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2.

Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts

 

Kann es das geben? Wenn ja, worin besteht sie und für wen gilt sie? Muß sie erst erforscht werden, oder ist sie längst bekannt? Kann sie Gültigkeit noch heute und für jeden beanspruchen?

Diese vier Fragen drängen sich auf, wo die Forderung erhoben wird, die in unserem Thema enthalten ist. Warum wir nach Weisungen für die Rechtsordnung suchen und weshalb wir sie gerade in der Heiligen Schrift suchen: diese beiden Vorfragen brauchen wir nicht mehr zu stellen. Denn auf die erste läßt sich kurz und schlicht erwidern: um der Gerechtigkeit willen; und auf die zweite nicht anders; freilich mit dem Zusatz, daß wir einsehen gelernt haben: Absolute Gerechtigkeit ist nur bei Gott zu finden. Gott aber finden wir dort, wo er sich offenbart: in seinem Wort.

 

1. Kann es biblische Weisungen für die Rechtsordnung geben?

Nach dem Bekenntnis der Reformation sagt uns die Bibel Gottes Wort von der Rechtfertigung. Vom Recht redet sie anscheinend nicht. Rechtfertigung aber bedeutet Freiwerden von der Sünde. Das geschieht nicht aus eigener Kraft und ist keine Selbstverantwortung mit dem Ziele der Selbstbehauptung. Wir können uns weder im Gewissen noch vor einem andern Menschen noch auch vor Gott rechtfertigen.

Rechtfertigung ist das Werk der göttlichen Gnade an uns, gewirkt durch den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn, der sein Blut vergossen hat, auf daß wir gerechtfertigt würden.

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Rechtfertigung verdienen wir nicht; sie wird uns geschenkt. Wir haben keinen Anspruch darauf, denn sie wird uns aus freier Entscheidung Gottes zuteil.

Recht können wir uns verdienen als ein Recht auf etwas; wir können es erwerben als ein Recht an etwas; wir dürfen in einer gewissen Weise und in bestimmten Grenzen den Anspruch darauf erheben, im Recht zu sein und uns ins Recht zu setzen; auch verlangen wir, daß man uns im Recht läßt. Freilich ist es ein sehr ungewisser, vorläufiger und zweideutiger Besitz, wenn wir behaupten: Ich bin im Recht, ich habe auf dies oder jenes ein Recht; aber wir können das so sagen, und zwar deshalb, weil das Recht nicht Gnade ist, vielmehr (theologisch gesprochen) „Gesetz”. Es ist keine Gabe und wird niemand geschenkt; es muß immer neu erkämpft und verteidigt werden. „Gesetz” ist eben nicht „Evangelium”, Recht nicht Liebe — jenes richtet und verdammt, diese heiligt und erlöst. „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.” 1) Das ist der berühmte „articulus stantis et cadentis ecclesiae”; der Satz, auf dem die Kirche der Reformation steht und mit dem sie fällt. Heißt es also nicht das Kernstück der Glaubenslehre, ja das Evangelium selber preisgeben, wenn man nicht nur die Gnade und Liebe, sondern auch das Gesetz und das Recht, die Ordnung der Welt und nicht nur die Harmonie des Reiches Gottes als Gegenstand biblischer Offenbarung behauptet und begreift? Es scheint so.

Aber nun steckt doch das Wort „Recht” im Wort der Rechtfertigung darin; es ist ein sprachlich notwendiger Teil dieses Wortes, aber auch ein sachlich unersetzbarer Bestandteil seines Begriffs. Wie kann das sein, wenn die Rechtfertigung allein durch den Glauben und dieser durch Gottes freie Gnade bewirkt wird, das Recht aber eine Sache der Vernunft und des menschlichen Willens ist? Es ist so, weil das Recht eben ursprünglich und seinem innersten Wesen nach nicht der Menschennatur entspringt, vielmehr eine Eigenschaft Gottes ist.

Davon spricht die Bibel sehr deutlich, wiederholt und eindringlich. Gott hat sich in ihr als der Gott der Gerechtigkeit offenbart. Das besagt erstens: als gerechter Gott (Deus iustus), der über die


1 Röm. 3, 28.

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Menschen nicht ohne Grund richtet; es besagt zweitens: als sich selbst rechtfertigender Gott, als der absolut „Andere”, der dem Menschen durch sein bloßes Dasein zum Gericht wird. Drittens zeigt die Bibel Gott als den Gerechtigkeit weisenden Gott, der die Menschen erkennen läßt, was (ihnen allen gemeinsam) vor ihm Recht sein soll. So hat er sich im Alten Bunde als Gesetzgeber bezeugt und fordert von den Menschen die Gesetzeserfüllung als der Herr, in dessen Reich man das Recht leibhaft 2). Auch im Neuen Testament, das nach Christi Wort nicht die Auflösung, sondern die Erfüllung des Gesetzes bringt 3), hat der Herr sich als Gott der Gerechtigkeit nicht unbezeugt gelassen.

Zwar wissen wir, daß Christus nach der Erkenntnis der Väter der Reformation nicht als Gesetzgeber gekommen ist. Luther lehrt dies, indem er die „lex Christi” als das wirksame Wort (verbum efficax) bezeichnet; dabei hebt er hervor, daß diese „lex” in keinerlei „Satzung” begriffen und erfüllt werden könne, sondern allein durch den Glauben 4). Freilich verwendet Luther dabei einen nicht ursprünglich biblischen Begriff von Recht, sondern einen aus dem humanistisch-scholastischen Bildungsgut stammenden „Lex”Gedanken und eine volkstümliche Vorstellung von „Satzung”. „Recht” ist aber nicht immer „lex” oder „Satzung” und in der Bibel schon gar nicht; es ist durchaus nicht immer der Gegensatz, von dem die Rechtfertigung sich abhebt und wogegen sie streiten muß — oft kommt das biblische „Recht” gerade von der „Rechtfertigung” her und kann überhaupt erst in ihrem Licht erkannt werden als das, was es ist. Diese Erkenntnis war Luther noch nicht zugänglich; er sah im „Recht” eigentlich und immer nur eine obrigkeitliche Setzung 5), nie die autonome Gemeindeordnung, die für Calvin das Wesen des Rechts enthüllt 6).


2 Ps. 99, 4.
3 Matth. 5, 17-19; Röm. 3, 31.
4 Vgl. dazu Ernst Wolf, „Natürliches Gesetz” und „Gesetz Christi” bei Luther („Evangelische Theologie”, Bd. 2, 1935, S. 305 ff).
5 Zum Beispiel „Das sind humanae leges et illis obediendum, quamquam Deus non hat gefaßt, sed vult, ut huic obediatur, wer das gesetzt hat”. Predigt am 4. Oktober 1528 über Luk. 14, 1 ff. (WA. 27, 362, 7-9).
6 Niemand darf der Gemeinde aus eigener Vollmacht obrigkeitlich Satzungen auferlegen (Institutio IV, 10, 6).

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Calvin sah hier einfacher und klarer. Aber auch er grenzte vor allem die Rechtfertigung vom Recht ab und warnte vor einem Mißverständnis Christi als „Legislatur”; andererseits bezeichnete er Christus doch deutlich als „legis Interpres” 7), als den Ausleger, dessen Wort uns das wahre Wesen des göttlichen Gesetzes und seiner Gerechtigkeit aufschließt. Darum gibt es im Grund keinen Widerspruch zwischen der Mahnung Christi, daß kein Tüttel vom Gesetz vergehen werde und seiner Gebotsauslegung: Ich aber sage euch... Denn es bleibt dabei, daß jedes Wort der Heiligen Schrift, auch das geringste, ein Spiegel der göttlichen Offenbarung ist und darum nie verlorengehen kann 8): Im bisher Unbeachtetsten werden spätere Geschlechter Ungeahntes entdecken. Jedoch gilt diese Verheißung nur, wo die Bibel als Gesamtzeugnis Christi begriffen und wo im Lichte der in Christus erschienenen Gnade ihre Weisung — auch die alttestamentliche — begriffen wird.

Wohl kann daran kein Zweifel sein, daß Christi Gebote solche der Liebe und inneren Zucht, nicht solche einer bloß äußeren Ordnung sind; er ist als unser Erlöser und nicht als unser Richter erschienen; um uns vor dem gerechten Strafurteil Gottes (seines eigenen!) zu retten, hat er es aus Barmherzigkeit 9) am Kreuz auf sich genommen und zugleich als Genugtuung angenommen. Aber es gilt auch — und gerade im Licht dieser Erkenntnis — sich frei zu machen von dem unbiblischen Vorurteil, wonach Recht und Gerechtigkeit es mit äußerer Ordnung des Lebens allein zu tun hätten und eben deshalb Christus, weil er dafür keine Richtsätze aufgestellt hat, auch keinerlei grundsätzliche Weisung für das Rechtsleben erteilt habe. Das hat er nämlich sehr wohl getan; teils ausdrücklich, teils gleichnisweise. Auch zeigt uns gerade die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit des Opfers Christi den schweren Ernst der Gerechtigkeit Gottes. Vom Sühnetod Jesu her bekommen wir erst den rechten Begriff für die Heiligkeit und Majestät des richtenden göttlichen Rechts, wie sie etwa Dantes


7 CR 73, 174.
8 Gott stellt in der Gesamtheit der Heiligen Schrift eine Regel und Richtschnur für unser leben auf, er redet durch sie zu uns (CR [Calv. Opp.] 2, 8496; 8, 395).
9 „Sua ipsius misericordia sibi satisfaciens in Christo, qui semel in compensationem seipsum traditi” (Calvin „Institutio”, III, 20, 45).

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großes Gedicht uns versinnbildlicht 10). Von hier aus, von dem göttlichen Ursprung der Gerechtigkeit her, empfängt auch die Bedeutung des Rechts in der Welt ihr strenges Maß und Gewicht; darin hat sie ihren eigentlich verpflichtenden Sinn.

Freilich brauchen wir vor dem Gericht Gottes nicht mehr zu verzagen, obgleich unsere Sünde die Verdammnis verdient hätte und die Ungerechtigkeit der Welt durch kein Werk der Wiedergutmachung aufgehoben werden kann. Aber das enthebt uns nicht dem Gericht selbst, das nicht erst im Eschaton, sondern alle Tage an uns sich vollzieht. Es gibt auch zeitliche Geschehnisse, die wir als Zeichen des göttlichen Gerichts über uns deuten sollen. Wohl dürfen wir im Vertrauen auf Christi Blut der Zuversicht leben, daß Gottes Verdammungsurteil überuns nicht mehr das einzig mögliche sein wird, aber dieses Wissen um die allein helfende Gnade, die uns der Glaube an Christus schenkt, gibt kein Recht zur Gleichgültigkeit gegenüber unserm irdischen Sein im Unrecht. Vor allem aber entbindet diese Erkenntnis uns nicht von der Pflicht der Verantwortung für rechtliche Ordnung und staatliche Gerechtigkeit. Zwar wird die uns verheißene Zukunft der neuen Erde und des neuen Himmels anders sein als jede bis dahin erschienene Ordnungsgestalt menschlicher Gemeinschaft; aber die Heilige Schrift spricht eben doch von der Gemeinschaft der Auferstandenen als einer Polis, einem Staat, und sie nennt den Stand, den der einzelne darin nach Gottes Urteil einnehmen wird, sein Politeuma, sein Bürgerrecht 11).

Es besteht, wie insbesondere Karl Barth gesehen hat 12), zwischen dem himmlischen Jerusalem und dem irdischen Staat, zwischen dem ewigen Recht der heiligen Ordnung der Kinder Gottes in der Auferstehung und dem zeitlichen Recht der sündigen Ordnung der Menschen „zwischen den Zeiten” eine Verbindung „von oben her”. Das ist eine schon im frühen Mittelalter formulierte 13)


10 Vgl. dazu Hugo Friedrich, „Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie”, Frankfurt 1942.
11 Phil. 3, 20.
12 In seiner für unser Thema grundlegenden und richtunggebenden Schrift „Rechtfertigung und Recht” (1938), jetzt wieder neu gedruckt in der Sammlung „Eine Schweizer Stimme 1938-1945”, S. 13-57.
13 Auf Augustin, De Civitate Dei lib. 5, cap. 11 zurückgehend.

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und später noch oft von christlichen Staatsdenken vorgetragene Erkenntnis; besonders zur Stützung des Reichsgedankens: gerichtet auf das Ziel der Vereinigung und Sicherung von „pax et iustitia”, Frieden und Gerechtigkeit, ist er gleichsam als Vorspiel oder Abbild des himmlischen Jerusalem aufzufassen 14).

Freilich darf diese Entsprechung nicht „von unten her” gedacht werden. Der Abglanz göttlicher Ordnung und Gerechtigkeit, der auf dem diesseitigen Staat und seinem Recht ruht, ist keine Ausstrahlung vom Staat oder vom Recht selber her; das zu denken wäre unbiblisch. Die himmlische Polis steht nicht am Ende einer Entwicklung des sich immer mehr vervollkommnenden Menschenstaats; sie ist vom Menschen her unbegreifliche und vom Menschen aus unerreichbare Gottesstaat. Deshalb dürfen wir den geschichtlichen Staat und sein vergängliches Recht nicht durch Ausrichtung an einem von der Kirche autoritativ gelehrten Kodex natur- und gottesrechtlicher Normen „gerecht” machen wollen, statt den Staat und das Recht dadurch Erkenntnis ihrer unaufhebbaren Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit, das heißt durch die Buße dieser Erkenntnis zu „heiligen” 15). Es gibt keinen wahrhaft „gerechten” diesseitigen Staat, auch keinen christlichen, und es gibt diesseitig kein absolutes Recht, auch kein aus der Natur oder der Bibel ableitbares. Sonst könnten wir die Erde in das (für immer verlorene) Paradies zurückverwandeln Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt und kann deshalb niemals in dieser Welt wirklich erscheinen, geschweige denn aus dieser Welt durch Selbstverwandlung und Selbstvervollkommnung hervorwachsen. Aber es hat doch auch in dieser Welt schon „angefangen”, es geht unsichtbar durch ihre Geschichte, durch ihre Staaten, Kirchen, Kulturen und Sozialordnungen hindurch seinen geheimen Weg.

Deshalb darf die theologisch richtige Lehre von den zwei Reichen 16) nicht zu der ethisch falschen Schlußfolgerung führen, daß die Unterscheidung von Erdenreich und Gottesreich, Staat und


14 Konrad Burdach, „Vom Mittelalter zur Reformation”, II, 1, Berlin 1913, S. 176.
15 Dazu vgl. die Auffassung des Staats bei Alfred de Quervain, „Kirche, Volk und Staat” („Ethik”, II, 1), 1945, insbesondere S. 210 f.
16 Vgl. zu ihr Harald Diem, „Luthers Lehre von den zwei Reichen”, München 1938.

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Kirche, Recht und Gnade, Gesetz und Liebe, iustitia evangelica und iustita civilis es dem Christen verböte, überall da in die Welt hinein zu wirken und hinein zu verkündigen, wo sich zeigt, daß sie (mehr als unvermeidbar) in Unordnung ist und (mehr als unabänderlich) im Unrecht lebt. Das Gegenteil ist geboten, wie der Römerbrief zeigt.

Darum gibt es für die Evangelische Kirche einen Weg echter Gesetzespredigt; wenn nämlich das Gesetz so verstanden wird wie es die Konkordienformel lehrt 17): Der primus usus legis ist die Niederhaltung des Bösen durch Norm und Zwang; secundus usus legis ist die Erziehung auf die Bußfertigkeit hin, wodurch wir erfahren, daß wir alle des Ruhms ermangeln, den wir vor Gott haben sollten; tertius usus legis ist seine grenzsetzende und richtungweisende Bedeutung für die Gemeinde der Erlösten, in der (trotzdem) immer noch der alte Adam mächtig ist und wider Gottes- und Nächstenliebe sich selbst behaupten möchte. Der Weg evangelischen Gesetzesverständnisses geht also vom Alten zum Neuen Testament und von ihm nochmals zum rechten Begreifen des Alten Testamentes zurück. Er führt mitten hindurch zwischen der Gefahr einer Vermischung von menschlicher mit göttlicher Ordnung, einer Ineinssetzung zeitlichen und ewigen Rechts „per analogiam entis”, wie wir sie in der römisch-katholischen Auffassung vom Naturrecht finden, und der nicht minder gefährlichen Zerreißung der christlichen und der politischen Sphäre, der Liebe und des Rechts, wie sie etwa Tolstoi behauptete.

Es hieße insbesondere Luther mißverstehen, wollte man ihm eine solche „Zweiweltenlehre” zuschreiben 18), und nicht weniger verkehrt wäre der unangebrachte Vorwurf gegen Calvin, er habe den Unterschied der „Zwei Reiche” 19) nicht genügend beachtet.

Beide Reformatoren haben aus der Wirklichkeit des Wortes in den


17 Form. Conc. VI: Primo, ut externat. quaedam disciplina conservetur et intractabilis homines coerceantur; secundo, ut per legem homines ad agnitionem suorum peccatorum adducantur; ut homines ... regulam habeant, ad quam totam suam vitam formare possint.
18 Sie folgt, wie Diem und de Quervain a.a.O. einleuchtend aufgezeigt haben, keineswegs aus der Lehre von den „Zwei Reichen”.
19 Er unterscheidet deutlich zwischen „spirituale Christi regnum” und „civilis ordo” (Institutio IV, 20, 1), geistlicher Buß- und Zuchtmahnung und weltlicher Zwangsgewalt (Institutio IV, 9, 3).

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Wörtern der Heiligen Schrift gedacht und nicht aus der Befangenheit in den einseitigen Kategorien theologischer Systeme. Sie stimmen deshalb darin überein, daß es gelte: sich weder von kirchlich autorisierten Normen fesseln zu lassen noch bindungslos und untätig der willkürlichen Selbstentfaltung menschlicher Rechtsvernunft zuzusehen, vielmehr der Weisung der Heiligen Schrift zu gehorchen.

„Gehorchen” heißt also hier nicht, einer im biblischen Text aufgefundenen „Norm” buchstabengenau nachzuleben, aber auch nicht einfach der (oft so trügerischen) „inneren Stimme” des in Wahrheit rat- und weisungslosen Gewissens zu folgen, sondern ernsthaft zu versuchen, Gottes Wort in den Wörtern der Bibel zu begegnen und das Wagnis des Vertrauens auf die Führung durch den Heiligen Geist zu leisten. Biblische Weisungen finden heißt also nicht: auf sokratische Weise einen Akt theoretischer „Erkenntnis” zu vollziehen, aus dem dann ein „einsichtsgemäßes” Handeln sich ergeben würde. Es läßt sich kein erschöpfendes „System” der Weisungen aufstellen, dessen Anweisung uns die persönliche Verantwortung ersparen könnte, aber wir sind andererseits auch nicht nur auf den Akt der einmaligen Entscheidung im Gewissen verwiesen. Es gibt Verbote und zielsetzende Richtschnuren, die einem Gewissen, das sich unter die Leitung des Gotteswortes stellen will, die richtige Weisung geben.

 

II.  Worin besteht diese Weisung, und für wen gelten ihre Richtschnuren?

Das „Wort” der Bibel ist substantiell anders als jedes ihrer von Menschen gesagten Wörter. Das zeigt sich in seiner Wirkung: Es belehrt nicht, sondern es weist; es beweist nicht, sondern es offenbart; es entscheidet; wo es gehört wurde, ist etwas geschehen. Darum liegen die Weisungen der Heiligen Schrift außerhalb jeder Vergleichung und Diskussion mit irgendeiner philosophischen Ethik. Man kann sie deshalb nicht einfach durch Aufsuchen und Herauslösen aller „gesetzlichen”, „moralischen” oder „juristischen” Stellen der Bibel finden. Das hieße geradezu, die Heilige Schrift einem von außen herangetragenen Maßstab unterwerfen, statt sich

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von ihr weisen zu lassen 20). Darum darf man nicht jeden Vers des Alten Testaments, in dem etwas von Recht, Gericht oder Strafe, von Gesetz oder Gebot gesagt ist, einfach als „Rechtssatz” auffassen; und man kann nicht alle Stellen, die von Gottes Gerechtigkeit reden, auf die Gerechtigkeit im irdischen Staat übertragen. Auch im Neuen Testament dürfen die Herrenworte oder Apostelmahnungen nicht isoliert und außer Zusammenhang mit der Christologie und Eschatologie zu einem „System neutestamentlicher Ethik” zusammengestellt werden. Sonst kommt man über das sterile begriffliche Entgegensetzen der so fruchtbaren lebendigen Spannung zwischen „Gesetz” und „Liebe”, „Rechtfertigung” und „Recht” nie hinaus. Darum gilt es streng festzuhalten: Nicht jede mit Rechtsworten oder Rechtstatsachen verbundene Textstelle ist (als solche) schon „Weisung” in unserem Sinne, und andererseits kann gerade eine (prima fache) ganz „unjuristisch” oder „unmoralisch” anmutende Aussage der Bibel eine wichtige Weisung für die soziale Ordnung enthalten. Wir wollen das zunächst am Beispiel des „Gesetzes des Alten Bundes deutlich machen.

 

1. Nicht alles, was dem Volk Israel von Gott als Gesetz geoffenbart worden ist, enthält eine überzeitliche Weisung 21). Das haben schon Luther 22) und Calvin 23) erkannt. So muß nach Luther im „Gesetz” zwischen dem für alle Völker und Menschen


20 Calvin warnt deshalb sehr eindringlich davor, sich aus der Bibel „irgendeine Philosophie oder Spekulation” zurecht zu machen (CR Calv. Opp. 8, 395). Vgl. dazu die wichtige Ausführungen von W. Niesele, „Was heißt reformiert?” 1934, S. 8 ff.
21 Wohl aber der Dekalog: Er war schon den Patriarchen ins Herz geschrieben (Luther WA. 39 I, 402, 14-403, 3).
22 „Darum ist gar aus mit Moses Gesetz und ist nicht ein ewig bleibend Gesetz gestuft, sondern hinfort ein ewiges verlassen Gesetz worden” (Luther WA. 50, 324, 11 f.). „Ea vero non fuit lex Mose, sed patrum ante legem Mose” (WA. 44, 315, 21 f.). Das Mosegesetz beruht (abgesehen vom Dekalog) auf älteren Satzungen (WA. 24, 185, 28f.; 186, 8 f.). „Mose indicat hic legem longo ante tempore gangschafftig gewesen” (WA. 14, 195, 1 u. WA. Br. 4, 1071, 14-17).
23 Vgl. dazu die Belegstellen bei Emil Brunner „Gerechtigkeit”, 1945, S. 323 A. 40; ferner Institutio IV, 20, 156, wo sich Calvin der Unterscheidung Luthers vom Rechts- und Zeremonialgesetzes einerseits, echtem Gottesrecht andererseits anschließt.

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verbindlichen Gottesrecht (praeceptum Dei) 24) einerseits und den zeitlich gültigen, bloßen Formvorschriften (praecepta ceremonialia sive iudicialia) 25) andererseits unterschieden werden, und Calvin hat diese Unterscheidung übernommen 26). Luther selbst hat aber erkannt, daß dieser formale Unterschied nicht streng durchführbar ist, weil alle Gesetze aus dem Dekalog fließen und an ihm hängen 27). Es gibt demgemäß auch Weisungen aus anderen Teilen des Mosegesetzes von absoluter Gültigkeit. Nach Calvin ist dazu zu sagen: „Obgleich die Zeremonien nicht mehr im Gebrauch sind, so wird ihr Wesen und ihre Wahrheit doch für uns aufrecht erhalten durch die Person dessen, auf dem die Erfüllung derselben beruht 28), nämlich Christus. Die Feststellung, daß die Gesetzgebung Gottes im Alten Bunde vielfach volksnationale Züge enthält 29), ändert nichts an der verpflichtenden Kraft darin zugleich gegebener allgemeingültiger Weisungen 30). Denn das Volk Israel ist ja darin immer wieder


24 „Multum discriminis inter Dei praecepta et mundi” (WA. 25, 427, 2-3).
25 „Ista leges caeremoniales et iudiciales” (WA. 39, I, 407, 20-408, 2); ebenso wird zwischen Moral- und Zeremonialgesetzen unterschieden WA. 39 I, 475, 10 f. „Diese Judicial- und Zeremonialgesetze gehen uns nichts an” (Brief an Spalatin v. 14. Mai 1524, WA. Br. 3, 720, 21 f.). Nur in Bezug darauf schrieb Luther: „Das Gesetz Mosis ist tot und ganz abe, ja auch allein den Juden gegeben (an den Rat zu Danzig, März 1525, WA. Br. 3, 861, 2-5). Vgl. auch WA.  Tr. 4, 4786. In diesem Zusammenhang sind auch die viel mißdeuteten Worte Luthers gefallen, daß „wirs nicht leiden, uns durch Mose zu Juden machen zu lassen” (WA. 18, 75, 11 f.), daß das „Mosegesetz der Juden Sachsenspiegel” sei (WA. 18, 81, 4 f.), und man „uns mit Mosen unverworren lassen” solle.
26 Institutio IV, 20, 15/16.
27 WA. 18, 76, 19-77, 8.
28 Confessio Gallica (zit. n. E.F.K. Müller, „Die Bekenntnisschriften der Reformierten Kirche”, S. 227 A. 14).
29 Die Bindung des Menschen an die Bräuche und Ordnungen seines Volkes wird von Luther oft als eine von Gott gewollte betont, zum Beispiel „at nostrarum politiarum legibus obligates” (WA. 39 I, 220, 12-21).
30 Seine Worte „enthalten nicht nur Fingerzeige auf das eine Wort, sondern teilen es tatsächlich an die Hörer aus, wenn der Heilige Geist an ihnen sein Werk tut” W. Niesele, a.a.O., S. 21 unter Bezugnahme auf Calvin (CR. Calv. Opp. 9, 305).

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als das erwählte Volk Gottes angesprochen, und was ihm als „Volk Gottes” gesagt ist, ist eben auch der neutestamentlichen „Gemeinde” und allen Menschen, die Gottes Kinder sind, überhaupt gesagt. Das christliche Verständnis des Alten Testaments erlaubt nicht nur, sondern fordert von uns, jeden Spruch des „Gesetzes” darauf zu prüfen und insofern als Weisung zu achten, als in ihm die durch alle Völker und Zeiten hindurchgehende Gemeinde Gottes angeredet ist 31).

Diese Aufgabe ruft uns mit besonderem Ernst zum Forschen in der Schrift auf. Wir dürfen uns nie mit einer bloß philologischen und historischen Textdeutung, nicht einmal mit einem philosophischen Verständnis begnügen. Gewiß sind die ausschließlich formalen Regeln des alttestamentlichen Kultus in Bezug auf Tempeleinrichtung, Priestertum, Opferriten für uns „ungültig”, — aber doch nur im Sinne direkt verpflichtender und gebietender Rechtsnormen: In diesem Sinne aber enthält die Schrift nach reformatorischem Verständnis gar kein „Recht” 32). Alles jedoch, das aus diesen Ordnungsvorschriften an allgemeinen, den Ordnungswillen Gottes für die menschlichen Gesellschaft überhaupt enthüllenden Weisungen mittels Auslegung zu entnehmen ist, hat auch für uns noch verpflichtende Kraft; freilich nicht als „Rechtssatz”, sondern als „Rechtsgrundsatz”, als Richtschnur des gerechten und ordentlichen Verhaltens.

In diesem Licht erkennen wir, daß die Unterscheidung Luthers zwischen echtem „ius divinum positivum” und „praecepta ceremonialia sive iudicialia” nicht genügen kann. Sie beruhte auf einem, wie wir heute sagen würden: „positivistischen” Rechtsbegriff. Alle Weisungen der Bibel für die Rechts- und Sozialordnung — das muß immer wiederholt werden — sind niemals Rechtssätze, sondern immer Rechtsgrundsätze; niemals Verordnungen, sondern immer Weisungen; keine Entscheidungsnormen,


31 „Darum müssen wir nicht danach fragen, ob’s Gottes Wort sei, sondern ob uns dasselbige gesagt oder nicht, und alsdann desselbigen uns annehmen oder nicht” (Luthers WA. 19, 194, 34 ff.).
32 In diesem Sinn wehrt Luther die Berufung auf das Gesetz Mosis ab und vereist auf das „kaiserliche” (das heißt römische) Recht, „wonach in Deutschland geurteilt werden solle” (WA. Br. 3, 753, 4-32); ähnlich Calvin nach J. Bohatec, „Calvin und das Recht”, 1934, S. 114 ff.

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sondern Bestimmungsnormen (Richtschnuren) für den Gesetzgeber, den Richter, den Verwaltungsbeamten, den Anwalt und den einfachen Rechtsgenossen im Verkehr mit andern Gliedern der Rechtsgemeinschaft.

 

2. Eine besonders ausgezeichnete Gruppe solcher Weisungen enthält der Dekalog. Die Zehn Gebote heben sich durch den Grundlegungscharakter ihrer Weisung von  allen anderen Gesetzen ab, die Mose, die Propheten oder die Apostel unter Eingebung des Heiligen Geistes dem Volk Gottes verkündigt haben 33). Sie sind kein Kodex von Rechtssätzen, nach denen in Einzelfall Gericht über Menschen (heute) gehalten werden soll oder kann. Aber sie sind nach Gottes eigenem Zeugnis die Zusammenfassung seiner Ordnungswillens für die Menschen 34), ein „Ausbund göttlicher Lehre, was wir tun sollen” (Luther) 35).

Sie sind Gottes kategorischer Imperativ und darum auch zugleich kategorischer Imperativ der von Gott geschaffenen menschlichen Vernunft 36).

In ihnen ist der Inbegriff aller wesentlichen Richtschnuren für die soziale, besonders aber für die Rechtsordnung gegeben 37), dergestalt, daß die Nichtbeachtung der Zehn Gebote jeder


33 Luther weist immer wieder darauf hin, daß man sie mit keiner anderen Gesetzgebung vergleichen darf. Sie wiederholen nur, was Gott in aller Menschen Herzen mit der Schöpfung eingepflanzt hat (WA. 50, 330, 11 f.; 50, 334, 19 f.), und sind über allen andern Geboten (WA. 30 I, 182).
34 Vgl. Luther: „So wohl als ich sagen kann, die zehn Gebot ... hat kein Mensch aus seinem Kopf gesprochen, sondern sind von Gott selbst offenbaret und gegeben” (WA. 30 I, 212). Und Calvin lehrte” Der Dekalog ist die „vivendi norma”: das ewige Lebensgesetz, ein für allemal von Gott offenbart (CR 73, 174).
35 WA. 30 I, 178/179.
36 Vgl. Luther: „Gott hat auch seine Richtschnur und canones, das heißen decem praecepta ... Mit der Richtschnur und Winkelmaß hat er die ganze Welt mit gezeichnet” (WA. Tr. 2, 1948).
37 Vgl. Luther: „So denn nun ein Gesetz, Lehre oder Rat helfen, so würde es wahrlich Mose tun vor allen andern Menschen auf Erden, die Propheten sind alle seine discipuli” (WA. 33, 48, 4-20). „Quid potest excellentius praedicari quam X praecepta? Nihil supra lex praeceptum dici potest ... Ergo Decalogus est summa doctrina” (WA. 40 II, 246, 8-11)! Ähnlich WA. 14, 675, 28-37.

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Rechtsordnung den sie rechtfertigenden Grund entziehen würde 38); jede Obrigkeit bleibt ihnen unterworfen 39). Darum können die Zehn Gebote nicht sorgfältig und umfassend genug auf ihre Weisungsbedeutung für die Rechtsordnung hin erforscht werden. Keine Auslegung kann hier weit und tief genug sein, denn der Sinn von Gottes Wort reicht tiefer und weiter als jedes Menschenwort 40). Sie muß sich nur hüten vor einer juridifizierenden „positivistischen” Verhärtung der Gebote zu starren Rechtssätzen und gleicherweise vor dem schwärmerischen Antinomismus, der wähnt, die „Liebe” hebe das „Gesetz” auf 41). Vor allem muß jede Auslegung stets dessen eingedenk bleiben, daß es die Herrschaft Christi ist, in deren Licht allein wir den Dekalog als Gottesgesetz recht verstehen können 42).

Wir können davon hier nur eine Andeutung geben. Die Erste Tafel der Dekalogs verkündigt in drei Geboten die religiöse Grundlage allen Rechts: die Furcht Gottes. Ohne sie ist keine Weisheit, keine Gerechtigkeit, kein Im-Recht-lassen des Nächsten möglich; „nur wer Gott in Christus über alle Dinge fürchtet und liebt, wird auch den andern Geboten recht gehorsam” 43).


38 Die Behauptung der unwandelbaren Geltung der Gebote Gottes für alle Menschen bedarf in jedem Fall der Hinzufügung: als Gottes Wort, also nicht als Rechtsnorm, nicht als „völkisches Brauchtum”, nicht als „Sittengesetz”, nicht als „Naturgesetz”, — sondern als Zeichen der Herrschaft Christi, als Weisung im Licht der rechtfertigenden Gnade. Vgl. Luther WA. 50, 334, 19-27.
39 Dagegen vgl. Luther, „Wider die Antinomer”, 1539: „Wer das Gesetz wegtut, der muß die Sünde auch mit wegtun. Will er die Sünde lassen stehen. Denn Röm. 5: Wo nicht Gesetz ist, da ist kein Sünde; ist keine Sünde da, so ist Christus nichts” (WA. 50, 471, 15-37).
40 Wir verweisen für das Folgende ein für allemal auf Alfred de Quervain, „Das Gesetz Gottes, die erste Tafel” („Theologische Existenz heute”, Heft 34), 1935; „Das Gesetz Gottes, die zweite Tafel” („Theologische Existenz heute”, Heft 39), 1936; Peter Brunner, „Die Zehn Gebote Gottes, in Predigten ausgelegt”, Elberfeld 1946.
41 Dagegen auch Luther, WA. 30 I, 178/79.
42 So Luther immer wieder: WA. 43, 54, 25-32.
43 „Achtet Gottes Heilige Gebote! Ein Wort der Westfälischen Provinzialsynode an die Gemeinden” (Neue Kirche. Evangelisches Gemeindeblatt für Westfalen, 1. Jahrgang, Nr. 4/F v. 11. August 1946). Vgl. Matth. 22, 37-40; 1. Joh. 5, 3.

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Das Erste Gebot enthält einmal die Weisung, niemand und vor allem sich selbst nicht zum Götzen zu machen; zum andern die Weisung, den wahren Gott nicht auf falsche Weise, nämlich in einem Bilde, das man sich selbst von ihm gemacht hat, anzubeten. Wer einen Menschen, ein Ding oder gar sich selbst vergottet, behauptet (durch seinen Götzen), allerwege und ausschließlich im Recht zu sein, ins Recht setzen und richten zu können. Das wäre rechtswidrig. Dieses Gebot richtet sich nicht minder an den Staat als an Völker, Verbände, Familien und Einzelne. Es darf daher keine Staatskirche, keinen Nationalkult, keine Verabsolutierung irgendeines Kulturwertes geben, von dem die Rechts- und Sozialordnung sich bestimmen lassen müßte.

 

Die Weisung des Zweiten Gebots geht dahin, die uns gewordene Offenbarung Gottes nicht zu mißbrauchen, indem wir uns allzu voreilig und leichtsinnig auf ihn berufen: etwa Urteile oder Gesetze „im Namen Gottes” erlassen, den Namen der „Vorsehung” oder des „Allmächtigen” zur Absolutierung eigener Vollmacht benutzen, unnötige Eidschwüre leisten oder mit fluch und Gaukelei magischen Zwang auf den Nächsten oder gar auf Gott selbst auszuüben versuchen. Es liegt aber auch eine positive Richtschnur darin: Es muß dafür gesorgt sein, daß Gottes Name verkündigt, bekannt, angerufen und gepriesen werden kann; dem darf in der Rechtsordnung keine Hinderung bereitet werden, vielmehr muß sie auf die Förderung dieser Möglichkeiten bedacht sein.

 

Das Dritte Gebot, den Feiertag heilig zu halten, gibt zwar uns heutigen Menschen keine positiv-rechtliche Kultvorschrift 44), erschöpft sich nicht etwa in der grundsätzlichen Weisung, die man schon dem Naturrecht entnehmen kann, daß jedermann Anspruch auf Erholung und Entspannung hat, der dient, arbeitet und etwas leistet. Es mahnt daran, daß Gott uns zu seinem Lobe erschaffen hat, daß dies ein Grund zur Freude ist und darum jedermann dieser Freude teilhaft werden soll; auch dem Gefangenen, dem zu einer Leistung oder Sühne Verpflichteten


44 Für die Juden ist es, wie andere Mosegebote (nach Luther) besonders „geschmückt”: WA. 332, 17f.;  330, 28-331, 19; Das Sabbatgebot gilt nur ihnen: WA. Tr. 1, 356.

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muß dieser Tag zur Sammlung und Erbauung gelassen werden: Das Gebot erinnert an unsere Gleichheit vor Gott und fordert die Feiertagsruhe und Feiertagsstille als gleiches Recht für alle. Besonders verpflichtet uns das Gebot zur gemeindlichen Versammlung, zum Bleiben unter dem Wort 45). Daraus folgt einmal für die Rechtsordnung die Weisung: der Verkündigung von Gesetz und Evangelium Raum zu lassen und Schutz zu gewähren; zum anderen die Richtschnur: auch auf sozialem, rechtlichem und politischem Felde nichts zu tun, ohne sich erst durch das Wort richten zu lassen. So hat schon Luther einem Juristen geraten: allererst  zu beten, daß Gott durch sein Wort ihm den rechten Verstand gebe und dann zuversichtlich „in die Bücher zu fallen” und danach seines Amtes zu walten.

Von der Zweiten Tafel an enthalten die Gebote die Grundlagen eines rechten Zusammenlebens der Menschen. Bereits Luther hat darauf verwiesen, daß ihr Inhalt mit den Lehren der antiken Philosophen übereinstimmt 46); aber er geht darüber hinaus.

 

Das Vierte Gebot verweist uns auf die Familie als göttliche Grundordnung 47) des Menschseins; nicht im Sinne eines beliebig zu gestaltenden, vertraglichen Nebeneinanders, sondern eines Ineinanders und Übereinanders. Grenzsetzende Weisung des Gebots ist: dem Mißbrauch der Vollmacht, die die elterliche Gewalt gibt, zu wehren und vor leichtsinniger Delegation dieser Vollmacht zu warnen. Richtunggebende Weisheit ist: die Familie als Lebensgemeinschaft, nicht als Interessenverband zu ordnen. Zugleich ist mit der Verheißung des Wohlergehens auf Erden geoffenbart, wie alle irdische Wohlfahrt (auch die soziale) daran hängt, daß wir


45 Psalm 84; Apgsch. 2, 42; Kol. 3, 16. Vgl. Luther, Großer Katechismus, Drittes Gebot (WA. 30 I, 143/144).
46 „Secunda tabula format communem vitam rationis, quam optime illustraverunt philosophi de officiis scribentes, puta, Academici, Peripatetici et Stoici” (WA. Tr. 2, 2097).
47 Grenze und Grund dieser Ordnung liegen freilich nicht in biologischen oder historischen Tatsachen oder Werten; sie liegen „im Herzen” (Paulus), aber daraus darf man nicht schließen, es gehe beim Vierten Gebot überhaupt „nicht um eine Ordnung, eine Lebensordnung”, (so de Quervain, a.a.O. II, 5) — es gibt auch göttliche nicht nur natürliche oder geschichtliche „Ordnungen”.

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Mensen in den Grundordnungen von Gottes Schöpfung bleiben. Darüber hinaus deutet das Gebot, die Eltern „zu ehren”, auf die Autorität, den Abglanz göttlicher Majestät und Würde, den die Vater- und Mutterschaft als erstes, grundlegendes Verhältnis der Über- und Unterordnung zwischen den Menschen besitzt. Luther hat im Großen Katechismus mit Recht auf diese Autorität als eigentlichen Rechtfertigungsgrund aller Ungleichheit der Rechtsstellung im Leben des Staates und der Gesellschaft hingewiesen. Emil Brunners Ablehnung dieses Gedankens 48) vermögen wir nicht zu folgen; das Vierte Gebot ist weisend auch für den Aufbau der Regierungsgewalten. Mit Calvin 49) halten wir daran fest, daß in jeder obrigkeitlichen Gewalt die Macht einen väterlich-erzieherischen und einen mütterlich-fürsorgerischen Zug tragen muß, der ihre Macht begründet und begrenzt. Das hat natürlich mit einem staatstheoretischen „Patriarchalismus Filmerscher Prägung” gar nichts zu tun.

 

Besonders sorgsam sind die Weisungen des Fünften Gebots zu prüfen. Auch hier haben wir keinen „Rechtssatz” im strengen Sinn vor uns, der etwa die Todesstrafe, den Kriegsdienst, die Schwangerschaftsunterbrechung, die Sterbehilfe ausnahmslos und schlechthin „verbietet” 50). Aber wir haben einen Grundsatz vor uns, der die so außerordentlich komplizierte Entscheidung dieser schwerwiegenden Fragen der Gesetzgebung, zu denen jede moderne Rechtsordnung Stellung nehmen muß und genommen hat, in eine bestimmte Richtung lenkt, nämlich in jene, die Gottes offenbartem Willen entspricht 51). Sie sagt uns nämlich grenzsetzend, daß außer im Notstand nicht getötet werden soll,


48 A.a.O., S. 144.
49 Corp. Ref. 52, 605; 54, 310.
50 Insoweit stimmen wir Emil Brunner, a.a.O., S. 144 zu — aber nicht, wenn er den Satz aufstellt, das Gebot spreche „lediglich vom Mord”. Schon der juristische Sinn dieses Wortes ist höchst vieldeutig und wandelbar, um wie viel mehr erst der ethische!
51 Wenn es auch keinen „Grundriß für das Handeln der Staaten”, keinen „Weltplan” von hier aus zu entwerfen gibt (so A. de Quervain, a.a.O. II. 17), so folgt daraus doch nicht der Verzicht auf die darin gebotene sozialethische Weisung. Die zünftigen Theologen verbauen  sich diese Erkenntnisse immer wieder durch ihren positivistischen und rationalistischen, das bedeutet aber: unbiblischen Rechtsbegriff.

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und richtungweisend, daß es alles von Gott geschaffene Leben zu schützen und zu pflegen gilt. Als absolut zwingendes „Gesetz”  wäre die Weisung des Fünften Gebots unerfüllbar und widersinnig und als reines „Liebesgebot” schwärmerisch, denn wir können ohne Zerstörung von Leben (jedenfalls des pflanzlichen und des tierischen) leider nicht existieren, und keine christliche Kirche hat jemals den seines Amtes recht waltenden Scharfrichter oder den Soldaten als Mörder verklagt. Aber als echte Richtschnur begriffen sagt uns das Fünfte Gebot noch weit mehr als ein bloßes „Totschlagsverbot”; es will nämlich dem Bruderhaß überhaupt wehren, und es mahnt zur Hilfeleistung in jeder Lebensgefahr eines andern, ja es fordert unsere Hilfe für alle Hunger und Not leidenden Nächsten 52), für alle vom leiblichen oder seelischen Tod bedrohten Menschen ein. „Stärke das andere, das sterben  will!” — dieser Spruch ist nichts anderes als das ins Positive gewendete Fünfte Gebot, seine weisende Richtschnur. Es trägt zudem, vom Christen her verstanden, die Verheißung in sich: als Begnadigter und Erlöster, der aus seinem Wort lebt, wirst du nicht töten.

Darüber hinaus darf das „Du” des Fünften Gebots nicht anders als in der übrigen Geboten verstanden werden. Es gilt also nicht nur für den  einzelnen Menschen 53), sondern auch den Gemeinschaften und Völkern; vornehmlich für alle „Obrigkeit”,  die den Auftrag Gottes hat, den Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Im Volk Gottes und als Volk Gottes ist hier die ganze Menschheit angeredet. Kriege und Hinrichtungen sollen also eigentlich nicht sein; Gott läßt sie nur als Ausnahmen zu; sie sind wegen des Sündenstandes unvermeidlich, aber so oft und so weit als irgend möglich zu vermiedenen: Gott wäre es wohlgefälliger und für uns Menschen wäre es besser, es würde sie überhaupt nicht geben. Darin liegt die politische Weisung, das Töten von Mitmenschen niemals, auch die Tötung des Feindes im Kriege nicht, zu verherrlichen, sie weder zu empfehlen noch leicht zu nehmen. Es ist dem Staate gesagt, daß er die Vernichtung des Lebens weder mittelbar dulden noch gar unmittelbar fordern darf, auch wo es  sich


52 Luk. 10, 25-37.
53 Das hat besonders Calvin erkannt: Nicht nur einzelne Menschen, ein ganzes Volk kann von Gott erwählt sein und muß dann zum „peuple saint” geheiligt werden (CR 56, 64 u.a.).

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um Leben handelt, das vom biologischen oder irgendeinem Nützlichkeitsstandpunkt aus „minderwertig” erscheint. Es ist ihm aber auch weiter gesagt, daß er die Lebensgefährdung zu verhindern hat, also der Technisierung und besonders der „Motorisierung” des Verkehrs Schranken setzen muß, wo diese Entwicklung mehr und mehr zur Lebensbedrohung wird.

 

Auch das Sechste Gebot bedeutet weit mehr als nur ein Verbot: etwa das des „krassen Ehebruchs” 54). Es weist in die Richtung: jeden Eingriff in die Ehe des Nächsten zu meiden, jede Mißachtung oder gar Zerstörung der Ehe zu unterlassen. Das Gebot muß im Licht des nicht zusätzlich, sondern als strenge und rechte Auslegung gemeinten Leitwortes Christi über die Ehe verstanden werden. Des weiteren gilt die Schranke, die hier dem Triebleben gesetzt ist, für alle Versuchungen der Unzucht. Daraus folgt für die Ordnung des öffentlichen Lebens die Weisung, alles zu tun, damit in Kunst, Lehre, Presse, Film und Rundfunk der Unzucht gewehrt und die Ehe geehrt werde. Positive Richtschnur des Gebotes ist nicht nur, daß die Ehe als allein dem Willen Gottes entsprechendes Verhältnis der Geschlechter zueinander gelten soll 55), sondern auch die Pflege der Zucht und der Reinheit des Leibes überhaupt 56), woraus zahlreiche Einzelweisungen für die Gesetzgebung fließen.

 

Im Siebten Gebot wird das Eigentum als eine Grundordnung, ohne die es keine menschliche Lebensmöglichkeit als Person geben kann, anerkannt. Freilich liegt in diesem Verständnis des Eigentums zuerst die grenzsetzende Weisung, den Nächsten in seinem Recht zu lassen, ihm nicht zu nehmen, was ihm „gehört” und als Eigenes zukommt. Damit sind nicht nur die materiellen,


54 So E. Brunner, a.a.O., S. 144.
55 Insofern sind de Quervains Worte (a.a.O. II, 21): „Mit Gottes gnädigen Willen haben wir es zu tun und nicht ... mit einem Gesetz der Ehe” zu überspitzt, denn hier geht es eben um Gottes Gesetz für die Ehe; es ist eine Folgerung, eine Anwendung, ein Gleichnis seines unzerreißbaren Bundes mit dem Menschen. Gottes Gesetz aber muß „Recht behalten” auch gegenüber den „erfahrensten Menschen”; es muß und gerade ihnen gegenüber behauptet und verkündigt werden; daran ist gegen de Quervain (24) festzuhalten.
56 Matth. 5, 27-32; 19, 3-12; 1. Kor. 6, 19-20.

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sondern auch die geistigen Güter gemeint. Die Weisung des Gebots ist zweifellos als absolutes „Gesetz” sozial widersinnig (denn Enteignungen, Abgaben, Steuern müssen sein, und in Notfällen kann  auch die einfache Wegnahme einmal entschuldigt werden) und als  absolutes „Liebesgebot” gleichfalls undurchführbar (denn das bedeutet den vollkommenen Verzicht auf Gewinn, Sondereigentum, Erwerb kraft höherer Gaben), aber als Richtschnur völlig klar und vernünftig. Es gibt nämlich die Richtung, in die unser soziales Handeln als Eigentümer gehen soll, unverkennbar an. Es soll keine Ausnutzung der Notlagen, keine Ausbeutung der Schwachen, kein übermäßiger Gewinn stattfinden; es soll keine Bestechlichkeit und Untreue geduldet werden, und es  darf nicht zur leichtfertigen Mißachtung fremder Eigentumsrechte kommen. Bis zur unteren Grenze des Entwendend von Feld- oder Gartenfrüchten des Behaltens gefundener Gegenstände, des „Organisierend” fehlender Alltagsbedürfnisse auf Kosten anderer hin erstreckt das Gebot seine Weisung, die auf die Verheißung der Gotteshilfe und der Verwerfung der Selbsthilfe beruht. Freilich gibt uns das Siebte Gebot andererseits auch die positive, richtunggebende Weisung, Eigentum nur in „rechter” Weise zu erwerben und es nur auf „rechte” Art zu gebrauchen 57).

Wir sind „Gottes Haushalter” und als solche mit all unserem Gut unseren Nächsten verpflichtet 58). Eine Überprüfung der bisherigen bürgerlichen Eigentumsordnung ist daher durch das Siebte Gebot keineswegs ausgeschaltet, im Gegenteil ist sie durch diese göttliche Weisung geboten 59). Auch Luther hat ja schon gegen alle Geschäfte, welche die wirtschaftliche Macht zum Selbstzweck erheben wollen, mit seinen Worten wider „des Nächsten Geld und Gut mit falschen Waren oder Handel an sich bringen” geeifert;


57 Dazu würde im einzelnen manche richtunggebende Weisung aus 5. Mose 23, 20-21, 25-26; 24, 6. 12-14. 17-22 zu entnehmen sein: Begrenzung des Pfandrechts, gerechte Lohnzahlung, Schutz der Witwen und Waisen, Zinsbegrenzung, Grenzen der Notentwendung.
58 Amos 5, 11-17; Eph. 4, 28; Jak. 5, 1-6.
59 Nicht nur die berühmten Drohungen des Propheten Amos wider den unfruchtbaren und ungerechten Besitz (Kap. 4-6) und die Worte Jesu über den Reichtum als Hemmnis der Gottesliebe (Luk. 12, 33-34 u.a.), sondern auch die scharfen Worte des Jakobusbriefes (5, 1-6) zeigen das auf.

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sie beziehen sich nicht nur auf betrügerische oder wucherische Geschäfte im engeren Sinn, sondern auf monopolistisches Machtstreben überhaupt.

 

Das Achte Gebot enthält eine der wichtigsten Richtschnuren für die Reinheit und Rechtlichkeit des sozialen Lebens. Es fordert erstens Wahrhaftigkeit im Verkehr, ohne die es kein Recht geben kann. Die Weisung gebietet zweiten Achtung vor der Person des Nächsten, ohne die keine Rechtsgemeinschaft möglich ist. Eine absolute Wahrheitspflicht ist freilich ebenso unerfüllbar, wie eine völlige Enthaltung von jedem Urteil über den Nächsten sich sozial lähmend auswirken würde. Die Richtschnur des Achten Gebots setzt zunächst wieder nur eine Grenze fest: Sie wehrt der Verleumdung und dem Denunziantentum; leichtfertiger Ehrabschneiderei oder leidenschaftlicher Rachsucht zieht sie unüberschreitbare Schranken. Aber sie weist uns auch positiv in  die Richtung, welche der Heidelberger Katechismus in der 112. Frage mit der Forderung, „daß ich meines Nächsten Ehre und Glimpf, nach meinem Vermögen, rette und fordere einschlägt. Sie verlangt christliches Vergeben und schärft die gebotene Pflicht ein, vom Nächsten nur Gutes zu reden und alles, was wir von ihm hören zum Guten auszulegen, es in freundlichen Sinne zu verstehen und auf das Ziel der Liebesgemeinschaft hin möglichst zum Besten zu kehren 60).

 

Das Neunte und Zehnte Gebot endlich enthalten eine Grundweisung für die gesamte Rechtsordnung, die jener des Ersten Gebotes an Bedeutung beinahe gleichkommt. Sie fordern von jedem einzelnen wie von der Gesamtheit vom Volk: den Nächsten in seinem Recht und an seinem Platz zu lassen, sich mit dem einem selbst Zukommenden zu begnügen und jedem andern das Seine zu geben. Wie die Furcht Gottes, die ja nur ein Ausdruck der Gottesliebe ist, am Anfang jeder Sozialordnung stehen muß, so auch  die Ehrfurcht vor dem Dasein des Nächsten mit allem, was er ist und hat; als Zeichen der Nächstenliebe. Sind doch Gottesliebe und Nächstenliebe die beiden Quellen des „Gesetzes” und damit die beiden Hauptweisungen der Bibel für die Rechts- und Sozialordnung; aus ihnen fließen alle anderen hervor.


60 Matth. 18, 21-35; Luk. 6, 37.

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Zusammenfassend gilt es, nochmals zu sagen: Das Verständnis  der Zehn Gebote als Weisungen verhindert den Versuch einer erschöpfenden Angabe ihres Inhaltes. Sie sind ja keine „Rechtssätze”, unter die man einzelne „Fälle” bringen und nach denen man entscheiden kann, sondern Grundsätze begrenzender und richtunggebender Art für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Sie dürfen deshalb weder absolut wörtlich noch absolut symbolisch genommen werden. Das bedeutet keine „Relativierung” ihrer Geltung, vielmehr zeigt sich darin ihre Übereinstimmung mit den Regeln der Vernunft und den Gesetzen der Natur, denen sie nicht widersprechen. Sie sind aber mehr als Natur- und Vernunftrecht, weil sie der Natur Schranken und der Vernunft Ziele setzen, die unverrückbar gültig sind. Die Verschiedenheit der Auslegung der Zehn Gebote innerhalb des christlichen Denkens darf dabei nicht zum Ärgernis werden, ist sie doch nur ein Ausdruck der Unerschöpflichkeit und Wirkungsmacht des göttlichen Wortes.

 

3. Neben dem Dekalog sind es vor allem die sogenannten „Haustafeln” in den Apostelbriefen 61), die als biblische Weisung für die Rechtsordnung zu beachten sind 62). Sie sind ein wesentlichere Bestandteil der Heiligen Schrift und dürfen deshalb nicht mit Weidinger als „jüdisch-rabbinisches Gedankengut und den stoischen Moralgesetzlichkeiten entlehnt” 63) beiseitegeschoben werden; sie sind nicht minderen Ranges als die „eigentliche Botschaft” des Evangeliums. Für die geistliche Substanz des Wortes Gottes sind die religionsgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Tatsachen der Bibelforschung gleichgültig; es geht hier nicht um Geschichte, Psychologie und philosophische Ethik, sondern um christliche Lebensordnung auf dem Boden theologisch erkannter Wahrheit. Der Erkenntniswert einer historischen Bibelforschung ist damit in keiner Weise herabgesetzt oder verkannt; aber sie hilft nichts, wo die weisende Kraft der Heiligen Schrift zu erfahren ist.


61 Röm. 13; 1. Petr. 13 f.; Kol. 3, 18 f.; 1. Tim. 5, 8.
62 Luther stellt sie dem Dekalog als „novos Decalogos ... sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et petrus” gleich (Thesen de fide etc., 1535, WA. 39 I, 47, 23-39).
63 Die Haustafeln 1928.

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Auch die „Haustafeln” dürfen nicht als wörtlich zu nehmende „Gesetze”, Moral-, Sitten- oder Rechts„normen” verstanden werden, es gilt auch hier hindurchzudrängen zum Weisungskern. Wenn die Apostel lehren, daß jedem das Schuldige gegeben oder getan 64), jedem das Seine zuerkannt werden solle: Ehre, wem Ehre; Zoll, wem Zoll, Lohn, wem Lohn; Steuer, wem Steuer gebührt 65), ist das freilich auch nicht nur ein Anerkenntnis des damals in Geltung stehenden römischen oder Provinzialrechts. Ebensowenig darf die berühmte Anweisung von Römer 13 nur historisch, aber freilich ebensowenig nur formal verstanden werden.

 

4. Endlich können wir aus mahnenden, wehrenden und erklärenden Worten Christi, aus den Gleichnissen seiner Reden und aus dem Verhalten des Herrn wie seiner Jünger in bestimmte, rechtlich bedeutsamen Situationen Weisungen für die Rechtsordnung gewinnen.

a) Die Herrenworte — vorab die berühmte „Goldene Regel” (Matth. 7, 12) — sind natürlich noch weniger als der Dekalog im Sinne konkreter, Einzelpersonen richtender Rechtssätze auszulegen. Sonst dürften wir weder den gerichtlichen Eid noch die gerichtliche Ehescheidung erlauben. Aber die Worte Christi über Eid und Eheschließung, rechten Gebracht des Eigentums, Steuerpflicht und Gehorsam gegen die Staatsbehörden, besonders aber sein immer wiederholter Hinweis auf die Fortgeltung des „Gesetzes”, das durch ihn erfüllt, aber nicht aufgehoben worden ist, geben die Richtung an, in der die Rechtspflege bei der Ordnung dieser Dinge und die Staatsmach bei ihrer Durchsetzung sich zu halten haben, damit der Grundordnung der Schöpfung entsprochen werde.

b) Die Erzählungen der Gleichnisse sind selber niemals „exempla” einer göttlichen oder auch nur menschlichen Gerechtigkeit. Weder der ungerechte Haushalter noch der Barmherzige Samariter dürfen in diesem Sinne als Richtschnuren, sei es aneifernd oder abschreckend, aufgefaßt werden. Es ist meistens gar kein rechtliches oder soziales, sondern gerade ein ungerechtes und


64 1. Kor. 7, 3.
65 Röm. 13, 7.

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unsoziales Verhalten des Menschen, das die Gleichnisse zeigen. Es kommt dem Herrn darin auf etwas ganz anderes an, nämlich auf die Desillusionierung der menschlichen Selbstidealisierung. In nüchternster Tatsächlichkeit verwenden die Gleichnisse die Vorgänge und Gesinnungen einer in Unrecht und Schuld lebenden Welt. Darin liegt eine ihrer bedeutsamsten Weisungsfunktionen: die Warnung davor, sich voreilig im Recht zu wähnen und ins Recht zu setzen; die Mahnung daran, daß nur die göttliche Gerechtigkeit wahres Recht schafft; der Hinweis darauf, daß alle diesseitigen Versuche der Rechtsordnung nur eine Vorordnung auf die künftige, auf das Reich Gottes hin sind.

c) Das gleiche gilt von den im Neuen Testament geschilderten rechtlichen Situationen, die uns Fragen aufdrängen, wie etwa das Verlassen der Familie oder das Unterlassen der Bestattungspflichten um Christi willen, das Ährenraufen, die Wegnahme des Eselfüllens; ferner vom Verhaltne des Herrn gegenüber denen, die ihm Unrecht antun, wie die Frage an den Kriegsknecht: „Habe ich recht geredet, warum schlägst du mich?”; besondre aber auch von solchen Stellen, in denen eine ganz einmalige Weisung an einen einzelnen Menschen erteilt ist, wie in der Mahnung an  den reichen Jüngling: „Verkaufe alles, was du hast!” 66) In allen diesen Lagen verhält Christus sich nicht als Gesetzgeber, der sagt: So mußt du es nachmachen, um gerecht zu handeln. Er öffnet uns durch sein Wort, seinen Wandel und seine Werke als der Beispielgebend die Augen für Gottes Willen und Gottes Liebe, die eben auch in Gottes Ordnung und Gerechtigkeit offenbar werden. Darum gilt es, mit dem vom Glauben geöffneten Augen diese Lagen anzusehen und mit den vom Glauben geschärften Ohren das in ihnen Gesagte zu hören. Wie danach ihre Auslegung als Weisung sich gestaltet, ist hier darzulegen nicht der Ort.

Einem Zweifel freilich, der sich hier anmeldet, müssen wir begegnen. Man könnte die Frage stellen, woran sich im einzelnen erkennen lasse, welche Worte der Bibel Weisungsbedeutung für


66 Luther meint dazu in seiner Genesis-Vorlesung von 1535/45: „monachi gloriantur se idem facere ac putant hanc veram obedientiae laudem, sed non est obedientia, quia non ipsis mandatum dedit Christus” (WA. 42, 455, 13-22).

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jedermann haben und welche nicht. Man könnte fragen, ob in dieser Verlegenheit nicht doch wieder auf die Stimme des Gewissens oder gewisse Regeln der Vernunft oder Gesetze der Natur zurückgegriffen werden müsse. Dann würde unsere Untersuchung nur einem Gang im Kreise gleichen. Eines darf jedenfalls auf diese Frage nicht geantwortet werden: daß jeder Mensch ein Stück göttlichen Wesens in sich trage und von diesem Ansatz her die rechte Wahl und Entscheidung zu treffen vermöge. Damit würden die biblischen Weisungen zu Satzungen einer natürlichen Religion umgedeutet. Im Gegenteil! Es muß dabei bleiben, daß ohne Mitwirkung der glaubenschenkenden Gnade Gottes, ohne Vertrauen auf die Führung und Leitung des Heiligen Geistes die Weisung als solche gar nicht erkannt zu werden vermag. Das ist keine „Flucht in die Mystik”, sondern die schlichte Folge der einfachen Wahrheit, daß die Bibel eben kein „Literaturdenkmal” unter andern (jedenfalls in diesem Sinne nicht) ist, sondern das lebendige,  wirkende, entscheidende Gotteswort, das uns in den Wörtern der Bibel begegnet. Blieben wir dessen nicht e eingedenk, so würde unser Forschen nach biblischen Weisungen nur die Wünsche unseres Herzens und die Eitelkeit unserer Vernunft ans Licht fördern; nämlich all das, was wir an sie herangetragen und ihrem Wort untergelegt haben. Freilich ist mit diesem Satz, daß die Weisungen nur von einem gläubigen Geist erfaßt und richtig ausgelegt werden können, nicht gesagt, daß sie darum keine Geltung für den Nichtchristen hätten; auch  dieser vermag den verpflichtenden Sinn der Weisungen für das soziale Leben vernünftig einzusehen und natürlich zu bejahen. Allerdings vermag er ihre Geltung nicht im letzten Grunde zu erfassen; denn die Offenbarung bestätigt zwar die Vernunft, aber nicht im Sinne eines bloß Zusätzlichen,  das ein Wesensgleiches vervollkommnet, sondern als das wesenhaft andere und wahre, von dem Natur und Vernunft als Geschaffenes einen jenseitigen Abglanz  tragen.

 

III. Wir wenden uns nun der dritten Frage zu: Müssen diese Weisungen erst von uns erforscht werden, oder sind sie schon bekannt?

Von den Urgemeinden an über die Schriftauslegungen der Kirchenväter, dann wieder mit einem neuen Ansatz im Jahrhundert der

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Reformation und bis in die Zeit der Herrschaft der Aufklärungsphilosphen hinein hat sich die christliche Gemeinde aller Völker immer darum bemüht, diese Weisungen zu erkennen und ihren Richtschnuren entsprechen das öffentliche Leben zu ordnen. Die „catena aurea” solcher Überlieferung zieht sich bis in die Gegenwart. Besonders müssen wir uns erinnern, daß eine reiche Literatur lutherischen wie calvinistischen Ursprungs vorhanden ist, die nicht philosophisch über evangelische Ethik redet, sondern eine evangelische Ethik schriftgemäß entwickelt; wobei sie sich ganz und gar nicht nur auf die Zucht des inneren Lebens beschränkt hat, vielmehr Grundlinien rechter Verfassung des öffentlichen Lebens entwarf, die für lange Zeit und von vielen Fürsten oder Staatsmännern verbindlich gehalten worden sind. Ihr Ziel war keine Aufrichtung äußeren Zwangs oder gar kirchlicher Bevormundung des Staates,  sondern Erziehung des christlichen Gewissens zu einer es verpflichtenden, bewußten Rechtsgesinnung. Von Johann Oldendorps Büchlein „Was billig und recht ist” (1529) 67) und seinem „Ratsmannenspiegel” (1530) 68) über Johannes Althusius’ „Politik” (1603) 69) bis zu Reinkings „Biblischer Polizei” (1653) oder Seckendorffs „Christenstaat” (1685)  aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege 70) finden wir eine evangelisch-christliche Gerechtigkeitslehre wissenschaftlich gepflegt; von den zahlreichen Haus- und Ehespiegeln, Oeconomien und ähnlicher, zumeist auf lutherischem Boden erwachsener „Haustafel”-Literatur 71) nicht zu reden. Später freilich ist dieser Schwung erlahmt, die


67 Neuausgabe (hochdeutsch) v. Erik Wolf („Deutsches Rechtsdenken”, Heft 2), Frankfurt a.M. 1948.
68 Neuausgabe (hochdeutsch) v. Erik Wolf („Deutsches Rechtsdenken”, Heft 2), Frankfurt a.M. 1948. Über Oldendorp vgl. Erik Wolf, „Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte”, 2. Aufl. 1944, S. 129-166.
69 Ausgewählte Stücke (aus dem lateinischen Text übersetzt und herausgegeben von Erik Wolf, „Deutsches Rechtsdenken”, Heft 4), Frankfurt a.M. 1948. Über Althusius vgl. Erik Wolf, a.a.O., Seite 167-199.
70 Über Reinging und Seckendorff vgl. Stintzing-Landsberg, „Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft”, Bd. II, S. 189 ff. und Bluntschli, „Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts”, S. 133 f.
71 Das Wichtigste davon (wenigstens zitiert) bei H.L. Stoltenberg, „Geschichte der deutschen Gruppwissenschaft”, 1. Tl., 1937.

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Verantwortung der Kirche für das Sozialleben beschränkte sich auf seelsorgerische Ermahnungen, wie sie immerhin auch gegenüber selbstherrlichen Machtträgern, wie dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. von seinem Hofprediger, gelegentlich noch kräftig und unerschrocken erteilt worden sind. Doch die literarische Tradition erlosch. Das Landeskirchentum überließ die politische Verantwortung den säkularen Mächten. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen wurde mißverstanden und förderte immer mehr eine bewusste, zuletzt wie selbstverständlich empfundene Entfernung und Entfremdung der Evangelischen Kirche vom Staat. Glaubensgemeinde und politische Gemeinde, kirchliches und soziales Leben strebten verhängnisvoll auseinander. Wenn sich endlich unter dem Einfluß des Rationalismus und Pietismus von dem ganz ins Innere zurückgezogenen Glauben des evangelischen Christen in seinem Berufsleben oder in seiner öffentlichen Stellung fast nichts mehr zeigte; wenn die Kirche als solche zu jeder Art von öffentlichem Unrecht schwieg und es einzelnen mutigen Predigern überließ, oftmals sogar erschwerte, dagegen aufzutreten, so mußte ihre Verkündigung mit der Zeit selbst unglaubhaft erscheinen, und es mußten ihr viele entfremden, ja  sich von ihr verlassen fühlen, die im sozialen Kampf auf der schwächeren Seite standen.

Gewiß hat die Kirche immer wieder Anstrengungen gemacht 72), es ist nur an Stöckers christlich-soziale Bewegung zu erinnern, diesen Bann zu durchbrechen. Und einzelne Denker,  wie Friedrich Naumann, haben immer wieder versucht, die alte Tradition einer evangelisch-christlichen Lehre von der Verantwortung im sozialen Raum wieder aufzunehmen und der Gegenwart entsprechend fortzuführen. Erfolg war ihnen dabei leider keiner beschieden. Heute erkennt die Kirche weithin wieder die Aufgabe, die ihr in dieser Richtung gestellt ist.

Was kann die Wissenschaft zu ihrer Bewältigung beitragen? Mit bloßer Rückbesinnung auf ältere Formulierungen ist da nur wenig getan; obwohl es auch darauf ankommen wird, den vergessenen Schatz evangelischer Ethik und Rechtslehre wieder zu heben und in Geltung zu bringen. Mit methodischen Abhandlungen


72 Vgl. dazu Landesbischof D. Theophil Wurm, „Das religiöse Problem in der neueren deutschen Geschichte” (Schriftendienst der Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nr. 1), 1946.

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und Auseinandersetzungen, die beispielsweise der Abgrenzung unseres Anliegens von der ganz ähnlichen Aufgabe der römisch-katholischen Kirche innerhalb ihres Naturrechtssystems dienen sollen, wird auch oft mehr zerredet und neu zerklüftet, was bereits langhin zusammengewachsen ist. Was nottut, dünkt uns vor allem eine neue Auslegung der Weisungen der Bibel für das gesamte soziale Leben zu sein;  sie muß auf dem Boden der Überlieferung stehen, aber mit dem Rüstzeug moderner Theologie und Geistesgeschichte durchgeführt werden und sich im Blick auf die Erziehung möglichst allgemein, also in der evangelischen Ökumene annehmbarer Grundsätze ausrichten.

 

IV. Damit sind wir schon in den Umkreis der vierten und letzten Frage, die wir uns gestellt hatten, eingetreten: Ist die Weisung der Heiligen Schrift für die Rechtsordnung auch heute noch und für alle Menschen verpflichtend?

Gewiß — solange die allgemeinen sittlichen Grundlagen des öffentlichen Lebens der zivilisierten Länder noch im wesentlichen unerschüttert christliche waren und man vom Erbe der humanistisch-christlichen Überlieferung des Abendlandes geruhsam zehren konnte, erhob diese Frage sich nicht. Aber das ist heute anders geworden. Der Mensch der Gegenwart lebt weithin fern der Kirche, ja im Widerspruch zu ihr und befangen in einem falschen, nämlich historisierenden oder naturalisierenden Begriff vom „Christentum”. Die meisten sind ethisch völlig steuerlos und bereit, sich jeder beliebigen kulturellen, politischen oder religiösen Leitung anzuvertrauen, sofern diese mit geschickter Propaganda zu sagen weiß, was die Psyche dieses modernen Menschen gern hören möchte und worin sie sich in ihrer ganzen Verlorenheit, Zerrissenheit und Führungsbedürftigkeit verlieren, zerstreuen oder von der allzu schwer gewordenen Eigenverantwortung entlasten zu können meint. Andere wieder leben von einem formalen Pflichtideal der bloßen „Haltung” und vertreten in allen Wertfragen eine relativistisch technisch denkende Skepsis, wie sie in dieser Ausbreitung noch niemals beobachtet worden ist. Diese Bereitschaft zum Nihilismus wird mehr und mehr zu einer Verantwortungsschwäche, Verantwortungsscheu und Verantwortungsflucht.

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Eins aber ist gewiß: Wer die persönliche Verantwortung ablehnt, wer lieber der Willkür seiner Skepsis oder dem Zwang eines Kollektivwillens oder dem Befehl eines vergötzten Einzelwillens folgt und der darin enthaltenen Preisgabe seiner Personhaftigkeit zustimmen will, kann überhaupt nicht mehr ernsthaft nach der Rechtfertigung der Rechts- und Sozialordnung fragen. Muß er aber um deswillen die christlichen Weisungen annehmen, und was heißt das dann? Hören wir dazu statt neuer Formulierungen lieber Luthers Worte: „Hier möchtest du sagen: soll man denn nicht tun, was recht ist, was Vernunft lehrt, was Gott heißt? Was sollen uns denn die Rechte? Wozu ist Vernunft nütze? Was lehret denn ihr Theologen? Soll’s denn alles nichts sein? Antwort: es sind hier nicht verdammt noch verworfen Recht, gute Vernunft, Heilige Schrift, sondern der leidige Zusatz und Unflat, unsere Vermessenheit, daß wir nicht mit Gottesfurcht und demütigem, ernstem Gebet solchen Rat und  Recht anfangen ...” Das meinen wir und sagen getrost mit einer Wendung Karl Barths: „Wo das geschieht, ist alles geschehen; wo das aber nicht geschieht, ist nichts geschehen.”

Indessen dünkt uns doch, es wachse bereits die Schar derer, die einsehen, daß die moderne, christusfremde Entwicklung der Ethik keineswegs nur die Grundlagen eines kirchlich gebundenen Lebens, sondern jede menschenwürdige Existenz überhaupt, vor allem die Lebensgüter des von der abendländischen Geisteskultur her aufgebauten Daseins untergräbt und zerstört. Wir dürfen daher vielleicht hoffen, daß die Richtschnuren und Weisungen der Heiligen Schrift, die ja mit den Forderungen wahrhaft philosophischen Menschentums und echter historischer Erkenntnis, aber auch mit den Lehren einer ihrer Grenzen bewußten Naturwissenschaft übereinstimmen, auch von denen gehört und verstanden werden, für die sie als Weisheit gelten, auch wenn diese Menschen der Kirche im theologischen Sinn nicht angehören. Denn ein „Gesetz” ist ja nach dem Apostel Paulus auch den „Heiden” ins „Herz geschrieben”, und was er an dieser Stelle „Gesetz” nennt, steht zum Inbegriff dessen, was uns die „Biblische Weisung” sagt, nicht im Widerspruch.

Aber — wird man einwenden — diese Einheit von Natur-, Vernunft- und Gottesrecht ist nur so lange zu bejahen, als die

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Schöpfung einheitlich verstanden wird; das sei aber seit dem Ende des Mittelalters nicht mehr der Fall. Wenn Luther von den Geboten: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, lehrte: „Deus primum scripsit in omnia corde, post per Moosen in corda” 73), so habe Hobbes, der das „bellum omnium contra omnes” als Naturzustand begriff, dem eben widersprochen und Pufendorf habe sogar die Zulässigkeit der Bigamie aus dem Naturrecht gefolgert. Eine entgottete Welt kenne kein Recht der Liebe von Natur mehr, wie es Luther 74) und Calvin 75) behauptet haben.

Gewiß: Naturrecht und biblische Weisung sind nicht einfach identisch 76), das haben wir eingesehen; sonst bedürften wir ja der letzteren gar nicht. Es gibt aber einen weiten Raum übereinstimmender Lehre, wo beide sich begegnen. Doch muß stets festgehalten werden, daß die Weisung auch das Naturrecht begrenzt und die Richtung zeigt, in der es, von Gott her, verstanden sein will. Daraus folgt der (wenn man will: ärgerliche, aber unumgängliche) Satz, daß zwar wohl auch der „natürliche Mensch” den Gedanken absoluter Gerechtigkeit zu denken vermag, ihm aber niemals den eindeutigen, absolut verpflichtenden Inhalt geben kann, den die biblische Weisung uns darbietet. Denn es ist eben leider nicht so, wie es noch Luther aussprechen zu können geglaubt hat, daß „von Natur alle vernünftigen Menschen so weit kommen, daß sie wissen, es sei unrecht, Vater und Mutter oder der Obrigkeit ungehorsam zu sein, desgleichen morden, ehebrechen, stehlen, fluchen und lästern” 77). Die Existenz drakonischer Strafgesetze in aller Welt und ihre ständige Übertretung spricht dawider eine zu deutliche Sprache, von allen andern modernen Erfahrungen des Ohnmacht der Vernunft gar nicht zu reden. Im Gegenteil; wie schon griechische Denker erkannten, lehnt der „natürliche” Mensch die Nomoi, die ihm „zum Schutz der Schwachen erfunden” zu sein


73 Predigt am 23. Juli 1536 über Matth. 5, 20 f. (WA. 41, 639, 9-15).
74 WA. 17 II, 102, 4 ff.
75 Calv. Opp. 24, 661.
76 Luthers Lehre „non est solius Mosis, sed naturae lex” (WA. 17 I, 10, 18-21) gilt nur für eine schon vom biblischen Schöpfungsgedanken her verstandene „Natur”. Nur in diesem Sinn betont auch Calvin: der Inhalt des Dekalogs sei zugleich „communis sensus naturae” (CR. 52, 361) und „fluit ab ipso naturae fonte” (CR. 52, 662).
77 Predigt über Joh. 1/2. 1537/38 (WA. 46, 667, 10-19).

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scheinen, so oft ab, als er es ungestraft tun kann. Wir alle sind der dauernden Belehrung 78) unserer Natur gar sehr bedürftig; geschieht dies aber vom Menschen (und nicht von Gott) her, so bleibt ihr Ergebnis höchst zweifelhaft, denn, wie Luther an anderer Stelle richtig sagt: „Das natürliche Recht und die Vernunft stecken nicht in allen Köpfen” 79). Und die Stimme der Natur vermag nicht mehr, als den völligen Widerspruch des Handelns gegen Gottes Gebot zu verhüten 80), aber eine sichere Richtschnur für das gottgefällige Tun gibt sie uns nicht.

Für den Christen besteht also eine Möglichkeit höheren Urteils über die Gerechtigkeit als für den Nichtchristen. Mit Gottes Gesetz im Herzen können wir, wie Luther sagt, über alle Menschengesetze urteilen 81). Es ist also nicht so, daß christliche Existenz ein Verständnis der Eigenständigkeit des Rechts verhindert, wie eine schwärmerische Auslegung des Liebesgebots meinte, vielmehr ist sie die rechte und beste Voraussetzung für gerecht Rechtssetzung 82) und Rechtsfindung; denn nur der Christ weiß vom wahren Wesen der Gerechtigkeit, nicht „aus den Büchern”, sondern aus der Liebe 83). Es gilt nämlich nach wie vor, was Luther sagt: „Wo du der Liebe nach urteilest, wirst du gar leicht alle Sachen scheiden und aufrichten hon alle Rechtsbücher. Wo du aber der Liebe und Natur Recht aus den Augen tust, wirst du es nimmermehr so recht treffen, daß es Gott gefalle, wenn du auch alle Rechtsbücher und Juristen gefressen hättest.” 84)

Es ist demnach erste Pflicht aller Christen, sich durch gründliches Studium der Heiligen Schrift der Weisungen zu versichern, die dem eigenen, persönlichen Leben zur maßgebenden Richtschnur dienen, nach denen wir uns vor unserem Nächsten und endlich vor Gott zu verantworten haben.


78 Luther, WA. 18, 719, 33 ff.
79 WA. 51, 211, 36 ff.
80 Calvin, CR. 56, 63: „ne point contrevenir entièrement à ce qui est défendu en cette loy”.
81 WA. 10 III, 372, 37-373, 15.
82 Luther, WA. 40 III, 221, 4 ff.
83 Luther: „Impossibile est probum esse Juristam, Judicem, Procuratorem etc. nisi sit Christianus ... Christianus tamen non inspicit amicum, non regem, non dona etc.” (WA. 11, 47, 25-29).
84 Luther, WA. 11, 279, 26-34.

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Darüber hinaus besteht für die Kirche die Aufgabe, unterstützt von sachkundigen Theologen, Juristen und Sozial- und Wirtschaftstheoretikern, diese Arbeit des Aufbaus einer „Christiana Politia” (Calvin) 85) im ganzen zu tun. Das Ziel dabei darf freilich kein Muster einer überall und allezeit gültigen christlichen Staatsverfassung sein; kein Dauerprogramm einer evangelisch-sozialen Partei; kein Entwurf eines Gesetzbuchs christlicher Lebensregeln 86). Wir müssen uns damit bescheiden, die grundlegenden Richtschnuren herauszuarbeiten, ohne deren Kenntnis und Befolgung der Mensch nicht seiner würdig, nämlich nicht als Gottes Geschöpf, leben kann. Es gilt aber nicht weniger, die grenzsetzenden Verbote wieder zu erinnern und aufzurichten, deren Mißachtung es unmöglich machen würde, nicht nur als christlichere Mensch, sondern auch als menschliche Person überhaupt, zu leben.

Abschließend sei, um Mißverständnissen vorzubeugen, noch einmal ausdrücklich wiederholt: Wir können die dafür gültigen Richtschnuren zwar nicht wortwörtlich der Bibel entnehmen, aber unter ihrer Leitung (verstanden als Gottes Wort) gelingt es, ihre Sätze (die historischen Wörter des Textes) als Weisungen zu verstehen. An den Früchten der Befolgung dieser Weisungen würde auch eine entchristlichte Welt erfahren, daß die Kirche hier wirklich ein helfendes Wort zur Frage der richtigen Rechtsordnung zu sagen den Auftrag hat.

In der Ökumene wird daran schon länger gearbeitet. Unter anderer Bemühungen hat vom 10. bis 12. August 1946 im Cambridge eine Zusammenkunft stattgefunden, die sich ausdrücklich „Die Autorität und Bedeutsamkeit der Bibel in heutiger Zeit” zum Thema der Aussprache gestellt hatte. Eine Gruppe von Mitarbeitern in den verschiedensten Ländern ist seitdem am Werk, die hier aufgeworfenen Fragen in kleineren Gruppen durchzusprechen


85 Institutio IV, 20, 3: „... instituenda sit ... christiana politia”.
86 Das wäre nicht nur unlutherisch, sondern auch im Widerspruch zu Calvins Worten: „Diejenigen, die behaupten, der Herr habe seiner Gemeinde die ... Gewalt nur anvertraut, bis es einen christlichen Magistrat gebe, der sie seinerseits zur Ausführung bringe, vertreten eine törichte und unhaltbare Meinung ... Wie würde es (dann) werden, wenn die Obrigkeit gleichgültig oder nachlässig wäre oder selber Zurechtweisung verdiente” (Institutio IV, 3/4, nach der zusammenfassende Übersetzung von Ernst Staehlin).

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und so eine gemeinsam erarbeitete Äußerung als Grundlage für die Weltkirchenkonferenz im Herbst 1948 vorzubereiten.

Man darf diese Anstrengungen gewiß nicht überschätzen, aber man sollte sie auch nicht aus irgendwelchen Gründen, wie der geringen Erfolgsaussichten, der Stärke gegnerischer Strebungen, oder wie immer die Argumente lauten mögen, geringachten. Gewiß werden auch die aktivsten Christen die Welt nicht von Grund auf verändern und niemals zu einem Paradies des Rechts und der Wohlfahrt emporgestalten können 87). Aber wir dürfen und sollen das Unsrige dafür tun, daß sie nicht vollends zur Freude des Teufels gedeiht.

Die Antinomien des Daseins sind freilich unaufhebbar und die Paradoxie der christlichen Existenz bleibt immer offenkundig; weder eine prästabilierte noch eine konstruktive Harmonisierung der Welt ist von christlicher Sicht her möglich. Aber diesem Geschick gegenüber hält die Verkündigung des Evangeliums ihre unaufhörliche und tröstliche, freilich auch „törichte” 88) Predigt, die den einen ein Ärgernis und den andern eine Torheit ist 89). Sie geschieht aber, und indem sie geschieht, wird die Welt vor die Entscheidung gestellt: Für Gott durch seine Gnade — oder wider Gott und gnadenlos; für Christus und seine Herrschaft — oder gegen Christus und damit für das (letzten Endes doch ohnmächtige) Widerspiel des Feindes.

Christliche Existenz haben, das heißt also nicht nur, aus der Welt hinausstehen, sondern von diesem „Transzendieren” her in die Welt hineinwirken. Christliches Rechtsverständnis weiß sich deshalb nicht nur in einer Welt, die bis zum Jüngsten Tage im Unrecht bleibt; es weiß auch, daß dieses Im-Unrecht-Bleiben vor Gott eine tägliche Mahnung für die Kirche Christi sein muß, zu beten und zu arbeiten, damit wenigstens so viel Recht geschehe und so viel Ordnung walte, wie es innerhalb der gefallenen Schöpfung dem Menschen möglich ist.


87 1. Kor. 1, 25.
88 1. Kor. 1, 18 u. 23.
89 Im gleichen Sinn: Constantin v. Dietze, „Bauernwirtschaft und Kollektiv” (Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 82. Jg. [1946], S. 257), wo in gleicher Richtung die biblische Weisung für die Wirtschaftsordnung gesucht wird.


Wolf, E. (1948)