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V
Theologischer Teil

 

A. Systematische Darstellung

1. Hierarchie und Theokratie

Hierarchie unterscheidet sich wesentlich von Hierokratie oder Theokratie. Diese meint alle diejenigen Formen und Versuche, in denen Wesen und Willen des Heiligen, transzendent nach seiner Natur und verborgen vor der Welt, doch zugleich in der Welt sichtbar und konkret zur Geltung gebracht werden sollen. Es gibt sie in außerordentlich vielen Formen. Sie benutzt alle Formen und verwirft zugleich alle Formen, die ihr entgegenstehen, wie sie sich selbst eben um der Heiligkeit ihres Ursprungs willen nicht an eine bestimmte Form bindet. So könnte Hierarchie als eine speziellere Form von Hierokratie erscheinen. Trotzdem sind Anspruch und Bedeutung von Hierarchie, wenn sie formal jenen Begriffen untergeordnet werden kann, doch zugleich weiter und umfassender. Hierarchie beansprucht gerade in ihrer Sichtbarkeit, Historizität und Konkretheit, mit den Belastungen und Entfremdungen, denen sie ausgesetzt ist, sich in einer gültigeren und mächtigeren Form in die Welt zu entäußern, als es irgendeine Hierokratie vermag. Sie ist stärker als jene, weil sie den Widerspruch ihres Gegenübers in der Konkretheit der Geschichte in sich selbst hineinzunehmen und trotzdem ihre Identität, ihre Sinnbestimmung zu bewahren beansprucht. Theokratische Entwürfe sind zwar zuweilen auch in hierarchischen Strukturen verwirklicht worden, haben sich aber weit öfter kritisch und radikal gegen die Strukturen der Hierarchie als eine Bindung an die Welt, gegen ihre Entäußerung in die Welt gewendet.

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Beide, Theokratie und Hierarchie sind eschatologisch ausgerichtet, aber in verschiedener Weise. Theokratie ist typologisch prophetisch, Hierarchie ist priesterlich. Beiden gemeinsam ist das Andringen eschatologischer Entscheidung im Jetzt und Hier. Beide sind militant — sie unterscheiden sich etwa wie ein Feldzug von einem Stellungskrieg. Theokratie verschärft und dramatisiert alle, auch die banalen Gegensätze, um einen hinreichend deutlichen Gegner vorweisen zu können. Hierarchie hat die Tendenz, die Gegensätze zu ermäßigen, um sie umfassen und einbegreifen, um in ihnen wirksam werden zu können. Theokratie redet von Frieden und ist friedlos, Hierarchie redet vom Kampf und paßt sich bis zur Selbstaufgabe an.

Theokratie bringt einlinig alles auf einen Nenner. Hierarchie lebt von Antinomien. Wenn die Eine Elemente der Anderen einschließt, so dissimilieren beide diese Kompensationen. Der prophetisch-puritanische Eifer, der innerhalb des Gefüges der Hierarchie selbst wie außerhalb ihrer gegen Entartung und Sinnverfehlung die Unbedingtheit des göttlichen Anspruches geltend zu machen sucht, unterbietet und verengt doch zugleich mit der Anspannung seines Rigorismus Programm und Typus von Hierarchie.

Das Axiom, daß prophetische Theokratie oder theokratische Prophetie grundsätzlich höher stehe, ist eine niemals kritisch erörterte Hypothese, die auf den falschen Gegensatz von Aktualität und Ständigkeit hinauszulaufen scheint. Aber in Wahrheit vermag man nur das zu richten, was man begreift, d.h. was man nicht nur versteht, sondern auch existentiell einbegreift. Im Sammelbegriff der Theokratie mag dies alles inbegriffen sein; im historischen Typus von Theokratie prophetischen Charakters ist Hierarchie nicht mit erfaßt.

Hierarchie ist eine Form der Ordnung geistlicher Macht, jedoch nicht etwa in dem Sinne, daß die biblische Dialektik von Macht und Machtverzicht in ihr schon thematisch aufgelöst wäre. Das ist denkerisch gesehen weder in ihr noch bei der Theokratie der Fall, welche von der Hierarchie abzuheben wichtig ist. In de theokratischen Struktur aber wird diese Dialektik ethisch vermittelt, in der Hierarchie strukturell. Diese Dialektik wiederholt sich noch einmal im Status des Einzelnen in dem Verhältnis von Recht und Disziplin.

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Es ist müßig abzuwägen, wo die Gefahr des Mißbrauchs größer ist. Freilich muß an überall in Erinnerung bringen, daß die Phänomenologie der Religion in § 1 mit dem Phänomen der Macht beginnt. Die reformatorische Kritik muß sich sagen lassen, daß sie in Wirklichkeit nicht der geistliche Macht die Machtlosigkeit, sondern strukturell allein die Hierarchie die Theokratie gegenüberstellt. Die Spiritualisierung der Formen ändert daran nichts. Die positive Bezüglichkeit, oder womöglich Komplementarität beider Formen hat bisher allein Paul Tillich angesprochen14.

 

2. Die beiden Hierarchien

Die Hierarchie in den christlichen Kirchen wird traditionell in die hierarchia ordinis und die hierarchia iurisdictionis gegliedert. Ihr Verhältnis zueinander stellt ein besonderes, zentrales Problem der Lehre von der Kirchengewalt dar. Ohne hierarchische Stufung hat auch das Augsburgische Bekenntnis die Unterscheidung von potestas ordinis und potestas iurisdictionis übernommen (die sog. „vetus partitio” = traditionelle Einteilung) (Art. XXVIII).

a) Die hierarchia ordinis

Ordo kann rechtlich als der Status verstanden werden, den ein Amtsträger der Kirche durch eine auf Dauer angelegte Amtsbestellung erlangt, weil und insofern er hiermit zugleich in ein definiertes Verhältnis zu Amtsträgern anderer Kompetenz tritt.

Dies bezieht sich aber immer nur auf Ämter der Kirche, d.h. solche, deren Verrichtungen Bedeutung für und wider jedermann in der Kirche haben. Wo immer das Evangelium verkündet und die Sakramente verwaltet werden, hat dies unmittelbare rechtliche Bedeutung für die gesamte Christenheit, welcher missionarisch Glieder zugebracht, deren vorhandene Glieder integriert und gefestigt werden. Die Ordination ist daher überall, auch in


14 P. Tillich, Über die dauernde Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus, Ges. Werke 7, S. 124 ff.

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nichthierarchischen Kirchen notwendig als Ordination zum Amt der Kirche verstanden worden. Dietrich Person hat neuerdings den gesamtkirchlichen Horizont alles kirchlichen Rechts herausgearbeitet15.

Daraus ergibt sich umgekehrt, daß Ämter von grundsätzlich nur partikularer, ausschließlich innergemeindlicher Bestimmung nicht oder nur bedingt in eine hierarchische Ordnung einbezogen werden können. Dies ist bei der Bewertung der ordines mindres zu beachten.

Wird die prinzipielle Gleichheit aller Ämter zum dogmatischen Grundsatz erhoben, so führt dies andererseits zu dem Zwang, nur eine einzige Amtsform zuzulassen, mindestens Ämter von einen Normaltypus her zu verstehen oder auszulegen, dem des Ältesten und Presbyters. Im Falle der Lutherischen Kirche hat die Abwehr hierarchischer Bildungen dazu geführt, auch die sinnvolle Mehrzahl nicht hierarchisch geordneter Ämter auszuschließen.

Der ordo-Begriff als solcher ist noch keineswegs hierarchisch; er kann in einem allgemeinen Sinne auf Strukturen und Positionen von religiöser Dignität angewendet werden. Er gewinnt hierarchischen Struktur, wenn die Stufen in dem beschriebenen Sinne substituierbar werden. Die hierarchia ordinis entsteht nun deutlich in einer Präzision der liturgischen Rollen innerhalb eines verbindlich gestalteten Gesamtvollzugs des Gottesdienstes. Der Begriff der Rationalisierung ist auf diesen Vorgang freilich nur mit Vorbehalt anzuwenden. Jedenfalls beschränkt sich die hierarchia ordinis auf den liturgischen Bereich, ist sie liturgierechtlicher Qualität.

Das Material zu dieser Bildung findet sich bereits im NT zweifellos ohne die Merkmale von Hierarchie auch nur im Anfangssinne. Denn die einfache Vor- und Nachordnung von Bischof und Diakon ist als zweigliedrige im systematischen Sinne eben nicht Hierarchie; der Typus des Presbyters aber ist in jenem Ursprungszustande nicht in ein Verhältnis zu beiden, regelmäßig in Verbindung vorkommenden, Amtstypen gesetzt.

In der geschichtlichen Entwicklung hat sich dann die Stufenfolge Diakon, Presbyter, Bischof herausgebildet und dieser werden ordines mindres vorgeschaltet. Es sind dienende Ämter in der Messe.


15 D. Pirson, Universalität und Partikularität der Kirche, Ius Ecclesiasticum I (München 1965).

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Während aber in der orientalischen Kirche nur einzelne Ämter von einem bestimmten Range entstehen, ist in der lateinischen Kirche eine sorgfältig definierte Vierzahl von niederen Ämtern ausgebildet. Nebendienste im gottesdienstlichen Geschehen werden als ständige Formen personal verselbständigt. Die lateinische Form kann meditativ und spekulativ zum Geschehen der Messe in Beziehung gesetzt werden. Ihr Aufbau ist dialektisch: auf ein abgrenzendes Amt folgte jeweils ein zuordnendes. Die Viererzahl der lateinischen ordines symbolisiert die rechtwinklig-quadratische Welt, während die drei Ämter in Beziehung zur himmlischen Trinität gesehen werden (4 + 3 = 7, 4 × 3 = 12).

Die Bedeutung der ordines minores im Aufbau der Kirche ist überall und zu allen Zeiten gering gewesen. Sie haben weder in der östlichen noch in der westlichen Tradition wesentliche, konstitutive Bedeutung gewonnen. Sie sind schon deswegen nur bedingt hierarchiefähig, weil sie nur innergemeindlichen und keinen gesamtkirchlichen Charakter tragen. Die übergemeindliche Austausch solcher Amtsträger wird beschwerlich zu belegen sein. Vollends wird die Bedeutung überschätzt, welche für die Ausbildung des Gesamtsystems die Spekulationen des Dionysius Areopagita besessen haben15a. Solche Philosophoumena vermögen soziale Formen nicht zu erzeugen, sondern nu vorhandene zu deuten und etwa zu ihrer Weiterbildung beizutragen. Im Mittelalter ist das Siebenerschema, welches aus der kosmologischen Spekulation stammt, mit größter Gewaltsamkeit auf die verschiedenartigsten Zusammenhänge angewendet worden und gerade darum sozusagen unspezifisch. In späteren Jahrhunderten sind jene ordines immer mehr zu formellen Durchgangsstufen geworden, die in der Reihe der Weinhandlungen vollzogen wurden, ohne daß ihnen noch effektive Verrichtungen in der Kirche entsprachen. Der Hinweis auf ihren ursprünglichen sachlichen Sinn und frühere Deutung ruft heute geradezu Überraschung hervor.

Von geschichtlicher Bedeutung ist demnach für die hierarchia ordinis im wesentlichen die Dreiheit der Ämter. Liturgisch ist der Bischof mit dem Presbyter simultan und austauschbar, weil beide


15a Vgl. die in Anm. 8a genannte Abhandlung von F.H. Kettler.

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vollgültig der Eucharistie vorsitzen, die versammelte Gemeinde leiten können. Erst das II. Vatikanische Konzil hat die durch Jahrhunderte erörterte Frage, ob der Bischof einen eigenen ordo besitze, zugunsten der Verselbständigung entschieden. Der Presbyter ist sozusagen zwischen Bischof und Laien zerdrückt worden. Diese späte Entscheidung zeigt andererseits, daß sie, wenn zwar möglich, doch durchaus nicht zwingend ist. Solange andererseits der Bischof nicht als eigener ordo ausgelegt wurde, war man gezwungen, die strukturelle Dreiheit des Systems durch die künstliche Spaltung des Diakons in Diakon und Subdiakon zu erreichen.

Über den ordo des Bischofs hinaus aber gibt es keine weitere Stufe. Jene Verselbständigung läßt sich im übrigen nur so rechtfertigen, daß ihm nach der Auffassung der bischöflichen Kirchen allein die regelmäßige potestas ordinandi zukommt, als einer ebenfalls liturgischen, immer im Gottesdienst zu vollziehenden Handlung.

Die Liturgie erlaubt aber nur eine sehr begrenzte Entwicklung der Hierarchie. Wenn ein Dreierschema die Mindestform hierarchischer Ordnung darstellt, so ist die liturgierechtliche hierarchia ordinis in der Tat im formellen Sinne Hierarchie. Andererseits ist ihr hierarchischer Charakter in zweifacher Weise gebrochen. Einmal steht ihm die vom Mess-Volzug her begründete Gleichwertigkeit von Bischof und Presbyter entgegen. Denn das proprium des Bischofs kommt ja nur einmalig in der Ordination, im übrigen aber nur in jurisdiktionellen Kompetenzen, also im Bereich der hierarchia iurisdictionis zum Zuge. Sodann besteht von der Verschmelzung der beiden institutionellen Ursprungstraditionen der Kirche her ein unmittelbares Verhältnis zwischen Bischof und Diakon, denen der Presbyter gegenübersteht. Insofern ist die einfache Stufenfolge nur im äußeren Bild gegeben. Jedoch hat sich dieses Dreierschema der traditionellen Ämter als ein grundlegendes Merkmal der bischöflichen Kirchen durchgesetzt. Die erwähnte Spannung in der geschichtlichen Basis hält dabei ebenso unveränderlich durch, wie sich Brüche in der Achse eines Grundrisses im sichtbaren Gebäude niemals ganz überbauen lassen. Der tiefere Grund für die begrenzte Anwendbarkeit des Hierarchiebegriffs

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auf die liturgisch begründeten Amtsstrukturen besteht indessen wohl darin, daß ein mit der Rationalisierung verbundenes quantitatives Element dem Wesen der Liturgie widerspricht. Die Vollmachten etwa der Beichtjurisdiktion können für Priester, Bischöfe und den Papst unterschiedlich umgrenzt werden, so daß der Vorgeordnete jeweils mehr Kompetenzen besitzt als der Nachgeordnete. Die Ausgliederung liturgischer Verrichtungen ist als qualitative hier nicht vergleichbar. Durch sie werden gewisse Seiten und Akzente des Geschehens gegeneinander abgehoben und zugleich sichtbar gemacht.

Die hierarchia ordinis bietet als Ganze gesehen insofern ein widersprüchliches Bild, als sie oberhalb des Bischofs weitere Ränge, den des Metropoliten und Patriarchen hervorbringt, diesen aber zugleich ausdrücklich den Charakter einer hierarchischen Stufe und eine spezielle Amtskompetenz abspricht. Metropoliten und Patriarchen haben nur Ehrenvorränge und begrenzte Funktionen. Gleichwohl entstammen auch diese Bildungen derselben Triebkraft, aus welcher sich die liturgische Hierarchie überhaupt aufbaut. So umschließt dieses Gefüge drei Gruppen höchst unterschiedlicher Qualität und Bedeutung: die ordines minores mit oder ohne Viererschema, die ordines majores im Dreierschema, und die bischöflichen Ehrenränge. Von den ordines minores kann man sagen, daß sie möglich, aber nicht nötig sind, von den bischöflichen Rängen, daß sie nötig, aber nicht möglich sind; ohne überörtliche Leitungsämter ist die Kirche nicht ausgekommen; aber sie haben keine Basis im liturgischen Vollzuge. Das Mittelglied aber, der Kern der drei Ämter, ist wie ausgeführt, in seinem inneren Gefüge gebrochen. So sind im Grunde genommen alle drei Gruppen in sich problematisch, und doch bilden sie ein zusammengehörendes, durchgehendes Gefüge.

b) Die hierarchia iurisdictionis16

Die hierarchia iurisdictionis überlappt sich nun mit der hierarchia ordinis. Das Amt des Presbyters, welches von der modernen


16 Im offiziellen Entwurf einer Lex Fundamentalis Ecclesiae, der durch eine deutsche Übersetzung in der „Herder-Korrespondenz” (Mai-Heft 1971) der Öffentlichkeit zugänglich geworden ist, ist die bisherige kanonistische Lehre ➝

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Ausbildung der 8. Weihestufe des Bischofs die Spitze der 7 ordines und damit das Vollamt darstellte, steht in der hierarchia iurisdictionis an der untersten Stelle. Der Diakon hat traditionell im Laufe der Kirchengeschichte außerordentlich vielfältige Verrichtungen versehen. Er hat Teilfunktionen in der Messe, er predigt, hält Katechese, tauft, versorgt die Armen, verwaltet die Kirchengüter und sonstige Geschäfte und wird gerade in der alten Kirche vielfach zu diplomatischen Missionen, auch von hoher Bedeutung, verwendet. Aber er hat nirgends eine eigene iurisdiktionelle Kompetenz. Alles, was er tut, geschieht auf Geheiß und unter der Voraussetzung der Billigung des Presbyters oder Bischofs. Eine eigene Entscheidung kommt ihm trotz vielfältiger Verantwortung jedenfalls nirgends dort zu, wo die Zugehörigkeit eines Gliedes der Kirche berührt wird. Die Taufe ist ohnehin vom ordo unabhängig. Infolgedessen scheidet der Diakon für die Betrachtung der hierarchia iurisdictionis aus. So bildet sich ein aufsteigendes System, in dem auf den Presbyter den Bischof folgt. Die einzelnen Stufen des Bischofsambt haben zwar relativ frühzeitig in der Patriarchats- und Provinzialverfassung unterschiedliche jurisdiktionelle Kompetenzen besessen, sind aber doch nicht Stufen, sondern nur Ränge innerhalb des einen bischöflichen ordo. So stellt sich heute jedenfalls in der lateinischen Kirche die hierarchia iurisdictionis nur dreigliedrig dar, in der Stufenfolge Priester — Bischof — Papst. Geschwunden sind mit der allmählichen Aushöhlung der Provinzialverfassung eigenständige Rechte der Metropoliten für die Bestellung und Disziplin der Suffraganbischöfe. Die heutigen Metropoliten haben zwar auch das Recht und die Pflicht, die Provinzialsynode zu berufen und zu leiten. Deren Beschlußkompetenzen sind aber im Verhältnis zu der unmittelbaren


➝ von den beiden potestates (ordinis et iurisdictionis) zugunsten einer Gliederung nach den drei munera Christi aufgegeben worden. Die Herkunft dieses Begriffs und die Tragweite seiner methodischen Übernahme sind hier nicht zu erörtern, zumal in den neuen Einheitsbegriff die Jurisdiktionshierarchie voll eingebracht ist. Die kategoriale Bedeutung der Begriffe Jurisdiktion und Ordination für die Kirchenrechtslehre wird übrigens hierdurch nicht aufgehoben. Vgl. im übrigen H. Dombois, Das Recht der Gnade (Witten 21969) S. 836 ff. In canon 36 des Entwurfs sind nunmehr die Kardinäle in den Episkopat eingegliedert.

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Zuordnung jeder einzelnen Diözese zu Rom auf ein Minimum reduziert. Eigenständige Patriarchate hat es in der lateinischen Kirche niemals gegeben; die Ansätze dazu sind durch das Papsttum unterdrückt worden. Die vorhandenen lateinischen Patriarchen von Venedig, Lissabon, Jerusalem, West- und Ostindien sind reine Titel. Die kirchenrechtlich eigenständigen Patriarchen der unierten orientalischen Kirche dagegen sind Häupter selbständiger Partikularkirchen mit eigenen Rechten, die in das Schema der hierarchia iurisdictionis nicht hineinpassen. Das lateinische Schema Presbyter — Bischof — Papst ist also dem orientalischen Verhältnis von Presbyter — Bischof — Patriarch nicht vergleichbar.

Jedoch haben sich in der Moderne ohne formelle Regelung kardinalizische Quasiprovinzen gebildet. Begünstigt durch nationalkirchliche Gegebenheiten sind in zahlreichen Ländern (Irland, Niederlande, Belgien, Österreich, Ungarn, Portugal) die Metropoliten derjenigen Sitze, die traditionell mit dem Kardinalat verbunden sind, zugleich Leiter des Gesamtepiskopats dieses Gebiets, auch wenn es neben ihnen weitere Metropoliten gibt, sogar solche mit anspruchsvollen historischen Titeln, wie der Erzbischof von Salzburg als Primas Germaniae.

Der so entstandene Gesamtaufbau ist klar und exakt, wenn auch nicht einfach. Als Gesamtsystem erscheinen hierarchia iurisdictionis (h.i.) und hierarchia ordinis (h.o.) dadurch verbunden, daß alle Kleriker einen eindeutigen Rang besitzen, der ihre Einordnung und Verhältnisbestimmung ermöglicht. Dieses Ganze gleicht einem militärischen Verband, wo ebenfalls jedermann einen eindeutig definierten Rang im Kommandogefüge besitzt, auch wenn er, wie Verwaltungsoffiziere, keine Kommandobefugnis im Truppenverband hat.

Das geringe Interesse an einer genaueren Untersuchung hat auch weitere bemerkenswerte Sachverhalte bisher nicht hervortreten lassen. Die p.i. baut weder auf der p.o. als weitere Stufung auf, noch steht mit ihr parallel. Vielmehr ist eine Art Parallelverschiebung eingetreten, sobald sich die p.i. als selbständiger Zug weiterbildete. Was dem Diakon qua ordo der Presbyter ist, ist nunmehr dem Presbyter qua iurisdictio der Bischof, und was dem Presbyter qua ordo der Bischof, ist dem Bischof qua iurisdictio der

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Papst. Und wie der Diakon zwar ordo, aber keine Jurisdiktion besitzt, so der Papst zwar Jurisdiktion, aber keinen (über den Bischof hinausreichenden) ordo. Alle übrigen Ränge und Dignitäten besitzen für unser Problem keine Bedeutung.

Die h.o. und die h.i. sind in der Geschichte der Kirche zeitlich, regional und denominationell sehr unterschiedlich ausgebildet worden. Die ganze alte Kirche kennt nur eine h.o. — eine h.i. überhaupt nicht gesondert oder oberhalb der h.o., sondern nur in sachlicher Entsprechung. Eine dreistufige und damit überhaupt erst vollständige h.i. gibt es in ihr schon deswegen nicht, weil die Patriarchen nur den bischöflichen ordo, keine Stufe der Jurisdiktion bezeichnen. Ordination und Disziplin der Bischöfe geschieht (unter Wahrung der Wahl durch Klerus und Volk) in der Kollegialität der Bischofssynode, also nicht hierarchisch. Nur praktisch und annäherungsweise, aber nicht prinzipiell üben die Patriarchen eine papale Jurisdiktion, wie sie denn auch vielfach den Titel Papa tragen. Eine Jurisdiktionshierarchie im strikten Sinne ist allein in der lateinische Kirche des Westens nach dem großen Schisma entwickelt worden. Den Antrieb dazu geben drei Momente her:
1. Die Ausbildung einer expliziten systematischen Dogmatik durch die Scholastik, deren Sätze eindeutig judiziabel sind.
2. Die Einführung der regelmäßigen Privatbeichte und eine entsprechend gestufte Beichtjurisdiktion.
3. Die steigende Zentralisierung der Besetzungsrechte für die Prälatur beim päpstlichen Stuhl und die Verdrängung lokaler Wahl- und Besetzungsrechte. Gerade dies ist nur sehr schrittweise und mehr per abusum, als auf Grund prinzipieller Anschauungen zum Vollrecht zusammengewachsen.

Magisterium der Lehre, Schlüsselgewalt und zentrale Kirchenleitung werden in dem Gefüge der dreistufigen p.i. verschmolzen und verliehen ihr die Antriebskraft zu weiterer Durchbildung. In allen diesen Bereichen aber wird die Übereinstimmung mit dem päpstlichen Stuhl zur Bedingung legitimer christlicher Existenz für jeden Einzelnen, wie umgekehrt die strenge Aufrechterhaltung und Durchsetzung der in allen jenen Bereichen entwickelten Grundsätze die Bedingung legitimer Kirche. So entsteht eine wechselseitige Notwendigkeit, von oben zu entscheiden und von

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unten sich der Entscheidung zu unterwerfen. Weit mehr als Machtanspruch und Durchsetzungswille treibt die systematische Notwendigkeit eines rationalen Systems zu dieser Bildung.

Die orthodoxen und schismatischen Orientalen haben diese Entwicklung nicht mitgemacht und die Konsequenz lateinischen Rechtsdenkens folgerichtig abgelehnt. Die bischöflichen Kirchen der lateinischen Tradition (Anglikaner und nationale Altkatholiken) haben die p.i. als eigene Stufung wieder abgeworfen und sich auf das traditionelle Drei-Ämter-Schema, die h.o. mit analoger Jurisdiktion beschränkt.

So bildet die h.i. stricte dicta eine ebenso monumentale wie folgerichtige Sonderbildung der römischen Kirche, die sich an die älteren Bildungen eigenständig anschließt. Da aber außer den Protestanten auch die bischöflichen Kirchen lateinischer Tradition ihr abgesagt haben, ist sie auch nicht einmal mehr gemeines lateinisches Kirchenrecht.

Das Verhältnis der beiden Hierarchien ist ein Stiefkind der Theorie. Wie die Hierarchie selbst positivistisch dargestellt wird, so verbleibt auch diese Dualität in einfacher Juxtaposition. Eine explizite Verhältnisbestimmung fehlt; es wird sogar die Meinung vertreten, sie könne begrifflich nicht ausgedrückt werden. Zugleich aber wird die Parallelität beider Hierarchien unausdrücklich vorausgesetzt. Dabei wird ihre wesentliche Ungleichheit und vollends die oben dargestellte Parallelverschiebung vernachlässigt.

Recht verstanden ist jedoch Jurisdiktion überhaupt, und deshalb auch alle hierarchisch geordnete Jurisdiktion Entscheidung über das dem Wesen der betreffenden Gemeinschaft entsprechende materiale Handeln. Für die Kirche ist dies aber das Handeln, welches der hierarchia ordinis zufällt, ordinatorisches, sakramentales, eingliederndes Handeln. Jurisdiktion ist, wie ich es anderweit dogmatisch entwickelt habe17, „Entscheidung über die Angezeigtheit geistlichen Handelns”. Nur so erklärt und rechtfertigt sich jener in der Parallelverschiebung auftretende Überhang der hierarchia


17 Das Recht der Gnade, Kap. XIII/2, S. 835 aaO. Vgl auch hierzu H. Dombois, Kirchenrechtliche Betrachtungen nach dem Konzil, in: Die Autorität der Freiheit, hrsg. von J.C. Hampe, Bd. II (München 1967) S. 543 ff., insbes. Teil III: Das Verhältnis zwischen römisch-katholischer und Ostkirche.

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iurisdictionis über die hierarchia ordinis. Das operari der Jurisdiktion als Entscheidung zielt auf das sich im ordinatorischen Handeln vollziehende Geschehen, auf das esse der koinonia. Nicht in dem Maßgeblichkeitsanspruch oder in dem Charakter als Gefüge, sondern in dieser Folge von Entscheidung und Vollzug zeigt sich der institutionelle Charakter der Kirche. Jurisdiktion ist nicht das Vorzeichen vor einem beliebigen Inbegriff zweckhafter Tätigkeiten, sondern ganz bestimmten Handlungen, eben dem proprium der Kirche wesentlich zugeordnet.

Nicht durch die letztlich fragwürdige, unwirksame Beschwörung des Dienstgedankens als eines ethischen modus,  sondern nur durch das geklärte Sachverständnis selbst kann der Dienstcharakter kirchlichen Handelns herausgearbeitet und folgerichtig gewahrt werden.

Das System der Jurisdiktionshierarchie hat durch das I. Vatikanische Konzil seinen formellen unüberbietbaren Abschluß gefunden.

Die lange, folgerichtige Entwicklung von ungebrochener Triebkraft, die dorthin geführt hat, stellte die Geschichtsschreibung vor eine Art sphinxhaftes Rätsel. Die Vorstellung einer durchhaltenden, sich entfaltenden „Idee”, wie sie von Verfechtern wie säkularen Betrachtern benutzt wurde, erklärt nichts. Erst die Einsicht in den Prozeß der Rationalisierung deckt den Motor auf. Nicht von ungefähr fällt diese letzte Durchbildung mit einer Wiederbelebung der scholastische Theologie mit ihrem Begriffsrealismus und Rationalismus zusammen. Was aber dieser Vorgang soziologisch bedeutet, ist im folgenden zu bedenken18. Die herkömmliche


18 Die Hierarchie wird als Einrichtung „divini iuris” bezeichnet. Das „ius divinum” ist zunächst ein dogmatischer Begriff, wie denn die Theologie und Jurisprudenz mit gutem Recht dogmatische Wissenschaften sind. Gleichwohl ist der Begriff rechtssoziologischer Interpretation zugänglich. Der Begriff tritt regelmäßig in Gegenüberstellung zum „ius humanum” auf — im engeren Bereich des Kirchenrechts entspricht dem der Begriff des „ius mere ecclesiasticum”. Da beide Begriffe aufeinander verweisen, ist primär wesentlich das, worin das Interesse ihrer Ausbildung übereinstimmt, wovon sie beide ihren Ausgangspunkt nehmen. Als „ius humanum” tritt das auf, was menschlicher Verfügung anheimgegeben ist. Das führt zur Ausbildung eines Gegenbegriffs, der das Vorgegebene und Unverfügbare zusammenfasst und sichern soll. Da der Verfügungsbegriff eine weiterer ist und in den verschiedensten rechtlichen Zusammenhängen auftritt, ist er hier als die rechtliche ➝

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Erklärung verweist freilich auf die neuplatonische Seins-Spekulation, die zweifellos für sehr lange Zeit eine umfassende Verbreitung besessen hat19. Wenn man ihr nun, was sich schwer erhärten läßt, eine grundlegende Bedeutung für die Ausbildung hierarchischer Formen vom frühen Mittelalter an zubilligt, so ist doch damit zugleich unsere Frage nicht gelöst. Sie zeichnet sich ab durch den qualitativen Sprung aus der Ordo-Hierarchie in die Jurisdiktions-Hierarchie, der gerade von der griechischen Kirche bis heute


➝ Bestimmung über solche Zusammenhänge zu verstehen, welche für den Verfügenden nicht existenzbestimmend sind, also von seiner Person ohne Statusänderung abgelöst werden können (vertretbare Sachen, zweckbegrenzte Mitgliedschaften usw.). Vgl. hierzu im einzelnen die Studie „Mensch und Sache”, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 110 (1954) S. 239-256 oder H. Dombois, Evangelium und soziale Strukturen (Witten) 1967 S. 181 ff. Die Fungibilität von Rechtsnormen führt also zur Gegenbildung von unveränderlichen Sätzen, wenn man will, von solchen „metaphysischer” Qualität. Der Begriff des „ius humanum” ist also kritisch, derjenige des „ius divinum” affirmativ. Jedoch setzen beide eine bereits erfolgte Kritik voraus, weil hier bestimmte Bereiche voneinander qualitativ abgegrenzt werden. Die Unterscheidung ist daher innerhalb solcher Rechtssysteme sinnwidrig und unmöglich, welche nach ihrem Selbstverständnis im Ganzen religiöse Fundierung und Qualität, auch für die sogenannte weltliche Ordnung, beanspruchen, wie dies etwa O. Brunner und Kern bis in das Mittelalter zeigen. So wie Rechtsmetaphysik und Funktionalität einander bedingen und provozieren, so zeigen auch die Tendenz zur Komplementarität, d.h. zur Verdrängung des jeweils anderen, mit dem sie gleichwohl verbunden sind.
Das „ius divinum” hat, wie kanonistische Theorie und kuriale Praxis zeigen, die Tendenz, das „ius humanum” bis zur Entleerung zu entwerten oder mindestens in den dritten oder vierten Rang zu verweisen; das „ius humanum” umgekehrt tendiert dazu, den Bereich des „ius divinum” auf abstrakte Generalsätze zu beschränken, deren Konkretion jedoch disponibel zu halten, so daß es fast zu einer res de nudo titulo wird. Diese wechselseitige Tendenz zeigt die Entstehung dieser Begrifflichkeit in einem System, welches die Kategorien der Kausalität — ohne Rücksicht auf den Gegenstand, also auch ohne Rücksicht auf die Kategorien des Pneumas und der Freiheit — zugrunde legt. Dies drückt sich dann in der undialektischen Einlinigkeit aus. Es ist zu vermerken, daß auch das reformatorische Kirchenrecht in einem bewußt beschränkten Maße Sätze „iuris divini” kennt (z.B. die Aussagen in art. V des Augsburgischen Bekenntnisses über das geistliche Amt als solches). Ich selbst habe den Begriff in der von mir vorgetragenen kirchenrechtlichen Systematik nicht benutzt (vgl. Recht der Gnade, Oekumenisches Kirchenrecht I [Witten 21969] S. 815 ff.).
19 Der Mißdeutung und Überschätzung des mittelalterlichen ordo-Gedankens ist O. Brunner in seinem Werk „Land und Herrschaft” entgegengetreten (S. 399f.). Er sagt: ➝

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folgerichtig abgelehnt worden ist; er ist ihr immer fremd geblieben. Erst recht können die säkularen Formen von Hierarchie in keiner Weise mehr mit den Triebkräften dieser Anschauung in Verbindung gebracht werden. Mag man noch den Wahrheitsbegriff der Scholastik auf dem Wege über den kanonischen Prozeß im Verfolgungszwang rechtsstaatlicher Justiz wiederfinden, so erklärt dies keineswegs die geschilderten, hierarchischen Formen in Heerwesen und Großwirtschaft. So verweist das Problem noch einmal zurück auf die Entstehung ständiger Entscheidungszwänge. Für Heerwesen und Wirtschaft sind diese Zwänge ohne weites aufweisbar, für die theologischen Zusammenhänge nicht in gleichem Maße. Vollends sind sie nicht zu verwechseln mit Antrieben militanter Gläubigkeit. Denn Calvinismus und Islam waren militanter als die hierarchische Kirche und sind entscheiden hierarchiefeindlich. Für diese Bildung muß also noch etwas hinzukommen, was in den theologischen Antrieben spezifisch ist und aus dem bisherigen Bestande unserer Erwägungen nicht abgeleitet werden kann. Der Übergang von der Ordo-Hierarchie in die Jurisdiktionshierarchie


➝ „Die theoretische Literatur des Mittelalters, die selbst dem Ständeproblem keineswegs jene Aufmerksamkeit schenkt, die ihr nach neueren Interpreten zuzukommen scheint, bedarf erst einer Beziehung auf die geschichtliche Realität, von der sie abgeleitet ist. Wenn Thomas von Aquin von den „ordines” sagt: „In civitatibus triplex ordo hominum invenitur: quidam sunt supremi, ut optimates; quidam autem sunt infimi, ut vilis populus; quidam autem medii, ut populus honorabilis”, so steht dem Philosophen, der die Ständegliederung einer „Civitas” beschreibt, offenbar die Schichtung eines italienischen Stadtstaates mit seiner Unterscheidung von magnati, populo grasso und populo minuto vor Augen. Immerhin kann man hier eine weit verbreitete Schichtung politischer Art in Adel, ehrbare und arme Leute erkennen. Doch vermag diese Gliederung nicht das Ganze der mittelalterlichen Welt zu erfassen. Der Ordobegriff wird vielmehr in einem viel umfassenderen formalen Sinn der Ordnung oder der einer Ordnung angehörenden Gruppe angewendet … Diese Dreigliederung ist aus einer Kombination der Scheidung von ordo ecclesiasticus und ordo saecularis mit der Gliederung der Welt in ritterliche Herren und bäuerliche Untertanen entstanden. Dabei bleibt das Bürgertum meist völlig beiseite.”

Für unsere Erwägungen kann man daraus entnehmen:
1. Diese ordo-Lehre begründet weder hierarchische Ordnung noch erklärt sie sie. Am allerwenigsten trägt sie zum Verständnis kirchlicher Hierarchie bei.
2. Sie ist eine unvollständige Deutung vorfindlicher Verhältnisse und vor allem wesentlich ethisch orientiert.

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würde zeitlich mit sozialgeschichtlichen Entwicklungen übereinstimmen, zu deren Träger sich gerade die Kirche gemacht hat. Signifikant ist hier etwa die Tatsache, daß auf demselben IV. Laterankonzil 1215 wie die Beichte auch das Konsensprinzip für die Eheschließung angenommen wurde, durch welches mit einem Schlag für diesen Bereich die patriarchalische Ordnung der Familie und Sippe entmächtigt wurde. Jurisdiktionshierarchie ist am ehesten zu verstehen als eine wesentliche Umformung und Übersetzung in eine andere geistige und soziale Situation unter Beibehaltung des Phänotypus.

Es gibt wesentliche theologiegeschichtliche Gründe, die jenen Quantensprung erklären. Ich sehe sie, um sie wenigstens kurz anzudeuten, darin, daß die christliche Theologie aus wesentlichen und zentralen Gründen — lange vor Kant — den Weg der transzendentalen Kritik als existentielle Selbstkritik gegangen ist. Aber diese Erwägungen überschreiten den Rahmen einer soziologischen Strukturuntersuchung. Es muß hier vor einem Soziologismus gewarnt werden, der nicht nur als Soziologie soziale Formen und Abläufe analysiert, sondern sie, wie den Homunkulus in der Retorte, auch zu erzeugen unternimmt. Die Soziologie kann die Struktur des Heerwesen untersuchen, aber nicht in diesem Zusammenhang gleichzeitig die Entstehung von Kriegen ableiten. Ebenso aber verhalten sich die Antriebe des Glaubens zu den soziologischen Wirkungen, die durch ihn Gestalt gewinnen. An diesem Punkte findet daher eine soziologische Untersuchung ihre Grenze und muß in die weitergreifenden geistesgeschichtlichen Zusammenhänge und Motivverbindungen eingeordnet werden.

Derselbe Übergang aus der (aller Hierarchiebildung) vorausliegenden Transzendenz  und Transzendentalität, welche die Ausbildung und Überhöhung der Jurisdiktionshierarchie bestimmt hat und einsichtig erklärt, erklärt zugleich auch die schlagartige Ausschaltung hierarchischer Formen in dem begrenzten Verbreitungsbereich des Protestantismus, welcher entgegen seinem Anspruch nicht die verfassungsgeschichtliche Fortentwicklung der ganzen Kirche zu bewirken und die Hierarchie überhaupt abzulösen vermocht hat. Waren nicht mehr die vom Papst verwalteten Schlüssel Petri, sondern das verbum externum oder die Prädestination die

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im strengen Sinne transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Existenz der Kirche, so entfiel ohne Übergang der entscheidende Anlaß zur Ausbildung und Aufrechterhaltung eines hierarchischen Systems.

Die wesentliche Differenz zwischen liturgischer und Jurisdiktionshierarchie gibt Anlaß zu einer Art Rückprüfung im Blick auf weniger rationale Formen von Hierarchie. Man kann sie im Handwerk wie im Universitätswesen finden. Im Handwerk ist es die Stufung Lehrling, Geselle, Meister, im mittelalterlichen Universitätswesen diejenige von Baccalaureus, Magister, Doctor (nicht Professor). Zunächst ist zu verzeichnen, daß die ältere Agrarverfassung in keiner ihrer sozialen Formen etwas Vergleichbares darbietet. Auch die Sippenordnungen kennen zwar Rangverhältnisse, aber keine Stufung. In Altersordnungen schließt einer an den anderen an, aber man steht nicht übereinander. Der Hierarchie haftet ein artifizielles Moment an. Weder die generative Beziehung noch das ambivalente Verhältnis der Menschen zur geschaffenen Welt, zu Erde und Tieren paßt hier herein. Fachlich-methodisches Können, an den Gegenstand gebunden und an ihm ausgebildet, wird in einem personalen Verhältnis planmäßig vermittelt. Mit den einzelnen Stufen sind Initiationsformen verbunden. Jedoch hebt sich diese Form deutlich von dem Zweierverhältnis Lehrer-Schüler ab; und nicht allein der Meister, sondern mindestens ebenso der Geselle führt den Lehrling ein und übt eine gewisse Autorität aus. Die beim Beispiel des Heerwesens erwähnte Dreierstufung der militärischen Dienstgrade hat hier ihren Ursprung, entfaltet allerdings erst später in einem durchgebildeten Heerwesen ihre volle disziplinierende Wirkung. Jene akademischen und ökonomischen Formen sind unendlich multiplizierter, aber enthalten keine genuine Möglichkeit der Steigerung; sie sind horizontal, aber nicht vertikal entwicklungsfähig. Darin sind sie der hierarchia ordinis verwandt. Aber diese Struktur gibt dann die Basis ab für die Ausbildung streng rationalere Hierarchien: ihr personaler und sachgebundener Charakter geht in ein dominierendes Moment der Funktionalisierung über. Es ist dabei interessant, daß die ältere Form keine Momente enthält, welche der späteren Form konstruktiv entgegengestanden hätten, so deutlich sich beide

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im Stil voneinander abheben. Auch die ältere Hierarchie enthält das Moment der Vollhingabe, also einen hohen Grad der Bedeutsamkeit, aber nicht in der aktuellen Radikalität der ständigen Frage von Sein oder Nicht-Sein. Die expansive Steigerungskraft der rationalen Hierarchien zweiter Hand rechtfertigt es, ihre sehr begrenzte Basis in den primären Formen gleichsam im Rückblick von der entfalteten Erscheinung her zu beschreiben. Die vielfältige Anwendbarkeit und Verbreitung kennzeichnet auf alle Fälle Hierarchie als formale Struktur.