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Erster Teil: Methoden und Absichten in der Literatur über Sohm

 

Wer in einer kritischen Analyse Wesen und Grenze der theologischen Position Sohms ermitteln will, sieht sich zunächst den vielen Versuchen gegenüber, die sich mit Sohm auseinandersetzten. Ihre Methoden und Absichten gilt es zu sichten. Dabei ergibt sich der gegenwärtige Stand des Gespräches mit Sohm und zugleich der Anlaß zu neuer Fragestellung.

 

A. Die Auseinandersetzung um Sohms juristische Position

 

1. Eine Reihe von Forschern hat sich bemüht, Sohm in einen bestimmten geistesgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen, um so die Fruchtbarkeit seiner juristischen Argumentation zu bestreiten und gleichzeitig zu beweisen, daß Sohms theologische Position mitsamt seiner juristischen in sich zusammenstürze.

a) So hat schon Niedner1 behauptet, für Sohm sei „die Reaktion auf den Zwang im Recht überall das ausschlaggebende Moment”; zwischen 1892 und 1914 habe jedoch die Kirchenrechtswissenschaft Fortschritte gemacht: „Man identifiziert nicht mehr Recht mit Gesetz als vom Staat gegebener Norm, . . . (sondern hat bemerkt,) daß Recht selbst nicht identisch ist mit Rechtsnorm.” Von da aus braucht man Sohm nicht mehr ausdrücklich zu widerlegen. Doch exemplifiziert Niedner seine eigene Position gegenüber Sohm noch am Begriff der Kirche. Recht ist nicht primär am Zwang, sondern an der Gemeinschaft orientiert, nämlich als „die feste Form, in der soziale menschliche Lebensbetätigung äußerlich in Erscheinung tritt”. Sofern nun mit dem Begriff der Kirche eine „in sinnlich wahrnehmbare Erscheinung getretene Realität” gemeint ist — und daran ist nicht zu zweifeln —, so sind Kirche und Recht ursprünglich aufeinander bezogen. Denn, das ist der Hilfsgedanke, das Wesen der Kirche ist nicht rein geistlich, wie Sohm wähnte, vielmehr ist in ihr „geistliches und weltliches Wesen verbunden, wie es in der menschlichen Persönlichkeit überhaupt verbunden ist”.

b) Der Tenor dieser Kritik ist es, der dann die breite Auseinandersetzung


1. Recht und Kirche S. 284, 288, 295, Anm. 1 299 f.; über die antirechtliche Zeitströmung vgl. Harnack, Entwickelung 143 f., 147.

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W. Schönfelds mit Sohm bestimmt. Sie verläuft ganz auf der dialektisch-idealistischen Linie. Wieder wird Sohm „eingeordnet”: Er gehört in eine Reihe mit den modernen, antirational gerichteten Strömungen der Lebensphilosophie2. Es handelt sich bei ihm um „Anarchismus aus Religion”, er gehört zu Thomas Müntzer und Leo Tolstoi3. Ebenso wie Niedner kann Schönfeld seine Gegenposition vom Gedanken der Gemeinschaft aus entfalten4 und argumentiert auch er von einem rechtstheoretischen Fortschritt aus gegen Sohm: War mit der französischen Revolution, mit Savigny und Hegel die Zeit des Naturrechts, so ist mit dem Erleben der beiden Weltkriege die Zeit des Positivismus abgelaufen; es bleibt bloß die Frage, ob „der Trotz des nihilistischen Existentialismus” das letzte Wort sein könne. Das Nein auf diese Frage ist der Ausgangspunkt der neueren Dialektik Schönfelds5. Schließlich stimmt er mit Niedner auch darin überein, daß er weder das Recht als eine nur weltliche noch die Kirche als eine rein geistliche Größe auffaßt. Doch vertieft Schönfeld diesen Gedanken erheblich: Innerhalb des Christentums sind alle Widersprüche und Gegensätze gelöst und aufgehoben, „weil sie in Unterschiede verwandelt sind, dadurch daß Gottes Gnade offenbar geworden ist in Christo”6. Folglich denke Sohm mit seiner These vom Widerspruch zwischen Kirche und Recht nur menschlich, jedoch nicht christlich über die Kirche, denn er sei nicht bis zu jener Versöhnung der Gegensätze durchgedrungen, nicht bis zur Wahrheit des Kreuzes, „die uns frei machen wird . . . vom Recht, was Negativität, und . . . zum Recht, was Positivität bedeutet”7. Sohm lasse


2. Juristische Methode 62, 63.
3. ebd. 63; schon Niedner hatte die Möglichkeit erwogen, der von Sohm konstruierte Widerspruch könne mit dem zwischen Religion und Recht identisch sein. Auf dieser Linie dann die Zuordnung Sohms zu Tolstoi bei G. Radbruch, Religionsphilosophie 184: „Man kann nicht mit Rudolph Sohm behaupten, das Kirchenrecht stehe im Widerspruch zur Kirche, ohne mit Leo Tolstoi alles Recht im Widerspruch zur Religion zu glauben, alles Recht als Recht wider Gott anzusehen.” Auf seine Anregung hin vergleicht dann W.A. Hauck Sohm und Tolstoi miteinander; vgl. dort das Vorwort u. S. 155.
4. Positivismus S. 22-25. Schönfeld, der sich hier als Vorkämpfer gegen den Positivismus weiß, gibt hier die zwölf Jahre vorher mit Sohm geführte Auseinandersetzung preis, weil man im Kirchenrecht nicht von der Kirche absehen könne, ohne abstrakt zu werden (16).
5. Triptychon 60 f.
6. Positivismus 56. Vgl. 59f.: „Von Widerspruch und Widersprüchen in der Kirche reden, heißt nicht christlich, sondern menschlich von ihr reden, weil der Mensch im Widerspruch ist, solange er nicht Christ ist.” Es ist zwar undenkbar, aber dennoch wahr, daß Kirche und Recht zusammengehören; denn, so heißt es mit einem Verweis auf 2. Kor 2, 6-16, „das credo, quia absurdum gehört zum Grundbestand . . . der Kirche, wobei das Absurde nicht vom Christen, sondern vom Menschen aus gesehen ist, der ,dennoch’ glaubt”. Sohm visierte wohl gerade den Widerspruch, in den der Christ hineingestellt wird, wenn er Christ wird; diesen eliminiert Schönfeld.
7. Triptychon 12.

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die Möglichkeit des Kirchenrechts scheitern an dem Ungeist der modernen „völlig verweltlichten und säkularisierten” Rechtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts, die das Recht nicht „im Geist und in der Wahrheit” zu sehen und folglich nicht zu begreifen vermochte, daß die protestantischerseits zu verwerfende römische Kanonistik „nicht die einzige Möglichkeit einer christlich, d.h. vom NT her verstandenen Rechtswissenschaft” darstellt8. Wird so vom Kreuz Christi her die Diskrepanz von Kirche und Recht „auf-gehoben”, so wird Sohm damit zugleich als Schwärmer entlarvt9: er lehnt mit dem Kirchenrecht das der Kirche von Gott gegebene Kreuz ab10. Das Resultat lautet: Keineswegs ist „die Religion . . . dem Rechte metajuristisch . . . Die berühmten Juristenaugen, von denen Sohm und . . . der reine Positivismus reden, gibt es nicht, kann es nicht geben”11.

c) Auch in dem von der tiefen Gläubigkeit des Spätidealismus getragenen, nach den Schrecken des 1. Weltkrieges eine letzte Einheitsschau intendierenden Werk G. Holsteins verläuft die Kritik an Sohm prinzipiell auf der gleichen Linie. Die systematische Zuordnung von Recht und Kirche ist hier freilich durch den Satz „von der apriorischen Harmonie” beider gewährleistet12. „Beide sind gottgesetzte Größen, die aus jener Welt Gottes in diese Welt des Geschichtlichen und Menschlichen hinüberragen”, sie aus göttlichem Willen zu gestalten suchen, aber in dieser Arbeit auch verflochten werden in alle Spannungen und Unvollkommenheiten des „geschichtlich Menschlichen”13. Gehört das Recht der Schöpfungsordnung, die Kirche der Erlösungsordnung an, so ist sowohl das von Sohm behauptete, völlig negative Verhältnis beider als auch ihre römische Identifikation ausgeschlossen14. Neben einer solchen Konstruktion sieht Sohms Rechtsauffassung, die die formalen Elemente des Rechts in den Vordergrund rückt15, ärmlich aus. Andererseits wird Holsteins Vorwurf von da aus verständlich, Sohm denke an eine Kirche,


8. ebd. 12, 13, 14.
9. Geschichte 145 f.
10. Triptychon 37: „Wie Christus, also darf und soll auch sie (die Kirche) im Hinblick auf das Kirchenrecht sprechen: ,Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.’” Die Auseinandersetzung mit Sohm dreht sich hier und S. 38 f. um eine der „ergreifendsten und aufschlußreichsten Stellen” von Kirchenrecht I, nämlich S. 481, wo Sohm das Kirchen-recht als das Kreuz der Kirche Christi bezeichnet. Vgl. Foerster, Preisschrift 35 f. und passim.
11. Schönfeld, G. Holstein 61.
12. Wehrhahn, Kirchenrecht 85.
13. Holstein, Grundlagen 86. Die altdeutschen Sprichwörter (Wer Gott minnet, der minnet Recht. Gott ist selber Recht) „umschreiben genau das, was auch Luther empfindet” (86). „Nach der Auffassung nicht nur des christlich-germanischen Rechtssprichwortes, sondern gerade auch der Bibel selbst, wird die Größe Recht unmittelbar aus Gott fließend und von Gott gesetzt gedacht” (121).
14. ebd.
15. ebd. 85.

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die „als civitas Platonica in abstrakter Spiritualität und Idealität” existiere16.

2. Solche Ablehnung Sohms auf dem Boden einer seinen Schwierigkeiten scheinbar überlegenen anderen Verhältnisbestimmung von Religion bzw. Kirche und Recht ist nicht unangefochten geblieben, sondern wurde von dem neu aufgegriffenen Anliegen Sohms aus in Frage gestellt.

a) H. Barion hat es bestritten, daß man Sohm aus seiner Begegnung mit jener antirechtlichen Zeitströmung verstehen müsse17. Er sei nicht zu widerlegen durch „Subsumierung seiner Arbeiten unter eine Globalbeurteilung der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts”18;„das Netz, das sich mittels geschickter Ausnutzung der verschiedenen Bedeutungen des Schlagwortes „positivistisch” knüpfen läßt, ist zu weitmaschig, als daß Sohms Leistung damit eingefangen werden könnte”19. Der Schönfeldsche Methodenstreit erweist sich daher als ebenso verfehlt wie der Versuch, Sohms Werk auf die These von der Erzwingbarkeit als dem Hauptkennzeichen des Rechts zu reduzieren und dann abzutun20. Und Holsteins Zuordnung von Recht- und Geistkirche und ihre Unterscheidung ist „im Grunde nur die Formulierung eines Problems, aber nicht seine Lösung”21. Holsteins Kritik trifft Sohm nicht, weil sich Sohms Antithese nicht gegen das Recht oder auch nur das Kirchenrecht als solches wendet, sondern gegen das in die Vergangenheit gebundene und bindende Kirchenrecht22. Sofern die bisherige juristische Kritik Sohms Position auf „die wissenschaftliche Illusion der reinen Rechtslehre”23 reduzierte, ist ihr der Boden entzogen. Sohm geht es in Wahrheit darum, den konkreten vorgegebenen Ordnungen, mit denen er sich befaßt, die Gesetze abzugewinnen, nach denen sie entstanden sind und bestehen24. Damit stehen wir vor der interessanten positiven Interpretation Sohms durch Barion: Innerhalb der konkreten Ordnung „Kirche” kann es keine „zwangsmäßige Bindung der gegenwärtigen Ordnung an die Ordnung der Vergangenheit” geben, weil alle äußere Ordnung der Kirche religiös gleichgültig ist und die Kontinuität der Kirche im Glaubenssinn nicht an der entsprechenden im Rechtssinn hängt25. Sohm hat erkannt, daß Kirchenrecht traditionsbestimmte Ordnung ist, während die Kirche nur eine geistgelenkte Ordnung verträgt26. Sein Rechtsbegriff


16. ebd. 86.
17. Grundlegung 7 f.; Rechtsbegriff 47.
18. Rechtsbegriff 47.
19. ebd. 47 f.
20. Grundlegung 10-13, 18.
21. ebd. 23.
22. Rez. Gerke 387.
23. Rechtsbegriff 48.
24. ebd.
25. ebd. 49.
26. ebd.

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des Rechts, „dessen Auslegung und Beurteilung den eigentlichen Gegenstand der Kontroversen (um Sohm) ausmacht”27, darf nicht als ein rechtswissenschaftliches Programm, sondern muß als eine einseitig-abkürzende Formel verstanden werden: „(Es wird) eine einzelne Möglichkeit, Ordnung zu stiften, nämlich durch Bindung an frühere Ordnung, unter Außerachtlassung anderer Möglichkeiten isoliert”28. Die besondere Leistung Sohms besteht nun in der Verknüpfung der theologischen Kategorien Pneuma und Tradition — deren Verhältnis zueinander das nicht erst von Sohm gesehene systematische Hauptproblem des Kirchenrechts ausmacht29 — mit den entsprechenden juristischen Begriffen von selbstherrlicher Gewalt und formaler (auf bestimmten Vorgängen der Vergangenheit beruhender) Bindung. Im weltlichen Bereich sind weltliche, selbstherrliche Gewalt und formale Bindung miteinander verknüpft. Im Kirchenrecht schließen sich Pneuma und Tradition aus. Gibt es dort ein Ineinander von Dezision und Institution, so fallen hier Pneuma und Tradition auseinander30.

So problematisch diese letzte These ist, so hat die Barionsche Analyse doch wichtige Ergebnisse geliefert. Einmal ist erwiesen, daß kein notwendiger Zusammenhang zwischen Sohms Positivismus und seinem Kerngedanken von der traditionsbestimmten Ordnung besteht, ja, daß Sohms spezifische Interessen so lange gar nicht gewürdigt werden können, als man ihn lediglich in die Gedankenwelt des Positivismus einzwängt31. Zum anderen ergibt sich, daß die eigentliche Problematik Sohms nicht auf juristischem, sondern auf theologischem Gebiet liegt: „das von Sohm gestellte Problem der Grundlegung des Kirchenrechts (liegt) nicht in seinen, sondern vor seinen Ausführungen”32; denn wenn Sohm den pneumatischen Begriff der Kirchenordnung „für den religiös allein berechtigten erklärt, macht er eine glaubensmäßige Aussage, mit der sich auseinanderzusetzen, Sache der Theologen ist”33.

b) J. Klein hat diese Ergebnisse Barions teils gefestigt, teils weitergeführt34. Es hängt mit dem Normativismus der juristischen Kritiker Sohms zusammen35, daß sie ihn nicht würdigen, insbesondere seinen


27. ebd. 48.
28. ebd. 49.
29. ebd. 51.
30. ebd.
31. ebd. 50.
32. Grundlegung 27. Vgl. auch 19, 22, 25-27; Rechtsbegriff 51.
33. Rechtsbegriff 51.
34. Wie die historischen Analysen Barions, so wird auch Kleins Sicht des Ethischen bei Sohm hier zunächst außer Betracht gelassen.
35. Rechtsdenken 333ff.: „(es gibt) für normativistisches Denken keinen Unterschied zwischen Recht und Recht, zwischen weltlichem und geistlichem Recht, und erst recht keinen solchen zwischen Kirchenrecht und Kirchenrecht. Infolgedessen konnte ein vom Normativismus beeinflußtes Denken auch nichts mit Sohms Aufstellungen anfangen, weil mit methodischen Erörterungen nichts anzufangen ist”. ➝

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Ausgangspunkt bei der konkreten Ordnung36 nicht erfassen konnten. Sohm habe nicht das Recht von der Moral getrennt37, und er bezeichne mit der Formel summum ius, summa iniuria kein Prinzip, sondern nenne die beiden Extreme, um das Formale am Recht zu unterstreichen38.

3. Nunmehr war die Bahn frei, Sohm den ihm gebührenden Platz innerhalb der protestantischen Kirchenrechtswissenschaft anzuweisen, ohne Sohm global anzuerkennen oder zu verwerfen.

a) Dies geschieht einerseits durch die Erkenntnis der tragischen Lage, in der Sohm sich befand. Davon hat Dombois eindrücklich gehandelt39. Andererseits durch die Darstellung dessen, was das Erscheinen von KR I 1892 innerhalb der kirchenrechtlichen Disziplin bedeutet hat. Hatte O. Linton darauf aufmerksam gemacht, daß innerhalb des Problemkreises „Kirchenbegriff” Sohms „Kirchenrecht” I die Bedeutung zukommt, den consensus der achtziger Jahre zerstört zu haben, so weist umgekehrt Wehrhahn darauf hin40, daß dieses Werk die Fachwelt, insbesondere die praktische Theologie, überraschte und von der Aufgabe ablenkte, den damals fixierten kirchenrechtlichen Status controversiae zu Ende durchzudenken, obwohl Sohms Thema mit dem aus der kirchenrechtlichen Tradition stammenden „letztlich identisch” war: nämlich fertig zu werden mit der Kluft „zwischen dem theologischen und dem kirchenrechtlichen Denken”41, die sich daraus ergeben hatte, daß die Theologie die Grundbegriffe (wie Kirche, Amt, Bekenntnis) als in der jeweiligen Situation neu zu bestimmende und zu erschließende Funktionen, die Kirchenrechtswissenschaft sie dagegen als statische Begriffe verstand.


➝ Normierung 20 f.: „Der Einfluß des Positivismus auf Sohms Rechtsdenken ist gering . . . Für ihn lautet der Gegensatz zwischen Religion und Recht: sachliche Wahrheit, d.h. der Welt in Wahrheit Gottes Wort verkündigen und in Wirksamkeit setzen, und: formelle Entscheidung, die den Parteien trotz entgegengesetzter Interessen als gerecht sich aufzwingt und eben deshalb zunächst an der Form hängen muß.”
36. Rechtsdenken 334f.: „(Sohms) Ausgangspunkt ist nicht ein abstrakter, allgemeingültiger Rechtsbegriff, sondern die unter der Rechtsidee stehende konkrete Gemeinschaft, durch die das Recht eben dieser Gemeinschaft bedingt ist.” Vgl. Grundlegung 5; Normierung 10.
37. In Auseinandersetzung mit G. Krauss weist Klein darauf hin, daß Sohm (etwa Kirchenrecht II 53, 55) den Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit anerkennet: Recht verpflichtet im Gewissen; Rechtsordnung ist an der Gerechtigkeit orientiert; der Geltungszwang des Rechts ist im Wesen des Menschen begründet (Normierung 11 f.). Wenn sich auch Sohms Ausführungen als idealistisch-positivistisches Surrogat des Naturrechts erweisen, so ist doch auch diese formalisierte Rechtsidee auf Sittlichkeit bezogen: Recht und Staat üben nach Sohm eine negative Funktion im Dienste des Sittengesetzes aus.
38. Normierung 17 f. Sohm kann sagen, das Recht sei um des Lebens willen vorhanden und empfange sein Leben von den Mächten des Lebens (Normierung 18; vgl. 16; Klein denkt an Sohm, Kirchenrecht I, S. XI und Staat und Kirche 22).
39. Kirchenverfassung 2.
40. Kirchenrecht 2 ff.
41. ebd. 2.

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Mit dieser Charakterisierung Sohms als Außenseiter und Störenfried, der gleichwohl das kirchenrechtliche Thema seiner Zeit anrührte, ist Sohm im Prinzip angemessen gewürdigt. Was die speziell juristische Würdigung Sohms anlangt, so geht man wohl nicht fehl, wenn man in dem Hauptbegriff Wehrhahns, der Mediatisierung des Rechts42, implicite den Ausdruck für die Überwindung und Fortführung Sohms auf der dialektisch-lutherischen Linie findet: das Gesetz wird als abgetanes und erfülltes nicht verworfen, sondern in Dienst genommen. War nach Sohms Lutherinterpretation der Gegensatz zwischen Evangelium und Gesetz so verstanden, daß innerhalb der Kirche Recht und Gesetz nicht zur Verfügung stehen können, so bedeutet für Wehrhahn die Erfüllung des Gesetzes durch Christus zugleich seine Mediatisierung, d.h. seine Verfügbarkeit in der Kirche. Das Recht verliert nicht seine Autorität, sondern es wird verfügbar zu der Autorität, die Christus für uns ist; es kommt in der „für lutherisches Denken bezeichnenden Weise zur Reduktion wie zur Bestätigung der Gesetzesgeltung”. „Das Gesetz bleibt und wird zugleich verfügbar; es bleibt Gesetz und hört dennoch auf, letzte Autorität zu sein, es wird ,mediatisiert’”43. Aber eben — insofern bleibt Sohms Erkenntnis erhalten — das mediatisierte Gesetz verlangt nicht den Gehorsam, „den eine abstrakte Rechtsnorm nach unserem modernen Rechtsbegriff fordert”44. Doch wenn man nun gar fragt, ob das Gesetz als verfügbares sich nicht geradezu darbietet, „Medium und Material des Unverfügbaren” zu werden45, so wird die in solcher Frage beschlossene und sich bekundende Annäherung an das katholische Schrift- und Weltverständnis und die daraus resultierende Gefährdung der kirchenrechtlichen Praxis zu beachten sein. Ihr wird im Anschluß an E. Steinbach46 die christliche Haltung des ὡς μὴ als das Kriterium christlicher Sozialexistenz entgegengestellt47 und dann die Folgerung gezogen: „Die lutherische Verwirklichung des Christlichen geschient in einem das Gesetz mediatisierenden ,Sein in Christo’; die katholische Verwirklichung bleibt an die Vermittlung durch das geltende ,Gesetz’ gebunden”48.

b) Den äußersten Gegensatz zu Sohms rechtstheologischer These, mit der dem Recht eine theologische Dimension bestritten ist, führt auf dem Boden der von K. Barth eröffneten Perspektive49 Erik Wolf mit dem Satz an: „Recht ist ein theologoumenon”50. Zwar hat Erik Wolf sich


42. ebd. 103, 105, 130, 133, 134, 137, 150, 154, vgl. 121.
43. ebd. 134.
44. ebd.
45. ebd. 154.
46. Soziallehre.
47. Kirchenrecht 124-128.
48. ebd. 130.
49. Rechtfertigung und Recht.
50. Ordnung der Kirche, 509.

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hier nicht ausführlich mit Sohm befaßt, hat ihn vielmehr in die rechts-positivistische Ideologie eingereiht51 und ist insoweit davon ausgegangen, daß Sohm in der Theorie überwunden ist. Doch müssen wir ihn an dieser Stelle erwähnen, weil für seine rechtstheologische Grundlage die Verantwortung der Kirche für das Recht schlechthin kennzeichnend ist: kirchliches Recht soll „bekennendes Recht” sein. Eben dies ist zwar verbauter der Gegenpol zu Sohm, doch bleibt offen, inwieweit Sohm, wenn man ihn mit dem von Erik Wolf nicht berücksichtigten Barion aus dem Schema des Positivismus herauslöst, nicht gerade in solch eine Richtung gewiesen hat.

Jedenfalls führt uns der Überblick über die Werke, die sich mit Sohms juristischer Position beschäftigen, vor die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: Sohms theologische Position zu untersuchen.

 

B. Die Auseinandersetzung um Sohms historische Konzeption

 

Die von Sohm gestellten historischen Probleme sind lange und erbittert umkämpft worden; dennoch ist nicht überall der Abschluß erreicht1.

 

1. Es geht zunächst um den Historiker Sohm im Ganzen.

a) Ein förmliches Verdikt sprach bereits 1888 Lenz2 über Sohms Kirchengeschichte aus: alle Tatsachen seien auf den Kopf gestellt, Symptom und Ursache, Ganzes und Teil, Farbe und Leben würden in einem fort verwechselt. Dem stehen die entgegengesetzten Urteile des Grafen Y. v. Wartenburg (über Kirchenrecht I)3 und des Engländers Gwatkin (über die Kirchengeschichte)4 entgegen.


51. ebd. VI, 10, 493, 496.
1. Bultmann, NTTh 441.
2. Rez. KG.; Sohms KG war zunächst in Fortsetzung in der Konservativen Monatszeitschrift erschienen. Sie erlebte zwischen 1887 und 1906 15 Auflagen. Sie hat heute noch zwei Bedeutungen: Einmal äußert sich in ihr Sohm zu den Fragen seiner Zeit und läßt uns daher in seine persönlichen Entscheidungen blicken. Zum anderen bezeugt sie den Historiker Sohm, der sich müht „um die Aufdeckung dessen, was dem betreffenden Zeitalter vielleicht unbewußt als ,working conception’ hinter den Tatsachen steht; es gilt, diese Tatsachen so zu formulieren, wie es die Menschen dieses Zeitalters getan hätten, wenn sie sich über sich selbst klar gewesen wären” (Barion, Grundlegung 11).
3. „Bedeutend. Aus einem inneren Totalverhältnis zur Sache heraus. Eine fundamentale Richtigstellung der bisherigen säkularen Ansichten über das ursprüngliche Verfassungsleben der Christen” (zitiert nach Wehrung, Kirche 201, der selber 204 Sohms KG eine „einzigartige Durchleuchtung der Kirchengeschichte” nennt).
4. Im Vorwort der englischen Ausgabe 1895 nennt er Sohms KG „a critical and sympathetic study . . . a masterly outline . . . combining a lawyer’s precision an a ➝

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b) Stutz bleibt mit seiner Ablehnung der historischen Konzeption Sohms kaum hinter Lenz zurück: Sohm habe (sc. im „Gratian”) „ein a priori konstruiertes Gedankengebäude” „erst hinterher historisch herausgeputzt”5, seine Quellengrundlage sei mangelhaft und zu schmal, die Literaturbenutzung habe „etwas durchaus Zufälliges” an sich6. Das hänge damit zusammen, daß Sohm sich selbst gegenüber unkritisch gewesen sei. Er sei seiner Dogmatik zum Opfer gefallen7; die Frömmigkeit Sohms habe seine historische und juristische Arbeit getrübt8. Sohm wirft Stutz umgekehrt vor, er sei an Aufklärung, Naturrecht und ungeschichtliches Denken verhaftet9, ohne seinen Gegner damit erschüttern zu können.

 

2. a) In der Einzelfrage der Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte war bei solch grundsätzlichem Dissensus natürlich keine Einigung denkbar. Fordert Sohm, man müsse die religiösen Gründe, religiösen Sinn und Wert der einzelnen Stufen der kirchlichen Rechtsgeschichte je in ihrer Eigenart erfassen10 und dabei von dem religiösen Kirchenbegriff des Urchristentums ausgehen, der für alles Folgende die entscheidende Grundtatsache darstelle11, so pariert Stutz mit der Behauptung, Sohms Leitidee, der Degenerationsprozeß der Kirche von den Idealen der Urchristenheit bis zum Neukatholizismus, sei unbewiesen,


➝ historian’s inside into the meening of events with the philosopher’s sense of the unity of history and a Christian’s conviction that the kingdom of God is spiritual”.
5. Rez. Gratian 241.
6. ebd. 242.
7. ebd. 241.
8. Rez. Kirchenrecht II, 550.
9. Kirchenrecht II 12, „wie die Aufklärung, so . . . die . . . herrschende Lehre der Gegenwart . . . Wir hören immer dasselbe, mögen wir einen Kirchenrechtsschriftsteller des 17. oder des 20. Jahrhunderts fragen”. Vgl. weiter Kirchenrecht II, 10, 155. 189, Anm. 9; Gratian 5, Anm. 2; Wesen und Ursprung 9 f.
10. Zwar stelle Stütz als einziger die Kirchenrechtsgeschichte unter die Gesichtspunkte, aus denen ihre Entwicklung und ihr geschichtlicher Wandel zu erkennen sei (Kirchenrecht 151), jedoch halte auch er noch an der „juristischen Methode” und damit an dem „einerlei Kirchenrecht” fest; daher verkenne er die religiösen Gründe und Tendenzen der einzelnen Epochen (ebd. II, 155).
11. Kirchenrecht II, 160: „solange man nicht vom Kirchenbegriff der Urzeit ausging, arbeitete man mit dem Kaleidoskop . . . man hatte nur die Teile, nicht das geistige Band . . . Das Prinzip, das man stillschweigend voraussetzte, war, daß es sich in der urchristlichen Kirchenverfassung um körperschaftliche (religionsgesellschaftlich, vereinsmäßig) verfaßte Ortsgemeinden im Stil der Aufklärung gehandelt habe”. Nimmt man aber seinen Ausgang von dem religiösen Kirchenbegriff der Urzeit, so ist alles Folgende „Ausdruck der Entwicklung des Christentums. Dieser eigentlich selbstverständliche Satz ist es, dessen Nichtbeachtung das Wesen der Juristischen Methode' ausmacht, durch welche die herrschende Lehre das Verständnis der Geschichte des Kirchenrechts sich selbst verschließt” (ebd. 166). Die von Stutz gegebene Periodisierung der kirchlichen Rechtsgeschichte hafte an Äußerlichkeiten (Römerherrschaft, Germanenherrschaft, Papstherrschaft). „Das Kirchliche . . . erscheint . . . als Weltliches; . . . man glaubt die Rechtsgeschichte eines weltlichen Verfassungskörpers zu lesen” (ebd. 154 f.).

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verantwortlich für Sohms Fehler und schließe eine sachliche Diskussion mit ihm über Einzelfragen aus12.

Der Graben war zu tief13. Aber ohne die Verdienste von Stutz schmälern zu wollen14, wird man sagen müssen, daß Sohms Einsicht in die Bedeutsamkeit und Besonderheit des Urchristentums und in die Bestimmtheit der Kirchenrechtsgeschichte durch das Urchristentum ihn über Stutz hinaushebt.

b) Barion hat auf die eminente Wichtigkeit gerade dieses letzten Problemes hingewiesen: „Es gibt nur eine theologische Frage, die auf den Kernpunkt der Sohmschen Theorie hinzielt . . . Ist die Verfassung der Urkirche . . . maßgebend für die Verfassung überhaupt?”15 Diese Frage war bereits Harnack bekannt. Doch hat sich der Streit16 zwischen Harnack und Sohm nicht an „Kirchenrecht” I entzündet, obwohl dieses Werk doch bereits (in § 1: Der Stand der Forschung) Sohms Angriff auf die Hatch-Harnackschen Thesen von der doppelten Organisation der Kirche und ihrer vereinsmäßigen Verfassung enthielt, sondern erst an den in unseren Zusammenhang gehörigen präzisierenden Äußerungen Sohms über Wesen und Ursprung des Katholizismus. Das Urchristentum sei noch nicht katholisch gewesen, habe aber gleichwohl zufolge seiner Identifikation von sichtbarer Kirche und Gottesvolk der Verrechtlichung und damit der Katholisierung der Kirche Vorschub geleistet. Denn der Katholizismus sei verrechtlichtes Urchristentum17. Damit begab sich Sohm in einen prinzipiellen Gegensatz zur These


12. Stutz scheidet Rechtsgeschichte und Dogmatik voneinander und behandelt die erste als eigenen Forschungsgegenstand. Sohm dagegen unterscheidet (Kirchenrecht I, Vorwort) den Historiker von dem juristischen Altertumsforscher und macht damit deutlich, daß der Historiker mit seiner Forschung immer auch etwas in seiner eigenen Gegenwart erreichen wolle. Stutz tadelt Sohms Abmarsch unter „die Theologen lutherischer Observanz” und die Mißachtung „der gerade für das Abendland grundlegenden Entwicklung” der Zeit zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert (Rechtsgeschichte 4, 17, 18).
13. Man denke an die verschiedene Haltung beider gegenüber der ZSavRG kan. Abt. Für Sohm war sie ein Ärgernis, er „lehnte die Mitarbeit fast wie die Zumutung einer Sünde wider den heiligen Geist mit grundsätzlicher Entschiedenheit ab” (Stutz, Rez. Kirchenrecht II, 546f.). Vgl. Sohm Kirchenrecht II, 4, Anm. 9: „Die jüngst eröffnete 3. Abt. der Savigny-Zeitschrift führt den Titel ,kanonistische Abt’, obgleich doch sicher die Behandlung des protestantischen Kirchenrechts nicht ausgeschlossen sein soll.”
14. Wehrhahn, Methodenproblem 73, Anm. 69: „Der bleibende Beitrag dieser Kirchenrechtsschule . . . besteht mindestens darin, daß sie diese Disziplin darauf verpflichtet hat, der Theologie gegenüber für die Berechtigung der hist.-krit. Methode einzutreten.”
15. Rez. Lämmle.
16. So auch W. Maurer, Die Auseinandersetzung zwischen Harnack und Sohm und die Begründung eines evangelischen Kirchenrechts. KuD 6, 1960, 194-213, bes. 194 ff.
17. Wesen und Ursprung des Katholizismus 1909; auf Harnacks Entgegnung antwortet Sohm mit dem Vorwort zur 2. Aufl. 1912.

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Harnacks, der das Wesen des Katholizismus in der hellenisierenden Umbildung des Evangeliums erblickt18.

c) W. Kamlah behauptet im Blick auf diesen Passus, Sohm habe sich von antikatholisch-protestantischem Interesse leiten lassen, aber der Versuch, das Urchristentum als nichtkatholisch auszuweisen, sei eine „katholische” Fragestellung. Der Ursprung der Kirche sei nicht an der Apostelkirche abzulesen, sondern im Wort zu suchen19. Wehrhahn stimmt dem zu und unterstellt Sohm, den geschichtlichen Urzustand der Kirche mit dem Ursprung des Christentums gleichgesetzt zu haben. Man müsse von jenem Urzustand die geschichtliche Ursubstanz der Kirche unterscheiden, die zwar nur aus der Geschichte zu ermitteln sei, an der sich aber alles zu legitimieren habe20. Nun kann man zweifellos an Sohm die Frage richten, ob er nicht fälschlich — etwa analog zu Wellhausens Einschätzung der israelitischen Propheten als den religiösen Individualisten im Gegensatz zum Nomismus — die Epoche des Urchristentums als die Zeit des freien Geisteswehens und der religiösen Ursprünglichkeit verstanden habe. Jedoch der Vorwurf, eine „Ideologie der Urzeit” vertreten zu haben, trifft in seiner Allgemeinheit nicht mehr zu als der von Niedner u.a. erhobene, Sohm sei hinsichtlich seiner juristischen Position nur aus seiner Verhaftung an den Positivismus oder an die irrationale Lebensphilosophie zu verstehen. Beide Male ist ja gerade zu fragen, inwieweit sich Sohm aus solchem Schema nicht doch herauslösen läßt. Was aber die spezielle Frage Kamlahs und Wehrhahns betrifft, so würde man wohl besser sagen, Sohms Verständnis des NT sei unkerygmatisch.

 

3. Wollte Sohm den Nachweis führen, daß die Katholisierung des Urchristentums durch fortschreitende Preisgabe des geistlichen Charakters der Kirche zustande gekommen sei, so mußte er den ursprünglich geistlichen Charakter der Kirche stark betonen.

a) Das hat schon Seil, der als erster „Kirchenrecht” I würdigte, erkannt. Er nennt es Sohms neue Gesamtanschauung, „daß die Kirche nicht aus der Gemeinde, sondern die Gemeinde aus der Kirche


18. Harnack, Entstehung 182: „(Der Katholizismus)” ist die alttestamentlich-christliche Verkündigung, überführt und eingetaucht in die hellenische Denkweise, d.h. in den Synkretismus des Zeitalters und in die idealistische Philosophie.
19. Kamlah, Selbstbehauptung, im Anhang. Vgl. v. Campenhausen, Verk. u. Forschung, 1943, 226 f. und Ph. Vielhauer, Ev. Th. 1955, 307 ff. Übrigens stellt Kamlah Sohms Problem „Christentum und Recht” mit dem Overbecks „Christentum und Geschichte” zusammen und rubriziert beide unter die Außenseiter, deren Probleme noch nicht erledigt sind. Der Vergleich mit Overbeck ist nicht neu, Stutz hat ihn bereits und sagt: „(Das) haben beide gemeinsam, daß sie als Außenseiter mit großartiger Folgerichtigkeit ihren Standpunkt, der eine den des Überglaubens, der andere den des Unglaubens, allen Wirklichkeiten zum Trotz wissenschaftlich durchgedacht . . . haben” (Rez. Kirchenrecht II, 551).
20. Wehrhahn, Kirchenrecht 23 f., Anm. 54.

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hervorgegangen” sei21, wobei er unter Gemeinde ganz im Sohmschen Sinn die rechtlich verfaßte Einzelgemeinde versteht. Richtig bemerkt er, daß Sohms Konstruktion auf der These beruht: „Jede Ekklesia ist die Darstellung des ganzen Gottesvolkes mit Christus in der Mitte. (Das ist die petitio principii, auf der die ganze geschichtliche Theorie Sohms ruht. Bewiesen ist sie nicht)”22. Und Linton, auf dessen ausführliches Referat über Sohm ich nur zu verweisen brauche, hat später darauf aufmerksam gemacht, daß im NT neben der aus dem Kult stammenden ekklesiologischen Repräsentationsidee der Begriff der Diaspora stehe, der aus der Missionssituation erwachsen sei23.

b) Um die Frage des geistlichen Charakters der Ekklesia drehte sich der Streit zwischen Sohm und Harnack24. Harnack will die Ekklesia nicht als eine „rein” geistliche Größe verstehen25, weil man nicht verkennen könne, daß die Kirche eine Gemeinschaft von Menschen sei26. Eben dies drückt Harnack bekanntlich durch die Begriffe Korporation und Genossenschaft aus27. Ein Goethezitat soll dartun, daß wie immer so auch im Kirchenbegriff Inneres und Äußeres zusammengehören28. Sohm hingegen verweist erbittert auf den Unterschied zwischen Versammlung und Verein, menschlicher Gemeinschaft und rechtlicher Korporation, und er hält allein den rechtlich nicht präokkupierten Terminus „Versammlung” für angemessen, wenn er nicht „geistliche Größe” sagt29. Nun kann man natürlich gegen Sohm fragen, ob Harnacks


21. Sell, Forschungen, 367.
22. ebd. 368.
23. Linton, Urkirche 197.
24. vgl. etwa Wesen und Ursprung VII f.
25. Harnack, Entstehung 149, 163, 165, passim. Dazu Maurer, KuD 6, 1960, 195-197, 198 ff.
26. ebd. 149 f.: „(Kirche ist nicht eine bloße) Glaubensrealität für den Einzelnen . . ., sondern daß sie auf Erden gemeinschaftsbildend ist, gehört . . . zu ihrem Wesen . . . Die Vorstellung . . ., daß das Gemeinschaftliche erst dem Himmel angehört . . . und . . . mit dem eigentlichen Wesen der Kirche nichts zu tun hat, . . . hebt den Begriff der Kirche und ihren Beruf auf Erden zugleich auf.”
27. ebd. 150 f.: „Das Genossenschaftliche, Korporative kann auch vom sublimsten Begriff der Kirche nicht getrennt werden. Das Genossenschaftliche ist nicht die Kirche des Glaubens selbst, aber es ist die Form ihrer irdischen Verwirklichung, soweit sie auf Erden verwirklicht werden kann.”
28. „Indem wir durch unsere Denk- und Empfindungsweise auch äußere Verhältnisse gründen oder uns an sie anschließen, so wird ein Inneres zum Äußerlichen; ein solches . . . muß erhalten, es muß verteidigt werden, und so sind wir auf einmal vom Geistlichen ins Weltliche, vom Himmlischen ins Irdische und vom ewigen Unwandelbaren in das zeitliche Wechselhafte zurückgezogen.” Harnack fügt an: „Wer diese einfachen und tiefen Worte versteht, der weiß, warum die unsichtbare geistliche Kirche zum empirischen und zum Rechtskörper werden muß.”
29. Wesen und Ursprung XXII. Auf diesen Punkt hat später Foerster den Streit zwischen Harnack und Sohm reduzieren wollen, ZKG 1942, S. 104-123. Seine Polemik gegen Harnack ist zeitgeschichtlich verständlich: Foerster hatte die Gefahr gesehen, „in die die blinde Nachfolge des Genossenschaftsgedankens führte. Denn konnte ein Zweifel sein, wenn man derartig die Genossenschaft zum Herrn der Religion machte, daß man sie sogar zum Richter über reine Lehre einsetzte, daß ➝

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Kirchenbegriff mit der Frage steht und fällt, ob die Begriffe „Korporation” und „Genossenschaft” berechtigt sind oder nicht. Sie sind zwar, wie Sohm richtig bemerkt, anfechtbar, weil sie nicht aus dem historischen Befunde gewonnen, sondern positivistisch30 an ihn herangetragen sind. Doch will Harnack mit ihrer Hilfe das historische Phänomen Kirche festhalten, das nach seiner Meinung in Sohms Konzeption an den Rand der Annihilation gerät31. Anderseits darf man nicht übersehen, daß Sohm die Kirche keineswegs hinsichtlich ihrer Phänomenalität preisgeben wollte. Er wollte vielmehr ihre unverwechselbare Eigenart beschreiben — und zwar dadurch, daß er sie als nicht-rechtliche Größe erfaßte.

c) Man sieht, der Dissensus zwischen Harnack und Sohm konnte nicht auf sich beruhen. So hat Foerster die drei Bedingungen genannt, unter denen der Streit geschlichtet werden könnte. Sie kommen freilich einer Kapitulation Harnacks vor Sohm gleich. Erstens müsse der in Sohms Werk repristinierte Kirchenbegriff Luthers voll anerkannt werden32, wobei zu bemerken ist, daß Foerster den reformatorischen Kirchenbegriff so faßt, daß dabei die Leugnung der Gemeindebildung im Anschluß an die Verkündigung des Evangeliums in der versammelten Gemeinde von vorneherein eingeschlossen ist33. Zweitens sei Kirchenrecht Gesetzeserlaß der Kirche in Gottes Namen. Drittens müsse Harnack zugestehen, daß die Rechtsfähigkeit der Kirche auf staatlicher Anerkennung beruht34.

d) Bultmann hat den Streit zwischen Sohm und Harnack um den Kirchenbegriff auf den Gegensatz zweier Betrachtungsweisen zurückgeführt. Darnach faßt Harnack die Ekklesia als historisches Phänomen ins Auge, sofern sie als sichtbare historische Gemeinschaft auch dem Zwang historischer Gesetze unterliegt. Sohm hingegen begreift die Kirche so, wie sie sich selbst versteht, als die eschatologische, vom Walten


➝ dann eines Tages die Genossenschaft den Anspruch erheben würde, auch über den Inhalt der Religion zu verfügen?” (121). Vgl. auch ebd. 105 den Tadel, den die Verfassung der ApU erhält, weil nach ihr die Kirche sich auf die Gemeinde aufbaut, während nach Römer 10 das Wort diese Funktion besitzt.
30. Kamlah, a.a.O. 93, Anm. 163 berichtet: „Harnack versäumt in seinen . . . Vorlesungen (über die Entstehung der Theologie und das kirchliche Dogma) die wortgeschichtliche Untersuchung. Er will nicht fragen, was Theologie sei, sondern ,streng historisch’, wie die tatsächlich älteste Theologie entstanden ist . . . und vergißt dabei, daß er diese Frage doch nur stellen kann, weil er einen Begriff von Theologie doch schon hat. Daraufhin trägt er unbekümmert seinen eigenen Theologiebegriff in die Untersuchung hinein. So ist diese Arbeit ein Schulbeispiel für jenen historischen Positivismus, der meinte, die Situation des Fragenden ausschalten zu sollen und zu können, um alles nur der Geschichte zu entnehmen, und der gerade deshalb nicht ,streng historisch’ zu sehen vermochte.”
31. Vgl. oben unsere Anmerkung 26 letzter Satz.
32. Foerster, ZKG 1942, 117.
33. ebd. 110.
34. ebd. 118.

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des Geistes geleitete Gemeinde, die durch Gottes Ruf, nicht durch der Menschen Entscheidung entsteht35. Harnacks Fehler besteht darin, daß er das Selbstverständnis der Kirche aus dem Blick verliert und ihre Gestalt und Geschichte allein aus soziologischen und historischen Motiven erklären möchte. Sohm wiederum konstruiert die Kirche rein aus ihrem Selbstverständnis, das tatsächlich auch ein wesentlicher Faktor ihrer Geschichte war und ist, erkennt auch richtig die Priorität der Gesamtkirche vor der Einzelekklesia, aber er droht dabei die Phänomenalität der Kirche preiszugeben36.

e) In jüngster Zeit hat W. Maurer den Ertrag der Auseinandersetzung zwischen Harnack und Sohm in mehreren Fragen fixiert, die er an beide richtet37. Es handelt sich erstens um die Frage, wie die Aufnahme und Verarbeitung weltlichen Rechts in das Kirchenrecht theologisch zu beurteilen ist; zweitens, wie der Geist im Hinblick auf die Grundlegung eines evangelischen Kirchenrechts zu interpretieren ist; und drittens, wie sachgemäß von göttlichem Recht geredet werden kann und muß und in welchem Verhältnis es zum menschlichen Recht in der Kirche steht.

 

4. „Das historische Fundament des Sohmschen Kirchenrechts ist die Behauptung, daß im Urchristentum oder genauer in der Lehre Christi und der Apostel die kirchliche Verfassung pneumatischen Charakter trage, nicht rechtlichen. Jeder Versuch nachzuweisen, daß für das Ende des ersten Jahrhunderts oder gar erst für spätere Jahrhunderte die pneumatische Komponente des Kirchenrechts von Sohm zuungunsten der rechtlichen überschätzt werde, ist für die Erschütterung der Thesen belanglos.”38 Mit diesen Sätzen Barions ist nicht nur die historische Frage nach dem Fundament der ganzen Konstruktion Sohms gestellt39, sondern Sohms Problem, das Verhältnis von Recht und Geist, neu formuliert.

a) Schon Linton hatte das Problem scharf erfaßt: „Wenn erwiesen ist, daß die Urkirche Recht im demokratischen Vereinssinn nicht gekannt hat, ist damit noch nicht erwiesen, daß sie überhaupt kein Recht gekannt hat.”40 Er hätte freilich noch weiter gehen können. Denn von der religionsgeschichtlichen Seite her war Sohm damals bereits im Ansatz aus dem Sattel gehoben. E. Peterson hatte das sog. Akklamationsrecht


35. Bultmann, NTTh 442.
36. ebd.
37. W. Maurer beantwortet diese Fragen KuD 6, 1960, 204 ff.; Seine Grundthese ist in seinem Buch über Pfarrerrecht und Bekenntnis, 1957, enthalten.
38. Barion, Rez. Lämmle.
39. Sie hat einen Vorläufer in Niedners Frage: „Die entscheidende historische Frage ist die, wie lange ein solcher Zustand (sc. rein charismatisch geleiteter Vereinigungen) angedauert hat. . . . Es muß verfolgt werden, wie lange eine bestimmte Gemeinde tatsächlich ohne Rechtsform ausgekommen ist.”
40. Urkirche 194 f.

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aus kaiserlichen und Konzilsakten sowie aus volkstümlichen hellenistischen Erzählungen erhoben und auch für das NT nachgewiesen. Indem nun in der Akklamation das Pneuma manifest wird, war bewiesen, daß Recht und Geist zusammengehören, folglich die Distanzierung, die Sohm mit seiner ganzen Epoche voraussetzte, nicht das letzte Wort sein konnte. Der Sprung im Konzept des großen Rostockers mußte nun sichtbar werden. Hatte er sich doch damit begnügt nachzuweisen, daß das moderne, religionsgesellschaftliche, vereinsmäßige oder staatliche Recht dem Urchristentum unbekannt gewesen ist, ohne bis zu der weiteren Fragestellung vorzudringen, ob die sog. charismatische Organisation des Urchristentums nicht im religionsgeschichtlichen und in einem vom positivistischen Recht zu unterscheidenden Sinne dennoch Recht genannt werden muß. Damit ist allerdings auch Barions Feststellung problematisiert und verwandelt: die religionsgeschichtliche Fragestellung, angewandt auf den urchristlichen Pneumabegriff, erschüttert auch den nach Barion interpretierten Sohm, indem sie versucht, den „pneumatischen Charakter” der Ekklesia zu erhellen41.

b) Hatte Linton den Vorschlag gemacht, das „Recht der alten Kirche genetisch aus dem orientalischen Recht, regressiv aus dem Recht der anatolischen Kirchen” zu erschließen42, so hat W. Maurer43 unter ausdrücklicher Aufnahme Sohmscher Forschungen44 den Begriff des Sakramentsrechtes nach rückwärts in das NT hinein verfolgt, ihn jedoch aus der ihm bei Sohm anhaftenden Einseitigkeit befreit. Das Sakrament ist


41. Insofern ist auch Barions Versuch, die Arbeit Gerkes über 1. Clem abzuweisen, nicht ganz geglückt. Barion, Rez. Gerke, hat sich nämlich nach einem gedrängten Referat über Gerkes Untersuchung nicht die Mühe gemacht, auf die einzelnen Thesen Gerkes einzugehen. Er macht die Antwort auf seine Frage „Reichen die von Gerke beigebrachten Gründe aus, um Sohms Position zu widerlegen?” von der Frage abhängig, inwieweit Gerkes Arbeit auf Holstein fußt. Insoweit nun Holsteins These vom urförmigen Recht und der Zuordnung des Rechtes zur Kirche eine systematische These ist, die an Sohm, der einzig auf das an die Vergangenheit bindende Recht blickt, vorbeigeht, mithin Sohm gar nicht widerlegen kann, und insofern Holstein nicht klar sagen kann, ob Norm und Normengefolgschaft in der Urzeit aus dem Grunde gilt, weil das Pneuma beide rechtfertigt, oder aus dem Grunde, weil sie schon in der Vergangenheit jeweils befolgt wurden, insofern also die Stellung Holsteins gegenüber Sohm „nicht haltbar ist, so ist damit auch der Untersuchung Gerkes, soweit sie über die unmittelbare Interpretation von 1. Clem hinausgehend eine Antwort auf die Frage nach dem Recht des Kirchenrechts in der Kirche zu geben versucht, der Boden geraubt, auf dem sie steht” (388). Die Widerlegung Sohms durch Gerke reduzierte sich auf die These: „Das Recht des 1. Clem ist Gemeinderecht. Damit ist Sohm das konzediert, was Gerke bestreiten will, daß nämlich der 1. Clem Recht in der Christenheit erkennen lasse, und seine systematische These (sc. S. s.) über die Notwendigkeit und Sündhaftigkeit des Kirchenrechts im weiteren Sinn sind überhaupt nicht berührt” (389). Das eigentliche Ergebnis der Untersuchung Gerkes sei der Nachweis: „Im Anfang der Verfassung war die Einzelgemeinde” (389).
42. Urkirche 194 f.
43. Bekenntnis und Sakrament.
44. ebd. VI: „Der Begriff des sakramentalen Rechtes, den Sohm in die wissenschaftliche Debatte eingeführt hat.”

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der Ursprung des Bekenntnisses45, und das Bekenntnis ist der Ursprung des kirchlichen Rechtes46. Indem Maurer Sakrament und Bekenntnis als Quellen kirchlichen Rechtes erforscht47, werden zwei über Sohm hinausführende Erkenntnisse herausgearbeitet: Einmal daß Recht und Geist zusammengehören, nämlich die durch das Bekenntnis gefällte verbindliche menschliche Entscheidung und der dieses Bekenntnis wirkende Geist. Man muß also den rechtlichen Charakter der geistlichen Entscheidung ebenso beachten wie den geistlichen Charakter der rechtlichen. Das Bekenntnis bindet inhaltlich „an den im Sakrament gnädig gegenwärtigen Christus und damit an die Gesamtekklesia, die sein Leib ist”48. Zum anderen, daß das Sakramentsrecht die Kriterien des heutigen Rechts nicht erfüllt, obwohl ihm die zwingende Gewalt nicht einfach fehlt (1. Kor 5). Für die neutestamentliche Zeit verhalten sich Recht und Geist zueinander wie Gesetz und Evangelium49. So ist also eine Bresche in Sohms Konzeption geschlagen, ohne daß deren Schwierigkeiten bloß auf dem Wege einer höheren Rechtssystematik umgangen werden.

c) Indessen kann man hier einwenden, Maurer habe Sohm doch auch wieder bestätigt, sofern nunmehr der Widerspruch zwischen modernem und urchristlichem Recht umso deutlicher geworden sei. In Wahrheit ist jedoch die Angemessenheit des Sohmschen Bildes vom Urchristentum selbst bestritten, ohne daß zur Identifizierung von heutigem Recht und urchristlicher Ordnung zurückgelenkt wird. So hat Bultmann einen Teil der Sohmschen Rekonstruktion der urchristlichen Zeit anerkannt (die urchristlichen Amtsträger waren keine Beamte, sondern Charismatiker; das urchristliche Recht besaß nur regulativen, keinen konstitutiven Charakter50), andererseits aber gegen Sohm darauf hingewiesen, daß das Wort des Charismatikers selbst Tradition schafft, daß das Evangelium nie ohne Paradosis war, und daß Ordnung und Amt nicht im Gegensatz


45. ebd. V; vgl. S. 2: „Das Bekenntnis ist die Antwort, die die Kirche dem im Sakrament sich ihr schenkenden und sie zu seiner Gemeinschaft aufrufenden Christus gibt. Und das Gesetz der Bekenntnisentwicklung ist das Gesetz des sakramentalen Lebens in der Kirche.”
46. ebd. 14: „(Das Bekenntnis) schafft Recht”; vgl. die folg. Anm.
47. ebd. 16: „Durch seinen Zusammenhang mit dem Sakrament ist das Bekenntnis ein Teil des geistlichen Rechts, ist selber Sakramentsrecht.” 114: „(Das Bekenntnis) setzt göttliches Recht gegen menschliches Recht, das durch Vorzüge des Blutes und des Ortes begründet wird.”
48. ebd. 19. In der religiösen Bindung liegt der rechtlich-verpflichtende Charakter.
49. ebd. 19 und Anm. 1 und 2: „Geist und Recht stehen ebensowenig in einem absoluten Gegensatz zueinander wie Gesetz und Evangelium. Das Gesetz ohne Geist widerstreitet dem Evangelium. Das Gesetz des Geistes fällt mit dem Evangelium zusammen.” . . . „Ist eine nach 1. Kor 5, 3-5 ,im Geist’ vollzogene Übergabe des Sünders an den Satan nicht auch eine Rechtshandlung? Wer diese Frage verneint, faßt der nicht — vielleicht weil er die Eigenständigkeit des Rechts zu wahren glaubt — den Rechtsbegriff zu eng?” . . . „Ist die Versagung der brüderlichen Gemeinschaft und der sie begleitenden äußeren Zeichen, u.U. die direkte Verweigerung der sakramentalen Speise nicht rechtskräftig genug?”
50. Bultmann, NTTh 442-44; so auch Braun, RGG 3, I, Sp. 1692.

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zum Geist standen51. Letzteres war ja auch nicht Sohms Meinung, und insofern wird man sagen müssen, daß Bultmanns Auseinandersetzung mit Sohm unbefriedigend bleibt. So wird das Bild, das Sohm sich von der urchristlichen, vom Geist geleiteten Ekklesia macht, noch einmal an seinen entscheidenden Punkten nachgeprüft werden müssen, zumal im Hinblick auf seine (aufklärerischen52) Grundlagen.

d) Dagegen ist der Schritt zu einem religionsgeschichtlich adäquaten Verständnis des urchristlichen Rechtes durch Käsemanns Untersuchung vollzogen worden53. Er findet in den palästinensischen Gemeinden abseits von Jerusalem die Existenz des „heiligen Rechtes”54, das inhaltlich als eschatologisches Gottesrecht zu bezeichnen ist. Es ist nicht, wie das spätere Kirchenrecht mit seiner Kasuistik, wesentlich am Gedanken der Gemeinschaft, also soziologisch orientiert, sondern an der direkten göttlichen Jurisdiktion über der Gemeinde. Gott ist als Herr und Richter auch Geber des in der Gemeinde geltenden Rechtes. Religionsgeschichtlich wird diese Anschauung aus der Sphäre des Ordals begreiflich. Mit der Erkenntnis dieses Gottesrechtes, in welchem Gott selber als der eigentlich Handelnde auf den Plan tritt und sich durch Charismatiker als seine bzw. seines Geistes Werkzeuge manifestiert, ist die liberale These vom Gegensatz zwischen heiligem Geist und kirchlichem Recht endgültig zerbrochen, andererseits der Unterschied zwischen der geistgelenkten und insofern rechtlich geordneten Ekklesia der Urzeit und der modernen, körperschaftlich verfaßten Kirche in einer Sohm weit überbietenden Schärfe aufgerissen.

e) Die Kritik v. Campenhausens an den historischen Hypothesen Käsemanns55 gesteht Käsemann gleichwohl zu, daß er „das Wesen des paulinischen Rechts” mit „an sich glänzenden Formulierungen” getroffen habe. Damit ist der entscheidende Fortschritt des Käsemannschen Aufsatzes innerhalb der von Sohm gestellten Problematik aufgedeckt: man muß das historisch, religionsgeschichtlich aufzuhellende und einzuordnende Recht des NTs theologisch, kerygmatisch begreifen; die Frage nach dem Recht des NTs hat einen hermeneutischen Aspekt. Kann man doch ebensowenig den Geist vom Recht, wie den Geist vom Wort lösen.

Innerhalb einer bewußt den Rechtsbegriff ausklammernden, sich an die Begründung der kirchlichen und kirchenordnenden Entscheidungen des Apostels Paulus haltenden Untersuchung kommt v. Campenhausen zu einem ganz parallel verlaufenden Ergebnis: die paulinischen Entscheidungen (in Bezug etwa auf Ehe, Ordnung, Sklavendienst,


51. Bultmann, ebd. 444-446.
52. Maurer, Bekenntnis 21, Anm. 1 u. 20 zu Sohm, Kirchenrecht II 168 f.
53. Sätze heiligen Rechtes im NT.
54. Zum Begriff vgl. K. Lattes gleichnamiges Buch; Peterson, s.u. II D, 2; E. Kohlmeyer, Charisma oder Recht?
55. v. Campenhausen, Die Begründung, 35 in der S. 34 beginnenden Anm. 82.

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Apostelprivilegien) sind von dem Hauptgedanken beherrscht, daß solche rechtliche Ordnung „als notwendiger Ausdruck, als Entfaltung und Bewährung dessen begriffen werden, was mit dem wesenhaft neuen Sein, mit der Wirklichkeit der Kirche und dem Christenstand jedes einzelnen Christen unmittelbar wirksam gegeben ist”56. Die Einzigartigkeit der christlichen Berufung, das Sein in Christus und die Verpflichtung zu Gehorsam, Liebe und Heiligkeit begründen das, was der Apostel Paulus seinen Gemeinden an Ordnung auferlegt. Aus diesem Grunde erinnert er immer wieder an die erste Predigt, an Taufe und Paradosis. Deswegen verzichtet er auch auf Zwang, obwohl er selbstverständlich Autorität besitzt. Und nur ergänzend beruft er sich neben der apostolischen Verkündigung als der ersten und bleibenden Norm der Kirche auf die Gewohnheit, das Herrenwort das AT und die Sitte als normative Faktoren.

f) Die aus 1. Kor 6 entspringende kirchenrechtliche Linie hat der Holländer Bakhuizen van den Brink bis in die Zeit Justinians verfolgt und an ihr die systematische Schlüsselposition Sohms von seiner Sicht aus beleuchtet. Hat doch die Anordnung des Paulus, daß Rechtshändel unter Christen, wenn man auf sie nicht überhaupt verzichtet, durch einen Weisen in der Gemeinde zu schlichten seien, Kirchenrecht begründet57. Aber, fragt Van den Brink im Schatten der Sohmschen Fragestellung, handelt es sich denn überhaupt um Recht? Man bleibt doch ganz in der Sphäre des Evangeliums, das etwas anderes im Auge hat als Recht! Dabei hat Van den Brink übersehen, daß wir es hier mit einem Rechte eigener Art zu tun haben, das der Kirche als einer Gemeinschaft eigener Art angehört und von Sohms Verdikt über das formale Recht überhaupt nicht getroffen wird. So führt uns Van den Brink vor die Frage nach dem Evangelium als der Gottes Recht setzenden Macht Gottes.

 

C. Die Auseinandersetzung um Sohms Luther-Interpretation

 

Die Frage, ob und inwieweit Sohm Luther richtig verstanden habe, ist immer wieder verhandelt worden. Bis in die jüngste Zeit hinein wird das Anliegen Sohms verteidigt.

 

1. Die Befürworter Sohms haben seine Lehre von der unsichtbaren Kirche in Schutz zu nehmen und vor dem Vorwurf des Spiritualismus


56. ebd. 29, 42.
57. Episcopalis audientia (dazu Stoodt, Rez. van den Brink); zu 1. Kor 6 vgl. vor allem Dinkler und L. Vischer.

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zu retten, seine Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat zu verteidigen und sein Verständnis des Ethischen und Rechtlichen vom reformatorischen Ansatz aus zu rechtfertigen.

a) Während E. Rietschel, dessen ältere Untersuchung1 Sohms Einsicht in Luthers Kirchenbegriff beeinflußt hat2, zwar später Sohms Verhältnisbestimmung von Recht und Kirche samt seiner corpus-christianum-Lehre preisgab, aber Sohms Auffassung von der unsichtbaren Kirche und ihrer charismatischen Ordnung festhielt3, hat Frick während des dritten Reiches auf dem Boden der Sohmschen Anschauung von Staat und Kirche (in vollem Gegensatz zu Foerster4) eine Verständigung mit dem Nationalsozialismus gesucht und Sohms Erkenntnis von der Säkularisierung der Kultur durch die Reformation gepriesen5.

b) Bekanntlich ordnete Foerster, der „der kritisch mahnenden Stimme Sohms (vor und6) nach dessen Tode immer wieder Gehör verschafft hat”7, seinen Lehrer Sohm am entschiedensten von allen Luther zu8 (doch vgl. in jüngster Vergangenheit noch Wehrung9). Schon 1910


1. Luthers Anschauung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche ThStKr, 1900,404 ff.
2. Rietschels Schrift ist nach Wesen und Ursprung 11 mitverantwortlich für den Fortschritt von Sohms Lutherinterpretation zwischen 1892 und 1909 bzw. 1912; jetzt erst wird die „unsichtbare Kirche” zum Leitbegriff Sohms.
3. Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Luther, 1932. In dieser dem Andenken Sohms gewidmeten Schrift versucht Rietschel nachzuweisen, Sohm habe deutlich machen wollen, „wie die Kirche des Urchristentums und die Kirche Luthers auch als unsichtbare Kirche des Glaubens zugleich eine in konkreter Wirklichkeit auf Erden bestehende, den Gläubigen sichtbar werdende und kraft ihrer charismatischen Ordnung wirksam handelnde Kirche ist” (92).
4. Vgl. oben Anm. 78 das Zitat aus Foerster, ZKG 1942, 121 und Foersters Polemik gegen die ApU.
5. Deutschland innerhalb der religiösen Welt, 99: „Die Säkularisierung der Kultur ist, auch nach Sohms Auffassung — abgesehen von der Wiederentdeckung des Evangeliums —, die gewaltigste Tat der Reformation.” Frick hielt eine Verständigung der Kirche mit dem Nationalsozialismus etwa im Hinblick auf die Idee der Volkwerdung, wovon der funktional gedachte Staatsbegriff abhängig sei, möglich, sofern man „in der Richtung Sohms zum lutherischen, radikalen, ursprünglichen Verständnis des Evangeliums” zurückkehre (101). Die „Hauptsache” bei Sohm sei die „grundlegende Auffassung von der Kirche, von der man heute noch so viel lernen kann, und nach der man heute noch so viele falsche Vorstellungen korrigieren könnte” (92), insbesondere die „katholisierenden Kirchengedanken” (101). Frick selber sieht den Kirchenbegriff Luthers dreischichtig bzw. in einer zwiefachen Spannung; die Spannung zwischen Christenheit und öffentlicher Kultusgemeinde, und diese wieder zum „Hausgemeindlein” (205).
6. So muß ergänzt werden; vgl. ChW 1910, 362 ff.
7. Wehrhahn, Grundlagenproblematik 77.
8. Foerster, Unsinn und Sinn des christlichen Staates, nennt Sohm und K. Holl „ohne Widerspruch zu fürchten, . . . die beiden genialsten Interpreten des reformatorischen, protestantischen Christentums”.
9. Kirche 215: „Sohm war ein großer Jünger des Luther der reformatorischen Zeit. Er steht vor uns als der unentwegte Warner vor der kirchlichen Versuchung, den Glauben mit Hilfe des Rechts zu stützen, . . . als ein Mahner, das Leben der Kirche ganz und streng auf die . . . Macht des Geistes zu gründen . . . Sein Dienst ist noch lange nicht erschöpft.”

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nannte er Sohm den nahezu einzigen „Kirchenrechtslehrer der Gegenwart, der mit der reformatorischen Idee der ,unsichtbaren Kirche’ Ernst macht” und „für den die Gemeinde eine inhaltlich, nicht formal bestimmte Größe ist, Sammlung um Wort und Sakrament, eine Gemeinschaft, die durch Religion verbunden ist, nicht durch juristische Merkmale”10. Nach Sohms Tod hat er dann im Blick auf die neu zu ordnende Kirche in der Republik mehrfach seine Stimme erhoben. In seiner Auseinandersetzung mit Troeltsch11 bezieht er zwischen Katholizismus und Freikirchentum Stellung und hält gegen Holl12 an der Volkskirche fest. Seit 191013 ist es ihm von dem nach Sohm verstandenen Luther aus ein Axiom, daß man zwischen der nur dem Glauben sichtbar werdenden Kirche Christi und dem verfaßten Kirchenkörper unterscheiden muß14. Er zerbricht die Korrelation zwischen den Christen im Glaubenssinn und denen im Rechtssinn mit der Behauptung, die Zugehörigkeit zu einer verfaßten Kirche sei „für die Christlichkeit eines Haufens belanglos”15: „Der Mensch kann ohne jede Kirche im Rechtssinn ein Glied der Kirche in Luthers Sinn werden und bleiben.”16 Die „Bildung einer kirchlichen Institution” ist nicht das Ziel der Predigt des Evangeliums17. Sohms Widerspruch richtet sich „gegen die katholische Auffassung (dessen), was christlich macht”18. Man hat Sohm nicht verstanden, „wenn man nicht hinter dem Kampf gegen das Kirchenrecht . . . diesen Kampf gegen die kirchliche Institution selbst als das letztlich treibende Motiv erkennt”19. Und in diesem Gegensatz geht es Sohm „um die einzigartige Würde der Versammlung um das Wort Gottes”20. Weiter reißt


10. Foerster, Anklage, Sp. 367 f.
11. Rez. Troeltsch 104. Auf der einen Seite weist er die These Troeltschs zurück, das Staatskirchentum sei die der lutherischen Kirche adäquate Form kirchlicher Verfassung: „Aus einem Abfall von Luthers Kirchenbegriff und nicht aus diesem selbst entstand das Zwangskirchentum” (108 ff.). Andererseits wolle Luther keinen „Anarchismus, sondern die Kirche in der Nähe des Staates, d.h. in seinem Schutz . . . Aber der Ruf Luthers an die Obrigkeit . . . wurde von den Fürsten mißbraucht: die Fürsten setzten sich an die Stelle der Bischöfe” (111-114). Nun sei der „antike Staatsgedanke” zerbrochen, „der der kirchlichen Idee Luthers die Möglichkeit, ins Leben zu treten, verwehrte”.
12. Festgabe Kaftan 94: Es sei falsch, wenn Holl behaupte, erst ein freiwilliger Akt mache die Menschen nach Luther zum Glied der Kirche; Ungläubige seien für Luther immer ungläubig Gewordene (93).
13. s.o. Anm. 10.
14. ZKG 1929, 338: „Es wäre doppelt verhängnisvoll, wenn in der evangelischen Christenheit diese von Sohm aus Luthers Schriften gewonnene Erkenntnis jemals wieder verloren ginge, daß die Kirche Christi den Sinnen und dem Verstand und damit dem Rechte dauernd unfaßbar, nur dem Glauben sichtbar werde, daß ein verfaßter Kirchenkörper immer nur ein Organ weltlicher Gewalt . . . ist.”
15. Unsinn und Sinn des christlichen Staates, 10.
16. ebd. 17.
17. ZKG 1942, 110.
18. ebd. 121.
19. Preisschrift 46.
20. ebd.

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Foerster Staat und Kirche nicht völlig auseinander, sondern hält (wiederum seit 191021) daran fest, daß der Staat ein Schutzverhältnis zur Kirche habe, etwa die Fürsorge der Obrigkeit für Kirchengebäude, Ausbildung und Besoldung von Pfarrern usw., und dieses Schutzverhältnis habe Sohm nie angegriffen, sondern an ihm „mit den besten Traditionen des deutschen Protestantismus” festgehalten22. Aber der Staat als Gärtner der Kirche sei nicht befugt, über Lehre und Gottesdienst zu regieren23. Aus den bitteren Lehren der 30er Jahre heraus muß der späte Foerster zugeben, daß Sohm den Staat idealisiert hat; nicht jeder, sondern nur ein besonderer Staat kann als Gärtner der Kirche gelten24.

c) Man kann sich die Auseinandersetzung mit dem auf diese Weise von Foerster aktualisierten Sohm einfach machen, indem man ihn in den breiten Strom neuprotestantischer Theologie einordnet, in dem die „Auseinanderreißung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche und die Verflüchtigung der unsichtbaren Kirche in die Sphäre ideeller Jenseitigkeit”25 geschah. Daß Sohm die äußere kirchliche Gemeinschaft mit der christlichen Welt gleichgesetzt hat, wird dabei als Resultat einer falschen Lehre vom Wort verstanden26 — was so lange richtig ist, als das Wort Gottes Richter und nicht Garant der diesseitigen Kirchlichkeit bleibt. Ein eigenartig gesetzliches Pathos trage Sohms Behauptung des gänzlich ungeordneten freien Wirkens des Geistes27. So muß Sohm als reiner Spiritualist von einer erneuerten „Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften” abgelehnt werden28.

Die Unabgeschlossenheit seines Aufsatzes deutet an, daß es G. Kuhlmann29 — im Unterschied zu Schlink — schwer gefallen ist, mit Sohm fertig zu werden. Zwar legt auch er Sohm auf seinen individualistisch-spiritualistischen Kirchenbegriff fest30 und stellt ihn auf die Seite der Schwärmer und Antinomisten31. Aber er erkennt ausdrücklich Sohms Nachweis an, daß alle „rechtsphilosophischen Versuche, so etwas wie ein protestantisches Kirchenrecht nun doch noch zu sichern, zu einem verkrüppelten Katholizismus führen”32. Wenn er nun den diesem Nachweis zugrunde liegenden metaphysischen Enthusiasmus


21. ChW 1910, 362 ff., 374 ff.
22. Preisschrift 39.
23. ebd. 34.
24. ebd. 39 wird Sohms Kirchenrecht I, 487 als eine krasse Idealisierung des Staates abgewiesen.
25. Schlink, Bekenntnisschriften 300 f.
26. ebd. 269 i. d. Anm.
27. ebd. 343 Anm. 34.
28. ebd. 270 i. d. Anm.
29. Kuhlmann, Rudolph Sohm 1941.
30. ebd. 167.
31. ebd. 167, 168, 170.
32. ebd. 168.

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schwärmerischer Observanz ablehnt33, so kommt er doch nur insofern über Sohm hinaus, als er behauptet: „Es gibt gar kein Recht als Recht für denjenigen, der mit Ernst Christ sein will”34. Doch soll dies nicht als Fluchtweg in die Innerlichkeit verstanden werden. „Denn der (sc. nationalsozialistische) Staat hat ja ausdrücklich das ganze Innere des Menschen in Beschlag genommen, auch die religiöse Möglichkeit des Menschen”35.

d) Ganz auf der Linie Foersters befindet sich E. Brunners Sohm-Aktualisierung36. Er erforscht oder überprüft Sohm nicht eigentlich, sondern beschwört ihn in Bekennerhaltung. Hauptargument ist wieder, daß die Kirche des Urchristentums und der Reformation keine Institution gewesen sei37. Trotzdem herrsche in ihr nicht die Anarchie, denn sie war charismatisch, und d.h. nicht-rechtlich organisiert38.

K. Barths Auseinandersetzung mit Brunner rückt nicht die Frage der Institution in den Mittelpunkt. Sein beherrschendes Argument gegen Brunner lautet vielmehr: „Christus ist . . . bei ihm Prädikat der christlichen Gemeinschaft und nicht umgekehrt”. Von einer solchen Sicht her könne es nicht „zu einem ernsthaften Fragen nach Ordnung und Recht der Gemeinde” kommen39. Dem gegenüber wird man darauf hinweisen dürfen, daß dieses letztere doch insofern nicht zutrifft, als Sohm wie kaum einer vor ihm nach dem besonderen „Recht” der Kirche gefragt hat. Daß er es „Ordnung” nennt, ist ihm freilich keine Vokabelfrage. Aber die Intention Sohms hat Barth nicht ganz richtig erfaßt — zumal er ja auch nur Brunner zitiert und Sohm dann einfach mitnennt. So überrascht es denn auch nicht, daß Barth gelegentlich der Entfaltung der Grundrechte40 der Kirche in die Nähe Sohms kommt, ohne dies zu bemerken; etwa mit dem Satz: „(Die Gemeinde) wird also niemals von der Voraussetzung ausgehen können, daß sie als diese menschliche Gemeinschaft . . . selbst darüber zu befinden habe, was in ihr als Ordnung und Recht zu gelten habe. Gerade umgekehrt: Er, Jesus Christus, ist ja


33. ebd. 170.
34. ebd. 171.
35. ebd. 168.
36. Mißverständnis der Kirche. In Gebot und Ordnungen, 1932, hatte Brunner Sohms These noch als falsch abgelehnt: „Sie beruht auf der Nichtbeachtung der Grundtatsache, daß auch die unsichtbare Kirche nie ohne Menschlich-Weltliches bestehen kann, auf der unrichtigen Meinung, eine charismatische Kirchenordnung sei rein geistlich, auf der Verkennung der fließenden Grenze zwischen spontanen kirchlichen Ordnungen, die sich aus dem Wesen der Kirche notwendig ergeben, und dem festeren Ordnungsgefüge, wie es etwa die calvinische Kirche kennt; endlich auf der unrichtigen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kultgemeinde und Kirche des Glaubens” (679, Anm. 10). Doch auch damals schon weitgehende Abhängigkeit von Sohm; vgl. ebd. 533 u. 674, Anm. 1 u. 2.
37. Mißverständnis der Kirche 26, 57, 110, 122, 144, Anm. 4.
38. ebd. 144, Anm. 4, 57.
39. KD, IV, 2, 769.
40. ebd. 770.

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hier das Haupt, der Herr, das primär handelnde Subjekt”41. Oder auch mit dem Abschnitt über die der Gemeinde von der Welt her widerfahrende falsche Einschätzung dessen, was sie eigentlich ist, samt der Warnung, sich selbst auch von daher zu verstehen42. Gerade dies wollte Sohm doch zu seiner Zeit und mit seiner Sprache sagen! Und ähnlich steht es mit Barths Forderung, daß kirchliches Recht immer geistliches Recht sein müsse43.

e) In der Habilitationsschrift J. Kleins wird Sohm zum Exempel des Protestantischen und soll, indem er der katholischen Auffassung vom Rechtlichen gegenübergestellt wird, „für katholisches Denken ein Regulativ abgeben, insbesondere seine Gesetzlichkeit auflockern”44. Auf die Unterschiede zwischen Sohm und Luther einzugehen, hat Klein bei seiner Zielsetzung keinen Anlaß45. Zwar ist es auch für Klein keine Frage, daß „Sohms These steht und fällt mit der reformatorischen Lehre von der Unsichtbarkeit der Kirche”46 (natürlich nicht in dem falschen Sinne, als sei Kirche ohne Menschlich-Weltliches denkbar47,) und ebenso mit der reformatorischen Einsicht in die Freiheit eines Christenmenschen48; aber das Besondere an seiner Sohm-Deutung besteht doch darin, daß er die volle Durchschlagskraft dieser beiden Lehren nur begreifen kann aufgrund ihrer Verknüpfung mit dem „lutherisch verstandenen religiösen Urakt der Rechtfertigung”49 und mit der lutherisch verstandenen Erbsündenlehre50. Diese vier Größen bilden das Koordinatensystem der Sohmschen Ethik; und sofern das Verständnis des Ethischen Sohms Schlüsselposition darstellt, enthüllt sich in ihrem Miteinander die Intention der Sohmschen Argumentation. Der Urakt der Rechtfertigung negiert jede menschliche Verdienstmöglichkeit51 und


41. ebd. 772.
42. ebd. 778.
43. ebd. 772.
44. Klein, Normierung 41.
45. vgl. dazu Fendt, Rez. Klein.
46. Klein, Normierung 26.
47. ebd. 27: „(daß) die wahre Kirche nie ohne Menschlich-Weltliches bestehen kann, leugnet Sohm so wenig wie der transzendentale Idealist die Tatsache des menschlichen Erkenntnisvermögens und der empirischen Erkenntnis”.
48. ebd. 27: „Jede zwingende Ordnung zerstört nach Sohm die Freiheit des Christenmenschen und ist daher unvereinbar mit der unsichtbaren Gemeinschaft der nur im Glauben Verbundenen, die bloß eine einzige zwingende Autorität kennen und anerkennen: das Wort Gottes.”
49. ebd. 29.
50. ebd.: „Aber erst in Verbindung mit der nicht nur den Menschen in seiner ,vernünftigen’ Natur, sondern auch die ganze Schöpfung zerstörerisch alterierenden lutherischen Erbsündenlehre gibt das reformatorische Rechtfertigungsverständnis eine adäquate Erklärung für Sohms Konzeption des Ethischen und die mit ihr gegebenen Konsequenzen für die Abweisung des Rechts als eines Formprinzips des Religiösen.”
51. ebd. 29; weiter ebd. 41, wo dieser alles auf Gott setzende Glaube „ein Wagnis von ungeheurer religiöser Wucht” genannt wird.

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hebt die sola fides von der fides caritate formata52 ab. Die lutherische Erbsündenlehre sieht im Gegensatz zur katholischen den ganzen Kosmos samt des Menschen vernünftiger Natur zerstörerisch alteriert53. Es gibt keine Verpflichtung des Glaubenden durch eine ethische Gesetzlichkeit des Kosmos54 und folglich in der lutherischen Ethik keine allgemeinen, aus der Schöpfung ableitbaren Normen55. Eine heilige Ordnung wäre unvereinbar mit der Freiheit eines Christenmenschen56, für die die Rechtfertigung aus Glauben, aber nicht sakramentale Gnadenvermittlung spezifisch katholischer Auffassung zentral ist57. So kennt Sohm nur das „gesetzlose Ethos des Evangeliums”58, nur die „Gesetzlichkeit der Gnade”; denn die Lebensgesetze des Gerechtfertigten lassen sich nicht in Befehlsform bringen59, und die vom Christen geforderten Werke müssen „als Frucht des freien, schöpferischen, an kein Gesetz gebundenen Wirkens Gottes im Menschen verstanden werden”60. So ist nach Klein Sohms „Abwehr des geistlichen Rechts notwendige Form der Abwehr der Verrechtlichung, und das heißt der Vermenschlichung


52. ebd. 29, 31, 41. Es geht Luther „nicht nur um die Abweisung der Gesetzeswerke, sondern um das Prinzip des Handelns . . . Die Verbindung der Rechtfertigung mit der Sittlichkeit des gläubigen Menschen ist damit abgerissen” (31). Vgl. damit Gogarten ZThK 1950, 237: „Luther kann . . . sagen, man müsse den Glauben, wenn man ihn schildere, über die Liebe stellen.” 238: „(Glaube kann) nicht mehr mit ethischen Kategorien begriffen werden”, weil Luther nach Gogarten ebd. 264 „die Suprematie des Sittlichen über den Glauben bis in die Wurzel zerstört” hat.
53. Normierung 29.
54. Normierung 34.
55. ebd. 33: „Das Gesetz wird in der protestantischen Ethik als etwas Äußerliches in die Sphäre des Rechts verwiesen, eine Tatsache, die bis in das Verständnis der Autonomie des Ethischen im Kantianismus ihre Wellen schlägt und sein methodisch-ethisches Grundmotiv erklärt; . . . eine Verinnerlichung des Gesetzes, die seine Heteronomie in Autonomie wandelte, kann es aus religiösen Gründen gar nicht geben . . . die Angst vor Pelagianismus und Molinismus mit ihrem Gefolge von Kasuistik und Werkheiligkeit läßt das nicht zu . . . Geschichtlich liegt eine Abhängigkeit von Nominalismus und ein Gegensatz zum innerweltlichen Humanismus antiker Prägung vor. Die Beeinflussung seitens des Nominalismus betrifft insbesondere das Verhältnis des Gesetzes zum Wesen Gottes, die Gegensätzlichkeit zum Humanismus erstreckt sich auf die Anthropologie des Thomismus in der katholischen Theologie.”
56. Normierung 38, unter ausdrücklicher Aufnahme von Sohm, Kirchenrecht II, 147 ff.
57. ebd. 36ff.: „Wie der Begriff der Rechtfertigung aus dem Glauben allein im Protestantismus . . . Kern und Stern aller der Verwirklichung des Christentums dienenden Theologie ist, so im Katholizismus die objektive, sakramentale Gnadenvermittlung, die dem objektiv gegebenen Gesetz Gottes innerhalb des Ethischen entspricht . . . Eine wesentliche Voraussetzung für die gesamte, eigentlich ,geistliche’ Rechtsordnung (ist) . . . die objektiv verpflichtende indispensable Schöpfungsordnung. Eine solche von der Kirche vorgefundene heilige Ordnung, wie der Katholizismus sie vertritt, ist nach protestantischer Auffassung in keinem Sinn möglich . . .”
58. ebd. 28, wo Sohm II, 49 f., 53, Anm. 6; I, 23 ff. zitiert werden: „Aus dem Herrenwort entspringt wohl christliche Sittlichkeit, Recht läßt sich aber aus ihm nicht herleiten.”
59. ebd. 33.
60. ebd. 32. Im Anschluß daran werden Sohms Kirchenrecht II, 130, 131, 132 herangezogen.

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des Evangeliums”61; Sohm „wehrt sich gegen die Bindung an eine bestimmte religiöse Form, weil damit Gottes Freiheit gebunden würde”62. Das dialogische Gespräch zwischen Gott und Mensch verläuft gesetzlos, und in dieser „Zwiesprache Gottes mit dem einzelnen Menschen” wird „der Mensch zum Glauben gerufen und im Glauben von aller Gesetzlichkeit befreit”. Diese Freiheit „relativiert alle geschöpfliche Ordnung und hebt für den Christen jedwedes zwingende Gesetz auf”63.

 

2. Die Art, sich mit Sohms Luther-Verständnis auseinanderzusetzen, wie sie bisher geschildert wurde, leidet daran, daß Sohms Position nicht im einzelnen analysiert wird. Es liegen erst zwei Einzeluntersuchungen vor.

a) In Münters „Gestalt der Kirche” wird Sohms Verständnis des jus divinum an den Bekenntnisschriften geprüft und von dort aus erfolgreich destruiert64. Sohm hatte behauptet, in den lutherischen Bekenntnisschriften sei (wie bei Luther) der Begriff des jus divinum uneigentlich und in vollem Gegensatz zum kanonischen Gebrauch des Begriffes angewandt und bezeichne „lediglich” religiöse Wahrheit, nicht Recht65. Münter dagegen stellt fest, daß die Bekenntnisschriften jus divinum nur partiell, also nicht total (wie Sohm meinte), ablehnen66. Angewandt auf das weltliche Regiment drückt jus divinum aus, daß bestimmte weltliche Ordnungen (wie Obrigkeit, Stand, Beruf, Ehe) in Gottes Willen gegründet sind; so nähert sich der Terminus dem jus naturale des Mittelalters67. Auf die Kirche angewandt meint jus divinum


61. ebd. 26.
62. ebd. 27.
63. Es ergibt sich also folgender Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus: Hier relative, dort absolute Ordnung; hier dialektische, dort syllogistische Methode; hier die Preisgabe der Welt an ihre eigene Gesetzlichkeit und kein Versuch, sie aus Transzendenz zu normieren — dort Normierung der konkreten, weltlichen Ordnung durch eine transzendentale und überzeitliche; hier als Synthese mit dem griechischen Denken der objektive Idealismus — dort als Ergebnis der Synthese der Thomismus; hier eine Neigung zum Positivismus („Er besagt nicht Willkür, sondern eiserne Notwendigkeit”) — dort Bindung an das Naturrecht; hier das Verhältnis von Religion, Recht und Sittlichkeit kaum zu lösen — dort eben dieses Verhältnis von vorneherein auf eine Formel gebracht (ebd. 10-12).
64. vgl. schon Kahl, Der Rechtsinhalt des Konkordienbuches.
65. vgl. bes. die auch von Münter herausgezogene Formulierung Kirchenrecht II, 145: „Das göttliche Recht in den Zeugnissen der lutherischen Reformation ist gar kein Recht. Es ist seinem Wesen nach etwas anderes als das jus divinum des kanonischen Rechtes. Es ist lediglich religiöse Wahrheit, Evangelium.” So noch jetzt L. Fendt Rez. Klein 177: „Wo Gnade wirkt, da gibt es . . . nach Luther kein Recht, auch kein Kirchenrecht, sondern Glaube, der die Liebe wirkt, und an dieser Stelle ist Sohm lutherisch (wenn auch Luther dieses Gnadenleben jus divinum nennen kann).” Nach Fendt ist das jus divinum „nicht jus”. Vgl. Sohm, Kirchenrecht I, 472, Anm. 427.
66. Kirche und Amt 29 ff.
67. ebd. 19; Schlink ebd. 339, Anm. 32: Die Bekenntnisschriften übernehmen formaliter einen Begriff des kanonischen Rechts, aber sie wenden ihn „insofern in ➝

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dagegen speziell jus (mandatum, ordinatio) Christi und stellt folglich das göttliche Recht der Kirche auf die auctoritas Christi, somit die Kirche selbst als Quelle solchen göttlichen Rechtes ausschließend68. Ebenso wie Christus Geber dieses göttlichen Rechtes ist (also nicht die Kirche oder die Gemeinde oder der Papst), ebenso ist allein die Schrift dessen Erkenntnisquelle (also nicht die Tradition). Schließlich ist charakteristisch, daß es von keiner menschlichen Autorität außer Kraft gesetzt werden kann, und daß auch die kirchlichen Amtsträger unter dem Gehorsamsanspruch Christi stehen bleiben69. Dieser Befund wird mit Sohms Thesen konfrontiert. Sohm hat richtig gesehen, daß jus divinum in den Bekenntnis Schriften etwas anderes bezeichnet als in dem kanonischen Recht70 und daß solch göttliches Recht nicht ein corpus juris evangelici analog dem corpus juris canonici impliziert71. Aufgrund seines Rechtsbegriffes72, zu dem der Gedanke der selbstherrlichen Gewalt gehört, konnte Sohm dem jus divinum der Bekenntnisschriften freilich keinen Rechtscharakter zusprechen73. Angesichts der Säkularisierung unseres Rechtsdenkens74 erhebt sich die Frage, ob wir jenes jus divinum „Recht” nennen können. Münter spricht von einem Recht sui generis75. Zu Unrecht hat Sohm „rechtfertigend” und „im Gewissen verpflichtend” nicht auseinandergehalten76: das jus divinum rechtfertigt den Menschen nicht; aber gleichwohl ist es für den Glaubenden verbindlich und verpflichtet ihn im Gewissen. Zu Unrecht besteht auch seine These von der Unsichtbarkeit der Kirche, soweit sie auf die Behauptung hinausläuft, etwas Bestimmtes über die Gestalt der Kirche gehe aus der Offenbarung Christi nicht hervor77. Weiter hat Sohm die Vier-Ämter-Lehre Calvins falsch eingeschätzt; denn sie ist nach Calvin nicht notwendiger Bestandteil einer Kirchenordnung78. Wenn Sohm die lutherische Kirchenzucht eine „lediglich geistliche Gewalt”, dagegen die reformierte Kirchenzucht eine „rechtlich wirkende körperschaftliche


➝ schärfster Polemik gegen dieses, . . . als nun innerhalb des kanonischen Rechts jus divinum und jus humanum unterschieden werden.”
68. Münter, Kirche und Amt, 23-26.
69. ebd. 31, 33, 35.
70. ebd. 35.
71. ebd. 45.
72. Münter hat von Barion gelernt, daß Sohm keineswegs nur von seinem Rechtsbegriff her zu verstehen ist, ebd. 11.
73. ebd. 35.
74. ebd. 42. Sagt man lieber nicht „Recht”, so darf das nicht die Deutung in sich schließen, daß aus der Offenbarung Christi nicht etwas Bestimmtes über die Rechtsordnung der Kirche hervorgeht. — Die selbstherrliche Gemeinschaft war für die Bekenntnisschriften keine Rechtsquelle (Schlink, ebd. 342).
75. Münter, Kirche und Amt 49.
76. ebd. 20 f.
77. ebd. 49.
78. Geistliches Amt 10, 11-13.

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Gemeinde-Selbstregierungsgewalt” nennt79, so arbeitet Münter heraus, daß Schlüsselgewalt eine Zwangsgewalt sui generis ist, und daß deren lutherische Gestalt von der reformierten nicht in der Sohmschen Weise abgehoben werden darf80. Gewiß werden die Schlüssel durch das Wort gehandhabt, doch ist Zwang nicht ausgeschlossen. Sohms Position ist „doketische Verflüchtigung der lutherischen jurisdictio zu einer nicht-äußerlichen, sondern unsichtbaren Gewalt” und „antinomistische Leugnung jeglichen zwingenden Charakters”81.

b) In verschiedenen Untersuchungen über Luthers Rechtsanschauungen hat J. Heckel sich fortlaufend mit Sohms Luther-Verständnis befaßt. Daß Sohm mit der Unsichtbarkeit der Kirche einen zentralen Begriff Luthers aufgegriffen habe, gibt Heckel zu82. Ihr habe Luthers Interesse vornehmlich gegolten, nicht so sehr der äußerlichen kirchlichen Organisation83. Diese ecclesia abscondita „vivit jure divino”, und dieses echte göttliche Recht ist „für die menschliche Rechtsgewalt transzendent”84. Es sei „das große Verdienst . . . Sohms, . . . diese negative Seite des Verhältnisses Kirche und (menschliches) Recht erkannt und glänzend geschildert zu haben”85. Die Christen sind vom Gesetz frei, ihr geistliches Leben darf nicht einer menschlichen Autorität unterworfen werden86. Menschlicher Ordnung im Kirchenwesen kommen die Christen freiwillig nach; denn Gott hat „dem Kirchenwesen das Recht versagt, Befehle zu erteilen, denen als solchen eine im Gewissen verpflichtende Verbindlichkeit zukäme”87, wozu Heckel wieder ausdrücklich88 seine Übereinstimmung mit Sohm notiert. Auch wird Sohm durch Heckels Nachweis bestätigt, daß Luther sich zur Begründung des


79. Sohm I, 528. 645; Münter, Geistliches Amt 22.
80. Geistliches Amt 27.
81. ebd.
82. Sohm II, 130: „Die Kirche Christi ist unsichtbar. In diesem Satz haben wir die Eigenart des lutherischen Kirchenbegriffes, zugleich den Quellpunkt der lutherischen kirchenrechtlichen Entwicklung”, zit. bei Heckel, Initia 15, Anm. 53. Heckel ebd. 15: „Die geistliche Kirche lebt als ecclesia abscondita. Das war für Luther im wahren Sinn des Wortes eine Entdeckung. In und hinter aller ,offenbaren’ Kirchenorganisation sieht er das geheimnisvoll-geistesmächtige Walten der ecclesia abscondita. Sie steht hinfort im Mittelpunkt seiner Kirchenlehre.”
83. Initia 35.
84. ebd.
85. ebd. Anm. 205.
86. ebd. 51: „Nun sind aber die Christen, weil durch die Taufe ein Leib mit Christus geworden, vom Gesetz frei und dürfen durch menschliche Autorität in ihrem geistlichen Leben nicht wieder der Herrschaft des Gesetzes unterworfen werden, m.a.W. es darf keine lex hominis die lex Christi, die ,lex sine lege’, d.h. sein Liebesgebot vertreiben. Liberi und voluntarii haben die Christen es zu erfüllen.”
87. ebd. 50.
88. ebd. 50, Anm. 210: „Zutreffend Sohm, Kirchenrecht II, S. 145: Das jus humanum der Bekenntnisschriften ist keine Rechtsordnung, die durch sich selber im Gewissen verpflichtet.”

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Kirchenrechts nie auf die angebliche Heiligkeit der Ordnung berufen habe89.

Heckels Kritik an Sohm, dem „Mann einer großen Wahrheit und eines nicht minder großen, aber wegen seines Wahrheitskernes fruchtbaren Irrtums”90, stellt den Begriff des Reiches Gottes in den Mittelpunkt, womit „die Selbstgenügsamkeit und -sicherheit des juristischen Positivismus im Bereich des lutherischen Kirchenrechts erschüttert” wurde91. Denn Sohm stellt den gewaltigen Widerspruch zwischen den Eigenschaften des Reiches Gottes und dem Wesen des Rechts fest; wer beide Aussagen bejahte, konnte sich seinen Folgerungen nur schwer entziehen. Aber er fragte nicht nach dem Recht dieses Reiches selber92, und das ist der Sprung in seiner Theorie. Das Fehlen formal-rechtlicher Elemente unter den Eigenschaften des Reiches Gottes buchte er als einen Beweis für seine These; statt dessen hätte ihn dieses Fehlen dazu anleiten sollen, seinen eigenen Rechtsbegriff hinsichtlich seiner Anwendungsmöglichkeit auf Luther zu überprüfen93. Den entscheidenden Fehler jedoch sieht Heckel in Sohms Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt. Luther gab die allgemeine Kirche (Sohm: die christliche Welt) nicht einfach an die Welt preis und damit an das Recht der Welt, sondern hielt sie als „Kirche in der Welt” fest94. Der in der aufgeklärten Tradition stehende Sohm95 übersieht, daß Luther zwischen Religion


89. ebd. 57 ff. Das wird dort in Antithese zu Liermann entwickelt. Und in Abwehr des bekannten Satzes von Kahl, Lehrsystem 80, das Recht der Kirche „erhebt den Anspruch, . . . das Gehäuse . . . zu formieren, in welchem der Geist Gottes wohnen und wirken kann” (zit. bei Heckel, Initia 59, Anm. 248) formuliert Heckel, ebd. 59: „Gott bedarf menschlicher Hilfe nicht, um seine Kirche in Ordnung zu halten.”
90. ebd. 12.
91. ebd. 12 ff. Schon seit dem Reformationsjahrhundert war man aufgrund der Unterscheidung von ecclesia visibilis und invisibilis zur Begründung des Kirchenrechts auf die Gemeinde als Ausgangspunkt zurückgegangen. Und seit Puchtas Einleitung 1840 hatte man sich angewöhnt, zwischen der aus dogmatischer Notwendigkeit rechtsfreien Glaubenskirche und der aus empirischer Notwendigkeit verfaßten Rechtskirche zu unterscheiden. Damit war der kirchenrechtliche Positivismus vollends möglich geworden.
92. ebd. 12 ff. Vgl. auch den Paragraphen über den Stand der Forschung in Lex charitatis 1-19. ebd. 15: „(Sohm) hat nur den Reich-Gottes-Begriff Luthers übernommen, ihn aber mit dem Rechtsbegriff einer viel späteren Zeit zusammengekoppelt, statt sich darüber klar zu werden, daß Luther den innerweltlichen Rechtsbegriff dieser Zeit nicht teilte. Kurz: am göttlichen Recht ist Sohm gescheitert; den Schlüssel zu Luthers Rechtsbegriff hat er nicht gefunden.”
93. ebd. 63.
94. Initia 52: „(Es) ist die allgemeine Kirche zwar — von der geistlichen Seite her gesehen — insofern ,Welt’, als sie in der Ordnung des äußeren Gemeinlebens der Christenheit steht. Aber sie ist wiederum insofern nicht schlechthin ,Welt’, sondern ,Kirche in der Welt’, als das weltliche Regiment in ihr keine Regierungsgewalt hat.”
95. Recht und Gesetz 330.

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und Recht nicht säuberlich scheidet96, und daß Luther um die Freiheit des wahren geistlichen Rechtes gegenüber einem verfälschten geistlichen Recht kämpfte97. Er versteht Luther einseitig aus dem Protest gegen Rom statt aus dessen Einsicht in die allgemeine Kirche98.


96. Recht und Gesetz 290 ff.
97. Lex 21; dort heißt es weiter, Luther habe nicht gegen das geistliche Recht gekämpft, „weil er an dem Begriff eines glaubensverbindlichen Rechts Anstoß genommen hätte — er war ihm im Gegenteil ganz selbstverständlich —“, sondern er habe darum gekämpft, das wahre geistliche Recht aus seiner Knechtschaft zu befreien.
98. Vgl. das von Heckel gegen Holl vorgebrachte Bedenken: „Gleich anderen Reformationshistorikern läßt Holl Luthers Ansichten über kirchliche Ordnung seiner allmählich immer stärker werdenden Entfremdung gegenüber der römischen Kirche entspringen. Nun haben gewiß die kirchlichen Verhältnisse, in denen er lebte, Luther sehr stark beeinflußt. Aber ihren Anfang nehmen seine Gedanken von der allgemeinen Kirche, nicht von der römischen, die für ihn schon immer eine Partikularkirche . . . war” (Initia 46).