|214|

 

Schluß

 

Die Ausgangsfrage — Gibt es ein evangelisches „Kirchenrecht”, dem der Begriff „ius” zukommt? — steht am Ende der Untersuchung als Teil der allgemeinen heutigen Grundlagenkrise vor uns. Ein großer Ernst steckt hinter den „Dingen”, die man in der evangelischen Kirchenrechtsdikussion überwiegend mehr „auseinander”- als zusammen-„setzt”.

Der Ernst um die „Dinge”, die das evangelische „Kirchenrecht” zur Frage machen und die im Getriebe unserer vordergründig durch den Run nach dem „Irving Standard” bestimmten Tage oft abseitig, überholt, ja „unwichtig” anmuten, versagt das Aufzeigen jedes „picture in black and white”. Er verbietet das Aufstellen von „Leitsätzen”, die in der Rechtswissenschaft immer mehr an (obzwar nicht unbestrittener) Bedeutung gewinnen. Die Darstellung evangelischen Kirchenrechts verfügt über keinen leading case. Die Untersuchung muß sich damit begnügen, auf die von ihr gestellte Frage bedingt zu antworten. Jeder „Leitsatz” würde die Gefahr einer aus der Sache heraus nicht zu vertretenden Vereinfachung „einleiten”.

Die Untersuchung gelangt nicht zu der Überzeugung, daß „die Frage, ob die evangelische Glaubenslehre erlaube, von einem evangelischen Kirchen-„recht” zu sprechen, heute als ,geklärt’ gelte”1). Das Fragen des Protestantismus nach dem „Recht” seiner „Kirche” bildet weiterhin ein „Problem”. Nichts Schlimmeres könnte ihm widerfahren, als verniedlicht zu werden; wie jedes echte große Fragen findet es seine „Lösung” nur in der Selbstdarstellung eben der „Frage”.

Bei voller Respektierung der Zurückhaltung, die der juristischen Seite gegenüber zentralen Fragen der Theologie obliegt, darf gesagt werden, daß in dem gemeinsamen Bemühen von theologischer und juristischer Seite um tieferes Eindringen in dieses „Problem”, in dem dabei sich äußernden bedingten Antworten auf die „Frage” nach dem evangelischen „Kirchenrecht”, in diesem „Offenen”, ein Stück des „Habens, als hätte man nicht”2) Gestalt annimmt. In dem Suchen nach den „Grundlagen” evangelischen Kirchenrechts ist zu spüren, daß über alle darin sichtbare Dialektik, alle Unscharfen und das „Offene” hinweg, auch im evangelischen „Kirchenrecht”, soll es Norm-Inbegriff, Ordnung, somit kircheneigenes „Recht” sein, trotz der so verschiedenen „Meinungen”, die der „herrschenden” entbehren, und trotz streckenweise eintretender Rechtsferne, eine Concordia discordantium3) lebendig ist.


1) Dies der einleitende Satz der Untersuchung von Wehrhahn, „Kirchenrecht und Kirchengewalt” (1956), S. 1) — ein Satz, den gerade diese „Studie auf lutherischer Grundlage” als nicht voraussetzungsfähig (vgl. vor allem die Kritik a.a.O., S. 29-35 und 93-95) für die „Grundlagen” eines evangelischen Kirchenrechts erweist.
2) Vgl. 1. Kor. 7, 29-31.
3) „Concordia discordantium canonum” ist der für die Eigenart des Canonischen Rechts bezeichnende Untertitel des „Decretum Gratiani” (um 1140). Vgl. Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 242/243.