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Kapitel V

Defizienz und Suffizienz der Kirchenverfassung

Das vergleichbare Nebeneinander von vier, theologisch qualitativ verschiedene Formen von Kirche bedeutet eine Durchbrechung der traditionellen normativen Betrachtung. Die konfessionelle Lehre von der Kirchenverfassung beschäftigt sich regelmäßig nur mit denjenigen Formen und Gestaltungen, die sie aus ihre eigenen Grundansätzen ableitet und läßt diejenigen beiseite, die in ihren Bereiche nicht vorkommen und deren ekklesiologische Notwendigkeit und Bedeutung sie mehr oder minder grundsätzlich bestreitet. Der katholische Kanonistik reflektiert nicht auf die Tatsache, daß seit vielen Jahrhunderten die Gemeindeverfassung eingeengt und unterbildet worden ist, so daß die Gemeinde schließlich nur noch als Teil der Diözese ohne selbständige kirchenrechtliche Rechtssubjektivität erscheint. Ebensowenig befaßt sich die reformatorische Kirchenrechtslehre mit den Problemen einer Gesamtverfassung der Kirche. Es genügt ihr zu sagen, daß eine solche nicht wesentlich und theologisch erfordert sei.

Andererseits kann aus einer phänomenologischen Betrachtung nicht das Postulat gefolgert werden, eine „volle” Kirchenverfassung müsse alle vier Elemente in höchstmöglicher Durchbildung und Selbständigkeit miteinander vereinen. Ebensowenig kann aus der Tatsache, daß in den vorfindlichen konfessionellen Kirchenverfassungen nirgends alle vier Elemente zur vollen Darstellung gekommen sind, bereits ein Defizienzurteil abgeleitet werden. Die Verknüpfung dieser Elemente ist vielmehr wesentlich komplizierter. Aus der vergleichenden Darstellung ergibt sich zunächst, daß historisch jede der genannten Formen als Element der Kirchenverfassung voll durchgeführt werden kann, daß aber gerade diese volle Durchführung der einen Elemente zur Einschränkung und Zurückdrängung anderer führt.

Festzustellen ist, daß es keine historische Form von Kirche gibt, die sich auf eines dieser Elemente beschränkt. Die stärkste Ausbildung des päpstlichen Zentralismus hat zwar die Kollegialität der Bischöfe und die horizontalen Querverbindungen in der Kirchenverfassung des Katholizismus zurückgedrängt. Aber selbst auf dem Höhepunkt dieses päpstlichen Zentralismus ist nach dem I. Vatikanischen Konzil ausdrücklich erklärt und unzweideutig anerkennt worden, daß das Recht der Bischöfe originär, im strikten Sinne divini juris ist, so daß auch die katholische Kirche eine zweigliedrige Kirchenverfassung aus Primat und Episkopat besetzt.63 Gegenüber dieser grundsätzlichen Feststellung ist die Frage, wie weit die Rechtsstellung des Episkopats ausgehöhlt und verändert worden ist, zwar von eminenter, aber nicht im strengen Sinne von grundsätzlicher Bedeutung.

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Auf Grund der Aussagen des II. Vatikanischen Konzils hat nunmehr auch der Entwurf einer Lex Ecclesiae Fundamentalis das Ineinander von universaler Kirche und partikularen Kirchen kirchenrechtlich formuliert. Eine zentralistische Kirche, die allein auf dem Primat und den von ihm hervorgebrachten Organen des Kardinalskollegiums und der Kurie beruhte, wäre im strengen Sinne häretisch. In diesem Sinne, proprio sensu bedingt nicht nur die Gemeinschaft mit dem Papst die Legitimität der Ämter, sondern umgekehrt auch die Zweigliedrichkeit der Kirchenverfassung die Legitimität des Primats!

Das gleiche gilt aber auch für eine independentistische Kirchenverfassung, die der je einzelnen Gemeinde kirchenrechtliche Letztentscheidung zubilligt und tendenziell alle Rechte übergreifender Gemeinsamkeit aus der Jeweiligkeit gemeindlicher Entschließungen hervorgehen läßt. Auch die reformatorischen Kirchen haben diese Kirchenform abgelehnt. Die lutherische Kirche hat mit der Visitation eine die Einzelgemeinde übergreifende Einrichtung geschaffen, welche die Tradition der bischöflichen Visitation aufgenommen, ihr aber einen wesentlich neuen Charakter verliehen hat. Sie setzt voraus, daß die einzelne Gemeinde des Zuspruchs und geistlicher Aufsicht (episkopé) bedarf, um nicht Mißbräuchen und Einseitigkeiten zu verfallen und aus der Gemeinschaft der Kirche herauszuwachsen. Die reformierte Kirche hat die Gemeinden von Anfang an zu Synodalverbänden vereinigt. Gemeinsamkeit der Lehre und Disziplin erschien ihr eine unabdingbare Forderung.

Auch hier ist die Frage, inwieweit sich in einzelnen Denominationen und unter besonderen Verhältnissen die Praxis dieser independentistischen Position angenähert hat, analog wie beim Episkopat bzw. der Partikularkirche von realer, hervorragender, aber nicht grundsätzlicher Bedeutung. Auch eine independentistische Kirchenform ist eine häretische, weil sie die Vermittlung zwischen der Gemeinsamkeit der universalen Kirche und der Gemeinde grundsätzlich in Frage stellt, entwertet und praktisch nicht zur Wirksamkeit kommen läßt.65

Aus dem Vergleich dieser Erscheinungen und Möglichkeiten läßt sich der kirchenrechtliche Satz ableiten, daß eine monoforme Kirchenverfassung häretisch ist, weil sie eine Teilwahrheit, hier ein wesentliches Element der Kirchenstruktur, zum Prinzip des Ganzen macht. Bemerkenswert ist dabei, daß häretische Kirchenverfassungen in diesem Sinne, die theoretisch denkbar und in der Praxis wenigstens annähernd möglich sind, nur dort entstehen können, wo es sich um Primärformen von Kirche im Sinne des ersten Kapitels handelt. Nur Universalkirche und Gemeinde als solche Primärformen der Kirche können in dieser Einseitigkeit theoretisch vertreten und als praktische Tendenz wirksam werden. Freilich besteht hier noch ein weiterer Unterschied. Zwar ist es dem römischen Primat und der Kurie weitgehend gelungen, das zweite Element des Bischofskollegium zurückzudrängen; vollständig konnte dies jedoch nicht

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erreicht werden. Ein Zentralismus ist möglich, der mit sehr großen Härten und Einseitigkeiten dem Recht der Gesamtkirche immer und überall ein Voraus vor jedem partikularen Recht sichert. Ein solcher Zentralismus ist anfechtbar, einseitig, verderblich; aber er ist sehr weit realisierbar. Anders ist es mit dem Independentismus. Die Möglichkeiten seiner Verwirklichung sind ungemein begrenzt. Sein Prinzip selbst verwehrt ihm in so hohem Grade eine wirksame Organisation, daß eine wesentliche Ausbreitung dieser Form nicht möglich ist. Auch solche Gemeinden, die sich von diesem Grundsatz her verstehen, sind durch eine Fülle theologischer und praktische Gründe immer wieder genötigt, Verbandsformen im Sinne der Partikularkirche zu finden, um auf die Länge existieren zu können. Die Isolierung einzelner Gemeinden dauert meist nur eine begrenzte Zeit, so lange die sie auslösende Situation besteht. Unverkennbar und unbestreitbar leben solche Gemeinden trotz ihrer Absonderung von dem, was die Kirchen mit ihren nichtisolierten Gemeinden an Lehre, Ordnung und gemeinsamer Wirksamkeit zustande bringen. Sie leben auf Kosten der Anderen, denen sie mit einigem Recht ihre, mit ihrer Institutionalisierung zusammenhängenden Mängel, häufig nicht ohne Pharisäismus, vorhalten.66

Sind also monoforme Kirchenverfassungen denkbar und bis zu einem gewissen unterschiedlichen Grade realisierbar, zugleich aber eindeutig theologisch zu verurteilen, so stellt sich das Problem der Defizienz und Suffizienz erneut dort, wo mehrere der genannten Grundformen in systematische Verbindung treten.

Die Kirchenverfassung der reformatorischen Kirchen sind als duale zu bezeichnen. In ihnen ist die rechtlich voll ausgebildete Gemeinde mit der Partikularkirche in Korrespondenz gesetzt. Dadurch tritt das Mißverhältnis ein, daß nur ein primäres Element mit einem sekundären Element zusammengespannt ist. Beide reformatorische Kirchen entbehren jeder gesamtkirchlichen Verfassungsorganisation und hätten auch keine für sie selbst charakteristischen Repräsentationsformen, in denen eine Konfessionskirche auf Weltebene organisiert werden könnte. Nachdem sie das konstruktive Zusammentreffen von universaler Kirche und Gemeinde in der Gestalt des Bischofsamts aufgelöst haben, könnten sie, auch wenn sie es wollten, auf Weltebene Verbände kirchenrechtlicher Qualität nicht bilden. Dieser Ausfall und die Alleinigkeit des Verhältnisses Partikularkirche — Gemeinde führt zu einer endlosen und hoffnungslosen Problematisierung der Partikularkirche, die nicht als Vermittlung und Durchgang, sondern als die höchstmögliche konkrete Form vorkommt, eben darum aber einen falschen Souveränitätsanspruch theologisch nicht decken kann. Mehr noch: die hochgelobten Gemeinden sind außerstande, ohne gesamtkirchliche Vermittlung zu leben. Die Partikularkirche dagegen lebt im Widerspruch zwischen der ihr zugefallenen Souveränität und ihrer sekundären theologischen Dignität. Dieser Widerspruch wird ihr in

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einer ständigen Kirchenkritik mit der Wirkung vorgehalten, daß sie zur Erfüllung gerade ihrer gesamtkirchlichen Funktion eher untauglicher als tauglicher wird. Sie wird nicht angehalten und daraufhin organisiert, mit anderen Partikularkirchen planmäßig zusammenzuwirken; vielmehr wacht man einerseits eifersüchtig über die eigene Souveränität, während gleichzeitig diese Überbau als eine zwar unvermeidliche, aber doch fragwürdige bloße „Organisation” abgewertet wird. Zugleich sind diese Kirchen außerstande, supranationale kirchenrechtliche Verbände — auch begrenzter Ausdehnung zu schaffen. Ohne ausdrücklichen theologischen Dignitätsanspruch besitzen die historisch-nationalen Abgrenzungen für die Rechtsbildung wie für das Bewußtsein ihrer Glieder unübersteigbare Grenzen. Das Problembewusstsein für diese Fragen ist so wenig ausgebildet, daß in Gestalt der Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa eine räumlich begrenzte theologische Gemeinsamkeit intendiert wird, ohne daß die Tragweite dieser Begrenzung zur Erörterung gestellt wird. Ein von dem Waldensischen Kirchenrechtler Peyrot-Rom erstelltes Gutachten hat auf die Problematik dieser Begrenzung hingewiesen. Man hat sich aber darauf beschränkt, die Hoffnung auf eine ökumenische Ausbreitung dieses Konsenses auszudrücken.

Beide Kirchen haben andererseits dem Gemeindebegriff eine Monopolstellung verliehen, die einer kirchenrechtlichen Anerkennung irgendwie gearteter Formen von Ordensbildung rechtlich und psychologisch entgegensteht. Auch, wo solche Gemeinschaften sich in den letzten Jahrzehnten gebildet haben, entbehren sie der kirchenrechtlichen Stellung. Sie sind nichts weiter als kirchenrechtliche Privatvereine auf der Grundlage der innerkirchlichen Vereinigungsfreiheit. Sie besitzen jedoch keinen verfassungsrechtlichen Status und werden auch gar nicht auf ihre Einordnung hin betrachtet. Ob man sich für sie subjektiv als interessante und förderliche Aktivitäten interessiert oder sie mißtrauisch als Fremdkörper im Lichte der historischen Kritik am Mönchtum betrachtet, ist dabei gleichgültig. Diese Struktur von Kirchenverfassung schließt also die universale Kirche und den Orden als verfassungsrechtliche Möglichkeiten oder Elemente von ihren grundsätzlichen Voraussetzungen her aus. Selbst das Vorstellungs- und Verständnisvermögen für Formen über die beiden anerkannten hinaus ist abgestorben.

Der römische Katholizismus hat im unterschiedlichen Grade, wie oben erörtert, die Dualität von Primat und Episkopat bewahrt und verwirklicht: Die Regulation dieses Verhältnisses ist für ihn ein beständige geschichtliche Aufgabe. Daneben besitzt er ein für ihn charakteristisches, theologisch anerkanntes und rechtlich gesichertes Ordenswesen, welches über laikale Zwischenformen bis tief in das parochiale Gemeindeleben hinüberwirkt. Dasjenige Element jedoch, das in diesem Gefüge erdrückt und zu kurz gekommen ist, ist die Gemeinde. In dem Entwurf einer Lex Ecclesiae Fundamentalis kommt sie als solche überhaupt nicht vor; sie

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ist im Rechtssinne nur ein Abschnitt der Diözese,67 deren parochiale Unterteilung allerdings gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Diözese, als Partikularkirche verstanden und in der neuen Pluralität der Partikularkirchen, aus denen sich nach den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils die Gesamtkirche aufbaut, zu einer solchen unausdrücklich aufgewertet, wird zugleich primär als Gemeinde verstanden. Auf diese Weise erscheint die Parochie theoretisch als eine Teilgemeinde der selbst als Bischofsgemeinde verstandenen Diözese, so sehr dies der vorfindlichen Wirklichkeit auch widerspricht. Dem entspricht auch die völlige Nachordnung des niederen Klerus, der Presbyter und Diakone, die nicht auf ihre eigenständige Verantwortung in der Gemeindeleitung und Arbeit, sondern auf ihre Hilfsfunktion gegenüber dem Bischof hin verstanden und eingeordnet werden. Die Wahl, welche die Kirche schon in früher Zeit getroffen hat, indem sie die Zahl der bischöflichen Gemeinden beschränkte, und die Chorbischöfe zum Aussterben brachte, hat sich in der Folge radikalisiert und potenziert. Aus dem tatsächlichen Übergewicht, welches in den Gebieten der frühen Mission immer noch eine große Zahl von echten Bischofsgemeinden übrig ließ, ist eine prinzipielle Unterteilung und Nachordnung geworden. Konnte sich eine wesentlich bischöfliche Kirche ohne Zerstörung des Gemeindebegriffs mit diesem in Verhältnis zwischen Bischofsgemeinde und übrigen Gemeinden ausgleichen, so hat dies eine effektiv zentral geleitete primatiale Kirche nicht mehr vermocht. Die Bedingung der Möglichkeit einer wirksamen Kirchenverfassung besteht also nach diesem historischen Überblick darin, daß die Entfaltung eines wesentlichen und möglichen Elements theoretisch und praktisch durchgreifend eingeschränkt wird. Dabei ist es relativ unwichtig, ob es lediglich aus dem Blick kommt oder sogar theoretisch verneint wird.

Die Gegenprobe für dieses Urteil bietet die Verfassungstradition der bischöflichen Kirchen, die im Bereich der Ostkirche wie des Anglikanismus erhalten geblieben ist. Auch hier besteht jene entschiedene Vorordnung des Bischofsamts vor der Gemeinde, deren Eigenständigkeit weitgehend eingeschränkt ist. So ist charakteristisch, daß der normale Gemeindepfarrer in der Church of England gerade nicht Pfarrer, sondern Vikar, nämlich des Bischofs, genannt wird. Aber niemals ist dort das Bewußtsein der theologischen Dignität der Gemeinde so verlorengegangen, daß sie im Sinne des CIC als Abschnitt oder portio verstanden werden könnte. Dem entspricht aber exakt, daß die Gesamtleitung nicht wesentlich über die Bischofsgemeinde hinaus zentralistisch verdichtet worden ist. Die Stellung der Patriarchen und Primatialbischöfe ist ein nur sehr beschränktes, immer wieder auf die Zustimmung der Bischofsgemeinschaft zurückverwiesenes Ehrenamt.

Die anglikanische Kirche als „westliche Orthodoxie” hat sich mit einem für unsere Begriffe mäßigen Aufwände von ekklesiologischer Theorie

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ohne viel Aufhebens traditionalistisch die Grundzüge der älteren bischöflichen Kirchenverfassung bewahrt und weitergebildet, zugleich mit der Intention und dem Anspruch, als Kirche intakter Personal- und Verfassungstradition von der östlichen Orthodoxie als gleichartig und gleichberechtigt anerkannt zu werden. Sie hat zugleich die konstitutive Interdependenz aller Kirchen als Basis und Ziel festgehalten und vermieden, sich auf den engen Raum ihrer nationalen Gemeinschaft zu beschränken. Sie hat wenigstens die aus ihr hervorgegangenen Kirchen im weiteren angelsächsischen Bereich in den Formen konzilianter Bischofsgemeinschaft zusammengehalten und ist so dem Provinzialismus entgangen. So kam ihre Verfassung zwischen römischen Zentralismus und protestantischen Partikularismus zu stehen. In ihr konnte in der Moderne ein anerkanntes Ordenswesen entstehen.

Die orthodoxe Theorie verweigert auch den historischen Patriarchaten grundsätzlich jede eigene jurisdiktionelle Befugnis über die Bischofsgemeinschaft. Das Gesamtgefüge tariert sich gleichsam in sich selbst aus. Wo Gemeinde, dort kein Primat, wo Jurisdiktionsprimat, dort keine Gemeinde. Diese Kirchen haben jedoch ein rechtlich anerkanntes Ordenswesen. Umgekehrt: soviel Gemeinde, sowenig Einheit. Die Schwäche der übernationalen Einheit in der Ostkirche gehört in diesen Zusammenhang. Diese eigentümlichen wechselseitigen Gewichtsverschiebungen werden deutlich, wenn man vermeidet, jene Grundformen sozusagen als ganze Zahlen zu verstehen und einzusetzen. Vielmehr führt das im Einzelnen auftretende relative Mehr- oder Mindergewicht gerade zu den beschriebenen Wirkungen. An der Evidenz der Grundformen ändert das nichts; es bestätigt sie vielmehr.

Nach alledem kann man sagen, daß die alten Kirchen, die orthodoxe wie die lateinisch-katholische dreiförmig, die reformatorischen Kirchen dagegen zweiförmig sind. Genauer nach dem vorausgesagten Schema betrachtet, hat die römische Kirche drei, die orientalische zwei ganze und zwei reduzierte Formelemente und der Protestantismus zwei. Es kann also weder gesagt werden, daß die getrennten Kirchen auf diese Weise einem — so oder so verstandenen — biblischen Vorbild folgen, noch daß sie in der Gestaltung „frei” sind. Diese in der Geschichte und als Folge der Geschichtlichkeit der Kirche erwachsenen Formen und Formprobleme kommen im N.T. nicht vor und konnten es auch gar nicht. Von den Basisformen können diese Konfessionen gar nicht absehen — aber sie können sie bis zur realen Bedeutungslosigkeit spiritualisieren. Als Sekundärformen aber sind außer der tendenziell volkskirchlichen Partikularkirche und dem Zusammenschluß von aktiven Minderheiten schwerlich konkrete Formen denkbar. Die soziologischen Formen zeigen hier kategorialen Charakter.

So wenig der Heilige Thomas von Aquino durch eine meditative Elevation seine bescheidene Lagerstatt in der Mönchszelle überflüssig

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machen konnte, so wenig können die Theologen auch durch eine klassische Definition des Kirchenbegriffs im Bekenntnis den Raum schaffen, in dem die konkrete Gestaltung der Kirche dann „frei” ist. Diese Gestalt ist weder theologisch-normativ noch soziologisch einfach festgelegt, noch ist sie einfach frei. Die Verwendung des Begriffs Freiheit auf diesen Tatbestand ist unsachgemäß und beruht auf dem Mangel an historischer und soziologischer Erfahrung und Erkenntnis. Die Kirche hat allein die Wahl sich zwischen den ihr möglichen Strukturelementen zu entscheiden. Indem sie das Eine wählt, schließt sie das Andere mit Notwendigkeit aus. Schon die Notwendigkeit zeigt die Unanwendbarkeit eines allgemeines Freiheitsbegriffs auf diesen Tatbestand. Das Augsburgische Bekenntnis hat in Art. VII gemeint, mit dem „satis est” eine dogmatische Bindung an konkrete Verfassungsformen auszuschließen und die Freiheit der Gestaltung — übrigens auch im Unterschied zum Calvinismus — grundsätzlich vorzubehalten. Tatsächlich hatte es sich bereits in Artikel V für einen Gemeindegedanken entschieden, der den Horizont der allgemeinen Kirche ausschloss, ihn zugleich aber durch den umfassenden, nicht schlechthin gemeindespezifischen Begriff der „congregatio” auch wieder verdeckte.

Daß es sich hier nicht um eine „wahre” Aussage, sondern um Möglichkeiten der Entscheidung innerhalb der Verfassungsgeschichte handelte, ist bisher verkannt worden. Worauf dies historisch beruht, ist nicht einfach zu sagen. Es wird in der Richtung der Erkenntnis liegen, daß einerseits die Tradition und die ekklesiologische Erfahrung entwertet und abgebrochen, übrigens auch akademisch-theologisch verkannt wurde, während andererseits der Horizont der Geschichte und der Soziologie noch nicht eröffnet war.

Ein Defizienzurteil kann daher nur in einem sehr bedingten Sinne gefällt werden: die Verwirklichung des Einen ist nicht ohne Entscheidung zuungunsten des Anderen real denkbar, geschichtlich möglich. Es kann also nicht eine Kirchenverfassung postuliert werden, die, wie eine Quadratur des Zirkels, das fordert, was sie selbst als unmöglich erkennen müßte. Gleichwohl nötigt die Feststellung und Erfahrung, daß das jeweils Andere mit seinen Stärken und Schwächen, seinen sinnvollen Funktionen, wie auch seinen Begrenzungen und Gefährdungen jedenfalls möglich ist, zu dem Schluß, daß eine dogmatische Verwerfung der jeweils ausgeschlossenen Formen nicht möglich ist. Die in der realen Geschichte mögliche Kirche unterbietet aus zwingenden Gründen die theoretisch denkbare Idealität der Gestalt, die in der Zusammenordenung aller Elemente eine Art complexio oppositorum verwirklichen müßte.

Eine Auflösung dieses Widerspruchs wäre nur so denkbar, daß ein jeder der widerstreitenden Teile es als seine Aufgabe betrachtete, die Möglichkeit zu ergreifen, die in seiner Entscheidung enthalten sind, um eben dadurch dem Ganzen und dem Anderen zu dienen. Jede der getrennten Kirchen müßte die ihr eigene menschlich-soziologische Defizienz als

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ihr Charisma wie als ihr Kreuz bejahen, ihre Ergänzungsbedürftigkeit anerkennen, zugleich aber dem Anderen aufzuhelfen bereit sein.

Die Widersprüchlichkeit dieser Lage wird aus der geschichtlichen Tatsache deutlich, daß ein päpstlicher Primat seinem Anspruch und Selbstverständnis nach in einem dem heutigen historisch vergleichbaren Sinne erst von dem Zeitpunkt an möglich war, als sich die Kirche gespalten und die Kirche dieses Primats keine reale Chance universaler Wirksamkeit mehr besaß. Der Primat umfaßt auch heute nur die gute Hälfte der Christenheit und vermag in seiner jetzigen Struktur sich die andere Hälfte nicht zuzuordnen. Diese andere Hälfte aber muß sich sagen lassen, daß sie von ihren eigenen Voraussetzungen her ebenso außerstande und ungerüstet ist, die Einheit der Kirche verfassungsrechtlich und geschichtlich wirksam zur Darstellung zu bringen. Der Protestantismus der Welt dagegen muß, um auch nur zur ökumenischen Zusammenarbeit zu kommen, sich als ein bürgerlicher Verein organisieren, in dem sich souveräne Partikularkirchen eine Strecke weit zu solchen Zwecken vereinigen, zu denen sie sich verpflichtet sehen, über deren Gehalt aber sie jeweils souverän allein entscheiden. Diese Vereinigung (souveräner Partikularkirchen) aber ist selbst gerade keine Kirche; sie ist auch kein Ersatz für eine gesamtkirchliche Ordnung.

Die Gemeinschaft der orthodoxen Kirchen, auf dem Prinzip des (einstimmigen) Konsensus aufgebaut, ist zwar theologisch voll legitimiert, aber von sehr geringer Effektivität — sie gleicht einem Geleitzug, in dem das langsamste Schiff das Tempo bestimmt. Zugleich hindert die Rivalität der beiden großen Patriarchate jede vorwärtsweisende Führung. Die Differenz zwischen Ostkirchen und Protestantismus besteht darin, daß für die Orthodoxie die Gemeinsamkeit konstitutiv, aber sehr wenig konkret verbindlich ist, während im Protestantismus die Einheit eine rein spirituale Größe und Zielvorstellung ist, und jede reale Forderung nicht nur der partikularen Souveränität, sondern auch dem Suffizienzanspruch begegnet und unterliegt.

Der historische Primat im Vollsinn seiner Ansprüche und seines Selbstverständnisses überbietet das Prinzip der Einheit ebensosehr, wie der lose Föderalismus autokephaler partikularer Kirchen ihn unterbietet. Mehr noch; es besteht eine sehr grundsätzliche Entscheidung in dieser Frage: entweder wird die Einheit der Kirche in der Rechtssubjektivität eines Oberhaupts verbindlich ausgedrückt. Dann droht diese Subjektivität an die Stelle des Hauptes zu treten, dessen Leib sich lediglich ist, während eine Verfassungsform, die rein föderal selbst der Rechtssubjektivität entbehrt, in der Geschichte der Handlungsfähigkeit ermangelt, der sie zu Ausrichtung ihres Auftrags bedarf.

Auch die Verfassung der alten Kirche kann nicht in dem Sinne idealisiert werden, daß sie etwa in einem weniger bestimmten, vorläufigen Sinne jene Elemente und ihre Widersprüche in sich enthalten und

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vermittelt hätte. Bestand zunächst und lange Zeit konstitutiver Widerspruch zwischen Partikularkirche und Gemeinde, und besaß sie ein anerkanntes Ordenswesen, so war sie doch hinsichtlich ihrer Einheit einer lex imperfecta zu vergleichen, deren Wirksamkeit von der außenstehenden Macht des Kaisertums verbürgt wurde. Aus eigenen Kräften war sie zu ihrer Herstellung nur in sehr unzulänglicher Weise imstande, während der ihr eingestiftete Einheitsgedanke auf dem Hintergrund jener Folie bedeutend wirksam wurde und niemals mehr verlorenging. Es ist das Verdienst der partikular gewordenen römischen Kirche, diesen Gedanken als Problem und Forderung wachgehalten zu haben, nicht ohne die Härte und Anstößigkeit der Ansprüche und Rechtsformen.

War hier im schematischen Bilde, sehr äußerlich als zwei halbe oder unvollkommene Bildungen erscheint, enthält jedoch wesentliche Hinweise zum Verständnis sowohl der orthodoxen Kirche wie der Gesamtgeschichte.

Die Orthodoxie lebt in der Sache und nach ihrem Selbstverständnis von dem geschichtlichen Ertrag der alten, ungeteilten Kirche und speziell der auch ökumenische Konzilien. Diese konkrete Universalität der Konzilien als Bischofssynoden ist dadurch möglich gewesen, daß die lex imperfecta der Bischofsgemeinschaft durch die Hilfe von Rom und Byzanz eine lex perfecta wurde. Das Kaisertum hat die Kirchenverfassung nicht begründet, aber wesentlich zu ihrer Verwirklichung gehopften. Die Gemeinschaft der Bischöfe bedeutete eine wirkliche Rechtsgemeinschaft — aber sie war aus ihren eigenen Kräften nur in unzulänglichem Maße verbindlich, nur in sehr begrenztem Maße erzwingbar. Mit dem reichsrechtlichen Hintergrund fiel also nicht der Rechtscharakter, sondern diese reale Moment des Zusammenhalts hinweg. Ohne diese Hilfe war die Kirche allein, auf ihre eigene Kraft in der Bändigung widerstreitender Geschichtspunkte, Lebensformen und Positionsinteressen angewiesen, deren Trägern sie gleichwohl immer die Pflicht und das Ziel des Konsensus vorhalten konnte, welcher Grundlage wie Lebensmöglichkeit bedeutete. Die gegenwärtige Ostkirche zeigt deutlich diese Schwierigkeiten, wiewohl sie in der Konfrontation nicht selten mit erstaunlicher Geschlossenheit aufzutreten vermag. Diese Universalität der Kirche ist deswegen nur halb ausgebildet, weil es nach ihrem Selbstverständnis keine zentrale Leitungsgewalt mit einem umfassenden Jurisdiktionsanspruch geben durfte. Eine solche Leitung hat erst im geschichtlichen Nachhinein und nur für ihren begrenzten Bereich die lateinische Kirche geschaffen.

Der Weg des Gemeinderechts ist in der ganzen Kirche der gleiche oder wenigstens ähnliche gewesen. Die Bischofsgemeinde war zunächst wirklich Gemeinde, entwickelte sich dann zur Diözese oder Eparchie und gliederte sich in Presbyterialgemeinden. Ekklesiologisch trat die Diözese als Partikularkirche an die Stelle der Gemeinde, deren Legitimität sie mit übernahm und vertrat. Der koinonia-Charakter der Ostkirche erhielt aber

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der nunmehr rezessiven Gemeinde gegenüber der dominanten Bischofsdiözese mehr an geistlicher Bedeutung und Gewicht als der Pfarrgemeinde als portio der Diözese im Westen.

Als Ergebnis ist bemerkenswert, daß die Ostkirche beide Primärformen der Kirche nur mehr unzulänglich, die Sekundärformen aber positiv ausgebildet hat. Dabei ist die qualitative Bedeutung und die quantitative Ausdehnung des Ordenswesens im Osten merklich geringer als im Westen mit seiner großen, geschichtlich wirksamen und in immer neuen Formen von Benedikt bis zu Ignatius hervortretenden Bewegungen. Diese Bewegung hat ihre Lebenskraft in Gestalt der neuen Theologie der Dominikaner und Jesuiten in unserer Zeit unter Beweis gestellt. Ohne Orden hätte es kein Zweites Vatikanisches Konzil gegeben. Aber da Großkirche und Orden sich an dem Weltverhältnis der Kirche orientieren, ist in dieser sichtbaren Bewegungen auch das verschiedene Verhältnis von Natur und Gnade in der Theologie des Westens und Ostens ausschlaggebend. Sie wird in den unterschiedlichen Formen der Eheschließung (unter gemeinsamer Voraussetzung der Sakramentalität), wie in Kap. IX dargestellt sichtbar: Trennung von Konsens und Benediktion im Westen, konstitutive Verbindung beiere im Osten.

Im Schema betrachtet sind also in der Ostkirche in der geschichtlichen Entwicklung die Primärformen rezessiv geworden, die Sekundärformen Partikularkirche und Orden treten dominant hervor. Die Sekundärformen ruhen aber auf den Primärformen deutlich auf und würden ohne diese Gehalt, Legitimation und Kraft verlieren.

Der regelmäßig und tendenziell distinktiv denkende Westen dagegen hat Ekklesiologie und Kirchenrecht jeweils an einem Primärphänomen aufgehängt, an der konkreten, in einem Universalamt dargestellten Leitungsamt oder aber umgekehrt an der Gemeinde. Beide geraten dadurch in ein komplementäres Verdrängungsverhältnis. Die eine vermag an diese Primärform zwei Sekundärformen: Partikularkirche und Orden, die andere nur eine, die Partikularkirche anzuhängen. Dabei ist wichtig, daß über das in seiner Dignität immer unbestrittene Bischofsamt hinaus erst im Zweiten Vaticanum die Partikularkirche als solche eine kirchenrechtliche Anerkennung gefunden hat.

Damit steht jetzt keineswegs eine Art Vollständigkeit und Ausgewogenheit der Formen in Sicht. Idealvorstellungen trügen gewiß. Das geistliche wie das realsoziologische Gewicht dieser Formen ist viel zu groß — und hart im Raume stoßen sich die Sachen. Die rechtliche Anerkennung der Partikularkirche hat im Hintergrund auch eine solche der Gemeinde. Die Neubildung eines Gemeindebegriffs und die Gestaltung einer Gemeindeverfassung ist erst durch das II. Vatikanische Konzil wieder eingeleitet worden. Diese in der Erprobung und Formung befindlichen Ordnungen (z.B. Pfarrgemeinderäte) können erst in der Darstellung der großen Institutionen der Kirche erörtert und auf ihren Stellenwert befragt

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werden. Hier genügt es, sie zu vermerken. Infolge der Korrespondenz der Erscheinungen würde dies keineswegs eine Aufhebung des Primats, vielmehr eine qualitative Veränderung seiner Rechtsstellung, eine positive Neukonzeption ebenso anzeigen wir erfordern.

Erstaunliche offiziöse Äußerungen, daß die Zentrierung der Macht in Rom ein „Ergebnis menschlicher Umstände” und „objektiv eine Anormalität” sei (HK 1973 S. 383) bedeuten noch keine konkrete Änderung der Struktur.

Die konjunktive Lösung des Ostens und die disjunktive des Westens würden sich damit merklich annähern, aber keineswegs zur Deckung kommen.

Man beachte bei alledem, daß bei dem Zurücktreten bestimmter Formelemente es sich niemals um ihre Ausscheidung oder Ablehnung, sondern um ihre Verdrängung und Verweisung in eine außerrechtliche Spiritualität und/oder auch eine offenkundig irreale Zielvorstellung handelt. Ekklesiologische Programme sind niemals Zielvorstellungen im innergeschichtlichen Verstande, die man ernstlich anstrebt, sondern Qualifikationen von wesentlichen Hintergründen, auf deren Bewusstmachung man nicht verzichten kann.

Die Einsichten schließen das herkömmliche Selbstverständnis der verschiedenen Kirchen aus. Tatsächlich hat es jedoch bisher keine konkret-historischen Kirchen gegeben als solche, die in diesem Sinne defizient sind, d.h. sie entbehrten und entbehren gewisser möglicher Gestaltungselemente, weil diese für die nur um den Preis des Verlustes anderer Elemente zugänglich waren und sind. Der Schluß erscheint schwer widerleglich, daß es auch in Zukunft nicht anders sein wird und kann. Jedoch handelt es sich hier nicht um eine Summation menschlicher Schwächen, um verwertbare Irrtümer und Fehler, auch nicht um das Versagen im Glaubensgehorsam, sondern um eine den Menschen eingestiftete, unübersteigbare Begrenzung und Befindlichkeit. Kein Postulat, keine Anstrengung hilft darüber hinweg. Andererseits können die vorfindlichen Entwürfe nur dann in die geschichtliche Wirklichkeit eingehen, wenn ihr Bedeutsamkeitsanspruch als theologische Notwendigkeit ernst genommen und darin durchgehalten wird. Eine solche grundsätzlich einseitig defiziente form erwächst vermöge der Struktur des Glaubens zur verpflichtenden ausschließenden Unbedingtheit. Ein jeder solcher Entwurf muß dann sorgfältig ausgearbeitet, durchdacht, sinngemäß gehandhabt und abgegrenzt werden, damit er sich mit der ihm eigenen Bedeutung und dem ihm eigenen Gehalt fruchtbar entfalten kann. Darum sind solche Entwürfe auch nicht einfach austauschbar und fungibel. Man kann ihn nicht nach der Mode wechseln, als technisches System umbauen. Je mehr sie austauschbar und fungibel sind, desto mehr sinkt zugleich die Bindungswirkung, die verpflichtende Verbindlichkeit und erst recht der geistliche und formbildende Gehalt.

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Jede Bewegung in der Christenheit, die die Aufgabe der Kirche übernimmt, kommt optima fide unausweichlich in einer der vorgegebenen kategorialen Formen zu stehen. Jeder Entwurf muß sein Schwergewicht an einer Stelle nehmen, eine Leitform aufstellen, die übrigen Elemente von da aus zuordnen. Würde er eine der Formen als die alleinige ansehen, so würde er nach dem vorher Entwickelten häretisch werden. Das Verhältnis der mehreren formen kann dann, wie ersichtlich, in verschiedenen Kombinationen, aber stets nur auf Dauer angelegt und ausgestaltet werden. Andererseits kann ein zentraler Bedeutsamkeitsanspruch nicht zugleich in widersprechenden Formen durchgehalten werden: daher verdrängt die Gestaltung der Universalität die primär partikularen Formen, daher schließen ausgebaute partikulare Formen die reale Verwirklichung universaler Gemeinsamkeit aus. Die realen Möglichkeiten und Notwendigkeiten liegen daher genau zwischen einer häretischen Monoformität auf der einen und einer unmöglichen Idealität, in der auf dem Wege des Postulats und der Vorstellung die complexio oppositorum zum Ausgleich kommt — aber eben nur denkerisch und nicht in der realen, soziologisch interpretierbaren Gestaltung. Denn die notwendige Unbedingtheit der fundamentalen These schließt die Möglichkeit aus, die Gegenthese zugleich als die eigene Lebensform und Bindungsform folgerichtig durchzuhalten. Eben dies ist der Grund für die sinnvolle Verbindung unterschiedlicher Formen, die durch sorgfältige Handhabung und die Verpflichtungskraft des Ganzen nicht ohne ständige Schwierigkeiten vermittelt und zusammengehalten wird.

Dieser Zwang wird also — wie man annehmen muß — für alle denkbare Zukunft gelten. Würde sich die traditionelle Gemeindekirche als Flächengliederung zugunsten eines Netzes spontan gebildeter aktiver Zusammenschlüsse, Kerne und Gruppen auflösen und würde man die institutionellen Formen der Partikularkirche als veräußerlicht abwerfen und gänzlich entwerten, so bliebe die Form der Minderheitsgruppe als Gruppenbildung freier Entscheidung übrig. Blieben diese Gruppen die einzigen Formen von theologischer Dignität und Bedeutung, so müßte nach dem Vordersatz zwangsläufig eine häretische Kirchen entstehen, welche der Universalität der Kirche in keiner Weise mehr Gestalt und verantwortliche Wirkung zu verleihen vermöchte. Würde eine solche Unzahl von Minderheitsgruppen, unter Übersprengung partikularkirchlicher Verbandsbildung aus einem lebendigen ökumenischen Impuls eine gesamtkirchliche Lebenseinheit bilden — was nach den Erfahrungen mit dem Independentismus aus guten historisch-soziologischen Gründen bezweifelt werden darf, — so würde der Häresie-Vorwurf nicht mehr aufrecht zu halten sein. Diese Form aber wäre eine Art Negativ zu den Lebensformen der reformatorischen Kirchen, diebisch in der beschriebenen Form auf die ungleiche Kombination von Gemeinde und Partikularkirche beschränkt haben. Es liegt die Annahme nahe, daß eine solche Konzeption eine Art reaktives

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Widerbild zu diesen als unzulänglich empfundenen Lebensformen darstellt. Hierbei wird freilich die denkerische und morphologische Folgerichtigkeit mit der realen Möglichkeit verwechselt. Denn es ist nicht zu sehen, wie eine unendliche Fülle von Gruppenbildungen, die ihre Kraft aus ihrer Spontaneität und zugleich Unterschiedlichkeit ziehen, zu irgendeiner Form universaler Gemeinschaft des Lebens und der Aktivität verbunden und vermittelt werden könnte, ohne wiederum partikularkirchlichen Formen auszubilden, denen dann theologische Qualität und Bedeutung nicht abgesprochen werden könnte. Denn diese könnten in ihren Voraussetzungen und Folgen sich nicht fundamental von den Formen partikularkirchlicher Verbandsbildung und Leitung unterscheiden, die heute Gegenstand der Kritik oder der Ablehnung sind. Es ist freilich ein unerlaubter Kunstgriff, aller vorfindlichen Formen in Frage zu stellen, die Notwendigkeit aber außer Acht zu lassen, in der eigenen Gestaltung eine mögliche Position mit den unausweichlichen Verantwortlichkeiten und realen Zwängen soziologischer Fortbildung zu übernehmen.

Abgesehen von diesen sich anbietenden Prognosen zerstört jene Ansicht zunächst das Selbstverständnis der vorfindlichen Konfessionskrichen, die im Minimum oder Maximum der Anforderungen grundsätzlich gesehen Soll und Sein in Eins setzen. Wenn etwa der Canon VI der LEF die Erfordernisse voller Kirchengemeinschaft maximalistisch formuliert, so bedeutet dies, daß diese Formen notwendig, zugänglich, aber deswegen auch nicht weiter ergänzungsbedürftig sind. Die umgekehrte Aussagen des grundlegenden Art. VII des Augsburgischen Bekenntnisses begrenzen die Kirche auf die notwendigen Merkmale der Congregatio und lassen die gleichzeitig notwendige Partikularkirche außerhalb des Bestandes der signa ecclesiae. Gleichwohl ist unbestreitbar, daß die reformatorischen Kirchen entschlossen Partikularkirchen sekundärer theologischer Dignität gebildet haben und bilden mußten, die in den zentralen theologischen Aussagen nicht einmal erwähnt, gleichwohl aber charakteristische Lebensformen sind. Charakteristisch ist dabei ihre Unfähigkeit, über die territorial begrenzte Partikularkirche auch zur übernationalen Vergemeinschaftung vorzuschreiten. Also auch abgesehen von der Frage und Forderung nach einer universalen Gestaltung gibt es noch nicht einmal Antriebe und Gestaltungsformen, die über die nationale, provinzielle oder dynastisch-historische Partikularität hinausführen.

Die Suffizienz der grundsätzlich defizienten Kirchenformen ist also zunächst nur dahin zu beurteilen, daß eine Unterbietung der zweigliedrigen reformatorischen Kirchenform in die Häresie führt und deswegen zweifellos nicht suffizient ist, wie umgekehrt ein konstruktiv reines zentralistisches System dem gleichen Vorwurf unterworfen wäre. Unter der Voraussetzung, daß auf beiden Seiten eine mehrförmige Kirchenverfassung festgehalten wird, ist die Frage der Suffizienz in dem Sinne unentscheidbar, als die beiden primären Kirchenformen, universale Kirche und

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Gemeinde, nicht aufeinander reduziert werden können. Da dies durch den Ursprungsbefund, wie ihn Carl-Ludwig Schmidt aufgewiesen hat, und den daraus folgenden, in der alten Kirche noch festgehaltenen Äquivalenzsatz ausgeschlossen wird, kann de Suffizienzfrage im strikten Sinne nicht alternativ entschieden werden. Die nicht-häretischen Kirchenformen haben also je für sich eine Suffizienz und Legitimität, die sie gegenseitig nicht in Frage stellen können, weil ihre wechselseitigen zentralen Positionen, um dies erneut zu sagen, nicht aufeinander reduziert werden können. Dies wäre ebenso unmöglich wie die denkerische Auflösung der berühmten Aporien des Universalismustreits. Es zeigt sich hier erneut, daß die philosophischen Formen, in denen die welthistorische Konfessionsgegensätze ausgetragen worden sind, für diese nicht primäre und Basisvorstellungen waren, sondern im Gegenteil Denkformen, mit denen eine ihnen vorgegebene pneumatische Wirklichkeit mit mehr oder minder großer Angemessenheit und Zulänglichkeit ausgedrückt wurde. Der Vorwurf freilich, daß hier philosophische Denkformen die theologischen Aussagen verfremdet hätten, ist nur in dem formalen Sinne berechtigt, daß die rationale denkerische Konsequenz hier eine eigene Tendenz entwickelt hat, die ihren Sachgrund verdeckte und aus dem Blick verschwinden ließ.

Es kann nicht deutlich genug gesagt werden, daß zur Lösung dieser Fragen die Spiritualisierung dieser Kirchen nicht nur nichts austrägt, sondern im Gegenteil eine charakteristische Form des Ausweichens bedeutet. Spiritualisiert man die Allgemeinheit der Kirche zu einer irrealen, jeder konkreten Verbindlichkeit entbehrenden, außerrechtlichen Größe, so weist man ihr damit keinen höheren, sondern einen minderen Bedeutungsgrad zu. Tatsächlich hat ja dieser Weg den Sinn für die übergreifende Verbindlichkeit und die reale Gemeinsamkeit der Christenheit bis zum völligen Unverständnis verkümmern lassen. Das neue Hervortreten ökumenischer Gemeinschaft aber wird unvermeidlich mit Umbildungen der konkreten Lebensformen verbunden sein, die ihr bisher entgegengestanden haben. Das umgekehrte Beispiel der rechtlichen Entwertung einer so alten und grundlegenden Bildung wie der Gemeinde ist schon vorgeführt worden.

Die Kirche ist also ein komplexes Gebilde, aber keine zufällige Anhäufung von Merkmalen und Strukturen, sondern ein sinnvolles Paradox von Gegensätzen. Sinn und Bestimmung, Gehorsam und Freiheit verweisen aufeinander. Nichts von diesem allen ist das unsrige — Recht der Gnade. Sie läßt sich beschreiben und umschreiben, aber nicht in die Hand nehmen. Wer sie in die Hand nimmt, macht sie zu seiner eigenen und verfehlt sie damit bereits.

Sie wird von verschiedenen Seiten erfahren — Die Erfahrung der Freiheit ist eine andere als die des Gehorsams — obwohl und weil Gehorsam und Freiheit in der Person Jesu Christi in eins aufgehoben sind.

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Sie ist in der Geschichte — aber auf geschichtsimmanente Kräfte nicht zu reduzieren. Sie ist personale Institution — daß sie nicht abschließend definiert werden kann, teilt sie mit der Institution überhaupt. Aber sie verbindet das ineffabile von Person und die Institution miteinander. Ihr Glanz ist, daß sie beides, Person und Institution miteinander und durcheinander zum Blühen bringt, — ihr Elend, daß ihr die denkbare Idealität grundsätzlich versagt ist — sie ist immer Abraham, der das gelobte Land sieht, aber nicht betreten kann. Sie hat genug für Andere — und doch hätte sie nichts zu geben, wenn sie selbst nicht genug in sich hätte.

Aus diesen Analysen läßt sich folgendes Ergebnis ableiten:
1. Die Kirche lebt aus und in mehreren produktiven Widersprüchen:
a) sie ist universal und partikular zugleich
b) sie ist in der Welt und für die Welt, aber nicht von der Welt und kann daher in ihr nicht aufgehen, auch nicht in der Konvergenz auf ein immanent gemeinsames Endziel der Menschheit
c) sie ist geschichtlich und übergeschichtlich zugleich.
2. Aus diesen widersprüchlichen Grundbestimmungen ergibt sich Anlaß und Notwendigkeit, entsprechende Lebensformen auszubilden. Die Lebensformen der Kirche sind daher nicht beliebige.
3. Die — zunächst rein tatsächliche — Erfahrung der Verfassungsgeschichte zeigt, daß die Kirche niemals vermocht hat, ihre möglichen und sinnvollen Lebensformen sämtlich und gleichzeitig auszubilden und miteinander zu verbinden. Sie kann daher in diesem Sinne niemals als „societas perfecta” bezeichnet werden. „Societas perfecta” ist zunächst nur der sinnvolle Gedanke, daß die Kirche final betrachtet, sub specie salutis alles bei sich habe, was zum Heile des Menschen nötig ist. Verfehlt wird dieser Gedanke, wenn er mit integralen und damit zugleich exklusiven Vollgestalt gleichgesetzt wird. Andererseits kann die Kirche die Anforderungen der konkreten Gestaltung nicht unterbieten, ohne ihr Wesen und ihren Auftrag zu verfehlen. Hieraus ergeben sich drei typische Irrtümer und Fehlhaltungen.
4. a) Versuch und Anspruch integraler Verwirklichung führt objektiv zur Vergewaltigung der geistlichen Wirklichkeit, subjektiv zu idealisierender Selbsttäuschung. Ein solcher Maximalismus führt zu universalistischen Generalbestimmungen und zur positiven Werkgerechtigkeit.
b) Versuch und Anspruch, sich von der Fortbildung und verbindlichen Gestaltungen möglichst weitgehend zu entlasten, führt zu Verkürzung und Verkümmerung wesentlicher Perspektiven, Möglichkeiten und Aufgaben. Unterbietet die Kirche diese Anforderungen über ein gewisses, oben erörtertes Maß hinaus, so wird sie zur Sekte.
Ein solcher Minimalismus führt zur negativen Werkgerechtigkeit und in den Partikularismus, der sowohl in ihrer Gestaltung als auch in der Wertung der Geschichte die Sinnzusammenhänge gleichzeitig leugnet

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und selbst zerreißt. Die spezielle Gefährdung des Minimalismus liegt darin, daß er auf einem kritischen Prinzip beruht, aber durch den Verbrauch des kritischen Elements außerstande wird, eigene prinzipielle Schwächen zu erkennen, vor allem, daß auch die Negation die Struktur des Gesetzes hat oder mindestens haben kann, Kritik der Position also keineswegs Freiheit bedeutet und verbürgt.68
c) Abgesehen von der oben beschriebenen häretischen Monoformität führt der Versuch und Anspruch, die Existenz der Kirche und des Christen in einem einzigen zentralen Motiv und Geschehen wesentlich und zulänglich zu begreifen und damit die beschriebenen Widersprüche zu hintergreifen, zur Willkür und ist eine Selbsttäuschung wie Maximalismus und Minimalismus. Denn die nur scheinbar aufgehobenen Widersprüche melden sich von selbst wieder an, und zwar an unerwarteten Orten, nachdem die Träger dieser Anschauung gemeint haben, sie seien inbegriffen.
Insbesondere bleibt die Spannung bestehen, daß die Kirche weder radikal vergeschichtlicht noch ebenso grundsätzlich entgeschichtlicht werden kann. Vielmehr besteht ihre Freiheit und ihre Überlegenheit gerade in dem Durchhalten dieser Widersprüche. In der Geschichte bleibt sie ein Segelschiff vor dem Winde in einem breiten Kanal. Sie muß, um auf ihr Ziel voranzukommen, immer wieder wenden, um nicht am entgegengesetzten Ufer aufzulaufen.
Ihre ständige Versuchung ist also — wie von jeher die Häserien paarweise auftreten —, sowohl der positiv-affirmative wie der negativ-kritische Idealismus, das wechselnde Pathos der Vollkommenheit und der Selbstentäußerung. Es ist sehr menschlich, immer wieder den Irrtum durch den Irrtum auszutreiben.
Die reformatorische Theologie hat die Angreifbarkeit eines zur abstrakten Deduktion verführenden Universalismus auf der römischen Seite mit Recht erkannt und kritisch genutzt. Sie hat aber niemals die eigene, analoge Abhängigkeit von partikularistischen Denkformen erkannt und selbstkritisch bekämpft. Diese vererbte Haltung ist weit mehr als ein allenfalls eingeräumter Restbestand nominalistischer Einflüsse.
Vom Standpunkt des konfessionellen Apriorismus sind diese Erkenntnisse nicht zu gewinnen. Dieser unterliegt der zweiwertigen Logik von Wahrheit und Irrtum. Indem er sein Proprium möglichst vollkommen zu verwirklichen versucht, wird alles bedeutungslos, was er vermöge seiner eigenen Begrenzung nicht unterzubringen vermag. Die Ökumene ist als Ort der Erfahrung bedeutsam, was außerhalb dieser apriorischen Partikularität geistlich lebt und sinnvolle Gestalt gewonnen hat.