2. Kirchliche Ordnung und weltliches Recht

Mit der Unterscheidung des dreifachen Charakters des Kirchenrechts verknüpft sich ein weiterer Gesichtspunkt. Kirchliche Ordnung und kirchliches Recht stehen in verschiedener Nähe zum Auftrag der Kirche. Neben den oben unterschiedenen necessaria, den notwendigen Merkmalen der Kirche und jenen libera, welche als „et ipsa dei pie et sancte mutari possunt”, steht noch eine dritte Zone: diejenigen Einrichtungen und Rechtsformen, die der Kirche im bürgerlichen Rechtsverkehr dienen oder aus ihrer öffentlich-rechtlichen Stellung entspringen. In Wort und Sakrament handelt Christus selbst; aber die Kirche kauft das Gemeindehaus als weltliche Rechtsperson.

Nun hat sich eine Kirchenverwaltung in diesem Sinne als Verwaltung der der Kirche zugeflossene Rechte aller Art schon sehr früh entwickelt. Sie ist ebenso früh schon von besonderen rechtskundigen Sachwaltern wahrgenommen worden, hat aber ebenso eindeutig unter der geistlichen Leitung der Kirche, dem Bischof gestanden, weil diesem als Liturgen die Bestimmung über die Opfergaben zukam. Alle rechtliche Ordnung in diesem Bereich hat dem Auftrag der Kirche zu dienen: sie ist kein Bereich autonomer Sachlichkeit. Die hier notwendigen Formen des weltlichen Rechts dürfen daher auch nicht formgebend und bestimmend auf das eigentliche Kirchenrecht einwirken. Ihre Rechtsformen sind denen des geistlichen Rechtes grundsätzlich nachgeordnet, wie denn überhaupt weder staatsrechtliche noch verwaltungsrechtliche Prinzipien als solche ein Recht im Bereich des proprium der Kirche haben.

|1007|

Nach jahrhundertelanger Einwirkung weltlichen Rechtsdenkens auf das Recht der Kirche ist die Ausscheidung kirchenrechtlich unangemessener Rechtsvorstellungen aus dem Bereich des eigentlichen Kirchenrechts eine dringende Aufgabe. Fällt die spiritual-idealistische Unterscheidung Holsteins von Geistkirche und Rechtskirche durch die Erkenntnis dahin, daß gerade das Pneuma Recht schafft, so ist auch der Bereich weltlicher Rechtsformen des äußeren Kirchenrechts eindeutig auf die kanonische Ordnung der Kirche hin auszurichten. Dies zeigt sich insbesondere in der Verwaltung der Opfergaben der Gemeinde und der sonst der Kirche zufallenden Güter. Die im Gottesdienst dargebrachten Opfer dienten der Auferbauung der Gemeinde, der Ausstattung ihres Kultus und zur Versorgung der Diener der Gemeinde, wie denn schon in der Heiligen Schrift nüchtern verordnet wird, daß wer dem Altare dient, auch vom Altar leben soll, so wie umgekehrt das Wort Gottes umsonst ist. Die gleichen Güter werden ebenso frühzeitig zu einer ausgedehnten, für die antike Welt erstaunlichen Liebestätigkeit, zur Versorgung der Armen, Kranken, Witwen und Waisen verwendet.

So entstehen zwei Richtungen und Seiten dieser Tätigkeit. Das eine ist die kybernetische, leitende Seite der Nutzung kirchlichen Gutes, welche mit dem statischen Begriff der Verwaltung nicht voll getroffen ist. Die andere Seite ist die diakonische. Der gemeindeleitende Bischof oder Presbyter verfügte ursprünglich mit fast unbeschränkter diskretionärer Gewalt über die Opfergaben der Gemeinde wegen des unmittelbaren Zusammenhangs mit dem von ihm geleiteten Gottesdienst, in dem die Gaben dargebracht wurden.

Beide Richtungen, die kybernetische und die diakonische kommen also im Ursprung vom Altare her und stehen in keinerlei Gegensatz. Dieses spezielle kirchliche Diakonat ist also ebenso Gehilfedienst der Leitung wie unmittelbarer Liebesdienst an den Bedürftigen. In dieser Doppelrichtung hat sich auch der historische Diakonat entwickelt.

In der römischen Gemeinde, der größten und am weitesten durchgebildeten, von deren charitativer Tätigkeit uns die Darstellungen der Kirchengeschichte ein eindrucksvolles Bild vermitteln, sind die Diakone als Collegium organisiert auf der einen Seite die Vorsteher der Spitäler und Friedhöfe (diese Ämter setzen sich bis heute in den 14 Titeln der Cardinaldiakone fort). Sie sind aber andererseits auch die ständigen Gehilfen des Bischofs in allen Zweigen kirchenregimentlicher Tätigkeit. In dieser Doppelrichtung, nicht im ausschließenden Sinne des Gemeinde- und Anstaltsdiakonats neuerer Art, wird man auch die Ämter der Kirchenverwaltung verstehen, so werden sie sich vor allem auch selbst zu verstehen haben. Dem widerstreitet bis zu einem gewissen Grade die konsistoriale Tradition dieses Dienstes, der sich vom Summepiskopat her als eine körperschaftliche Sonderverwaltung versteht. Das konsistoriale Element in diesem Sinne hat, wie schon gezeigt wurde9, keine

|1008|

bleibende Grundlage in der Verfassung der Kirche und muß in jenem Sinne umgebildet werden. Der Leiter dieses Dienstes kst kein Behördenpräsident oder Verwaltungschef, sondern der erste Diakon, der Archidiakon. Es wäre freilich keine Erfüllung dieser Forderung, wenn man unter Ablehnung einer Verwaltung von guter, weltlicher Sachlichkeit aus ihr nicht viel mehr als ein kirchenpolitisches Management machte. Zur Wahrnehmung dieses diakonischen Amtes gehört dann auch nicht nur ein subjektives redliches Verhältnis zur Kirche, sondern eine geistliche Zurüstung, ein Leben mit der Kirche und eine ordinatorische Bevollmächtigung.

Bis zur Überwindung und Ausscheidung unevangelischen und kirchenfremden Denkens in Landeskirchenämtern und Synoden, Kirchenleitungen und Pfarrämtern wird freilich noch lange Zeit vergehen. Denn der Abwerfung eines fremden Gesetzes steht der traditionelle Spiritualismus entgegen, der durch die Abwertung des Rechtes die Freiheit verloren hat, dem Gesetze dieser Welt zu widerstehen.

Es ist bisher mit Bedacht vermieden worden, den rechtlichen Beziehungen und Akten eine Gattungsbezeichnung als ius divinum, ius humanum oder anderer Art beizufügen. Diese Bezeichnungen sind dem Tatbestand unangemessen, weil sie unvermeidlich auseinanderreißen, was unterschieden, aber nicht geschieden werden kann. Das ius divinum kann nicht wie ein Kern aus der Schale des ius humanum herausgeschält werden. Man kann aber auch nicht dem mit dem Begriff „ius divinum” Gemeinten und sehr unzulänglich Bezeichneten dadurch entgehen, daß man das gesamte Kirchenrecht zum ius humanum erklärt. Das heißt nur die positive Objektivierung durch eine negative ersetzen, nicht darüber hinauskommen. Diese Objektivierungen sind nur unter der Voraussetzung eines subjektlosen idealistischen Rechtsbegriff möglich. Mit der Gnaden- und Anspruchsstruktur, dem Wortcharakter des Rechtes sind sie nicht vereinbar.

Auf jene Position zurückzugehen, machen auch die Erfahrungen des Kirchenkampfes ein für allemal unmöglich. Aber dieser ist erst der Anfang einer Lehrzeit für die reformatorischen Kirchen bei uns, deren Härte nicht unverdient ist, die uns zwingt vorwärtszuleben und die Lehren auch tatsächlich anzunehmen.

Wenn die Möglichkeit eigenständigen Kirchenrechts grundsätzlich zugestanden wird, tritt eine Abstufung nach der Nähe und Entfernung zum Zentrum dieser Rechtsbildung auf.

Denn dies ist ein dynamisches Geschehen, welches ein bestimmtes Gefälle besitzt. Die lebendige Macht des Wortes Gottes ergreift, wandelt und durchdringt die Welt und schafft sich in ihr Raum. Aber auch diese Welt ist kein toter Gegenstand, sondern wirkt dem mit eigenen Kräften entgegen. So ist es in Wahrheit ein doppeltes, gegenläufiges Gefälle, in welchen die Kirche von Innen und Außen wirkt, die Welt

|1009|

mit ihrer Macht und vielfachen Versuchung bis in das Innerste der Kirche greift — und auch sie — selbst gegen ihre Intention — der Kirche zum Heile dienen muß.

Alle begrifflichen Unterscheidungen und Stufungen innerhalb des Kirchenrechts können deshalb nur auf der Grundlage eines solchen dynamischen Verständnisses recht angewendet werden. Von da aus stellt sich, um es noch einmal aufzunehmen, auch das Begriffspaar ius divinum und ius humanum richtig. Sie stehen in Wechselbezug. Wo der Begriff und Bereich des ius divinum in den Blick kommt, tritt der des ius humanum zurück. Er wird nicht aus illegitimen Gründen, sondern aus der Scheu eingeengt, das Heilige zu Unrecht zu begrenzen. Im Blick auf das ius humanum tritt das ius divinum zurück: Es tritt die Scheu hervor, Menschliches zu Unrecht zu vergöttlichen. Dieses eigentümliche Spannungsverhältnis verbietet es vollends, mit massivem Positivismus das eine dem einen, das andere dem anderen abschließend zuzuweisen. So rechtfertigt sich der Satz, daß wir das ius divinum immer nur in der Form des ius humanum haben.