständig die Herrschaft erlangt. Daher die andersartige Kampfrichtung heute, der auch die theologische Arbeit zu dienen hat, wobei Aussagen des NT. wichtig werden, die für die Reformatoren nicht in dieser Weise im Vordergrund standen. — Zu den charismatischen Urordnungen der Kirche P. Schütz ebenda S. 466 ff. u.ö. Sie sind die „Wege und Weisen” der „traditio” des Geistes, in denen er „sich uns zugestaltet”. So die Eucharistie, das Kerygma, die Taufe, das Bischofsamt, die Heilige Schrift (468).