Um die Ordnung der Gemeinde

 

In dem neuesten Bande der „Kirchlichen Dogmatik” (IV, 2) widmet Karl Barth unter dem Titel „Die Ordnung der Gemeinde” einen besonderen Abschnitt der dogmatischen Grundlegung des Kirchenrechts. Dieser Teil ist auch gesondert unter dem gleichen Titel im Christian-Kaiser-Verlag erschienen.

Barth setzt mit dem Begriff der Ordnung ein als der wesensnotwendigen Form der Erbauung der Gemeinde. Die Versöhnung mit Gott in Jesus Christus ist die große Kampfaktion gegen das Chaos, die Unordnung. Deswegen hat ihr Wachsen sein eigenes Gesetz. Es geht bei der Erbauung der Gemeinde „mit rechten Din­gen” zu, sachentsprechend zu diesem Geschehen. Deshalb ist hier Ordnung zu­gleich Recht.

„Es geht um die Ordnung des besonderen Geschehens, in welchem die Existenz der Gemeinde nicht nur am konkretesten in Erscheinung tritt, sondern auch sach­lich ihre Mitte und Spitze hat: um die Ordnung ihres Gottesdienstes. Es geht weiter um die Bestimmung und Verteilung der den einzelnen Christen innerhalb der Tätigkeit der Gemeinde zufallenden besonderen Verantwortungen, Ver­pflichtungen und Funktionen und deren Verhältnis untereinander.” (7)

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Er bezeichnet später ausdrücklich das der Gemeinde eigentümliche Recht als liturgisches Recht. „Kirchenrecht hat eine ursprüngliche Beziehung zu dem besonderen Geschehen des christlichen Gottesdienstes.” (35)

Schon von vornherein ist mit jener strengen Beziehung auf das geistliche Ge­schehen in der Kirche jede Meinung abgewehrt, es handle sich bei diesem Recht nur um etwas Äußeres und Niederes, etwas Beliebiges und Verfügbares. Dem steht die Bezogenheit auf das Heil, auf die Heiligung und die strenge Sachge­mäßheit dieser Ordnung entgegen.

In einem viermal wiederholten Anlauf (9, 12, 15, 16) wendet sich Barth gegen die These Rudolf Sohms von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Kirche und Recht, und zugleich gegen seinen alten Gegner Emil Brunner, der in seiner Schrift „Das Mißverständnis der Kirche” die Sohmsche These noch weiter ver­schärft hat. Wesentlich ist es Barth, daran streng festzuhalten, daß Jesus Chri­stus das einzige und ausschließliche Subjekt der Gemeinde ist. Er wirft diesen Gegnern vor, daß sie einen Begriff von „reiner Personengemeinschaft, Bruder­gemeinschaft, Lebensgemeinschaft” bilden, deren bloßes Prädikat dann Christus sei. Ihr Kirchenbegriff sei nicht christologisch begründet und nicht von der Christologie her durchdacht. Er legt Wert darauf, die Kirche zu allererst als bruder­schaftliche Christokratie und erst danach als christokratische Bruderschaft zu bezeichnen. Die Kirche darf nicht als eine besondere Form menschlicher Gemein­schaft verstanden werden. Deshalb fragt er, wer denn das Subjekt der Kirche im Rechtssinne sei; beruhe sie auf einer naturrechtlichen oder auf einer histo­risch-positiven Begründung, wenn schon nicht der heilige Geist ihr Schöpfer sei?

Tiefer als hier direkt sichtbar wird, trifft Barth sowohl den scholastischen wie den idealistischen Kirchenbegriff. Den scholastischen insoweit, als dieser die Kirche unter die societates, einen soziologischen Oberbegriff rechnet und ihr lediglich das auszeichnende Prädikat der Vollkommenheit gibt. Den idealistischen inso­fern, als etwa Schleiermacher ebenfalls zunächst die Kirche als Gemeinschaft in einem bestimmten Sinne definiert. Schleiermacher bezeichnet sie als eine „Ge­meinschaft, welche nur durch freie menschliche Handlungen entsteht und nur durch solche fortbestehen kann”. (Vgl. hierzu Werner Elert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens. S. 6)

Der Begriff der Gemeinde spricht nach Barth als solcher schon von Ordnung und Recht. Es geht hier „um ein Anordnen, Befehlen, Verfügen des einen Heili­gen, in welchem alle geheiligt sind und also Jesu Christi auf der einen Seite und auf der anderen um ein ihm gehorsames, ihm sich unterordnendes Verhalten der menschlichen Gemeinschaft der Heiligen. Dieses Verhältnis konstituiert die christliche Gemeinde. Dieses Verhältnis ist ihr Ordnungsprinzip, ihr Grundrecht.” (11)

Dieses Kirchenrecht ist von allem weltlichen Recht grundsätzlich wesenhaft verschieden und unabhängig. Deshalb verfügen auch die in der Kirche vereinigten Menschen nicht über dieses Recht. Es vollzieht sich im Gehorsam nach Christi Befehl und Verfügung. Es ist deshalb bekennendes Recht.

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Barth wendet sich auch gegen den Mythos vom „Sündenfall” der Kirchenge­schichte durch die Verrechtlichung und zugleich gegen die romantische Verherr­lichung der Frühgemeinden. Der Verrechtlichung könne nur durch Erkenntnis und Befestigung des rechten Kirchenrechts begegnet werden. Er zeigt, daß die Kirche immer zwischen Verrechtlichung und Verwilderung steht, daß die Ver­neinung des Kirchenrechts dieses Problem nicht löst.

Er ergänzt dies durch die Erwägung, daß der Staat, die Welt überhaupt, diese Kirche und ihr Recht notwendig mißverstehen und die Kirche sich hüten müsse, sich selbst von diesem Mißverständnis beeinflussen zu lassen. Staatskirchenrecht kann nie (eigentliches, inneres) Kirchenrecht sein.

Er behandelt hier die allgemeinen theologischen Voraussetzungen des Kirchen­rechts, bestreitet aber, daß es ein allgemeines Kirchenrecht gebe. Dieses müsse vielmehr von den formulierten Voraussetzungen aus verschieden entfaltet werden.

Die Grundmerkmale bestimmt er wie folgt: Kirchenrecht ist Dienstrecht, Dienstordnung. Nur in den Pflichten gibt es Ansprüche und Würden. Dieser Charakter erzeugt nicht nebenher doch wieder Herrschaftsrechte. Er wendet sich gegen die Isolierung des Diakoniebegriffs und will das Ministerium des Predigt­dienstes schlechthin als Diakonie verstanden wissen. Auch Kirchenverwaltung, theologische Wissenschaft, kirchliche Disziplin seien sämtlich vom Gesichtspunkt ihrer Dienlichkeit her zu verstehen. Politische Begriffe, die von der Monarchie bis zur Demokratie immer auf Herrschaft gehen, seien deshalb ganz auszuschei­den. Dieser Dienst sei ein totaler; es gebe keine Stellvertretung und Delegation. So unterschiedlich und gegliedert der Dienst sei, könne sich niemand seiner Mitverantwortung am Ganzen überhoben fühlen. Er will daher auch den „Fatalen” Begriff des Amtes durch den des Dienstes ersetzt sehen.

Er faßt das Ganze dann in der erwähnten ausdrücklichen Bezeichnung des Kirchenrechts als liturgisches Recht zusammen. Im Gottesdienst geschieht, was sonst auch in der christlichen Gemeinde nicht geschieht. Es ist daher vom Gottes­dienst her ordnendes, in ihm immer wieder zu findendes und ihn seinerseits ord­nendes Recht. (41)

Das zeigt sich erstens im Bekenntnischarakter dieses Geschehens, zweitens in der wechselseitigen Anerkennung der Gemeindeglieder als Brüder, drittens darin, daß sie miteinander gestärkt und zum ewigen Leben erhalten werden, viertens im Charakter der Gemeinde als Gebetsgemeinde. „Die Herrschaft Jesu Christi wird Ereignis, in dem sie mit ihrem Gottesdienst seinen Aufruf mit ihrem Be­kenntnis beantwortet” (53). Die Sätze des Kirchenrechts werden „selber keine liturgischen Sätze, aber auf das liturgische Geschehen des Bekenntnisses ausge­richtete und auf theologischer Besinnung begründete juristische Sätze sein müs­sen. Sie haben diejenigen Regeln der menschlichen Gestaltung der Existenz der Gemeinde zu fixieren, die durch die von ihr verkündigte Botschaft gefordert, die ihr angemessen sind.” (54)

Barth nimmt noch einmal Gedanken aus den Anfängen der kirchlichen Dogmatik auf, vom Raum der Kirche, in der der Gläubige von der Taufe herkommend

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dem Abendmahl entgegengeht. Er verknüpft und unterscheidet hier sehl wohl die sancta und die sancti, verengt die Kirche niemals auf eine für sich bestehende Personengemeinschaft.

Kirchenrecht ist ihm lebendiges Recht, willig und bereit zu neuen Beantwor­tungen. Eben darum fordert er den Mut zur ausdrücklichen, juristisch genauen Entscheidung. Hier dürfe kein processus ad infinitum stattfinden, in welchem die Fragenden Angst haben Antworten zu finden. Dies sei bestimmt nicht die Dynamik des Heiligen Geistes, der bekanntlich kein Skeptiker ist. Möglichste Beschränkung hilft hier nicht. Der dienende Charakter des Kirchenrechts heißt nicht, daß es nicht konstituierend sei, etwa nur beiläufige und untergeordnete Wichtigkeit besitze. Man müsse sich gegen den feinen und groben ecclesiologischen Doketismus wenden, d.h. gegen die Neigung, in alledem nur etwas Vor­dergründiges und Scheinbares, keine echte Wirklichkeit zu sehen. Er ruft zum Ernst des konkreten Wagnisses auf. Dabei aber sei alles Kirchenrecht eben doch nur menschliches, nicht göttliches Recht. Damit darin der christokratische Ur­sprung im Auge behalten werde, müsse es sich in aller Strenge als jus humanum verstehen. Auch das, wozu man sich im Gehorsam entscheiden zu müssen glaubt, könne nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen. Die Rechtsformen anderer könne man sich nicht aufdrängen lassen, da auch sie nicht vollkommen, sondern höchst verbesserungsbedürftig seien. Er verwahrt sich gegen den Vorwurf des Relati­vismus. Mehr als die Frage, ob nicht auch dort der Herr das Wort führe und ge­hört worden sei, sei nicht möglich.

Im Schlußteil handelt er von der Vorbildlichkeit des Kirchenrechts für das weltliche Recht und nimmt noch einmal die Thesen auf, die er schon in seiner Schrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde” entfaltet hat und stellt sie in Zusammenhang mit seiner Kirchenrechtslehre.

Barths Schrift ist ein großer, mutiger, weitausgreifender Wurf, dessen Ansatz man nur freudig begrüßen kann. Die Leser der Schrift „Credo ecclesiam” wer­den viele Fragestellungen fast bis in die Formulierungen hinein wiederfinden. Beides ist in völliger Unabhängigkeit voneinander entstanden. Viele Aussagen von Barth hätten dort zitiert werden können, wenn sie der Öffentlichkeit damals schon zugänglich gewesen wären.

Die theologische Entwicklung ist reif dafür. Aber ist es auch die Kirche? Die ganze Summe überlebter Vorurteile, des juristischen Idealismus, der liberalen Häresie, ja der Unklarheit und Begriffsverwirrung steht dagegen. Es ist dies die Sorge aller, die am Kirchenrecht wissenschaftlich arbeiten, daß die Kirchenlei­tungen und Synoden im Grunde von solchen neueren Erkenntnissen unberührt sind. Wie könnte es aber auch anders sein? Seit Holsteins idealistischer Kon­struktion von Geistkirche und Rechtskirche ist keine zusammenfassende Darstellung des Gegenstandes mehr erschienen. Wie können diejenigen recht entscheiden, die trotz vieler einzelner Bemühungen doch eigentlich selbst erst einer Klärung bedürfen, durch welche sie weithin überfordert sind?!

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Barth ist auch für die Lutheraner nützlich zu lesen. Bei aller Biegsamkeit, ja zuweilen Mehrdeutigkeit seiner Formulierungen ist seiner Schrift eine schöne Entschiedenheit eigen. Er hat keine Angst vor dem Gesetz, so ungesetzlich er spricht. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß die Kirche zwischen Verrechtlichung und Liederlichkeit steht. Die Angst vor dem Gesetz hat noch keine Kirche vor der Gesetzlichkeit bewahrt.

Bedeutsam ist vor allem die Bezeichnung des Kirchenrechts als liturgisches Recht. Reformierte und Lutheraner werden hier zu lernen haben. Auch die rö­mische Kirche ist von einer solchen Erkenntnis weit entfernt, und die gleiche These fand in einem Kreise gut unterrichteter katholischer Theologen erstauntes Interesse. Ist die Liturgie von solcher grundlegenden Bedeutsamkeit für die Ord­nung der Kirche überhaupt, so sollte endlich das ästhetische Mißverständnis dieser Dinge aufhören und nicht weniger das Schlagwort vom Liturgismus. Das gehört zu dem von Barth geforderten „Sich-selbst-Ernstnehmen” der Kirche.

Erst auf dem Hintergrunde einer weitreichenden Übereinstimmung und dieser geschichtlichen Situation und Aufgabe darf nun auch die Kritik geübt werden.

Barths These hängt eng zusammen mit seiner bekannten Lehre über den Zusammenhang von Rechtfertigung und Recht, mit welcher er schon 1937 der Be­gegnung von Theologie und Rechtswissenschaft neue Wege gewiesen hat. Aber hier wie dort tut er selbst wenig oder nichts, um diesen Ansatz konkret zu ent­falten. Er nimmt noch nicht einmal voll zur Kenntnis, was aus diesem bedeu­tenden Anstoß geworden ist und zitiert nur Autoren, die relativ am Rande die­ser Arbeit stehen und seinem engsten Bereich angehören. Gegenstand der noch keineswegs abgeschlossenen Erörterung ist die Einordnung dieses Ansatzes in die gesamte systematische Theologie, insbesondere in die Trinitätslehre. Das ist für Barth und die von ihm genannten Gewährsmänner nicht in eben dem Maße problematisch. Sie leiten das Gesagte mit einer gewissen eingleisigen Direktheit aus der Christologie ab, so sehr, daß immer wieder der Vorwurf des Christoma­nismus gegen sie erhoben worden ist.

Es besteht ein auffallendes Mißverhältnis zwischen der Proklamation eines so bedeutenden Grundsatzes und der Allgemeinheit, man möchte sagen Farblosigkeit der Durchführung.

Dieses Mißverhältnis zeigt sich insbesondere im Verhältnis zur Geschichte. Die Kirchenrechtsgeschichte ist eben nicht die Geschichte relativ belangloser zeit­bedingter Rechtsformen, des römischen, germanischen, modernen Rechts. Es ist vor allem die eigene Geschichte der Kirche, des Gottesdienstes und der Theolo­gie, welche sich im Kirchenrecht niederschlägt. Das Kirchenrecht ist — dem würde Barth wohl grundsätzlich zustimmen — nicht das Abbild zeitbedingter Rechtsformen, sondern vor allem Vorbild, Ort weittragender geistiger Entschei­dungen, die rechtsbildend wirken. Aber von dieser Geschichte wird kaum Notiz genommen.

Ist Kirchenrecht liturgisches Recht, hat es seinen Quellort und sein Maß im Gottesdienst, so ist ja damit kein beliebiges Handeln, keine beliebige Gestaltung

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bei aller Freiheit und Fülle möglich. Gewisse Grundelemente sind dann gegeben. Verkünden und Tun auf der einen, Hören und Empfangen auf der anderen Seite sind sein unabdingbarer Inhalt. Dies tritt in dem oben aus S. 11 zi­tierten Text deutlich hervor. Über diese konstituierenden Merkmale kann die Gemeinde nicht verfügen; in dieser Weise verfügt das Wort Gottes über sie. Daraus ergeben sich gewisse Grundmaße des Gottesdienstes wie des Kirchen­rechts, die vielfach mit der Korrelation von Amt und Gemeinde bezeichnet wor­den sind. Barth führt jenen Satz nicht weiter. Jeder Versuch, nunmehr Gottes­dienstlehre und Kirchenrecht konkret zu verbinden, ist vermieden. Mit dem Gesagten ist ein einseitiges Verfügen des Amtes wie eine Selbstherrschaft der Gemeinde ausgeschlossen. Damit ist aber über bestimmte Formen des Kirchen­rechts, welche dieses Grundverhältnis nicht enthalten oder zur Auflösung brin­gen, ein theologisches Urteil gesprochen. Bei Barth bleibt dies alles trotz schärf­ster Grundsätzlichkeit in einer strukturlosen Beliebigkeit und Jeweiligkeit. Er will durchaus feste und konstante Ordnungen, die aber jeweils wieder im neuen Hören aufgelöst werden können und sollen, weil keine Form den ganzen Gehor­sam erfüllen könne.

Aus dem gleichen Grunde entbindet sich Barth von jeder Stellungnahme zu den konkreten geschichtlichen Kirchenrechtsformen. Bei ihm stehen sie alle, so­weit sie sich nicht überhaupt als unechtes Kirchenrecht erweisen, als relativer Ge­horsam nebeneinander. Die Erfahrungen, welche die Kirche gerade auf diesem Gebiet mit sich selbst, mit ihren Konzeptionen und Versuchen, dem Worte Got­tes gehorsam zu sein, gemacht hat, bleiben auch als Quelle der Erkenntnis außer acht; aber so wenig sie einfach Norm sein können, so wenig können wir von ihnen absehen. Ihre Geschichtlichkeit wird ein belangloses Material. Von dieser Geschichtlichkeit weiß Brunner eigentlich auch nichts, — um so mehr Sohm. Er hat die Geschichte des Kirchenrechts erstmalig mit eindringlicher Dramatik dar­gestellt. Diese Geschichtlichkeit war es recht eigentlich, welche ihn zur Fehl­lösung der Trennung von Kirche und Recht verleitete.

Jene Zurückhaltung Barths gegenüber der Geschichte seines Gegenstandes, ihre — man muß doch sagen — Relativierung, ist nun doch erst voll zu verstehen auf dem Hintergrunde der kirchenrechtlichen Tradition des Calvinismus, in der Barth bewußt und mehr noch unbewußt steht. Das calvinistische Kirchenrecht zeigt drei Momente: Es greift in dem Versuch des gehorsamen Hörens auf das Wort Gottes jenseits aller kirchenrechtlichen Tradition auf die Schrift zurück und entnimmt ihr mit einer gewissen Direktheit ihre Vorbilder für die Ordnung der Gemeinde. Es hat darin auch seine Geschichtlichkeit in der humanistischen Form des direkten Rückgriffs auf die Quellen. Von vornherein kommt ein Mo­ment zweckhaft-rationaler Erwägung hinzu. Schon Calvin interpretiert die kir­chenrechtlich wichtige Stelle Acta 6, 6 über die Diakonenwahl auf der einen Seite ganz biblisch korrekt, zugleich aber schon nach Art einer Gewaltenteilung zwischen Hirten und Gemeinde. In der späteren Entwicklung drängt das Mo­ment der Vernünftigkeit, das „light of nature” immer stärker hervor. Die

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calvinistische Kirchenverfassung erscheint dann nicht nur als Gehorsam gegen die Schrift, sondern zugleich als Forderung der Vernunft schlechthin. Diese drei Momente, verfließen schließlich ineinander: Geistlicher Gehorsam und vernünf­tige Erwägung finden sich gemeinsam befriedigt in der geschichtlichen Form, die ja auch der Calvinismus selbst neu bildet. Die anderen Teilkirchen ringen sämtlich mit dem Problem des Verhältnisses von Geist und Natur und Ge­schichte, die griechische und römische in dem Problem ihrer Geschichtlichkeit, des historischen Bischofsamtes, des Papsttums, der Bindung an die Tradition und ihren Ort usw. Die lutherische Kirche sucht dem Problem durch die Bin­dung an das historische Bekenntnis auf der einen, durch die Trennung der Merkmale der Kirche vom äußeren Kirchenwesen auf der anderen Seite gerecht zu werden. Nicht so die reformierte Tradition. Hier setzt sich alles trotz aller Vorbehalte in der erwähnten Direktheit fort. Der Gegensatz zwischen Geist und Natur und Geschichte ist im Verhältnis von Geist und Vernunft entschärft. Diese Vernunft behandelt souverän die geschichtlichen Formen als Material. Daher der starke Aufruf zur neuen Gestaltung, zur ständigen Reformation, der doch in der wieder traditionsgeladenen vorfindlichen reformierten Kirche nicht mehr erfolgt als sonst anderswo. Die Tradition dessen, was man nicht tut, steht bei alledem unverrückbar fest.

Dieser geschichtliche Hintergrund, diese Situationsgebundenheit Barths, von der man nicht einfach absehen kann, macht eine weitere Schwäche seiner Posi­tion sichtbar. Er vertritt mit Entschlossenheit als entscheidenden Ausgangspunkt, daß die Kirche der bruderschaftlichen Christokratie Christus selbst zum Subjekt habe. Damit ist freilich der Begriff der societas perfecta wie jeder andere sozio­logische Definition bei Schleiermacher, Brunner und anderen getroffen. Abge­sehen davon aber geht der Stoß ins Leere. Daß Christus das alleinige Subjekt der Kirche ist, wird die Lehre keiner Kirche bestreiten. Immer handelt es sich nur um die Frage, wie dies konkret wird. Keine Kirche hat so radikal versucht, jede Amtsgewalt, selbst den Begriff des Amtes (Barth greift ihn auch an) und damit jeden Ansatzpunkt für menschliche Eigenmacht auszuschließen unternom­men, wie die Reformierte Kirche mit der ihr eigenen Strenge. Keine Kirche ist im gleichen Maße der menschlichen Eigenmacht und Willkür anheimgefallen. Die Unzahl der Kirchenspaltungen, die Fülle des Sektenwesens, welches aus dem calvinischen Zweig der Kirche emporgewachsen ist, zeigt, daß hier die Dinge der Kirche, letztlich auf die subjektive Einsicht des Menschen gestellt, der Willkür verfallen. Die griechische, römische, lutherische Kirche bieten keine vergleich­baren Erscheinungen. Hier, wo der Amtsbegriff erhalten ist, behalten die großen Kirchenkörper ihre geschichtliche Kontur. Nicht so dort. Hier wird versucht, das Problem von Offenbarung und Geschichte, von Offenbarung und Natur durch die Subjektivierung des Bewußtseins und der Entscheidung zu lösen. Hier verläuft sich die Christenheit in Bildungen, denen man die Zugehörigkeit zur Kirche weder einfach absprechen noch einfach unbedenklich zusprechen kann, auch nicht nach dem Barthischen Merkmale des Bekenntnisses; in welchem die ökumenischen

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Symbole mit ihren richtungweisenden Vorentscheidungen und Erfahrungen der Christenheit nicht eindeutig in Kraft stehen. Wie kann das notwendige aktuale Bekenntnis als ein sich immer erneuerndes durchgehalten werden ohne den Kontrapunkt des geschichtlichen Bekenntnisses, — so wenig das geschichtliche Bekenntnis das aktuale ersetzen kann —?

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen — dieses Schriftwort gilt auch für das Kirchenrecht. Ohne eine entschlossene Kritik historischer Ergebnisse und ohne Rückkontrolle von ihnen her kann die Aufstellung allgemeiner Grundsätze nicht ausreichen oder wird die Dinge verschleiern. Diese Schwäche zeigt sich auch in der Interpretation der Begriffe ius divinum und ius humanum. Der Anspruch Gottes allein sei iuris divini, alles Kirchenrecht als Bekenntnis iuris humani.

So kann alles gefordert werden und doch nichts Konkretes wirklich verbind­lich erscheinen. So gibt es in Wahrheit bei allem gedanklichen Aufwand kein Kirchenrecht, sondern immer nur Versuche von Kirchenrecht. Keine wie immer bemessene Abgrenzung der Bereiche von ius divinum und ius humanum löst das Problem, weil eben die Trennung der Bereiche eine unzulässige Objektivation jedes von ihnen bedeutet. Der so radikal geforderte Glaubensgehorsam, aber auch die Existenz der Kirche subjektiviert sich unversehens durch permanente Aktualisierung. Die Ersetzung der Geschichtlichkeit durch die Vernunft im älte­ren Calvinismus findet hier ihren modernen Ausdruck.

In der römischen Kirche liegt der Schwerpunkt auf dem ius divinum, so daß auch das, was sie selbst als ius humanum versteht, unversehens Anspruch und Würde des ius divinum gewinnt. In Barths Konzeption ist alles Konkrete in das ius humanum gezogen, so daß ebenso unversehens und unvermeidlich auch das ius divinum in den Sog des ius humanum gerät. Die Trennung ist so, wäre sie auch begrifflich vorzunehmen, nicht durchzuhalten. Das ist ein wesentlicher Hinweis auf ihre sachliche Unmöglichkeit. Dasjenige altkirchliche Dogma, das hier verletzt wird, ist die Zweinaturen-Lehre von Chalcedon. Von daher ist das Pro­blem der Kirche und des Kirchenrechts mitten in Natur und Geschichte allein zu lösen. Die Kirche in der Nachfolge — was anders könnte die Kirchenrecht voll­ziehende Kirche sein? — hat Teil an der geheimnisvollen paradoxen Verbindung von Gott und Welt bis ans Ende der Tage.

Barth hat mit genialem Griff an einem heute reif gewordenen Punkt eine unmögliche Verhärtung des Rechtsbegriffs aufgelöst, die Vorstellung, daß Recht wesentlich Setzung sei. Damit ist auch der im Luthertum weit verbreitete falsche Rechtsbegriff überwunden, welcher Recht mit gesetzlicher Regel verwechselt. Recht entsteht aus dem Zusammentreffen von Anspruch und Anerkennung, im Kirchenrecht von Wort Gottes und Bekenntnis. Dieses Zusammentreffen macht seinen Rechtscharakter aus und gibt ihm zugleich seine echte Dynamik. Eben dies aber macht es unmöglich, in dem Bekenntnischarakter des Kirchenrechts dasjenige Moment zu sehen, was es aus allem anderen Recht heraushebt und auszeichnet. Denn nicht anders entsteht alles weltliche Recht, alles ius humanum, das nicht mehr zu sein beansprucht. Rechtsbildung ist immer und überall

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ein Prozess, ein Vorgang im strengen Sinne, der diese Momente des Anspruchs und der Anerkennung enthält und verbindet. (Vgl. „Die apostolische Sukzession und die evangelischen Kirchen” Abschnitt I [Kirche und Kirchenrecht] in: Credo ecclesiam.)

So wie die Frage „Rechtfertigung und Recht” keine christliche, innertheologische allein ist, sondern eine allgemeine aller Rechtsbegründung, so ist die Korrelation von Anspruch und Anerkennung kein auszeichnendes Merkmal des Kirchenrechts, sondern das Wesen des Rechtsbildungsprozesses überhaupt. (Vgl. Ernst Wolf in „Recht und Institution” S. 16 und Dombois „Das Problem des Naturrechts” — Evgl. Luth. Kirchenzeitung 13/55.)

Nicht die Art des Vorgangs, sondern die Einzigartigkeit des Subjekts und der Inhalt seines Anspruchs macht das Besondere des Kirchenrechts aus. Von allen menschlichen Ansprüchen, die durch Anerkennung zum objektiven Recht er­wachsen, unterscheidet sich der Anspruch Christi dadurch, daß er sich uns gibt und wir uns ihm wiedergeben. Wir kommen hier unversehens und unvermeidlich in die Formulierungen nicht des Kirchenrechts, sondern der Gottesdienst­lehre, insbesondere Luthers und Melanchthons hinein. Ohne eine inhaltliche Beziehung zur Gottesdienstlehre können auch die allgemeinsten Grundsätze des Kirchenrechts nicht festgestellt werden. Die Christologie des Sohnes Gottes, der sich nicht dienen läßt, sondern dient und sich opfert, widerstreitet der Über­setzung in die allgemeine Formel der Christokratie, wie grundsätzlich jeder expliziten Definition.

Indem Barth die Ausfüllung des von ihm gegebenen grundsätzlichen Rahmens der jeweiligen gehorsamen Entscheidung überläßt, vollzieht er in Wahrheit bereits eine Entscheidung in der Gottesdienstlehre selbst. Denn diese Nichtbeziehung auf eine im Geschehen des Gottesdienstes vorgegebene Struktur bedeu­tet sachlich, daß dieser Gottesdienst eben strukturlos ist. So eben hat der cal­vinische Gottesdienst die Struktur des gemeinchristlichen Gottesdienstes als Repräsentation des Heilsgeschehens zugunsten Predigt und Ermahnung der Ge­meinde preisgegeben. Die These von der Rückbeziehung des Kirchenrechts auf den Gottesdienst, die Barth im Grundsatz aufstellt, führt er selbst nicht durch und setzt trotzdem, ohne es auszusprechen, ein bestimmtes Gottesdienstver­ständnis voraus.

Indem Barth eine Stellungnahme zu historischen Kirchenrechtsbildungen völlig vermeidet, entgeht er auch der naheliegenden Frage nach dem, was aus seinem Ansatz werden kann. Aber worin unterscheidet sich nun die bruderschaftliche Christokratie von dem, was eh und je die reformierte Kirche aller westlichen Länder in ihrer historischen Gestalt von Calvin über Knox bis Wilhelm Niesel für Recht gehalten und praktiziert hat? Inwiefern greift sie wirklich weiter? Denselben theokratischen Ansatz, dieselbe Direktheit und Unmittelbarkeit der Verwirklichung des göttlichen Willens in der Subjektivität des Einzelnen, die­selbe Zurückdrängung des Amtsbegriffs, dieselbe Beiseitestellung von Geschichte und Gestalt finden wir hier.

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Ebenso bedenklich erscheint mir der Satz, daß es kein allgemeines Kirchenrecht gebe. Im Kirchenrecht sind Momente des Allgemeinen, Grundsätzlichen, Bleibend-Gültigen wie des Zeit- und Situations-Bedingten miteinander verschlungen; aber doch so, daß durch eine Verschiebung der Akzentsetzung das eine oder andere in unzulässiger Weise verkürzt wird. Es gibt Situationen und Probleme, die zu allen Zeiten gleichartig wiederkehren, und solche, die als neue auftreten. Die Häresie des Arianismus gehört dem 4. Jahrhundert nicht allein an; sie ist auch eine gegenwärtige Versuchung. Wie es klassische dogmatische Häresien gibt, so auch kirchenrechtliche. Die Entscheidung gegen Donatus, die­jenige für die Gültigkeit der Ketzertaufe betreffen immer wieder auftretende Fragen; die Entsdieidungen darüber sind deshalb auch nicht situationsbedingt. Sie sind gültig, nicht allein wegen einer vergangenen Autorität, sondern von der Sache her. So wenig der Gesamtbestand des Kirchenrechts aus einem Ansatz oder Prinzip zeitlos abzuleiten ist, so wenig kann das Vorhandensein wesent­licher und bestimmter Sätze des allgemeinen Kirchenrechts geleugnet werden. Die Teilkirchen können gar nicht nebeneinander bestehen, ohne die Frage zu entscheiden, ob sie der anderen Kirche auf Grund rechter Ordnung des Gottes­dienstes und rechter Lehre Gemeinschaft gewähren können oder nicht (CA V, VII). Sie können nicht auf Grund vorherigen Absehens von den konkreten For­derungen dieses Gehorsams jeder anderen als einer subjektiv nach rechtem Ge­horsam strebenden schon um dieser Anstrengung willen Gemeinschaft zuspre­chen. Sonst tritt die subjektive Redlichkeit des Bemühens an die Stelle der kon­stituierenden Merkmale der Kirche. Diese Wahrheitsfrage, die sich nicht auf Lehrfragen einengen läßt, kann nicht einfach abgewälzt werden.

Das grundlegende Bedenken gegen Barth scheint mir darin zu liegen, daß er zu der Generalbestimmung der Kirche als bruderschaftliche Christokratie ge­griffen hat, anstelle die Korrelation von Kirchenrecht und Liturgie, die er the­matisch fordert, wirklich zu vollziehen. Sobald der Vollzugscharakter des Kir­chenrechts durchgehalten wird, wird jede explizite Definition von Kirche unmög­lich, auch wenn sie nicht im strengen Sinne exklusiv verstanden wird. Kirche ist weder bruderschaftliche Christokratie noch irgendein Gegenbegriff. Die Form einer solchen Aussage ist unmöglich. Soviel man zu und sogar gegen CA V und VII sagen kann — in der Aussageweise — „Kirche ist, wo so und so gehandelt wird” — vermeidet sie diese Art der Begrifflichkeit. Die gerade auch methodisch, nicht allein sachlich neue Einsicht vom Zusammenhang zwischen Kirchenrecht und Liturgie war zu neu, um bei Barth die konkrete Tradition und Standort­bindung zu überwinden.

Auf die Verbindung seiner Darlegungen mit seiner Staatslehre, mit „Christen­gemeinde und Bürgergemeinde” will ich hier nicht eingehen; das bedürfte einer eigenen Erörterung.

Der Gesamteindruck bleibt so ein zweispaltiger: ein großartiger Ansatz, kühn im Zugriff auf neue reif gewordene Einsichten, der in der Durchführung durch die Last traditioneller Vorentscheidungen erdrückt wird.