§ 4. Die Lehren des Naturrechtes und ihr Einfluß auf die Verfassung.

Literatur: Richter, Gesch. der Kirchenverf. Mejer, Grundl. des luth. Kirchenregiments. Sohm, Kirchenrecht. Rieker, Rechtliche Stellung der ev. Kirche Deutschlands. Förster, Die Entstehung der preuß. Landeskirche unter der Regierung Friedrich Wilhelms III. 1. Bd. Tübingen 1905.

1. Von der Mitte des 17. Jhs. an bricht sich eine neue Weltanschauung Bahn, welche an die Stelle der religiös-theologischen Vorstellungen ein System dor natürlichen Erkenntnis zu setzen sucht. Auch für das Rechtsleben macht sich diese Richtung

|35|

bemerkbar: Recht, Staat, Obrigkeit erscheinen nicht mehr als göttliche Stiftungen, sie sind aus dem freien Willen, aus der vernünftigen Überlegung der Menschen entstanden, genauer aus einem Gesellschaftsvertrage und einem Unterordnungsvertrage (pactum unionis, pactum subiectionis). Hierin unterscheidet sich der Staat von keiner anderen Verbandseinheit.

Das ist die Lehre des Naturrechtes, die in Philosophie und Rechtswissenschaft: unbestritten bis in das 19. Jh. hinein geherrscht1) und die in Rousseaus Contrat social ou principes du droit public (1762) ihre berühmteste Ausprägung gefunden hat.

Der Entstehung des Staates entspricht auch sein Zweck. Er hat nicht mehr die Aufgabe, ut evangelium propagari possit2), sondern das Wohl, der Nutzen des Staates, die salus publica, die Staatsraison, sind an die Stelle dieser religiösen Zweckbestimmung getreten; eine Sorge für die reine Lehre, welche bisher die Handlungsweise der Obrigkeit in kirchlichen Fragen bestimmt hatte, kann von der Obrigkeit nur dann noch und nur noch insoweit bestätigt werden, als sie dem Staatswohl entspricht oder zu entsprechen scheint.3)

Auch über den Umfang der Staatsgewalt ändern sich die Anschauungen; sie erscheint nicht mehr auf Landesherren, Landstände, Städte, Gilden, Genossenschaften verteilt, sie ist nicht mehr ein Konglomerat von Rechten und Pflichten, sondern sie ist eine einheitliche und schrankenlose Machtbefugnis. Der Begriff der „Souveränität” wird erfunden.4)

Auch der Begriff der Kirche erleidet eine wesentliche Umgestaltung. Die Kirche ist ein Verein, eine Gesellschaft, durch Vertrag der Mitglieder entstanden. Als kleinster Verband erscheint die Ortsgemeinde; diese bildet die Grundform, auf welcher sich der höhere Verein erst später aufgebaut hat.5) Wie sonstige Vereine, so vermögen auch mehrere kirchliche Vereine nebeneinander zu existieren; der moderne Begriff der Toleranz erwächst aus diesen Ideen, die mittelalterliche Vorstellung von der Einheit der Dinge, von dem unum corpus christianum wird aufgegeben.

Wie gestaltet sich bei so veränderten Grundanschauungen das Verhältnis des kirchlichen Vereins zum staatlichen Vereine, das Verhältnis der kirchlichen Vereine zueinander, und wie die Verfassung des kirchlichen Vereins in sich?

Da ist nun vor allen Dingen in die Augen fallend, daß die Vertreter des Naturrechts aus ihren Grundbegriffen keineswegs die klaren Konsequenzen ziehen, sondern teils durch die Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse, teils durch andere


1) Zur Literaturgeschichte vgl. Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht 3, Berlin 1881, 502 ff.; Derselbe, Joh. Althusius. Breslau 1902. Mejer, Grundl. des luth. Kirchenregiments, S. 300. Merkel in Z. f. d. ges. luth. Theol. 21, 1. Rieker, a.a.O. S. 229, Anm. 12.
2) Melanchthon, Corp. Ref. XVI, 86ff.
3) Hugo Grotius, De iure belli ac pacis lib. I, c. 1, § 14: est autern civitas coetus perfectus liberorum hominum, iuris fruendi et communis utilitatis causa sociatus. Pufendorf, De iure naturae et gentium. Frankf. 1694. Lib. VII, c. 4, § 3: civitatum is potissimus est finis, ut homines mutua conspiratione et ope tuti essent adversus damna et iniurias, quae ab hominibus invicem inferri possunt et solent, utque adeo pace fruantur aut contra infestos idonea praesidia habeant. Thomasius, Institutiones iurisprudentiae divinae lib. III, c. 6, § 6: Civitas est societas naturalis suum imperium continens omnis sufficientiae et beatitudinis civilis gratia; eodem loco § 150: religiones debent dirigi secundum utilitatem singularum rerum publicarum. Derselbe, Das Recht ev. Fürsten in theol. Streitigkeiten, verteidigt vor Thomasius und Brenneysen, Satz 3-6: Die Pflicht eines Fürsten als Fürsten besteht darinnen, daß er den äußerlichen Frieden in seinem Staate erhalte . . . . . die Pflicht eines Fürsten ist nicht, seine Untertanen recht tugendhaft zu machen; viel weniger ist er verbunden, für die Seligkeit seiner Untertanen zu sorgen; seine Pflicht erfordert es nicht, daß wenn seine Untertanen einer falschen christlichen Religion zugetan seien, er dieselben zu der wahren, seligmachenden bringe und führe . . . .”
4) Bodinus (1530-1596), De republica. libri VI. 3. Ausg. 1594. Hugo Grotius, De imperio summarum potestatum circa sacra. Paris. 1648, u.a.
5) Man vergleiche statt anderer: Just. Henning Böhmer, Institutiones iuris canonici. Halle 1738. lib. I, tit. 1, § 2. 3. 4.

|36|

durchkreuzende Vorstellungen beeinflußt, zu bisweilen recht überraschenden Ergebnissen gelangen. So lassen Hugo Grotius1), Hobbes2), Spinoza3) u.a. Staat und Kirche völlig zusammenfallen, erkennen keinerlei Vereinsgewalt des kirchlichen Kollegium an. Nicht ganz so inkonsequent verhalten sich die Deutschen Pufendorf, Thomasius, J.H. Böhmer u.a. Sie lehren: Die Kirche ist ein Verein, aber zum Unterschiede vom Staate ein collegium aequale, d.h. ein Verein, in welchem kein Unterschied zwischen Herrschern und Beherrschten gilt, sondern alle Mitglieder gleichstehen, und lediglich Lehrern Zuhörer gegenüberstehen. Als Mitglied des Vereins ist der Fürst einfacher Zuhörer.

Wie steht es mit dem Regiment in diesem Vereine? Da hören wir zu unserer Verwunderung die Antwort: „Wenn wir zugeben, quod detur regimen ecclesiasticum, so berauben wir den Fürsten seines besten Regals, nämlich des iuris circa sacra, demnach ist es am besten, wenn wir sagen, quod non detur regimen ecclesiasticum.”4) Hier drängt sich der Gedanke der „Souveränität” in den Vordergrund; alle Gewalt im Staate ist im Landesherrn konzentriert, und die souveräne Staatsgewalt kennt keine andere potestas neben sich an, also sind auch die Kirchen als Vereine im Staate der Staatsgewalt Untertan und diese Staatsgewalt, in bezug auf die Kirche, heißt ius circa sacra. Diese Gewalt über die Kirche ist ein Ausfluß der Staatsgewalt und gebührt dem Landesherrn lediglich als Inhaber der Staatsgewalt, ohne Rücksicht auf seine Zugehörigkeit zum kirchlichen Vereine.

Worin besteht nun aber dieses ius circa sacra? Bedeutet es etwa bloß die Staatshoheit über die Kirche im heutigen Sinne? Dann hätten wir es ja mit einem durchaus fortgeschrittenen und haltbaren System zu tun. Aber, dann müßte doch auch der kirchliche Verein seine eigene Vereinsgewalt besitzen (was man später ius in sacra nannte), und das wird doch hier gerade von Thomasius geleugnet. In der Tat ist das ius circa sacra von diesen Territorialisten in einem ganz anderen Sinne gemeint, es ist das wirkliche Regiment. Hören wir einmal, was J.H. Böhmer5) unter diesem Zweige der Staatsgewalt begreift: I. ius praescribendi ordinationes ecclesiasticas, secundum quas tum agendum, tum iudicandum. II. ius reformandi sacra huc referri debet. Hoc vero vel concernit mores et ordinem ecclesiasticum et hactenus recte imperans illud exercet: vel dogmata et ita quae supra sunt dicta obtinent. III. ius disponendi circa ritus, ordines et alia adiaphora quoque exercet, quatenus illorum determinatio pro salute reipublicae necessaria videtur similiter (IV) si incommoda quaedam ex modo docendi imminere videantur, ex potestate suprema circa sacra de hoc quoque statuit imperans et convenientiorem praescribit. V. iurisdictionem circa ea quae sacra, lites aliaque arbitraria respiciunt, suo iure exercet. Alias quidem cootibus integrum est, censuras quasdam inter se pacto determinare, sed cum ministri sacrorum illis facile abuti possint, imperans iis modum ponit, ne alicui iniuria inferatur, vel ipsimet sub illis imperium quoddam vel iurisdictionem exerceant. VI. ius decidendi controversias theologicas itidem imperanti proprium est. Illae vero vel dogmata respiciunt, vel ritus seu adiaphora. Illae quidem decisionem iudicialem per se non admittunt, interim imperans pro pace publica reducenda vel conservanda decidere potest, quae sententia publice doeeri debeat . . . Praeterea (VII) ius convocandi synodos vel colloquia theologorum dirigendi imperans exercet . . . quae autem in his synodis constituantur, quatenus doctrinam respiciunt, non aliter habebunt autoritatem, quam interpretationem et ut imperans eo quod dictum modo possit sententiam illam approbare, ut publice doceatur . . .


1) De imperio summar. potestat. circa sacra. Paris 1648.
2) Elem. philosoph. de cive. Amsterdam 1612; Leviathan seu de materia, forma et potestate civitatis ecclesiasticae atque civilis. Amsterdam 1661.
3) Tractat. theologico-politicus. Hamburg 1670.
4) Thomasius, Der Kirchenrechtsgelahrtheit erster Theil. S. 9.
5) Introductio in ius publicum. Halle 1710. Pars spec. lib. II, c. 6, § 19ff.

|37|

Wir würden aber trotz alledem die Territorialisten falsch verstehen, wenn wir annehmen wollten, daß nach ihrer Meinung der kirchliche Verein im Staate aufgegangen, das ius sacrum ein Teil des ius publicum im antiken Sinne geworden sei, daß der Verein gar keine Vereinsgewalt besitze. Der Autonomie des Vereins ist vielmehr vor allen Dingen alles überlassen, was sich auf das religiöse Innenleben bezieht, denn der Staat hat nicht mehr die göttliche Pflicht, für die Verbreitung der richtigen Lehre zu sorgen; res fidei sunt extra arbitrium imperantis, cum immediate tangunt conscientias, sagt Böhmer, und gibt dem Staat nur dann das Recht zum Einschreiten und Entscheiden, wenn der öffentliche Friede es erfordert. Ja, man zieht die Grenzen der Autonomie noch weiter: Est ecclesiis sicut aliis collegiis aliqua potestas collectandi seu colligendi stipes ad sustentationem ministrorum et pauperum, sagt Pufendorf, und ähnlich J.H. Böhmer: cum in omni collegio privato ordine et decenter omnia peragenda et quae huc spectant, collegium possit ordinare, hinc ex natura eius collegii descendit, quod possint membra eiusdem constituere doctores aliaque determinare circa modum, personas, locum, tempus. Also man erstreckt den Kreis der Autonomie auch auf gewisse Externa des kirchlichen Vereinslebens. Aber das stößt sich doch wiederum mit den Tatsachen. So empfindet man wohl, daß das Recht der Fürsten, die Diener der Kirche zu ernennen, eigentlich einen Übergriff in die freie Vereinssphäre darstellt, aber man erklärt es durch eine kühne Devolutionsfiktion1) oder man gesteht den Widerspruch einfach zu und begnügt sich mit der theoretischen Unterscheidung, daß der Landesherr diese Ernennung in einer anderen Form, von einem anderen Gesichtspunkte aus und darum auch mit anderen Folgen vollziehe, als die Ernennung der Staatsbeamten.2)

Und überhaupt wie steht es mit der Natur dieser Vereinsgewalt? Sie ist keine Zwangsgewalt, kein imperium, dieses hat allein der Landesherr. Und neben seinem ius circa sacra nimmt sich die geringe „Vereinsgewalt” recht kümmerlich aus. Die Ausflüsse dieses „ius circa sacra” sind die wichtigsten Regimentsbefugnisse. Darauf, daß man sie nicht als solche bezeichnet, sondern als staatliche Befugnisse konstruiert, die um des Staates und seiner Zwecke willen beansprucht und geübt würden, möchte ich nicht, wie Rieker es tut3), ein entscheidendes Gewicht legen. Das Maßgebende ist die objektive Tatsache, daß der Landesherr diese Befugnisse ausübt. An seinen Befugnissen gegenüber der Kirche ändert sich nichts. Sie bleiben dieselben, welche sie waren unter der Herrschaft der reformatorischen Grundanschauungen.

Und was nun die Hauptsache ist, der Staat zieht die Grenzen zwischen Externa und Interna, er hat die Kompetenzkompetenz, er vermag also auch die „Vereinsgewalt” nach Belieben einzuschränken, ja auf ein Nichts zu reduzieren, je nachdem das Staatswohl, die Staatsraison es erfordern.

Wenn also früher das Wesen des Territorialsystems dahin formuliert wurde, daß es das Schwergewicht in der Kirche auf den status politicus gelegt hatte, und daß die Kirche im Staate aufgegangen, Staatsanstalt geworden sei, so ist zwar mit Rieker S. 270ff. hervorzuheben, daß diese Formulierung die Anschauungen der Territorialisten nicht richtig wiedergibt, insofern diese ja ihrem „collegium” sowohl selbständige Existenz als auch iura collegialia vindizieren, aber andererseits ist doch auch


1) Böhmer, Introductio in ius publicum, pars spec. lib. II, c. 4, § 17: Collegio quidem hoc ius competit et hactenus illud recte exercet, nec imperans ex iure imperii sibi praecise hoc arrogare potest, quatenus pacifice iure suo et non in perniciem reipublicae utitur, sed saepe ad imperantem per accidens veniunt, quae alias ab imperio non per se dependent. Hodie in plurimis locis ius constituendi ministros ecclesiae ad principes devolutum est, sed hac saltem ratione, quia turbidi subditi tot clamores semper excitarunt.
2) Vgl. Pufendorf, De habitu religionis christianae. Bremen 1687. § 45.
3) a.a.O. S. 262.

|38|

zuzugeben, daß die Konsequenzen des Territorialsystems praktisch auf jene frühere Formulierung hinauslaufen.

Und damit ist zugleich eine Kritik dieses Systems gegeben. Es leidet an Widersprüchen und Unklarheiten. Die Territorialisten operieren mit dem Vereinsbegriffe und wollen doch die historischen Rechte des Landesherrn über diesen Verein nicht missen; sie erkennen, daß aus ihren naturrechtlichen Grundanschauungen eine Vereinsgewalt mit Notwendigkeit sich ergibt, und wollen doch keine andere potestas im Staate anerkennen als diejenige des Landesfürsten. An diesen Widersprüchen krankt das System. Daher auch die unsichere Formulierung, wie diejenige Böhmers: Demnach ist es am besten, wenn wir sagen quod non detur regimen ecclesiasticum (wobei an „Zwangsgewalt” gedacht ist), oder von Pufendorf: Est ecclesiis sicut aliis collegiis aliqua potestas . . . Das sind Ausdrücke, die Verlegenheit atmen. Und welche Unklarheit besteht bezüglich der Vereinsgewalt! Davon, daß die verschiedenen Schriftsteller ihren Inhalt ganz verschieden bemessen, will ich nicht einmal reden, obwohl auch darin sich die Unsicherheit des Fundaments widerspiegelt. Aber worin besteht das Wesen dieser so bescheidenen Vereinsgewalt? Eine Befehlsgewalt, eine obrigkeitliche Gewalt ist es nicht; alles geschieht durch freiwillige Unterordnung, durch pacta: per modum pacti aliquid statuere de negotiis collegii secundum quod in iis procedatur; oder nach Pufendorf: Est ecclesiis sicut aliis collegiis aliqua potestas, collectandi seu colligendi stipes ad sustentationem ministrorum et pauperum . . . Wenn aber die Mitglieder nicht freiwillig zahlen? Dafür muß wieder durch pacta gesorgt werden. Konventionalstrafen werden vereinbart; als schwerste derselben erscheint der Ausschluß aus der Kirche. Man sieht, zu welchen Konsequenzen die Territorialisten mit ihrer „Vereinsgewalt” gelangen. Und wenn sich nun das Mitglied dieser Vertragsstrafe nicht unterwerfen will, was dann? Sehr wenig klar ist auch die Frage behandelt, wer denn eigentlich die Vereinsgewalt üben soll. Da wird von pacta gesprochen, ein besonderes Organ wird aber nicht entwickelt (daß die Geistlichen dieses nicht sein können, entspricht dem collegium aequale). Und was das Bedeutsamste ist, der Landesherr kann überall eingreifen kraft des ius circa Sacra, auch wo Kollegialrechte zugestanden werden. Böhmer: haec tamen statuta (nämlich die vom collegium geschaffenen) etiam subsunt imperantis iudicio et inspectioni. Es liegt also in dem Begriff des „ius circa Sacra”, so wie ihn die Territorialisten ausgestaltet haben, eine unklare Vermischung der staatlichen Hoheitsrechte mit der eigentlichen Vereinsgewalt.

2. Erst dasjenige System, welches man das Kollegialsystem zu nennen pflogt, hat mit diesen Widersprüchen und Halbheiten aufgeräumt und aus den naturrechtlichen Grundbegriffen die vollen Konsequenzen gezogen.

Dieses System, als dessen Begründer in erster Linie Christoph Matthäus Pfaff (1686-1760)1) genannt wird, gipfelt in folgenden Sätzen: Die Kirche ist ein freier Verein mit zwei Ständen, Lehrern und Zuhörern; als einem freien Kollegium steht ihr die Regelung des gesamten Vereinslebens originarie zu (ius in sacra); die Obrigkeit hat lediglich die cura sacrorum maiestatica, d.h. das ius inspectionis generalis im Staatsinteresse, das ius advocaticiae [also das „oberste Schutz- und Aufsichtsrecht”, wie moderne Gesetze es wohl ausdrücken], das Recht, Gesellschaften aus Gründen des Staatswohles zuzulassen oder zu verbieten, sie zu privilegieren (collegia publica), oder nicht (collegia privata). Ist die Gemeinschaft nicht imstande, z.B. wegen ihrer Größe, „sich gemeinschaftlich und collegialiter zu gouvernieren”, so kann sie durch ein stillschweigendes oder ausdrückliches weiteres pactum ihr Kollegialrecht der Obrigkeit


1) Origines iuris ecclesiastici. (Tübingen 1719, 1756); Akademische Reden über das protest. Kirchenrecht. (Tübingen 1742) vgl. Brauer in DZKR. 17, 348; Vertreter dieses Systems: Georg Ludwig Böhmer, Georg Wiese, Schleiermacher, Puchta u.a.

|39|

übertragen, und dieses pactum könne für die protestantische Kirche geradezu als ein ausdrückliches behauptet werden, da das protestantische Volk die Fürsten direkt aufgefordert habe ut reformarent, ut pastores orthodoxos constituerent, ut leges darent ecclesiasticas. Wir haben es hier mit der echt naturrechtlichen Vorstellung des pactum subiectionis zu tun. (Eine zweite Erklärung, wonach die Kirchengewalt deferiert und ex iure devolutionis an die staatliche Obrigkeit gelangt sei, kommt für uns hier nicht weiter in Frage.) Der Zustand, in welchem die Kirche ihre Kollegialrechte selbst ausübe, sei der ursprüngliche, finde sich auch noch in vielen Kirchen, sei auch nach vieler Überzeugung (Spener) der bessere, jedenfalls aber der Ordinarius Status.

Auch diesem Systeme haften offensichtliche Mängel an. Es legt ebenfalls, wie das Territorialsystem, zu großes Gewicht auf das collegium aequale, es will daher ebenfalls keine Befehlsgewalt in der Vereinigung anerkennen und arbeitet auch mit dem Apparat der Konventionalstrafen, auch die Vorstellungen über die Organisation des Kollegium sind ziemlich verschwommene, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann; und schließlich läuft es mit Hilfe des „pactum subiectionis” oder der Devolutionstheorie auf das gleiche, praktische Ergebnis hinaus, wie das Territorialsystem, auf das landesherrliche Kirchenregiment.

Aber andererseits bedeutet es doch einen großen theoretischen Fortschritt gegenüber dem Territorialsystem. Die Gesellschaftsrechte werden scharf unterschieden von den staatlichen Hoheitsrechten. Der Begriff des ius circa sacra ist nicht mehr das territorialistische Gemisch von Regiment und Hoheit, sondern säuberlich auf Hoheitsrechte begrenzt. Wird der Obrigkeit auch das Regiment in der Kirche zuerkannt, so geschieht dies in der klaren Erkenntnis, daß man damit der Obrigkeit zu ihren Hoheitsrechten noch die Vereinsgewalt als solche, also etwas der Staatsgewalt an sich Fremdes, überträgt, welches ihr eventuell durch ein neues pactum wohl auch wieder abgenommen werden kann; man erkennt das Zwiespältige in der Stellung der Obrigkeit, nicht sucht man, wie die Territorialisten durch die innerlich unwahre Ausdehnung des ius circa Sacra das tatsächliche Regiment über die Kirche als Ausfluß der Staatsgewalt zu charakterisieren. Der Umfang der iura collegiala gegenüber dem ius circa Sacra ferner ist im Kollegialsystem nicht nur ein weit größerer, als im Territorialsystem, sondern er umfaßt vielmehr alles, was die Gesellschaft für sich an Rechten begrifflich beanspruchen kann. Und noch viel mehr. Die Grenzen zwischen der Vereinsgewalt und der Staatsaufsicht sind fest gezogen. Die Territorialisten, sie mögen im einzelnen die Vereinsgewalt enger oder weiter fassen, räumen sämtlich dem Staate die Kompetenz ein, die Grenzen einseitig zu regulieren und festzustellen, was zu den Externa und was zu den Interna zu rechnen sei; darum ist die Vereinsgewalt bei den Territorialisten nur scheinbar eine auf der freien Vereinigung basierende, selbständige, originäre Gewalt, sie ist vielmehr eine Gewalt von Staates Gnaden. Das Kollegialsystem dagegen zieht den Kreis der Kollegialrechte nicht nur bis zur begrifflichen Grenze, sondern spricht dem Staate auch jede Befugnis zur Grenzregulierung ab und nimmt jene Rechte für den Verein als „originäre” in Anspruch. So bedeutet das Kollegialsystem, wenn es auch — was früher verkannt wurde — auf demselben Boden erwachsen ist und mit denselben Grundbegriffen operiert, wie das Territorialsystem, diesem gegenüber nicht nur (wie Rieker, a.a.O. S. 271ff. meint) einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Fortschritt.

Trotz der zweifelhaften theoretischen Vorzüge hat das Kollegialsystem in der Praxis das Territorialsystem zunächst nicht zu verdrängen vermocht. Dem Polizeistaate widersprachen die Selbständigkeitsregungen des Kollegialismus; dem absoluten Staatswesen waren die Ideen des Territorialsystems homogener. Und so sind sie denn die vorherrschenden geworden; sie haben die Gestaltung der kirchlichen Dinge seitdem

|40|

18. Jh. wesentlich beeinflußt und erst im 19. Jh. hat sich ein Umschwung zugunsten des Kollegialismus vollzogen.

An der bestehenden kirchlichen Verfassung, dem landesherrlichen Kirchenregimente, hat weder das eine noch das andere System zunächst etwas geändert. Aber da das herrschende Territorialsystem die Stellung des Landesherrn zur Kirche im Gegensatze zur Reformationszeit nicht mehr als eine Pflicht im Rahmen des unum corpus christianum, sondern als ein Recht, das aus der Staatsgewalt abzuleiten sei, auffaßte, so trat naturgemäß auch bei der Ausübung dieser Rechte der staatliche Gesichtspunkt mehr als bisher in den Vordergrund. Die Konfessionsangehörigkeit war nicht mehr eine Voraussetzung dieser Rechte, die ja jetzt als politische aufgefaßt wurden. Die Ausübung dieser Rechte konnte staatlichen Behörden übertragen werden, nicht besonderen landesherrlichen Behörden für die Kirche, die Kirche konnte tatsächlich als Staatsgewalt behandelt werden. Das 18. Jh. vollzieht die Entwicklung in dieser Richtung. Erst das 19. Jh. hat hierin wieder eine Wandlung gebracht.