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CC. Zur Gegenwartslage evangelischen Kirchenrechts

 

I. Die theoretische Seite

 

Gerade diese Auffassung ist Ausgangspunkt und Basis der These von Rudolph Sohm (1841-1917). Er gelangt in seinem Werk (1892) zu dem in verschiedenen Versionen wiederkehrenden Satz:

„Das Wesen der Kirche und das Wesen des Rechtes stehen miteinander in Widerspruch.”1)

Der Satz hat die gegenwärtige Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht ausgelöst und bildet, trotz aller inzwischen vorgenommenen Einschränkungen, ein aus ihr schwerlich fortzudenkendes Element2).

 

1. Die These Sohms

Es erübrigt sich, Einzelheiten der Begründung der „viel erörterten, aber meist mißverstandenen These”3) zu wiederholen, die Anlaß zu teils sich widersprechenden Darstellungen und polemischen Äußerungen geworden ist4). Vor aller Kritik ist formalrechtlich die innere Geschlossenheit der umfangreichen Schriften Sohms5), seine wissenschaftliche Genauigkeit und Klarheit herauszustellen, Eigenschaften, die den Rang des Werkes weit über viele Publikationen seitdem hinausheben.

Es genügt nicht, zur Erklärung des Sohmschen Ergebnisses von der Unvereinbarkeit von Kirche und Kirchenrecht nur auf den Lutheraner6) und Positivisten Sohm7) zu verweisen. Neben dem orthodoxen Luthertum und dem Positivismus haben, was weniger gesehen wird, Kulturkampf8) und


1) Sohm, KR, Bd. 1, S. 1 und 459; S. 657: „Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechtes ist weltlich”.
2) Liermann, KR, S. 20: „Seitdem muß sich jede Darstellung evangelischen Kirchenrechts mit Sohm auseinandersetzen.” — Erneuten Beweis dafür erbringt Emil Brunners Buch „Das Mißverständnis der Kirche” (1951) in seiner starken Anlehnung an Sohm hinsichtlich des Kirchenverständnisses (vgl. S. 118-135).
3) Ruck, KR, S. 4.
4) Von kath. Seite wurde Sohms Ansicht von Anfang an abgelehnt, vgl. Blumenstock, Archiv für kath. KR 1893, Bd. 69, S. 253 ff, Hübler, Zentralbl. f. Rechtsw. 12, 4, S. 124 ff. — Scharfe Kritik fand Sohm sogleich bei: Rieker, Die rechtl. Stellung d. ev. Kirche in d. geschichtl. Entwicklung bis zur Gegenwart, 1893 — Kahl, Lehrsystem d. KR u. d. Kirchenpolitik, Bd. 1, 1894 — Stutz, der bald nach Sohm die Lehre v. Eigenkirchenrecht herausbringt, in: „Die Eigenkirche” 1895, derselbe: KR, 1914, S. 275 ff. — Troeltsch in seinen nicht unbestrittenen, heute teils weiter entwickelten, teils überholten Soziallehren: „Die Soziallehren der Christi. Kirchen u. Gruppen”, 1912, „Die Bedeutung d. Protestantismus f. d. Entstehg. d. modernen Welt”, 3. Aufl. 1924 — Friedberg, KR 6. Aufl. 1909 — Reischle, Sohms Kirchenrecht, 1895, dessen Argumentation allerdings dem Range des Sohmschen Werkes weithin nicht gewachsen ist (z.B. S. 43-47).
5) Neben KR Bd. 1 der von Jacobi u. O. Mayer herausgegeb. Bd. 2 von 1923; dann: Wesen und Ursprung d. Katholizismus, 1909 — Weltliches u. geistl. Recht, 1914 — Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians (Wach-Festschrift) 1917.
6) Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 145; Hauck, a.a.O., S. 11, 75-76; Olaf Linton, Das Problem der Urkirche in der neueren Forschung, S. 59.
7) Von Hauck nicht genügend beachtet, vgl. a.a.O., Vorwort u. S. 75-77. — Sohms positivistische Grundhaltung geht deutl. hervor aus seinem Jugendwerk „Das Verhältnis v. Staat u. Kirche aus d. Begriff v. Staat u. Kirche entwickelt”, Tübingen 1873. Vgl. Eichmann-Mörsdorf, KR, S. 28; Stammler, Recht u. Kirche, S. 58, 59.
8) Von Hauck angesprochen, a.a.O., S. 75, S. 134.

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der um 1900 vorherrschende unerschütterliche Fortschrittsglaube9) Sohms Gedankengänge ebenfalls beeinflußt — zwei Tendenzen, von denen die erste seit 1949 zuweilen in Deutschland wieder an die Oberfläche zu drängen scheint, während zwei Weltkriege die zweite derart zerzaust haben, daß von hier aus dem gegenwärtigen Betrachter der Zugang zu Sohm eher erschwert denn erleichtert werden könnte.

Das Zusammenspiel von Orthodoxie, Positivismus, Kulturkampf und Fortschrittsglaube verwehrt Sohm, ein rechtes Verhältnis zu Luther zu finden. Das spirituelle „Schauen” in Luthers (zweifellos schwankendem) Kirchenverständnis, der Schwebezustand in seinem System der beiden Regimente, sie werden von Sohm nicht erkannt. Bei ihm sind die Zusammenhänge zerrissen. Er verabsolutiert10). „Absolut genommen” werden von Sohm:
— die „Kirche”, die von ihm immer als Kirche im Glaubenssinne (ecclesia invisibilis) gedacht ist, so daß die sichtbare Christenheit auch als Kirche immer „Welt” bleibt11);
— die Urkirche, die, weil mit der Glaubenskirche identifiziert12), als Ideal13), oft an der Grenze der Utopie, erscheint14);
— die Auswahl der Quellen15);
— das „Kirchenrecht”, welchem jede Eigenständigkeit abgesprochen wird und welches in all seinen Äußerungen als Recht verstanden wird, was aber für den Positivisten nichts anderes besagt, denn als „staatliches” Recht16), wofür, wie wir gesehen haben, die historische Entwicklung lutherischen „Kirchen”rechts allerdings treffliche Beweise liefert.

Auf dieser Grundlage erhebt sich Sohms Überzeugung von der absoluten Unvereinbarkeit von Kirche und Kirchenrecht. Die positivistische Gleichsetzung von Recht und Kirchenrecht erlaubt, die Sohmsche „These” formelmäßig zu Vereinfachen zu der „Antithese von Kirche und Recht”17).

Hier liegt, bei aller Gründlichkeit und Exaktheit der Sohmschen Beweisführung, die Fehlorientierung des Ergebnisses. Die Antithese macht jede Überlegung der Eigenständigkeit von Kirchenrecht unmöglich. Sie verbaut den Zugang zu dem das kanonische Recht umgebenden katholischen Ganzheitsdenken genau so wie zu der Gemeindebezogenheit reformierten


9) Sohm gegen den Fortschrittswahn: „Noch kann alles gerettet werden. Aber eins ist sicher: Nicht unsere Bildung wird uns retten, sondern allein das Evangelium.” (Sohm, Kirchengeschichte, Grundriß, 18. Aufl. 1913, S. 219).
10) Hauck, a.a.O., S. 68.
11) Sohm, KR, Bd. 2, S. 135: „Die sichtbare Christenheit . . . ist nur noch die christl. Welt, auch die christl. Kirche. Auch sofern sie Wort- u. Sakramentsgemeinschaft hervorbringt, ist sie nur Welt.” — S. 195: „Die Idee der Sichtbarkeit der Kirche Christi, ja, jedes Streben nach ihrer Sichtbarmachung, kann nichts anderes als den Katholizismus hervorbringen.”
12) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 77.
13) „Was sich nie und nimmer hat begeben”. Karl Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 20.
14) Hingegen die katholische Auffassung von der „Urkirche”: „Es handelte sich keineswegs um eine charismatische Anarchie”. Plöchl, Geschichte des KR, Bd. 1, S. 47.
15) Nicht die gründliche Exegese der herangezogenen Quellen erlaubt Kritik, aber in ihrer Auswahl liegt eine Wertung.
16) Zu Sohms Vorstellung vom Körperschaftsrecht, vgl. Dombois, Glaube, Recht, Europa, S. 135, 145.
17) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 75, Holstein, KR, S. 85.

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Kirchenrechts18). Sohm kann somit weder die analogia entis würdigen noch die pneumatokratische Organismusidee Calvins19) oder das „In-der-Gemeinde-Sein” reformierten Kirchenrechts überhaupt20).

Es muß im Hinblick auf die heutige Auseinandersetzung klar gesagt werden, zu welcher Schlußfolgerung Sohm gelangt: Er verneint die Daseinsberechtigung des Kirchenrechts. Mit anderen Worten: Er bestreitet die Möglichkeit eines Kirchenrechts21)! Indessen verkennt Sohm nirgends in seinen Untersuchungen, daß in der Geschichte der Kirche nach der Ur-gemeinde Kirchenrecht „tatsächlich” immer da sei. Er wendet sich weder gegen die Förderlichkeit noch die Nützlichkeit des Rechts für die Kirche. Irgendwie durchzieht das Werk Sohms das christliche Paradoxon, wenn er, der die radikale Infragestellung jeglichen Kirchenrechts22) vornimmt, feststellt:

„Doch haben die Anforderungen einer für eine sichtbare Menschengemeinschaft bestimmten Ordnung mit eiserner Notwendigkeit23) ein Kirchenrecht hervorgebracht, und zwar infolge der durch das Urchristentum gegebenen Voraussetzung ein Kirchenrecht für die Kirche Christi, d.h. katholisches Kirchenrecht. . . . Das Gemeinleben einer sichtbaren Menschengemeinschaft aber kann ohne irgendwelche Form nicht sein. Es bedarf einer gemeingültigen Ordnung, die in der Vergangenheit entstanden, doch die Gegenwart beherrscht . . . 24)”

und angesichts des Vorhandenseins des Landesherrlichen Kirchenregiments von dem „großen Rätsel”25) spricht. Sohm zeigt in seiner Beweisführung, daß es nach der Urgemeinde sowohl als sehr bald nach 1520 unumgänglich zur Kirchenrechtsbildung kommt, aber, da er „Kirche” nur im Glaubenssinn versteht — Hauck spricht vom „spiritualistisch verkürzten Kirchenbegriff”26) — ist ihm jedes Kirchenrecht als ein Stück „Welt” ein Produkt der Sünde27).

 

2. Zu den verschiedenen Bemühungen um die Grundlegung evangelischen Kirchenrechts

Kaum ein Viertel Jahrhundert vergeht, seitdem auf theoretischer Seite Sohm die „Unmöglichkeit” einer Existenz eines wesensmäßig „evangelischen Kirchenrechts” dargetan hat. Dann spülen die tatsächlichen Ereignisse


18) Gegenüber dem lutherischen Kirchenverständnis hat Sohm die reformierte Position für minderwertig gehalten, vgl. KR, Bd. 1, S. 645 und 657. Zur Infragestellung der Gemeinde durch Sohm vgl. Dombois, a.a.O., S. 155.
19) Vgl. die Kritik bei Bohatec, Staat und Kirche, S. 573-576 und S. 579.
20) Sohm hat Puchta (1798-1846) das von diesem vertretene Gemeindeprinzip sehr verübelt, vgl. Sohm, KR, Bd. 2, S. 26 ff.
21) „Die Ausbildung eines rechtlichen Kirchenregiments hat das Wesen der Kirche aufgehoben”. Sohm, KR, Bd. 1, S. 699.
22) Hauck, a.a.O., S. 154.
23) Fast gleichlautend, Sohm, KR, Bd. 1, S. 162 und 700.
24) Sohm, Wesen und Ursprung des Katholizismus, S. 48.
25) Sohm, KR, Bd. 1, S. 700.
26) Hauck, a.a.O., S. 250.
27) Vgl. Reischle, Sohms KR, S. 22( Erik Wolf: „Sohm hat im (positivistisch verstandenen) Kirchenrecht den „Sündenfall” der evangelischen Kirche zu sehen geglaubt” (Zur Rechtsgestalt der Kirche, S. 255).

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die Fundamente hinweg, auf denen das für die Praxis unentbehrliche Kirchenrecht, wenn zuletzt auch schon reichlich mühsam, zusammengehalten wurde. In den Herbstrevolutionen 1918 erlischt mit dem monarchischen Prinzip auch die zuletzt nur noch als Fiktion gewahrte Vorstellung vom Fürsten als Gottes Amtmann. Von nun an entwickelt sich teilweise der religiös indifferente Staat zum bewußt und gewollt a-christlichen Staat — für die protestantische Theologie und die evangelische Kirchenrechtsentwicklung des Kontinents ein nicht geortetes Novum bis zur Stunde.

Sosehr also das Werk Sohms das Wesen evangelischen Kirchenrechts zu einer echten „Frage” hat werden lassen, sosehr seine Gedanken die nicht minder wissenschaftliche Diskussion beseelen, ebenso stark bestimmen die faktischen Vorgänge politisch-staatsrechtlicher Art seit 1918 die Kirchenrechtsauseinandersetzung. Die darin enthaltene Dissonanz zwischen wissenschaftlicher Unbeirrbarkeit und utilitätsbestimmter Opportunität vermehrt für die folgenden Orientierungsversuche in der Kirchenrechtsgrundlegung die Varianten des Untersuchungsgegenstandes.

a) Schüle

In den zwanziger Jahren hat von schweizerischer Seite Charles Schüle eine Begründung des reformierten Kirchenrechts vorgebracht1). Ausgangspunkt bei ihm bildet die Unterscheidung zwischen dem primären geistlichen Recht, unter dem er das Moralgesetz versteht2), und dem „sekundären geistlichen Recht”, bezeichnet als „Setzung Von besonderen, neuen Normen durch Gott außerhalb des Moralgesetzes”3). Dieses sekundäre geistliche Recht findet Schüle in der reformierten Kirche4).

Als eine Art Grundnorm des sekundären geistlichen Rechts erscheint bei Schüle das testimonium spiritus sancti, das Gebot: „Du sollst glauben”5). Die Normen im einzelnen sind aus der Hl. Schrift zu „gewinnen”, nicht aber in der Weise, daß die Bibel als Codex reformierten Kirchenrechts verstanden würde6). Nach Schüle knüpft das Kirchenrecht an „in der Versichtbarung des Glaubens im Bekenntnis der Gläubigen”7).

Das Hauptmerkmal der von Schüle aufgezeigten Begründung besteht in der für reformierte Verhältnisse übermäßigen Betonung und Hervorhebung des „Bekenntnisses”8). Hier aber liegt auch die entscheidende Unscharfe. Soviel und sooft auch Schüle die Termini „Recht” und „Norm” verwendet, die Begriffsfestlegung bleibt immer undurchsichtig, so daß er davon sprechen kann, daß die „Normen” des Kirchenrechts in die „Norm” des Bekenntnisses eingeschlossen seien9).


1) In dem schon verschiedentlich hier zitierten Werk: „Grundlagen des ref. Kirchenrechts” von 1926.
2) Schüle, KR, S. 30.
3) a.a.O., S. 28, 29.
4) a.a.O., S. 31.
5) a.a.O., S. 44.
6) Vgl. a.a.O., S. 70.
7) a.a.O., S. 50.
8) Schüle, KR, S. 54 und 112-116.
9) a.a.O., S. 112.

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Daß Schüle Bekenntnis-„Norm” in theologischem Sinne versteht, ist deutlich zu erkennen. Nicht so deutlich aber wird, ob er das von ihm untersuchte Kirchenrecht als „Recht” versteht. In den entscheidenden Begriffsbestimmungen werden „Norm" und „Gebot” teils identifiziert, teils unterschiedlich gebraucht10). Eine Abgrenzung der „Rechts”norm vom theologischen „Gebot” und den „sittlichen Normen” erfolgt nicht. Auf diese Weise gelangt Schüle an einer Stelle zu einem Begriff, dessen Elemente juristisch eines das andere ausschließen, zur „Rechtsordnung des Moralgesetzes”11).

Mithin begründet Schüle zwar ein „Kirchenrecht”, aber der „Rechts”natur des von ihm so bezeichneten Kirchenrechts wird kaum Beachtung geschenkt. Aus der von ihm vorgenommenen Unterscheidung zwischen „allgemeinem” reformierten Kirchenrecht (= Normen, die sich aus der Schrift für die Kirche allgemein ergeben12)) und „besonderem” reformierten Kirchenrecht (der konkreten Verwirklichung des „allgemeinen” Kirchenrechts13)) muß vielmehr gefolgert werden, daß das „allgemeine” Kirchenrecht hier ein rein theologischer Begriff sei (ein Medium? ein Tertium?), während an dem Rechtscharakter des „besonderen” Kirchenrechts nicht gerüttelt wird14). Darum fehlt es gerade an dem Aufeinander-Abstimmen der heterogenen Stücke „allgemeinen” und „besonderen” Kirchenrechts im „Kirchenrecht”, fehlt es an der Zuordnung von theologischem „Gebot" und juristischer „Norm".

Es stellt sich abschließend die Frage, ob Schüle diese Zuordnung überhaupt gewollt habe. Man kann Zweifel hegen, daß er das Kirchenrecht als „Recht” zu begründen wünschte, denn für ihn „ist die reformierte Kirchenrechtswissenschaft eine theologische Disziplin”15) und demgemäß bedeutet „das Kirchenrecht einen Teil der reformierten Dogmatik”16).

b) Holstein

Im Gegensatz zu Schüle stellt Holstein zwei Jahre nach jenem das Kirchenrecht als „Recht” in den Mittelpunkt einer seither viel beachteten, gründlichen Untersuchung17). Hier wird der Normcharakter des „Rechts” weder verkannt noch umgangen. Holstein forscht nach einem wirklichen Kirchenrecht, wie es das Wesen evangelischer Kirche fordert18).

Dieses Ziel erreicht er dadurch, daß er die „Kirche” im Doppelaspekt nach lutherischem Verständnis juristisch ansprechbar macht. Eine ausführliche Analyse des Kirchengedankens im Urchristentum19) und in der


10) Z.B. „Wir bezeichnen Recht als durch einen Souverän sanktionierte Normen (Gebote) für menschl. Verhalten” (a.a.O., S. 18). „Wir können geistl. Recht bezeichnen als Normen oder Gebote für menschl. Verhalten” (a.a.O., S. 28, Sperrung hinzugefügt). Sehr fraglich d. Darstellung auf. S. 15.
11) a.a.O., S. 29.
12) a.a.O., S. 78.
13) Ebendort.
14) Vgl. die Darstellung a.a.O., S. 137-174.
15) Schüle, KR, S. 71.
16) Ebendort.
17) Günther Holstein, „Die Grundlagen des ev. Kirchenrechtes”, 1928.
18) Holstein, a.a.O., S. 2, 3.
19) a.a.O., S. 25-51.

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Reformation20), die die Sohmsche These innerhalb des reformatorischen Gedankensystems als unhaltbar erweist21), führt dahin, die unsichtbar-sichtbare „Kirche” in der Doppelgestalt der Wesens- und Rechtskirche zu erfassen. Die Bezogenheit zwischen ecclesia visibilis und invisibilis wird hergestellt in dem Gedanken der „Rechts”kirche als „der sich im Wort versichtbarenden Wesenskirche”22). Dies das Neue und das Entscheidende in Holsteins kirchenrechtlicher Grundlegung.

Die Abwertung der ecclesia visibilis nach lutherischem Herkommen behält er bei, wiewohl (oder gerade weil?) bedingt eine Gleichsetzung23) von äußerer Christenheit und empirischer Kirche erfolgt: „Rechtsordnung ist in der Kirche notwendig, insofern die Wesenskirche nie rein, sondern stets in empirischer Trübung in geschichtliche Wirklichkeit tritt24).”

„Wie die empirische Kirche ihre Norm und Bestimmtheit von der sie innerlich tragenden und bedingenden Wesenskirche erhält, so gilt dies auch von der rechtlichen Ordnung der empirischen Kirche25).” Der in diesem Satz anklingenden Inkongruenz von „Norm” und rechtlicher Ordnung ist sich Holstein wohl bewußt. In diesem Sinne bleibt das von ihm begründete Kirchenrecht immer weltliches Recht26). Holstein hält „nur die Herausarbeitung des Schnittpunktes zwischen Rechts- und Geistleben der Kirche auch von der juristischen Seite her für erfaßbar; was als spezifisches Geistleben der Kirche hinter diesem Schnittpunkt liegt, liegt damit zugleich jenseits allen Rechts und ist deswegen vom Recht nicht mehr erfaßbar noch gestaltbar”27).

Diese scharfsinnige Unterscheidung hindert nun den Juristen Holstein nicht, eine Harmonisierung zwischen der Wesenskirche „als Gefolgschaft und Herrschaftsgemeinschaft überrechtlicher Art”28) und der Rechtskirche als „Genossenschaftsgemeinschaft juristischer Art”29) vorzunehmen. Obwohl Holstein die Struktur der Wesenskirche als einen „nichtjuristischen Tatbestand”30) erkennt, findet er in juristischer Aussage von der Wesenskirche (Geistkirche) her „Kirche” anstaltsrechtlich (!) und von der empirischen Kirche her genossenschaftsrechtlich verfaßt31). Causa: „Die religiösen Elemente der Geistkirche wirken auch32) gestaltend in die Formgebung der Rechtskirche hinein.”33)

Die hier zutage tretende Widersprüchlichkeit der Begründung ist die eigentliche offene Stelle der Holsteinischen Konzeption. — Die Kontradiktion entfließt der Verwendung des nach-lutherischen „invisibile-visibile”-Behelfs


20) a.a.O., S. 72-112.
21) a.a.O., S. 85.
22) a.a.O., S. 97.
23) Holstein hier kritisiert von Förster, Sohm widerlegt?, S. 329.
24) Holstein, KR, S. 88.
25) Daselbst.
26) a.a.O., S. 97.
27) a.a.O., S. 261/262.
28) a.a.O., S. 260.
29) Daselbst.
30) a.a.O., S. 261.
31) a.a.O., S. 263.
32) Die Verlegenheit des „auch” birgt das eigentliche lutherische Kirchenrechtsproblem.
33) a.a.O., S. 260.

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für Kirche, der der für Luther selbst und erst recht Calvin „seienden” einen Kirche nicht nahe genug kommt.

Die seither viel kritisierte34) Gewaltendreiteilung Holsteins ist bezüglich der Grundlegung evangelischen Kirchenrechts nur eine sekundäre Erscheinung, wie seine Darlegung beweist35), wenn er in dem aus dem Doppelwesen der Kirche als Wesens- und Rechtskirche resultierenden Nebeneinander von anstaltlichen und genossenschaftlichen Bausteinen evangelischen Kirchenrechts das „Prinzip der Gewaltendreiteilung” „angelegt”36) sieht. Eilfertige Kritik übersieht, daß Holstein hier in der Ableitung, genaugenommen, das unternimmt, was ihm im „Grunde” nicht gelingt: das Schließen der Lücke. Um das Auseinanderklaffen „zweier” Kirchen zu vermeiden (diese Tendenz des lutherischen Kirchenverständnisses als Tatsache verkennt m.E. Holstein nicht), legt er die Gewaltendreiheit „Gemeinde37) — Amt38) — Verwaltung” als eine gleichzeitige kirchenrechtliche Gewaltentrennung und Gewaltenverbindung aus39). Mag nun die praktische Auswirkung der Gewaltenteilung noch so bedenklich sein40), das Prinzip stellt nur den mit zweifellos hohem Verantwortungsgefühl gezogenen Schluß aus einem Kirchenrecht dar, welches verstanden wird als in einem nichtjuristischen Sachverhalt „gegründet” und doch eines Minimums an konkreten „Normen” bedürftig41).

c) Liermann

Nicht in einem umfassenden Gesamtwerk wie Holstein, sondern in verschiedenen Schriften und zu verschiedenen Anlässen äußert sich Liermann zu den „Grundlagen” evangelischen Kirchenrechts. Übereinstimmung besteht insoweit, als beide von dem zweifachen lutherischen Kirchenverständnis ausgehen.

Gegeben ist das Kirchenrecht für Liermann im christlichen Ordnungsgedanken (1. Kor. 14, 33)42), durch den die nicht erfaßbare „Kirche” in die rechtlich verfaßte Kirche hineinragt43). Jedoch erlangt dieses Hineinragen keine juristische Relevanz, da die Gebote der Bibel als religiöse Normen zwar „Richtungsnorm”44), aber keine Rechtsnormen des Kirchenrechts sein können. Die Kirche besitzt nach Liermann unaufgebbare „innere Souveränität”45) als eine „Vom Staate und seiner Welt gänzlich verschiedene Welt für sich, die sich letztlich nach eigenen, in der Sphäre des Religiösen liegenden Normen richtet”46).


34) Vgl. Dombois, Glaube, Recht, Europa, S. 149; Wehrhahn, Kirchenrecht u. -gewalt, S. 30, Anm. 87.
35) Vgl. Holsteins Ausführungen, KR, S. 262-264.
36) a.a.O., S. 264.
37) a.a.O., S. 264-269.
38) a.a.O., S. 269-279.
39) a.a.O., S. 263.
40) Die eigentliche Gefahr liegt in der Idee der Gewaltenverbindung, die schließlich zur Total-Anästhesie zwischen Gemeinde, Amt und Verwaltung führen muß.
41) Vgl. a.a.O., S. 261.
42) Liermann, KR, S. 20.
43) a.a.O., S. 21.
44) Daselbst.
45) a.a.O., S. 27, vgl. dazu die Kritik bei Hauck, Sohm und Tolstoi, S. 254.
46) Liermann, KR, S. 28.

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Statt dessen orientiert Liermann neuerdings das Kirchenrecht deutlich an dem, woran das fließende lutherische Kirchenverständnis sich immer sammelt, am „Bekenntnis” und am Amt. Das „Amt” ist als „tragende Säule”47) kirchlichen Verfassungsrechtes ein Grundstein des Kirchenrechts überhaupt48). Die Parallele zu Liermanns Vorstellung der Kirche in religiösem Sinne ist nicht zu verkennen, wenn er über Art. XIV CA das „Amt” als „eine in das Verfassungsrecht hineinragende Institution” wertet.49) Gleichzeitig verwebt diese Wertung das Amt in das „Bekenntnis”. Um das Bekenntnis „integriert” sich die Kirche50). Es ist die eigentliche Verfassung der Kirche51).

Aber mit dem Herausstellen des Amtes als „echte Fundamentalinstitution” des Kirchenrechts52) und dem Zugestehen „normativen Charakters”53) an das „Bekenntnis” hebt Liermann die Begründung eines Kirchenrechts selbst auf, wenn er das Bekenntnis in seinem Gehalt als eine der Macht des kirchlichen54) Gesetzgebers entzogene religiöse Norm auslegt55). Mit den weiteren Ausführungen in diesem Zusammenhang liefert Liermann für jede kirchenrechtliche Begründung einen vollendeten Zirkelschluß:

„Aber das Bekenntnis ist von rechtserheblicher Natur, da es auf die Rechtsgestaltung einwirkt. Insofern ist es metajuristische norma normans, aber als solche sehr wohl in der Lage, einer juristischen norma normata als Richtschnur oder Schranke zu dienen. In dieser Weise, und nur in dieser Weise, wirkt es aufs intensivste in das Kirchenrecht hinein.”56)

Soweit Liermann die äußere Ordnung der Kirche als ein Adiaphoron in der lutherischen Glaubenslehre versteht57), ist dem, gerade in bezug auf die untersuchten Gedanken Luthers, beizupflichten. Aber wenn er „äußere Ordnung” mit Kirchenrecht identifiziert58), wird die behauptete Bekenntnis- und Amtsbindung eines Kirchenrechts wiederum zerschnitten. Der Zwiespalt zwischen innen und außen, wahrer Kirche und ihrem Abbild, „verfaßter Kirche”, bleibt. Weil hier Von juristischer Seite Kirchenrecht als äußere Ordnung verstanden wird, ist zudem zu überlegen, ob überhaupt der Rechtsbegriff gewahrt sei. „Recht” im Sinne bloßer Außenordnung


47) Liermann, Grundlagen des kirchlichen Verfassungsrechtes nach lutherischer Auffassung, 1954, S. 6 und 21.
48) Z.B. bezeichnet Liermann die „Ordnung des geistlichen Amtes” vom 27. 4. 1939 der Ev. Luth. Kirche Bayerns als „echt lutherisches Kirchenrecht” (a.a.O., S. 7).
49) Liermann, a.a.O., S. 6.
50) a.a.O., S. 8.
51) Ebendort.
52) Liermann, Grundlagen, S. 7.
53) a.a.O., S. 8.
54) Nur um diesen kann es sich ja in dem betreffenden Gutachten Liermanns handeln.
55) Liermann, „Rechtsgutachten über d. rechtl. Bedeutung d. § 1 des Kirchl. Gesetzes betr. die Verfassung d. ev. Landeskirche in Württ. v. 24. 11. 1920” (in: Beiblatt Nr. 24 des 32. Bdes des Amtsblattes der Ev. Landeskirche in Württ. vom 3. 4. 1947, S. 14).
56) Daselbst; hier wird der Unterschied zu der Auffassung von Karl Barth sehr deutlich, bei dem „die Schrift (selber norma normata!) norma normans des Fragens der Gemeinde nach dem rechten Kirchenrecht ist” (Ordnung der Gemeinde, S. 16).
57) Liermann, Grundlagen, S. 5.
58) Vgl. a.a.O., S. 5/6.

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schließt jede ,,Es”-Beziehung59), und sei es nur auf den „Kernbereich des Rechts”, grundsätzlich aus.

Liermann scheint, ohne es nachdrücklich zu sagen, formell-rechtlich die Entwicklung des Rechts in der Lutherischen Kirche zu einem Episkopalrecht für wahrscheinlich (erwünscht?) zu halten60), obzwar er das Konsistorial-Synodalrecht im Luthertum für „noch immer gegeben” ansieht61).

Dabei spürt man, daß Liermann Zweifel hegt an dem Originären des „Amtes”, welches vermöge des „Fundamentalinstitutionellen” gemäß seiner Auffassung der „Grund” eigenständigen lutherischen Kirchenrechts sein müßte. Seine Feststellung über den Beginn der Reformation —

„Als die Pläne der ersten Jahre, die Kirche von unten aus der Gemeinde aufzubauen, durch Bauernkrieg und Wiedertäuferaufstand zunichte gemacht und in Deutschland zur politischen Unmöglichkeit geworden waren, blieb der werdenden lutherischen Kirche nur das geistliche Amt”62) —

gibt dem „Amt” einen Anstrich der Notlösung. Hingegen erscheint hier „Gemeinde” als das Primäre. In dem Hervorheben des Gemeindegedankens für die Begründung eines Rechtes der lutherischen Kirche geht Liermann so weit, daß er sie an der Entfaltung „ihres” (!) Gemeinderechts verhindert sieht63). Uneingestandenermaßen wird damit eingeräumt, daß sich „Recht” einer nur geglaubten Kirche, die sich jedem „Begriff”, jeder Verfestigung entzieht, nicht begründen läßt. Aber Entwicklung und Theologie der lutherischen Kirche versagen hier Beispiele und Mittel. Das angesprochene Gemeinde,,recht” ist nicht „ihr” Recht, sondern eine Rezeption aus dem reformierten Bereich, worauf Liermann ohne Umschweife hinweist64). Liermann betont an verschiedenen Stellen die Durchschlagskraft der Praxis65) und berücksichtigt spürbar die verfaßte Kirche als soziologisches Phänomen66). Beides versetzt ihn in die Lage, sich mit dem Kirchenrecht als „Tatsache”67) zu beschäftigen; seine Ansätze der Begründung in „Amt” und „Bekenntnis” können nicht verdecken, daß die relative Ignoranz der Gemeindevorstellung im lutherischen Kirchenverständnis die entscheidende Substantialität des „Grundes” verwehrt.

d) Erik Wolf

Vorwiegend reformierte Einflüsse sind es, die Erik Wolf leiten, wenn er als Jurist zwecks Aufzeigens der Eigenart evangelischen Kirchenrechts in das Wesen von „Recht”68) und „Kirche”69) gleichermaßen einzudringen sucht.


59) Vgl. oben, S. 15, 16.
60) Liermann, a.a.O., S. 20.
61) Daselbst.
62) a.a.O., S. 7.
63) a.a.O., S. 14.
64) a.a.O., S. 14 und 22.
65) Liermann, KR, S. 23.
66) Liermann, Grundlagen, S. 21; Gutachten, S. 11.
67) KR, S. 19.
68) Dazu die beiden ersten Vorträge in der Sammlung „Rechtsgedanke und bibl. Weisung”, 1946, S. 9-32; S. 33-64.
69) Dazu der dritte Vortrag obiger Sammlung, a.a.O., S. 85-94 u. „Zur Rechtsgestalt d. Kirche”, 1952.

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Wolf stellt fest, daß das „Recht”, welches er als „eine Sache der Vernunft und des menschlichen Willens”70) umschreibt, ein Gegenstand der biblischen Offenbarung sei; denn es sei in seinem innersten Wesen eine „Eigenschaft Gottes”71). Die „Es”-Beziehung wird sichtbar in der Form, daß Wolf mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Karl Barth das Verständnis zwischen Gott und Recht — zwischen „ewigem Recht” und „zeitlichem Recht” — als „eine Verbindung von oben her” bezeichnet72).

Maßgebendes Glied dieser Verbindung ist die Hl. Schrift. Ihre verpflichtende Kraft für das „Recht” liegt in ihrer Mittelbarkeit73). Das „Wort” bedeutet nicht (schon?) „Recht”, sondern (erst?) „Weisung”74). Gemäß Wolfs Ansicht „muß immer wiederholt werden”:

„Alle Weisungen für die Rechts- und Sozialordnung sind niemals Rechtssätze, sondern immer Rechtsgrundsätze; niemals Verordnungen, sondern immer Weisungen; keine Entscheidungsnormen, sondern Bestimmungsnormen (Richtschnuren).”75)

Die Verwendung des (philologisch nicht unanfechtbaren) Terminus „Richtschnuren” für „Bestimmungsnormen” hebt sich in der Wolf sehen Beweisführung ab. Hier nun ist im Sinne einer Grenzziehung zu überlegen, ob die „Richtschnuren” vor-rechtlich Normatives darstellen oder (auch, nur?) juristische „Norm”. Für Wolf „bedeutet die ,Biblische Weisung’ die Erkenntnis der Richtschnuren”76) für Staat und Kirche, für Welt und Gemeinde77).

Es ist deutlich zu erkennen, daß es Wolf in der Beurteilung des „Wortes” und dem Verständnis der „Kirche” als „Gemeinde” (congregatio) darum zu tun ist, rechtliche Aussagen zu machen. Er sucht die „Rechtsgestalt” der Kirche. Indem er alle antithetischen Begriffsbehelfe (sichtbar-unsichtbar, Geist- und Rechtskirche) strikt78) als „tote Begriffshülsen”79) ablehnt, gelangt er zur „congregatio” als das Gegenteil in allem zur „institutio”80). „Kirche” in der Figura „congregatio” geschieht, ereignet sich. Sie „wird” gewissermaßen in uns, weshalb bei Wolf Kirche als die „Gemeinde” erscheint, „die wir selber sind und (der mutige Schritt wird gewagt) begreifen”81).

„In” der also erfaßten „congregatio” befindet sich das „Recht” als Kirchenrecht. Aber behauptet damit Wolf eine verfaßte Kirche?

Die Zweifel82) sind nicht völlig zu zerstreuen. Gibt es doch auch im meta-juristischen Sinne „Recht” nicht ohne irgendeinen Modus des „Satzens”, des „Verfassens”, des „Normens”83)! Wolf spricht zwar den wichtigen —


70) Wolf, Rechtsgedanke, S. 34.
71) Ebendort.
72) a.a.O., S. 37 und Anm. 12.
73) Vgl. die Ausführungen a.a.O., S. 91.
74) Dazu Wolf, Zur Rechtsgestalt, S. 260/201.
75) Wolf, Rechtsgedanke, S. 43, 44.
76) Wolf, Zur Rechtsgestalt, S. 261.
77) Wie aus Wolfs Ausführungen (a.a.O., S. 261, Rechtsgedanke, S. 44 oben) gefolgert werden darf.
78) Dazu Wolf, Rechtsgedanke, S. 66, 67, 71, 741 Rechtsgestalt, S. 258.
79) Rechtsgedanke, S. 66.
80) a.a.O., S. 71.
81) a.a.O., S. 66.
82) Wolf, Rechtsgestalt, S. 258: „Denn das Recht der Kirche kommt stets aus ihrem ,Geist’, oder es ist kein Kirchenrecht”; und die „sichtbare” Kirche ist eben die Erscheinung der „unsichtbaren”, oder ihre „Verfassung” ist keine „Kirchenordnung”.
83) Hier in optimaler Restriktion verstanden!

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man möchte für die Grundlegung evangelischen Kirchenrechts sagen: epochemachenden — Satz aus,

„Die wahre Rechtsgestalt der Kirche kann nur eine sein”84);

seine Begründungen nähern sich offensichtlich teilweise der katholischen Synthese85); er versteht „Kirche” als Gemeinde, als Gemeinschaft86) sicherlich juristisch; er sieht im Normativen des evangelischen Kirchenrechts „eine Ökumenische Ordnung”87); er zieht gar den Schluß, daß es für die Gemeinde nur eine Form kirchlicher Ordnung gäbe: die Christokratie88). Trotzdem bezeichnet Wolf an entscheidender Stelle das Kirchenrecht mit der Formel „Ordnung sui generis”89). Obzwar in Rechtsgestalt, erscheint „Kirche” in geistlicher Rechtsgestalt, die wesensmäßig bruderschaftliche Christokratie und christokratische Bruderschaft in einem bildet90). Es ist systematisch der Theologie und Jurisprudenz das Gemäße, daß dafür, „die sonst gewohnten und passenden allgemeinen Rechtsbegriffe nicht gelten”91). Wo „allgemeine” Rechtsbegriffe versagen, sind die „besonderen” Rechtsbegriffe schon ausgeschlossen. Und es bleibt die beklemmende Frage, ob wir uns dort, wo juristische Maßstäbe nicht anwendbar sind, noch in der Sphäre des „Rechts” bewegen . . .

e) Wehrhahn

Diese Frage finden wir bei Wehrhahn verneint. Obwohl er in lutherischer Manier stark am „Bekenntnis” hängt als dem „Realgrund der Kirche”, als „theologischer Achse des Kirchenbegriffes”92), mithin als einem „Tatbestand” (sic), den seines Erachtens das geltende Kirchenrecht durch „Formalisierung des Bekenntnisbegriffes” verschleiert93), und obwohl der Amtsgedanke gebührende Berücksichtigung findet94), ist seine Grundhaltung auch reformiert beeinflußt, indem er als Wurzel der Unsicherheit in Fragen eigenen Rechts der evangelischen Kirche „das Fehlen eines wirklich evangelischen, d.h. eines christologischen Rechtsdenken” findet95).

Es entspricht durchaus der christologischen Ausgangsstellung96), wenn Wehrhahn den herkömmlichen Widerspruch zwischen Geist- und Rechtskirche


84) Wolf, a.a.O., S. 261.
85) Wolf, a.a.O., S. 259, deutet an, „daß die ,Rechtsgestalt’ der Kirche Gleichordnung und Unterordnung, Freiheit und Gehorsam, Rechte und Pflichten begründet”. Ähnlich, Rechtsgedanke, S. 65.
86) Wolf, Rechtsgedanke, S. 69-71; Rechtsgestalt, S. 258: „Gemeinde-Gemeinschaft”, S. 261: „Einigungs-Gemeinschaft”.
87) Wolf, a.a.O., S. 261.
88) Wolf, Rechtsgedanke, S. 90.
89) a.a.O., S. 75.
90) Wolf, Rechtsgestalt, S. 261. Der von Barth behauptete „untergeordnete Sinn” der „christokratischen Bruderschaft” bei der Interpretation von Erik Wolf läßt sieh aus dem „ebenso gut” Wolfs nicht herauslesen) (Vgl. Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 12.)
91) Wolf, Rechtsgedanke, S. 67.
92) Wehrhahn, Grundlagenkrise u. ev. KR, DRZ 1948, S. 370; vgl. Der Stand des Methodenproblems in der ev. Kirchenrechtslehre, ZEK, Bd. 1, S. 58.
93) Wehrhahn, DRZ 1948, daselbst.
94) Wehrhahn, ZEK, Bd. 1, S. 72.
95) DRZ 1948, S. 368, vgl. ZEK, Bd. 1, S. 71.
96) Vgl. Wehrhahn, Buchbesprechung zu Alfred Dedo Müller, ZEK, Bd. 1, S. 188-194; Die Grundlagenproblematik d. Deutschen ev. KRs. 1933/45, Teil III, Theologische Rundschau 1951, S. 221-252 (Wehrhahn selbst nennt diese Abhandlung einen „Literaturbericht”, ZEK Bd. 1, S. 56 Anm. 5).

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für nicht gegeben hält97) und er das Bemühen um die Grundlagen, anders gesehen, um die anzuwendenden Methoden in einer evangelischen Kirchenrechtslehre am „Evangelium” orientiert. Folgerichtig faßt er das evangelische Kirchenrechtsproblem primär als „Frage an die Theologie” auf98).

Jedoch drängt sich die Überlegung heran, ob die christologische Peilung Wehrhahn nicht dazu verleitet, die rechtliche Seite des Kirchenrechts zu kurz kommen zu lassen. Selbst bei voller Würdigung des christologischen Aspektes befremdet es, daß Wehrhahn den Rechtsbegriff unter völliger Negierung der zu Anfang unserer Untersuchung aufgewiesenen „Es”-Bezogenheit derart „modernisiert”99), daß das Recht zu einer nur „auf menschlicher Willensbildung beruhenden Gemeinschaftsordnung”100) wird. Dieses einseitige positivistische Verständnis des „Rechts”101) dürfte mehr als der christologische Aspekt die im Endergebnis für das evangelische Kirchenrechtsproblem ausweglosen Schlußfolgerungen Wehrhahns bestimmen. Er übernimmt unbesehen nach der Barionschen Formel102) das Kirchenrecht als „Funktion des Kirchenbegriffes”103), indem er zwar die übliche „Sicht” des Funktionsverhältnisses kritisiert104), nicht aber das Funktionsverhältnis selbst in Zweifel zieht. Er sieht das Verständnis der beiden Regimente bei Luther und — unter Bezugnahme darauf — desgleichen das Verhältnis von Kirche und Kirchenrecht „funktional”105).

Ohne daß man Wehrhahns Beweisführung ein „Funktionalisieren” unterstellen könnte, führt sie dann, weil die Kirchenrechtslehre sich an die Dogmatik zu halten habe106), an Hand der (nicht zu leugnenden, aber doch nicht unbestrittenen) Dialektik in der protestantischen Theologie zu dem ausschlaggebenden Satz:

„Die ,Funktion’, in der das Kirchenrecht zum Kirchenbegriff steht, stellt sich mithin des näheren als eine solche nicht der analogen Entsprechung, sondern der Dialektik des Gegensätzlichen dar.”107)

An die Stelle der bisher geübten kirchenrechtlichen Aussagen per analogiam zum weltlichen Recht hat nach Wehrhahn „das Prinzip der dialektischen Doppelaussage” zu treten108).

Die kaum auszudenkenden, tiefgreifenden Auswirkungen solcher Prinzipienveränderung in der Lehre auf das geltende Kirchenrecht deutet


97) Wehrhahn, DRZ 1948, S. 369.
98) Wehrhahn, ZEK, Bd. 1, S. 66, vgl. S. 75, 190/191.
99) Wehrhahn, ZEK, Bd. 1, S. 71, spricht vom „modernen Begriff des Rechtes”.
100) Wehrhahn ebendort; an anderer Stelle (ZEK Bd. 1, S. 192) nennt Wehrhahn das „Recht” den „im Säkularisationszeitalter dezidierten Ausdruck des Bewußtseins der Autonomie des Menschen”; Kritik des Positivismus Wehrhahns bei Dombois, ZEK Bd. 1, S. 342, 344/45.
101) Dieser Eindruck schwindet auch in Wehrhahns Schrift „Kirchenrecht u. Kirchengewalt” (1956), nicht ganz, da W. die stark hervorgehobene Kirchengewalt (potestas regiminis), weil ius humanuni, nicht mit dem ius divinum (letztlich also mit „Kirche”) in Einklang bringen kann (dazu S. 29-35, 68-71, 93-96).
102) Barion, Sohm u. die Grundlegung des KR, S. 13.
103) Wehrhahn, ZEK, Bd. 1, S. 55/57.
104) a.a.O., S. 64.
105) a.a.O., S. 66/67.
106) a.a.O., S. 63.
107) a.a.O., S. 67.
108) a.a.O., S. 66.

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Wehrhahn nur an109) und überläßt die Entscheidung der protestantischen Dogmatik.

„Kirche” und „Recht”, Theologie und Jurisprudenz verharren also berührungslos, vollendet animos, nebeneinander110). Ein Verständnis, das die Bezüglichkeit zwischen dem Geist der Gerechtigkeit (nicht etwa des Rechtes, was gegebenenfalls hinzunehmen wäre) und dem Geist Christi als ein „antithetisches” Diktum111) erfaßt, entfernt sich gleichermaßen von Augustin und Thomas sowie von Luther und Calvin. Es liegt dann auf dem beschrittenen Wege, daß bei Wehrhahn das evangelische Kirchenrechtsdenken einen „dezisionistischen Zug”112) gewinnt.

Man wird sich der Überlegung nicht verschließen, ob Wehrhahn mit der Dialektisierung des evangelischen Kirchenrechts nicht eine viel schroffere Formalisierung113) des Kirchen- (somit auch Bekenntnis-) und Rechtsbegriffes herbeiführt, als sie die bisherige, wenn auch höchst unvollkommene evangelische Kirchenrechtslehre vermöge der Rechtsanalogie bei Anwendung geltenden Kirchenrechts jemals erreichen könnte.

f) Dombois

Aussagen und Überlegungen fußen hier auf einem Rechtsbegriff, der eine klare Absage an den Rechtspositivismus enthält. „Recht ist nicht allein positive Satzung”1). Hinsichtlich der Bestimmung des „Mehr” als nur positive Vorschrift im Recht stößt Dombois weit in die metajuristische Betrachtung vor und unterstellt, daß „jede (menschliche) Gemeinde, gleichviel welcher Art, immer auf Grund vorrechtlicher Akte bestehe”2). Für ihn sind „in einem umfassenden Maße Struktur und Begriffsbildung eine theologische”3).

Man könnte nun annehmen, mit einem theologisch derart angepaßten, oder immerhin ausgerichteten Rechtsbegriff (seine bedingte Unscharfe einberechnet) sei ein verhältnismäßig günstiger Zugang zu den Grundlagen des Kirchenrechts geschaffen.

Indessen zeigt ein vorgenommener Vergleich4) evangelischen Kirchenrechts mit Bestimmungen altkirchlicher Wahlordnungen5), daß auch eine gewissermaßen wohlwollende Begriffsbestimmung des Rechts den Kreis der gegebenen Problematik evangelischen Kirchenrechts kaum zu verkleinern vermag.


109) Bedenklich schon in der Verbindung von „Gemeinde” (dazu DRZ 1948, S. 369) und juristischer Genossenschaftsidee (ZEK Bd. 1, S. 72, 74 und 75).
110) Vgl. Wehrhahn, ZEK Bd. 1, S. 79.
111) Wehrhahn, a.a.O., S. 75, mit Bezugnahme auf Georg Wehrung, Kirche nach ev. Verständnis, 1947, S. 218.
112) Wehrhahn mit Bezugnahme auf Carl Schmitt, ZEK Bd. 1, S. 76 und Anm. 73; Kritik bei Dombois, ZEK Bd. 1, S. 340.
113) Die Wehrhahn selbst (DRZ 1948, S. 370) dem „geltenden Kirchenrecht” gerade vorwirft.
1) Dombois, ZEK Bd. 1, S. 344.
2) Glaube, Recht, Europa, S. 155.
3) Dombois, ZEK Bd. 1, S. 345, vgl. Glaube, Recht, Europa, S. 52: „Rechtsideen und konkrete Rechtsordnung folgen stets der (religiösen oder pseudoreligiösen) Rechtfertigungsidee, d.h. dem geglaubten Grundverhältnis des Menschen zu Gott . . .”
4) Dombois, Altkirchliche und evangelische Kirchenverfassung, 1951, ZEK Bd. 2, S. 1-23; in „Glaube, Recht, Europa” veröffentlicht, S. 134-159 (im folgenden wird aus letzterem Buch zitiert).
5) Die einer Kanonsammlung „Constitutiones apostulorum” des 4. Jahrh. entnommen sind und auf das 2.-4. Jahrh. zurückgehen; näheres S. 136-139.

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Der Grund dafür ist in Dombois’ Kirchenvorstellung zu sehen. Er „teilt” die Kirche in Handelnde und Empfangende, in Verkündende und Hörende6). Dombois erkennt darin der Kirche „genuine Grundrelation”7) — an anderer Stelle den „genuinen Dualismus”8) — die in dem Verkündigen und Hören des Wortes genau so zum Ausdruck kommt wie im Geben und Empfangen der Sakramente9). So sehr sich Dombois um dies „Miteinander”10), das Zusammen dieses doppelten Geschehens „Kirche” müht, er bewertet es dennoch als „Gegensatz”. Er hält zwar die Unterscheidung zwischen äußerem Kirchenwesen und innerer Kirche für nicht möglich11). Aber der Gegensatz zwischen rechtlicher und außerrechtlicher „Existenz” der Kirche besteht weiter als der „Gegensatz zwischen Handelnden und Empfangenden”12). Es wirkt dann wenig überzeugend, wenn auf dieser Grundlage gefordert wird, daß die Kirche sich von „bloßer gedanklicher Antithese”13) freihalten müsse und für die künftige Kirchenrechtsentwicklung die Möglichkeit eines „Kirchenrechts existentieller Relationen”14) verschwommen angedeutet wird.

Nicht ohne Reiz ist es nun, zu verfolgen, wie das Kirchenrecht der „alten Kirche” zwischen 200 und 400 n. Chr. Dombois fortwährend zwingt, sich mit der „Gemeinde” zu beschäftigen15) und dieser unentwegt sich gemessen vom Gemeindegedanken distanziert, um sich in der lutherischen Sicht des „Amtes” behaupten zu können. Er kann nicht umhin, auf Grund der untersuchten Kirchenrechtsvorgänge von einem „altkirchlichen Miteinander von Bischof und Gemeinde”16) zu sprechen. Trotzdem erklärt er das „apostolische Amt” als „eines”, das „sich eigentlich nur in actu, in kyrio legitimiert”17) und der ganzen übrigen Kirche antithetisch gegenübersteht18). Das evangelische Kirchenrecht hat nach Dombois auf den „echten Dualismus von Amt und Gemeinde” aufzubauen18).

Betrachtet man die juristische Erfassung dieses „Dualismus”, dann erweist sich, daß Dombois bezüglich des Verhältnisses Gemeinde-Amt das Rechtsinstitut der Repräsentation ablehnt20) und sich ebenfalls gegen „organologische” Mißverständnisse wehrt21). Es besteht ein Rezeptionsverhältnis22), derart, daß „das Handeln der Gemeinde der Rezeption durch das Amt bedarf”23).


6) Vgl. a.a.O., S. 141, 143, 155.
7) a.a.O., S. 143.
8) a.a.O., S. 142 und 146.
9) a.a.O., S. 143.
10) a.a.O., S. 141.
11) a.a.O., S. 156.
12) a.a.O., S. 155.
13) a.a.O., S. 159.
14) Daselbst.
15) Vgl. a.a.O., S. 136, 139, 140, 151/52.
16) Dombois, a.a.O., S. 152.
17) a.a.O., S. 147.
18) a.a.O., S. 148.
19) a.a.O., S. 151.
20) a.a.O., S. 139.
21) a.a.O., S. 148.
22) Dazu a.a.O., S. 140, in bezug auf Sohm, S. 136.
23) a.a.O., S. 155.

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Hier nun, so möchte man juristisch meinen, komme man wirklich „an den Grenzpunkt, wo die Dinge umschlagen”24). Allerdings wohl in einem anderen Sinne, als es Dombois erstrebt. Jede „Rezeption” erfordert, daß etwas geschehen ist, etwas vorhanden ist, das aufgenommen, entgegengenommen (re-ceptum) werden kann, etwas (der Ausdruck sei gestattet), das „rezeptabel” sei. Rezeption setzt irgendwie „Originäres” voraus. Das Originäre liegt mithin nach obiger Beweisführung „in der Gemeinde”. Weil nun die juristische Aussage, auch im weitesten Sinne, „Gemeinde” als Verband erfaßt und „Amt” juristisch ein Organ darstellt, fragt sich einmal, ob Gemeinde und Amt adäquate Termini für die empfangende und handelnde Kirche sein können, und zum anderen, sofern man dies bejaht, wieweit der „genuine Dualismus” (eben doch!) juristisch ein Organverhältnis darstelle, das das Kirchenrecht trage, wodurch primär dann die Gemeinde das Kirchenrecht hervorbringen und sekundär das „Amt” daran gebunden sein würde.

g) Maurer

Welche Widersprüche die derzeitige Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht birgt, zeigt auf lutherischer Seite Maurers Betrachtung der rechtlichen Problematik einer ihm zum Teil vorliegenden, zum Teil geplanten „Lebensordnung”25). Nach Maurers eigenen Worten beweisen die seinem Untersuchungsgegenstand anhaftenden Unklarheiten „die Unsicherheit, die auch in führenden evangelischen Kreisen im Blick auf das Wesen des evangelischen Kirchenrechts besteht”26).

Diese Einsicht gehört an den Anfang, wenn festzustellen ist, daß Maurer hinsichtlich der gegebenen „Lebensordnung” zu zwei entscheidenden Sätzen gelangt. Erstens: Die in Anlehnung an die Confessio Augustana als „um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde" verstandene „Kirche” erscheint als „Kerngemeinde”27). „Diese Kerngemeinde ist weder soziologisch noch rechtlich faßbar.”28) Zweitens: Zwischen Gemeinde und Amt besteht eine „polare Spannung”29) (ohne daß Maurer sich dabei in eine Überbetonung des „Amtes” verlöre30).

So deutlich sich beide Sätze abheben, so schwierig ist es, von der in der Untersuchung gebotenen Terminologie her zu einer exakten Begriffsunterscheidung zu gelangen. Eine Fülle von Bezeichnungen breitet sich aus: Lebensordnung, Kirchenordnung, Gottesdienstordnung31), Liebesordnung32), Kirchenrecht33), kirchliches Recht34), Wort- und Sakramentsrecht35), von


24) a.a.O., S. 152.
25) Maurer, Die rechtl. Problematik der Lebensordnungen in der Ev. lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Oktober 1954, ZEK Bd. 3, S. 225-242.
26) a.a.O., S. 241.
27) a.a.O., S. 228, 234.
28) a.a.O., S. 234.
29) a.a.O., S. 235.
30) Vgl. a.a.O., S. 235/236; an anderer Stelle spricht Maurer von der „heilsamen Spannung” (ZEK Bd. 4, S. 338) und betont die Bedeutung der „Gemeinde” (a.a.O., S. 360).
31) Vgl. ZEK Bd. 3, S. 226, 227.
32) a.a.O., S. 242.
33) Vgl. a.a.O., S. 229, 230.
34) Daselbst.
35) Mit Bezugnahme auf Assmussen, a.a.O., S. 229; vgl. Maurer, Bekenntnis u. Sakrament, Teil I, 1939, S. 15-18, 110-114; „Das kirchliche Recht sichert unmittelbar die Spendung des sakramentalen Heils” (a.a.O., S. 112).

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Unterteilungen (Lehrordnung, Zuchtordnung usw.) abgesehen. Der vorherrschende Eindruck geht dahin, daß Maurer die „Lebensordnung” für grundsätzlich verschieden hält von Kirchengesetz und Kirchen Verfassung36). Es scheint, als bestehe ein wesensmäßiger Unterschied zwischen „Lebensordnung” und „Kirchenrecht”37). Ob man ihn in eine Parallele zu der Unterscheidung zwischen Soll- und Kannbestimmungen setzen kann, fragt sich indes, sofern es sich um die Unterscheidung von ius strictum und ius dispositivum handeln sollte38). Wenn Maurer aus der Kirchenrechtsdiskussion nach 1945 den deutlichen Anspruch entnimmt, „mit der Lebensordnung künftiges kirchliches Recht vorzubereiten”39), dann kann die Lebensordnung selbst noch kein Recht sein. In demselben Sinne ist der Satz auszulegen, daß „die Lebensordnungen der Wurzelboden” seien, aus dem das evangelische Kirchenrecht „erwächst”40). Der Zusammenhang des Satzes würde sinnentstellt, wenn man bei der Annahme, Lebensordnung und Kirchenrecht seien identisch, zu der Einsicht gelänge, daß aus Recht Recht erwachse.

Dennoch ist die Vermutung, daß Maurer „Lebensordnung” eben doch als Kirchenrecht betrachte, an anderen Stellen der Untersuchung nicht auszuräumen. Im Kommentar zu Abschnitt 2 der Lebensordnung der VELKD (Vom Dienst der Gemeinde an ihrer Jugend) weist er hinsichtlich der dort festgelegten Rechte und Pflichten der Religionslehrer darauf hin, daß diese bisher im „spezifischen Kirchenrecht" fast überhaupt nicht vorkommen41), was den Gedanken nahelegt, daß insoweit die Lebensordnung nunmehr „spezifisches Kirchenrecht” enthalte. Man sieht sich in dieser Annahme bestätigt, wenn es an anderem Ort heißt, daß durch die in der Lebensordnung dem Pfarrer auferlegten Dienstpflichten beispielsweise in die Trauung ein „jurisdiktionelles Element hineingelegt” werde42), oder wenn die Versagung der kirchlichen Trauung an Geschiedene als „Rechtsregel” angesprochen wird43) oder gar die Rede ist von „Rechtssetzungen, die die Lebensordnung trifft”44).

Das Fehlen einer genauen Abgrenzung der „Lebensordnung” als „Recht” (resp. als juristisch irrelevant) wird verständlich durch die Bezugnahme Maurers auf eine Begriffsbestimmung der „Ordnung” als „Ordnung um der Liebe willen”, die zwar „Rechtssätze nicht ausschließt, sie aber nicht zum Ausgangspunkt nehmen” will45).

Mag solche „Ordnung” nur mit Mühe als Kirchen„recht” zu verstehen sein, so finden sich hier immerhin manche Berührungspunkte mit dem


36) Vgl. Maurer, ZEK Bd. 3, S. 226.
37) a.a.O., S. 242.
38) Vgl. daselbst.
39) a.a.O., S. 241.
40) a.a.O., S. 230.
41) Vgl. a.a.O., S. 235.
42) a.a.O., S. 240.
43) a.a.O., S. 231.
44) a.a.O., S. 233.
45) Maurer, ZEK Bd. 3, S. 241 (Bezugnahme auf Bischof Wester); dazu neuerdings Maurer: „Gerade auch im Blick auf das Mitgliedschaftsrecht kann sich ev. KR eigenständig nur das Liebesrecht gestalten und entfalten” (ZEK Bd. 4, S. 360).

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Recht als wertbezogene Norm. Der Kontakt mit der Eigenart des Rechtes indes ist aufgegeben, wenn gesagt wird: Alles kirchliche Recht

„wird nicht geschaffen auf Grund allgemeiner und unveränderlicher Rechtsprinzipien. Es wird in ihm nicht ein normativ gewertetes Idealbild von der Gestalt der Kirche entworfen. Sondern da, wo Unordnung in ihr entstanden ist, die die Verkündigung des Wortes und den heilsamen Empfang der Sakramente hindert, da entsteht das kirchliche Recht von Fall zu Fall.”46)

Hinsichtlich der Unordnung drängt sich die Frage auf: Wer stellt fest, ob sie schon besteht oder noch nicht entstanden ist? Quis iudicabit?

Was dann die „normativen Idealbilder” anbetrifft, muß aber die Frage gestellt werden: Entwirft sie das Recht jemals? — Das Recht sieht sich immer auf das menschliche Zusammenleben in der Vielfalt seiner Erscheinungen verwiesen. Es müht sich, mit Hilfe von Begriffsabgrenzungen und genauen Begriffsbestimmungen den ständig wechselnden Lebensvorgängen nahezukommen und jeweils möglichst eine große Zahl ähnlich gelagerter Lebensverhältnisse — ähnlich geschlossener Lebenssituationen, ähnlicher „Fälle” — in einem „Tatbestand” zu erfassen. Damit die „Norm” auf das Handeln des Menschen passen kann, systematisiert das Recht47) die dadurch geschaffenen Zustände. Das Recht „typisiert" das Reale (oft unter Verwendung von Fiktionen); das Recht „idealisiert" nicht.

h) Schoch

„Eine Einsicht über das Kirchenrecht läßt sich nämlich nicht vom Rechte her gewinnen”, heißt es gleich am Anfang der Vorbemerkung zu einem reformierten — jüngst erschienenen — „Beitrag zur theologischen Grundlegung des Kirchenrechts” von Max Schoch48).

Jedoch (und glücklicherweise) versteht Schoch diese seine Behauptung nicht in absolutem Sinne. Sehr bald folgen auf obigen Ausspruch die Worte:

„Wiederum muß der Theologe . . . darüber im klaren sein, daß zwar sein Nachdenken theologisch bleiben soll, daß aber der Gegenstand, mit dem er sich beschäftigt, das Kirchenrecht, nicht Theologie, sondern Recht ist.”49)

Es ist, als ließe sich an diesen Eingangsworten das ganze Dilemma ablesen, in dem der Autor sich mit seiner Untersuchung dadurch befindet, daß er Kirchenrecht nicht als Recht und doch als Recht versteht. —

Schochs Buch steht nach seinen eigenen Worten „auf der Überzeugung, daß das Kirchenrecht zur Sichtbarkeit der Kirche notwendig gehöre”50). Das herkömmliche Schema der Sichtbarkeit-Unsichtbarkeit der Kirche wird in einer Weise vermieden, nach der, ohne die Unsichtbarkeit der Kirche


46) Maurer, ZEK Bd. 3, S. 230.
47) Vgl. Ellul, Theol. Begründung des Rechts, S. 56, „Recht ist System”.
48) Max Schoch, Evangelisches Kirchenrecht u. biblische Weisung. Ein Beitrag zur theologischen Grundlegung des Kirchenrechts. Zürich, 1954, S. 7.
49) Ebendort.
50) a.a.O., S. 16, vgl. S. 60.

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zu leugnen, „die kirchliche Existenz des Christen auch sichtbar sei”51). Weitere Grundzüge der Darlegung von Schoch sind ein sehr betontes Gemeindeverständnis der „Kirche”52), eine deutliche Orientierung an Calvin53), auch wenn das evangelische Kirchenrecht als ius humanum gekennzeichnet wird54), und eine scharfe Ablehnung der Antithese von Kirche und Recht55).

In dieser gründlich und sauber abgesteckten Position bejaht Schoch evangelisches „Kirchenrecht”, das er Kirchenordnung56), Bekenntnisordnung57) und sogar „bekennendes Kirchenrecht” nennt58). Bis dahin ließe sich eine theologische Anerkennung evangelischen Kirchenrechts annehmen, wenn es sicher stände, daß Schoch die Materie, die er als „Kirchenrecht” (resp. Kirchenordnung) anspricht, im Sinne des Rechtsbegriffes versteht.

Gerade an diesem entscheidenden Punkte sind juristische Zweifel erlaubt. Nach Schoch ist das Recht „Zeichen des Geistes”59). „Die Kirche braucht eine zeichenhafte Ordnung”60). Diese „Kirchenrecht” betitelte Ordnung „zeugt zeichenhaft für den Sinn des Rechts”61). Liest man dazu den zusammenfassenden Satz,

„Ist zwar die Kirche heilsnotwendig, so sind es doch nicht die Satzungen, so ist es doch nicht der Rechtsgehorsam”62),

dann wird man mit dem Autor insoweit einig gehen, daß ein solcherweise verstandenes Kirchen„recht” der Jurisprudenz „eine Verlegenheit” — zwar nicht „ist” aber — schafft63). Hier gerät der Normcharakter ins Wanken, und die dem Recht eignende Verbindlichkeit ist vollends aufgehoben64).

Das Unscharfe, fast Fließende, des aufgezeigten Kirchenrechtsbegriffes ergibt sich unausbleiblich als Folge dessen, daß Schoch aus seiner Sicht dem Recht im Verhältnis zur Kirche nur eine „figurale” Bedeutung zugestehen kann. Für ihn verhält sich „das Kirchenrecht zum Recht gemeinhin wie die sakramentale Wirklichkeit zur Wirklichkeit überhaupt”65). „Rechtsordnung und Ecclesia stehen in einer figuralen Beziehung zueinander, so daß jene diese abbildend andeutet.”66)


51) a.a.O., S. 78; vgl. S. 16: „Heute gilt es für verpönt, der christlichen Glaubensgemeinschaft Unsichtbarkeit zuzusprechen.”
52) a.a.O., S. 38-46; S. 163-165: „Die Gemeinde ist die Erscheinungsweise der Ecclesia” (S. 161).
53) Schoch, KR, S. 185-187, wiewohl Schoch das Theokratische in Calvins Schau ablehnt, vgl. a.a.O., S. 64/65, 103-106: „Die unmittelbare rechtliche Gottesherrschaft in der Geschichte der Gemeinde hat sich als illusionäre Fehlleistung entpuppt” (S. 65).
54) a.a.O., S. 97-99.
55) a.a.O., S. 99-101, 187.
56) z.B. a.a.O., S. 187.
57) „Daher wird das Kirchenrecht besser als mit dem Ausdruck Freiwilligkeitsordnung mit dem träferen Bekenntnisordnung bezeichnet” (a.a.O., S. 113).
58) a.a.O., S. 185 und 187, vgl. die Begriffsunterteilungen S. 13.
59) a.a.O., S. 187.
60) a.a.O., S. 185.
61) a.a.O., S. 112.
62) a.a.O., S. 186.
63) Vgl. a.a.O., S. 111/112.
64) Obwohl Schoch am Eingang Begriffsdefinitionen von „Recht” und „Gesetz” vornimmt und feststellt: „Das Recht ist ein Gegenstand der juristischen Wissenschaft” (vgl. a.a.O., S. 10).
65) Schoch, KR, S. 111.
66) a.a.O., S. 79.

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Von der Auffassung des Rechts als „Es”-bezogener Norm her wäre man versucht, in der figuralen Entsprechung67) die Möglichkeit der Begründung eines Kirchenrechts zu sehen, um so mehr, da gefordert wird, daß das Kirchenrecht, als zur äußeren Gestalt der Kirche gehörig, das Gepräge ihres inneren Wesens aufweisen68) und somit „figura” der „einen” Kirche sein solle. Indes! Gerade an dieser entscheidenden Nahtstelle liegt zugleich das empfindlichste Stück der Beweisführung. Ohne Einschränkung stellt Schoch prägnant fest: „In der Figur ist immer das Eigentliche noch gespart, noch nicht gegeben.”69) Alles Kirchenrecht kann „Kirche” in theologischem Sinne nicht erreichen70). Die Realpräsenz Christi in Seiner Kirche ergreift das Kirchenrecht nicht. Die Transparenz Christi71! im Leben des Menschen bedingt eine nur Rechts-transparente Kirchen „Ordnung”.

i) Weitere Grundlagenaspekte

Außer in Werken, die sich ausdrücklich der Frage der Begründung des evangelischen Kirchenrechts widmen, treffen wir Ansichten und Bemerkungen zu dieser Frage vielerorts in Untersuchungen an, die vom Wesen und Wirken der Kirche oder von der Eigenart des Rechtes zum Kirchenrecht vorstoßen. Dabei kommt es aus beiden Richtungen sowohl zu theologischen als auch juristischen Betrachtungen.

Eine gewisse Unterscheidung erlaubt das jeweilige Kirchenverständnis. Jedoch ist ein starres Gegenüberstellen von „lutherischer” und „reformierter” Auffassung nicht möglich; die aufgewiesenen Ansätze berühren und überschneiden sich.

Auf reformierter Seite finden wir die Vorstellung der Zeichenordnung, ähnlich wie bei Schoch, bei de Quervain:

„Das Neue Testament kennt eine Ordnung der Gemeinde Christi auf Erden, eine zeichenhafte, dem Glauben entsprechende Ordnung.”72)

Die Schwierigkeit, wenigstens eine angenäherte Anwendung der Rechtskriterien Rechtsverbindlichkeit und -Sicherheit auf diese zeichenhafte Ordnung vorzunehmen, wird deutlich, wenn de Quervain in einem völlig anderen Zusammenhang die reformierte Auffassung zum Recht präzisiert, in der die Dynamis der „ecclesia semper reformanda” Wort für Wort fühlbar ist: Der Kirche ist es nicht möglich, „eine bestimmte Ordnung als unverletzbar zu bezeichnen”73).

Immerhin zeichnet sich ab, daß die reformiert als „Gemeinde” verstandene Kirche einer juristischen Erfassung angenähert werden kann. Otto Weber erklärt, daß die „Kirche” vor den Gläubigen da sei74), sie sei eine


67) Vgl. a.a.O., S. 79-82.
68) a.a.O., S. 187.
69) a.a.O., S. 81/82.
70) Vgl. a.a.O., S. 105: „Die Ordnung der Welt ist Gottes Ordnung nur als Figur der Ordnung Jesu Christi, des Corpus Christi mysticum.”
71) Vgl. a.a.O., S. 81.
72) de Quervain, Kirche, Volk, Staat, S. 158.
73) de Quervain, FAZ 17. 3. 1954, S. 3.
74) Otto Weber, Vers. Gemeinde, S. 55.

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theologisch vor-geordnete Größe75). In seiner Auffassung, das Zusammenkommen in der Gemeinde sei wesensmäßige „Lebens”betätigung der Kirche76), sei also „substantiell”77), werden Umrisse des „Grundes” evangelischen Kirchenrechts sichtbar.

Reformiert beeinflußt ist Heinemanns Ansicht vom „Recht”78). Bei ihm erscheint das Recht nicht als „starre Größe”79), vielmehr als „ein Stück der Notordnung, mit der Gottes Geduld unseren Weg begleitet”80). Es liegt nahe, zu erwägen, ob nach dieser Version das Kirchenrecht, ohne daß seine „Rechts”qualifikation Schaden erlitte, nicht als ein anderes Stück derselben Notordnung angesehen werden könne. Der Herkunft nach stände diese Teilnotordnung dem (staatlichen) Notrecht in der lutherischen Kirchenrechtsentwicklung diametral gegenüber und fände Parallelen in Luthers Zwei-Regimenten-Lehre. Verstärkt noch wird die Annahme, hier das Kirchenrecht als eine „Rechtsordnung” verstanden zu finden, durch Heinemanns Satz: „Indem Gott nicht nur Staat und Rechtsordnung unter uns will, sondern indem er eine Rechtsordnung auch zwischen sich und uns setzt, erweist er die höchste Geduld mit der Welt.”81) Wo anders soll die Rechtsordnung, die Gott außerhalb von Staat und Recht zwischen sich und den Menschen setzt, gefunden werden als „in der Kirche”? —

Die lutherischen Überlegungen zu den Grundlagen des Kirchenrechts führen auf irgendeine Weise schließlich immer zum Amt. Das „Amt” erscheint als Grund der Möglichkeit, als Ansatz und Mittelpunkt der Ordnung und Rechtsbildung der Kirche82). Unter Zugrundelegung der Confessio Augustana als einer Art „Legalordnung” glaubt man aus der Reihenfolge der Artikel V, VI und VII gewissermaßen auf eine Vorordnung des Amtes schließen zu dürfen88). Das heraklitische Kirchenverständnis des Luthertums entzieht aber die eigentliche „Kirche” dem „Recht”. Wenn „die Kirche als Ganzheit das Predigtamt als Funktion aus sich setzt”84) und das geistliche „Amt” mithin als ein „Organ” auftritt85), bleibt darin die Frage nach dem Boden des Kirchenrechts immer offen, weil die Begründung an ein Abgeleitetes anknüpft, ohne die Beziehung zu dem, von dem abgeleitet wird — der „Kirche” — herstellen zu können86).


75) Otto Weber, a.a.O., S. 47, Weber schreibt „vorgeordnete Größe”.
76) Otto Weber, a.a.O., S. 36.
77) Otto Weber, a.a.O., S. 37, vgl. oben S.
78) Abgehandelt in einem Vortrag auf dem Leipziger Kirchentag 1954, „Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb”, veröffentlicht in ,Stimme der Gemeinde’ 1954, Sp. 385-390.
79) Heinemann, a.a.O., Sp. 386.
80) a.a.O., Sp. 385.
81) a.a.O., Sp. 388.
82) Brunstäd, Die Kirche und ihr Recht 1935, S. 26.
83) a.a.O., S. 9.
84) Oeschey, Fragen der Kirchenordnung, S. 197.
85) wie es Kahl schon 1906 aufgezeigt hat: „Alle können den Dienst am Evangelium versehen, soweit allein die innerliche Befähigung im Verhältnis zu Gott infrage kommt. Aber nicht alle sollen es tun. Die Ordnung fordert Bestellung eines ständigen Organs, in welchem das allgemeine Priestertum zu geregelter Ausführung kommt. Dieses Organ ist das geistliche Amt.” (System d. Rechtswissensoh. in: Kultur d. Gegenwart 1906, S. 265.)
86) Sehr deutlich, wenn Maurer in diesen Tagen erneut feststellt: „Auch in der Zuordnung zum Amt bleibt die congregatio sanctorum eine rechtsfreie, rein geistliche Größe” (ZEK, Bd. 4, Dezember 1955, S. 347).

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Das Offene kommt zum Ausdruck in der Feststellung, daß das Recht für die Kirche nicht konstitutive Bedeutung87) habe. Bultmann, die Gefahr der fehlenden Begründung des Kirchenrechts klar erkennend, trifft eine andere Unterscheidung. Er sieht im Recht eine konstituierende und eine regulierende Kraft88). Die Kirche benötigt das regulierende Element im Recht, hingegen steht die rechtliche „Konstitution” mit dem Selbstverständnis der Ecclesia in Widerspruch89).

In einer theologischen Betrachtung zum „Recht” stellt Dibelius die beiden „Wahrheiten”, „Liebe und Gerechtigkeit Gottes”, als „ewige Grundlagen für ein echtes Recht” heraus90). Der Dekalog erscheint zwar als „Maßstab für die Gesetzgebung und Handhabung des Rechts”91), aber das konkrete Recht läßt sich aus den „großen Weisungen” der Hl. Schrift nicht unmittelbar entwickeln, ebensowenig, wie man aus ihnen „auch nur eine Anweisung für richtige Kirchenverfassung entnehmen kann”92). Es gibt nach Dibelius überhaupt keine „richtige” Kirchenverfassung, sondern lediglich mancherlei „rechte” Kirchenverfassungen93). Der Zusammenhang in der Gedankenführung bei Dibelius scheint zu erlauben, den Terminus „Verfassung” zu verallgemeinern und (trotz der unschönen sprachlichen Form) zu sagen: die Kirche besitzt jeweils nur „rechtes” Kirchenrecht. Diese feine Grenze zwecks Abscheidung des Rechtsnormativen aus dem Kirchen„recht” verdient Beachtung, wenn Dibelius an anderen Stellen die Bedeutung des Stiftungsgedankens für ein evangelisches Kirchenrecht hervorgehoben hat94). —

Schließlich sei als einer der jüngsten Versuche des Herantastens an den „Grund” evangelischen Kirchenrechts nochmals eine reformierte Ansicht erwähnt. Die vorhin gefundene allgemeine Aussage über das presbyteriane Recht der Reformierten, als eines Rechtes „in der Gemeinde”, enthält die Einsicht, daß bei aller Begrifflichkeit der Kirche als „Gemeinde”, sei sie theologisch congregatio oder communio, gar societas (Calvin), diese dennoch nicht völlig juristisch ansprechbar werde. Jede theologische Stimme, die nun etwas über die Struktur der „Gemeinde” sagt, berührt hier also den Kern des Ganzen. Die neuerdings vorgebrachte Meinung95) geht nun dahin, der „Zustand” der Kirche — ein Novum96) — sei dadurch


87) Brunstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 19.
88) Bultmann, Theologie des NT, Tübingen 1951, S. 440-446.
89) Bemerkenswert ist, daß Dombois (Glaube, Recht, Europa, S. 134) und Schoch (KR, S. 33, Anm. 20) in der Auslegung dieser Stelle der Theologie Bultmanns (NT § 51) zu genau entgegengesetzten Ergebnissen gelangen!
90) Otto Dibelius, Vom ewigen Recht, Berlin 1950, S. 30.
91) Dibelius ebendort.
92) a.a.O., S. 31.
93) Ebendort.
94) Vgl. Reiche, KR, S. 362: „Wenn auch in neuerer Zeit dem Stiftungsgedanken (Otto Dibelius) auch in der evangelischen Kirche ein breiterer Raum eingeräumt wurde, so ist damit jedoch nicht der Gedanke unmittelbar rechtssetzender Wirkung des Stiftungswillens verbunden.”
95) Weerda in dem schon zitierten Werk „Wilhelm Zepper u. d. Anfänge ref. KRwissensch. in Deutschland”, 1955, ZEK, Bd. 4, S. 265-291. Nicht völlig klar wird, ob der Autor nur Zepper interpretiert oder dessen fortgeführte Gedanken als die heute zu erreichende reformierte Grundhaltung behaupten will.
96) Das Erfassen der „Kirche” als „Zustand” ist sicherlich ein Novum im Rahmen der gängigen theologischen Auffassung von der Kirche als „Werden”, als „Geschehen”. Jedoch sind die starken Einschränkungen dieser Art Erfassung gebührend zu beachten. — Vgl. dazu Weerda, a.a.O., S. 273/274.

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bedingt, „daß Funktionen und Vorgänge ineinandergreifen”97). Es ist rundheraus von „Existenzfunktionen der Kirche” die Rede98). Als deren wichtigste sind doctrina und vita zu bewerten99). Wenn die Theologie — obschon in einer Einzelstimme — die „Gemeinde” als ein „geordnetes Funktionengefüge”100), als eine Art „Bündelung verschiedener Funktionen101) versteht, wird damit eine Begriffsbestimmung aufgezeigt, die in nahezu idealer Weise juristisch griffig, institutionell gelagert, gar normierbar ist. Der Begriff des Amtes als „Wahrnehmung bestimmter Funktionen”102) (eben aus dem Funktionengefüge „Gemeinde”) kann dann fast schon ebenso ein juristischer wie ein theologischer sein103).

Eine „goldene Brücke” zur juristischen Begründung mindestens des reformierten Kirchenrechts als des Rechtes einer Funktionengesamtheit scheint sich aufzubauen. In strafferer Formulierung wäre es wohl das Recht einer Funktionen „gemeinde”, doch muß die dann entscheidende Frage, ob diese zumeist genossenschaftlich oder anstaltlich gelagert sei, an Hand des theologisch Ausgewiesenen offen bleiben. Aber gerade an dem Orte, wo die Begründung greifbar wird, zögert man, die Brücke zu betreten. Stutzig macht, daß der Inhaber eines Gemeindeamtes als „Funktionsträger” bezeichnet wird104). Formellrechtlich ist dagegen, weil das Amt Funktionenwahrnehmung bedeuten soll, wenig einzuwenden. Aber wie weit ist es vom Funktionsträger zum „Funktionär”? Der Pfarrer, der Presbyter, der Diakon — hinfort „Funktionäre”?

Der Einfluß (gar das Übergewicht?) der täglich fortschreitenden Funktionalisierung des öffentlichen Lebens wird im Bereiche der Kirche spürbar105). Die Brücke könnte — was sein Erbauer zweifelsohne nicht beabsichtigt hat — zur modernsten Form der Säkularisierung evangelischen Kirchenrechts führen. Die juristische Konsequenz, die der Begriff „Funktionsträger” nach sich zieht, erlaubt, übertrieben ausgemalt, das Bild: Nicht genug damit, daß der mit Hilfe der Technik übermächtige Staat das Individuum zum Funktionär herabzudrücken droht, tut die Kirche noch obendrein ein solches.

 

3. Werk und Einfluß Karl Barths

Die Größe des umfassenden Werkes Karl Barths und die reiche Wirkung seiner Theologie weit über das reformierte Kirchentum hinaus zwingen


97) a.a.O., S. 274.
98) a.a.O., S. 279.
99) Daselbst, allerdings heißt es a.a.O., S. 286, „Wenn Zepper die Funktion d. Kirche der doctrina u. d. vita dienen (!) läßt . . .”
100) Mit Bezugnahme auf Calvin, a.a.O., S. 280 — „Die Kirche soll in ihren bestimmten Funktionen leben” (a.a.O., S. 291).
101) Weerda, ZEK, Bd. 4, S. 286.
102) a.a.O., S. 280.
103) Fließender ist die Darstellung von Karl Barth (Ordnung der Gemeinde, S. 30), der von „den Funktionen des Seins der Gemeinde” und einer „Verteilung der Funktionen an die verschiedenen Glieder der Gemeinde” (a.a.O., S. 35) spricht.
104) Weerda, a.a.O., S. 282. — Die bedenkliche Übersetzung des Niederländischen „Kerckendienaeren” mit „Dienstträger" (a.a.O., S. 277/78) liegt auf der gleichen Linie.
105) Vgl. Karl Korn, Der kleine Antichrist (Buchbesprechung zu Max Bense), FAZ 1956, Nr. 30, Feuilleton Sp. 3: „Die Christen schlafen geistig und machen um so eifriger in Organisation und Funktionärstum.”

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die vorliegende Untersuchung, zu überlegen, wo sein Gedankengut zu behandeln sei. Der nachhaltige Einfluß seines Wirkens auf die Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht räumt ihm darin für die letzten dreißig Jahre einen ähnlichen Platz wie Sohm ein. Wie zuvor mehrfach erwähnt, hat Barths Theologie viele der soeben abgehandelten Grundlagenversuche evangelischen Kirchenrechts befruchtet oder gar ausgelöst.

Wenn wir uns dennoch dazu Verstehen, erst jetzt auf das gewaltige Gedankenwerk des Baseler Theologen einzugehen, geschieht es aus zwei Gründen.

Barth hat zwar in der Vergangenheit sich im Zusammenhang zu Recht und zu Staat geäußert1). Was das „Kirchen”recht anbetrifft, erfolgten seit dem „Römer-Brief” wohl Anknüpfungen und Betrachtungen, doch blieben sie bislang in seine Dogmatik — fast sporadisch — eingestreut. Gerade in diesen Tagen gibt Barth in der „Lehre von der Versöhnung” („Kirchl. Dogmatik” IV, 2) eine umfassende Darstellung zum Kirchenrecht2), die wir, ohne der noch ausstehenden Diskussion vorzugreifen, „seine” Grundlegung des Kirchenrechts nennen dürfen. Um so mehr aber fühlen wir uns gehalten, erst an dieser Stelle auf Barth einzugehen, wenn schon jetzt in gewissen theologischen Kreisen die „Kirchl. Dogmatik” IV, 2 als die „causa finalis”3) seines ganzen Lebenswerkes gewertet wird!

Doch nicht allein der chronologische Grund entscheidet über den Aufbau. Nicht minder gebietet ihn die wissenschaftliche Rücksichtnahme, weil keiner der soeben besprochenen, an der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion beteiligten Autoren schon die Möglichkeit hatte, die entscheidende Stellungnahme Barths in seine Betrachtungen einzubeziehen.

a) Barths Theologie

Die Darstellung des Kirchenrechts bei Barth erspart nicht, will sie nicht oberflächlich und einseitig bleiben, zuvor das Besondere seiner Theologie aufzuzeigen, die die Grundlage seiner vor allem in der „Dogmatik” vorgenommenen Weltschau bildet. Mit dem kurzen Hinweis allein, sie sei „christozentrisch”4) oder „christologisch”, ist es in der Materie des evangelischen Kirchenrechts nicht getan.

Ausgangspunkt der Theologie Barths ist Kierkegaards (1813-1855) — anläßlich der hundertjährigen Wiederkehr seines Todestages im Übermaß bemühte — Gedanke von dem „unendlichen qualitativen Unterschied” zwischen Gott und Mensch. Diese „Unendlichkeit des Unterschiedes” ist schon immer eine (dies sehr wichtig für das Wesen des Rechts) Grenzsituation, wie sie Marcuses zusammenfassendes Urteil deutlich macht, daß


1) Abgesehen von der „Kirchl. Dogmatik” vor allem in „Rechtfertigung u. Recht” (Eine Schweizer Stimme, S. 13-57).
2) Karl Barth, KD IV, 2, S. 765-824, als Sonderdruck unter dem Titel „Die Ordnung der Gemeinde” publiziert; im Folgenden wird bezüglich dieses Werkes der Sonderdruck zitiert.
3) Gollwitzer, Ev. Literaturbeobachter 1955, S. 397.
4) Zu „Christozentrismus” vgl. Barth, ,Barmen’ in: „Bekennende Kirche”, S. 13.

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„der große dänische Protestant Kierkegaard immer wieder fragte: wie kann man glauben?, immer wieder Versicherte: es gibt nur ein sinnvolles Ziel, nämlich zum Glauben kommen!, immer wieder verzweifelt bekannte: ich kenne dieses Ziel, aber ich kann es nicht erreichen . . .”5).

Doch findet sich der Hinweis auf den Einfluß Kierkegaards auf Barth6) durch ihn selbst beschränkt, der sich in einen vielfältigen geschichtlichen Zusammenhang gestellt weiß. Er nennt7) — neben Kierkegaard — Schleiermacher, Ritschl, Troeltsch, Blumhardt, Hermann Kutter und für seine Gegenwart Eduard Thurneysen und Friedrich Gogarten. Wichtig dann seine Einsicht in die Stellung zu seinem theologischen Antipoden Schleiermacher:

„Kein Mensch kann heute sagen, ob wir ihn wirklich schon überwunden haben, oder ob wir nicht bei allem nun allerdings laut und grundsätzlich gewordenen Protest gegen ihn noch immer im Tiefsten Kinder seines Jahrhunderts sind”8).

Mit einer bis ins Letzte reichenden Logik und Konsequenz9) treibt Barths Dogmatik den unendlichen Unterschied vor zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Erschaffer und Geschaffenem. Absolut ist nur Gott, der sich in seinem „Wort” geoffenbart hat. Gott aber kann nur durch Gott erkannt werden10). Gegenüber der Unbedingtheit des in der Hl. Schrift bezeugten Jesus Christus als Haupt und Herr seiner Gemeinde11) ist alles Geschöpfliche, in engerem Sinne alles Menschliche, bedingt. Alles Geschaffene ist nicht Gott und „existiert” daher nur in seiner Bezogenheit auf „Ihn”12). Jedes „Geschöpf” besteht nicht „aus sich” oder ,,in sich”, sondern nur vermöge seiner (in der „Schrift” dem Gläubigen erkennbaren) Bezüglichkeit auf Christus den Gottessohn13). Die Natur als das Zuständliche leitet sich ab von dem Offenbarungsgeschehen, von Gott als dem fortwährenden Ereignis. Jeder gegebene Zustand ist somit bestimmt durch die „Ereignishaftigkeit” Christi14), ist . . . das für eine juristische Untersuchung so gefährliche und leicht irreführende Wort sei gestattet . . . „relativ”. Das Relative stammt aus dem Absoluten, aus Gott15).

Auf diese Weise erscheint Barth als der „Wiedererwecker der absoluten Unbedingtheit Gottes”16). In seiner Theologie erreicht kein (in a-juristischem Sinne) Dinge eigenen „Wert”. Eigenwert hat nur der sich in


5) Ludwig Marcuse, „Heinrich Heine”. Ein Leben zwischen Gestern und Morgen. Hamburg 1951, S. 103.
6) z.B. v. Aster, Geschichte der Philosophie, S. 398; v. Balthasar, „Karl Barth”, S. 181.
7) In einem Brief vom 7. 7. 1922 an Pfarrer Hesse-Goemann, abgedruckt im Sonntagsblatt für ev.-ref. Gemeinden, 1956, No. 19, S. 2 u. 3.
8) Entnommen bei Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 647.
9) In diesem Punkt beschränkt Barth sich selbst, indem er darauf hinweist, daß die Dogmatik an gewissen Stellen „um der Sache willen logisch inkonsequent sein müsse” (Credo, 1935, S. 36).
10) Barth, KD II, 1, S. 47.
11) Barth, Ordnung d. Gemeinde, S. 52.
12) Vgl. v. Balthasar, „Karl Barth”, S. 182. — Johann Siering, „Zum 70. Geburtstage Karl Barths”: „Es ist die Fundamentalerkenntnis seines ganzen Lebens u. Denkens, die er selbst immer wieder in den so freilich nur für Theologen ohne Erläuterung verstehbaren Satz kleidet: Gott ist Gott.” (FAZ, 1956, Nr. 108, S. 6.)
13) Vgl. Barth, KD III, 3, S. 170-174, 189-191.
14) Vgl. Barth, Ordnung d. Gemeinde, S. 5, 41, 53.
15) Vgl. v. Balthasar, a.a.O., S. 183.
16) Selle, Moderne Wandlung im Gottesbegriff, S. 56.

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seinem Sohne den Menschen offenbarende Gott. Lediglich im Hinblick darauf besitzt jedes Ding seinen „Wert”.

Das System der Barthschen Theologie besteht in einem vereinseitigten Ausrichten aller Dinge, allen menschlichen Tuns, überhaupt aller Naturzustände, auf das Eine „Geschehen”, auf Christus. An Ihm ist alles zu orientieren. Alle Abläufe im Kosmos, dazu (und darin) alles menschliche Handeln und Denken weisen dieselbe „Mitte” auf17). Zu einer Wertung, zu einer „Aussage über” das den Menschen Umgebende, sei es erkennbar oder nicht, gelangt man nach Barth nur, indem man es „in Beziehung setzt” zu jener Mitte, es bezieht auf Christus, das Haupt und den Herrn Seiner Gemeinde.

Für die Kirchenrechtsproblematik liegt erhebliche Bedeutung in der Einsicht, daß es Barth immer um ein „Ausrichten auf . . .” — wir unterdrücken das „Etwas”, um nicht sogleich mit seinen Ausführungen in Widerspruch zu geraten18) — zu tun ist. Ein Einordnen, Zuordnen oder Nebenordnen liegt nicht vor. Wo in bezug auf Christus als dem primär handelnden Subjekt Seiner Gemeinde vom „Axiom” die Rede ist19), erlangt es nie die Bedeutung eines „Ordnungsaxioms” im Sinne katholischen Ganzheitsdenkens. Barth hat die analogia entis als die „große Truglehre”20) schroff abgelehnt und das jeweilige „Und” in aller katholischen Synthese als „teuflisch” empfunden21).

Barths „christologische” Betrachtungsweise beruht formell gewissermaßen auf einer gewollten Verkehrung des jeweils Gegebenen. Viele seiner christozentrischen Aussagen erhalten ihren tiefen Sinn aus der dem Christentum wesenseigenen Paradoxie. In der Ausrichtung auf das christliche Heilsgeschehen „ist und bleibt Gott gnädig auch in seiner Ungnade”22). Der Fluch ist zu werten nur als eine Verkehrung des Segens23). In bezug auf Christus bleibt die den Menschen immer umstrickende Sünde eine „unmögliche Möglichkeit”24).

Das Werk Barths trägt expressionistische Züge. Reformiert ist es in dem Verständnis der Kirche als „Gemeinde”, in der Betonung der activitas und in der Weltzugewandtheit, die politischen Ambitionen nicht abhold ist25). Dabei hat Barth sich im Laufe der Zeit weit von der doppelten Prädestination


17) Vgl. Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 80.
18) Barth, a.a.O., S. 37: „Die christliche Gemeinde ist aber als sein lebendiges Vermächtnis, sie ist als Leib, dessen Haupt Er ist, selber Geschichte. Die christliche Gemeinde ist kein noch so ausgezeichnetes Etwas, sie ist Ereignis.”
19) Barth, a.a.O., S. 8/9.
20) Barth, KD II, 1, S. 658.
21) Vgl. Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 532.
22) Barth fährt fort: „Und anders als durch Gnade kann auch seine Ungnade nicht als solche erkannt werden” (KD II, 2, S. 99).
23) Barth, KD III, 1, S. 212.
24) Vgl. v. Balthasar, Karl Barth, S. 200.
25) Dazu: Die Publikationen in „Eine Schweizer Stimme” (abgesehen von der Abhandlung ,Rechtfertigung und Recht’): „Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens”; die Rede zum Volkstrauertag in Wiesbaden am 14. 11. 1954. — Anhänger räumen „manche selbst für seine Freunde nicht immer leicht verständliche Kapricen des Politikers und Publizisten Barth” ein (Siering, FAZ 1956, Nr. 108, S. 6).

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Calvins entfernt26) und ist dem Determinismus ebenfalls nicht gefolgt27).

Allerdings bringt es das System der Bezüglichkeit alles Geschöpflichen auf den Schöpfer mit sich, daß die Schwelle von der Relativität zur Relativierung schnell übersprungen ist. Die Kritiker pflegen im allgemeinen nach dem Übersprung einzusetzen. Die Bezeichnungen der Theologie Barths als „Christomonismus”, „Theologie der Negation”28), „dialektische Theologie”29), gar „Verkündigungstheokratie”30), sollten darum nur mit Vorbehalt aufgegriffen werden. Zudem wird die Auseinandersetzung mit Barths Theologie dadurch behindert, daß seine Anhänger zuweilen teilweise einer als Christozentristik mißverstandenen Christozentrik anheimfallen, während die Gegenseite Barths Aussagen weithin negiert, ohne sich in eine wissenschaftliche Diskussion einzulassen31), von ausgesprochener Polemik abgesehen.

Die durch christozentrische Schau erreichte Bezüglichkeit aller Dinge führt zu einer Abwertung der „Welt”, „die doch nicht weiß, was sie weiß”32). Der Grundton ist abgestimmt auf die feste Überzeugung von der „Unvollkommenheit allen irdischen Geschehens”33). „Die Welt liegt im Argen”34). Die Geringschätzung alles Gewordenen, alles menschlichen Unterfangens durchzieht Barths Theologie mit düsterer Skepsis35). Barths Aussagen ergehen „im Wissen um die tiefe Fragwürdigkeit und Gebrechlichkeit, Vorläufigkeit und Relativität auch des Besten, was der Mensch mit seinem Wollen und Vollbringen, seinem Ja und Nein, konkret anstreben und konkret erreichen wird”36). Dieser tief eingewurzelte Pessimismus37), zuweilen einer Art Weltabscheu nicht unähnlich, scheint in komplementärem Sinne eine immer stärkere activitas, ein immer feiner profiliertes Verantwortungsbewußtsein herauszufordern, wenngleich einzuräumen ist, daß Barth in seinen letzten Werken der Dogmatik38) — die Abschwächung ist gerade für das Kirchenrecht nicht zu bagatellisieren — aus


26) Vgl. v. Balthasar, ,Karl Barth’, S. 186-190.
27) Barth, KD III, 3, S. 139-142.
28) Vgl. Iwand, JK 1953, S. 516.
29) v. Aster, Geschichte der Philosophie, S. 398.
30) Wolfgang Schweitzer, Ev. Theologie, 1952, S. 142 („baslerische Verkündigungstheokratie”).
31) Die bislang gründlichste u. sehr vornehme Darstellung der Theologie Barths liegt von kath. Seite vor, eben in dem Buche von Urs v. Balthasar.
32) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 84.
33) Barth, a.a.O., S. 58.
34) a.a.O., S. 82.
35) Die entgegengesetzte Ansicht in der Beurteilung Barths: „Barth selbst aber kann nur begriffen werden, wenn man etwas von der unbändigen Freudigkeit, von dem strahlenden Sonnenlicht aufgefangen hat, die seiner Theologie von ihren ersten Anfängen im Römerbriefkommentar bis in alle Hallen u. Schiffe d. ,Kirchl. Dogmatik’ die Töng. gegeben haben.” (Sierinq, FAZ 1956, Nr. 108, S. 6.)
36) Barth, Polit. Entscheidung i. d. Einheit d. Glaubens, S. 15.
37) Vgl. Unter Barths Einfluß Niemöller, „Der optimistische Glaube an den Menschen ist also längst als Täuschung enthüllt” (Stimme der Gemeinde, 1954, Sp. 134); weithin unabhängig von Barth ähnlich Tillich: „Das protestantische Prinzip enthält in jeder seiner Fassungen die Voraussetzung einer radikalen Negativität der menschl. Situation. Der schwierige Begriff des ,peccatum originis’ (Ursprungsverfehlung) deutet auf eine mit der menschl. Geschichte selbst gesetzte ursprüngl. Wesenswidrigkeit d. menschl. Daseins hin” (Der Protestantismus, S. 212).
38) Zu denken ist vor allem an KD III, 3; IV, 1 und 2.

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der Abgeklärtheit des Alters mit unnachahmlicher Süffisance auf alles „Geschöpfliche” blickt39).

Wenn „reformiert sein” heißt, „sich an seinen eigenen geschichtlichen Ort stellen”40), wird man das Attribut auf Barth wie auf kaum einen anderen anwenden dürfen. Seine Aussagen stellen ihn in eine Parallele zu Sartre und Camus (bedingt zu Heidegger) einerseits, zu Kelsen andererseits. So wie Sartre vermöge der Sinnlosigkeit der Existenz und Kelsen vermöge der „Reinen Rechtslehre” gelangt Barth in der Christozentrik zu einer unbegrenzten Relativität aller Werte . . .

Bestürzt halten wir inne und fragen, ob denn Barth die christologische Betrachtungsweise dahin führen wolle. Ähnlich wie für Kelsen41) ist festzustellen: offensichtlich nicht42). Das Mittel der Christozentrik soll eine genaue Grenzziehung ermöglichen, um den Menschen um so näher an das Heilsgeschehen in Christus heranzuführen43), der „nach der Hl. Schrift der mitten in der Weltgeschichte in seiner besonderen Geschichte Existierende” ist44).

Also betrachtet, läßt sich die Überlegung nicht unterdrücken, inwieweit Barths Theologie statt einer weithin angenommenen ,analogia relationis’ nicht eine ,analogia irrelationis’ darbiete, derart, daß alle Dinge ihren ,Platz’, ihren ,Ort’ im Kosmos haben, „in relatione” stehen, weil jedes Geschöpf „gehalten” wird in der Irrelation, die der Glaube (ohne den allerdings ist bei Barth nicht auszukommen) setzt zwischen allem Geschöpflichen und „Dem, der keinem gleicht”45).

Es geht Barth um den Menschen46), um seine Hinführung zu dem Heil in Christo. Eine „Relativierung” aller Werte führt nicht dahin, wohl aber die Irrelationierung aller „natürlichen” geschöpflichen Maßstäbe, Geltungen und Wertungen durch das Mensch-„Werden” Gottes.

In Barths Theologie lebt trotz aller Skepsis das urchristliche Bemühen, sich dem „Geringsten der Brüder” zuzuwenden. Wir spüren etwas von dem christlichen Affront gegen alles jeweils Bestehende, gegen alles Zuständliche. Barth umschreibt die Gemeinde als „eine stille Verschwörung”, deren Anonymität in der von Gott abgefallenen Welt nur ab und zu unterbrochen wird47), als die still Verschworenen in der Zerstreuung48). Dieses chiliastische Element läßt sich nicht zu einer „Opposition um jeden Preis” vergröbern. Vielmehr ist zu sagen, daß sich Barths Theologie immer derer


39) Ähnl. Ansicht äußert schon v. Balthasar, obwohl er gerade KD IV, 2 noch nicht berücksichtigen konnte. „Und wenn die späteren Schriften im Wohlwollen d. Alters immer freudiger den Blick auch auf den geschaffenen Dingen ruhen lassen, dann ist es ein Blick mit Gott zusammen, dessen Auge d. Dinge schöpferisch ansieht und im Schauen zu dem macht, was sie für Gott sein sollen” (,K-Barth’, S. 182, Unterstreichungen hinzugefügt).
40) Herrenbrück, Bezirksbruderbrief 1953, Nr. 19, S. 25.
41) Vgl. oben S. . . .
42) Barth wendet sich darum auch immer wieder gegen das Mißverständnis, gegen den Vorwurf des „Relativismus”, vgl. Ordnung der Gemeinde, S. 72, 73.
43) Vgl. Barth, Credo, S. 80-85.
44) Barth. Ordnung der Gemeinde, S. 36.
45) Unter Zugrundelegung einer „irrelatio” ist es möglich, die Heilsgeschichte „zweidimensional” zu verstehen (KD IV, 2, S. 870 ff).
46) Vgl. Barth, Christengemeinde u. Bürgergemeinde, 1946, S. 22/23.
47) Barth, Ordnung und Gemeinde, S. 38.
48) a.a.O., S. 40.

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annimmt, „so im Schatten stehen”. Dort sucht sie den „Bruder” Mensch49)! Verständlich also, wenn in der „Kirchlichen Dogmatik” (IV, 2) eine Reduktion der christlichen ἀγάπη50) zur Bruderliebe erfolgt51).

An diesem Punkte hat die Frage nach dem „Recht” bei Barth anzuheben. Ist es doch so, daß bei dem Außenstehenden leicht der Eindruck entsteht (der Jurist wird zugeben: vielfach entstehen muß), daß jede Anwendung des Rechts einen Unterlegenen schafft, sei es, daß dieser strafrechtlich „verurteilt” wird, sei es, daß sein Widerpart zivil- oder verwaltungsrechtlich ein obsiegendes Urteil erlangt. Es sieht so aus, als verweise das Recht immer jemand in den Schatten, wo es die Theologie drängt, sich seiner anzunehmen, wiewohl cum grano salis das Recht dem Rechtsbrecher keinen Nachteil zufügt, ihn nicht beeinträchtigt, sondern ihm nur etwas nimmt, was nicht sein „soll”, weil jener es sich anmaßte, indem er sich über dieses „Sollen” hinwegsetzte, also die Friedensordnung „brach”.

Doch ehe wir dazu übergehen, zu untersuchen, ob von hier der Christologie ein Zugang zum Recht möglich sei und welchen Rechtsbegriff wir bei Barth finden, seien abschließend zu seiner Christozentrik zwei Fragen aufgeworfen.

Steht nicht auch das von Barth seiner Theologie zugrunde gelegte System unter dem Odium des „Geschöpflichen”? —

Erfassen wir das von Barth angewandte Prinzip (auf die nicht übersehene Gefahr hin, daß er ein „Prinzip” verneint!)52) formelmäßig, dann ergibt sich, daß im Hinblick auf eine (mindestens dem Glauben) bekannte Größe A (Christus) die bestimmten Aussagen B, C, D, etc. und die unbestimmten Aussagen X, Y, Z, etc. getroffen werden. Macht es nun vom Prinzipiellen her etwas aus, d.h. ändern sich B, C, D und X, Y, Z, wenn die Stelle des A eine Fiktion einnimmt, sei sie ein Demiurg oder die Rationalität53)?

b) Das Recht bei Barth

In der Darstellung „Rechtfertigung und Recht” (1938) nimmt Barth eine umfassende Würdigung von Staat und Recht vor. Um in sein Verständnis des „Rechtes” einzudringen, ist es wichtig, davon auszugehen, daß einmal bei ihm Staat und Recht in engem Zusammenhange gesehen werden und


49) a.a.O., S. 82: „. . . daß es . . . im Blick auf jedes einzelne Glied der Gemeinde — . . . — in erster Linie schlechterdings um den Bruder geht.”
50) Die in Barths Gesamtkonzeption zwar irgendwie subsidiär bleibt, was nicht ausschließt, daß Barth viel und ausführlich die Agape behandelt.
51) Barth, KD IV, 2, S. 825-828, 853-888.
52) „Daß in Sachen . . . der Dogmatik — u. in welcher Sache nicht? — von der offenbaren Herrschaft Christi u. nicht von irgendwelchen Prinzipien her . . . gedacht . . . wird, das ist es, was semper et ubique et ab omnibus verlangt wird” (Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 72).
53) „Rationalität” auch in bewußt unchristl. Sinne (wie z.B. bei Bense in „Descartes und die Folgen”). — Die hier mit dem Hilfsmittel der Formel angedeutete Unscharfe (die „Problematik” im eigentlichen Sinne!) im Gedankengebäude Barths findet sich in den wohlabgewogenen Worten angesprochen: „Der . . . am biblischen Wort bleibende Barth weicht dennoch ganz leise vom Wort ab, wo es um Zukunft und Auferstehung des Christen geht und damit um die im Hiesigen ungelöste Differenz von Glauben und Erkennen. Er schlägt sich still auf die Seite des Erkennens und „bedarf” keines als schlichte Sukzession verstandenen Jenseits mehr. Er vertraut der Kraft des Logos . . ., auch die volle Erkenntnis Gottes in Jesus Christus schon diesseits des eigenen Kreuzes gewinnen zu können” (Siering FAZ 1956, Nr. 108, S. 6).

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zum anderen beide eben bezogen sind auf jene „Mitte”, die Christus als der Herr der Welten für alles Geschaffene einnimmt — wichtig für die juristische Überlegung, weil ohne diese Berücksichtigung verschiedene Formulierungen Barths einer ausgesprochenen rechtspositivistischen Interpretation Raum zu geben scheinen. Barth versteht auch das „Gesetz” christologisch54).

Barth löst den „Staat” aus der dem reformierten Denken traditionellen apokalyptischen Sicht gemäß Offenbarung 13 und rückt ihn stärker in das Feld paulinischer Interpretation gemäß Römer 13. Dadurch nähert er sich in gewisser Weise Luthers Auffassung vom Staate55). Barth erblickt den Staat weniger unter dem Gesichtswinkel der Möglichkeit des Machtmißbrauches denn als „Engelmacht”56). Der Staat besitzt eine legitime, relative Selbständigkeit57). In anderer, von Barth jüngst gebotener Formulierung ist er „der große menschliche Exponent der Herrschaft Christi (über die „Gemeinde” und) auch über die Welt da draußen”58). Als zu den Engelmächten gehörig, stellt der Staat „ein Werk göttlicher Anordnung”59) dar, seine Vertreter wirken als „Diener Gottes” (Römer 13, 6)60). „Insbesondere in der Existenz des Staates” wird ein selbständiger göttlicher Auftrag „wirksam und sichtbar”61). Zu einer Dämonisierung des Staates kommt es dann, wenn er sich jenem Auftrag entzieht und die ihm gebührende relative Selbständigkeit unter Verlust seiner Würde62) in eine absolute umzuwandeln bemüht. Selbst dort aber urteilt Barth vermöge der christlichen Paradoxie, daß dem sich verabsolutierenden, mythologisierenden Staat sein Mühen nichts nütze, weil er dienen muß, wo er zu herrschen wünscht und Gottes Gerechtigkeit bezeugen wird, wo er der menschlichen Ungerechtigkeit zum Siege verhelfen möchte63).

Von diesem Staat sagt nun Barth, er sei „in der Wahrheitsfrage neutral”64). Die wiederholt postulierte Wahrheitsindifferenz des Staates wirkt befremdend65), besonders dann, wenn es heißt, daß die Kirche vom Staat erwarte, „daß er Staat sei und also Recht schaffe und spreche”66). Die Argumentation über die staatliche Wahrheitsneutralität wird durch das Pilatusbeispiel nicht überzeugender. Es ist juristisch nicht unbedenklich, zu behaupten, daß Pilatus dem Unrecht „immerhin im Gewände des Rechtes” seinen Lauf ließ67), und zu erklären, „mit staatlichem Recht und


54) Gollwitzer, Wollen wir heute, S. 69.
55) Ohne deshalb hinsichtlich des „Untertan-Seins” jemals mit ihm übereinzustimmen. Deutlich z.B. in „Christengemeinde und Bürgergemeinde”, 1946, S. 12.
56) Barth, Rechtfertigung und Recht, S. 25.
57) a.a.O., S. 28.
58) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 23.
59) a.a.O., S. 22.
60) a.a.O., S. 23.
61) a.a.O., S. 76/77.
62) a.a.O., S. 26, Rechtfertigung und Recht, S. 28.
63) Rechtfertigung und Recht, ebendort.
64) a.a.O., S. 21.
65) a.a.O., S. 29; S. 41: „Der Staat als Staat weiß nichts von Geist, nichts von Liebe, nichts von Vergebung”. — Von luth. Seite ähnl. Berggrav: „Der Staat ist seinem Wesen und seinen Interessen zufolge a-moralisch, jenseits von Gut und Böse” (Der Staat u. d. Mensch, S. 12).
66) Barth, Rechtfertigung und Recht, S. 49.
67) a.a.O., S. 21.

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Rechtsprechung habe die Entscheidung des Landpflegers nichts zu tun”68), der Barrabas (Matth. 27, 17 und 26; Luk. 23, 25; Mark. 15, 15) freigibt und Jesus, „an dem er keine Schuld findet” (Joh. 18, 38; 19, 6; vgl. Luk. 23, 22), geißeln und hinrichten läßt. Selbst wenn man bei dem Vorgehen des Pilatus nur ein Gewohnheitsrecht (Matth. 27, 15; Joh. 18, 39) für gegeben hält, das die Okkupations- resp. Schutzmacht Rom anzuwenden hatte, hält es schwer, seine „rechtmäßige” Handlung anzunehmen. Soweit Pilatus aus politischen Rücksichten handelte und die ihm zu Gebote stehenden Machtmittel einsetzte, handelte er nicht nur „ungerecht”, sondern auch „unrecht”. Wenn das Problem im einzelnen juristisch auch sehr umstritten ist, spricht doch vieles dafür, daß formell nicht „rechtens” geschah, indem Pilatus die Kreuzigung duldete (eine „Duldung” war in Pilati Handeln mindestens gegeben). Aus der Handwaschung (Matth. 27, 24) ist zu entnehmen, daß Pontius Pilatus „cive Romano” wohl wußte, daß er in diesem Falle „die tadellos korrekte Haltung römischer Justiz”69) eben aufgab oder mindestens . . . umging. — Doch scheint die Überlegung, ob die Entscheidung des Pilatus formell „zu Recht” erging, nicht nur zur gemäßen Einschätzung des Rechts angebracht, auch theologisch mag die Besinnung gestattet sein, ob die Tat des Gottessohnes nicht ungleich größer dastehe, sofern er sich nach geltendem Rechte dem „Unrecht” beugte70), als wenn er die Ungerechtigkeit in der positivistischen Form des „Rechtes”71) auf sich nahm . . .

Die Kirche nun billigt dem wahrheitsneutralen Staat zu, „daß er . . . Recht schaffe und spreche”72). Während Barth hier dem Staat die Rechtsetzung zugesteht, spricht er ihn kurz vorher als „Organ des menschlichen Rechtes” an73). Die juristische Auslegung vermag hier einem Widerspruch nicht zu entgehen. Jedes „Organ” setzt einen „Körper” (Organismus) voraus, juristisch in Form einer .Körperschaft', eines Verbandes, einer juristischen Person. Der Staat qua Gebietskörperschaft — sei er gebunden an ein Höheres („Es”) oder halte er sich für „souverän” — setzt das „Recht”. Hingegen läßt sich nicht sagen, daß das Recht „Körper” sei (was der Fall sein müßte, um den Staat als sein „Organ” zu bezeichnen), vielmehr ist es seinem Wesen nach „Es”-bezogene „Ordnung”, Norm.

Bleibt mithin die Erfassung des Wesens des Rechtes offen, so ist die Betonung seiner „Es”-Beziehung um so eindeutiger. Barth nennt „das eigentliche menschliche Recht das ius unum et necessarium”74). Die göttliche Rechtfertigung bildet „das rechtliche Kontinuum”75). Vom Neuen Testament her versteht Barth die Ordnung des Staates als eine „Art da draußen in der Welt aufgerichteten Annexes und Außenpostens christlichen Gemeindelebens”76). „Auch der Staat ist von Gott”. Er übt „ein ihm


68) a.a.O., S. 23.
69) a.a.O., S. 23, Anm. IIa.
70) Zum Pilatusbeispiel, mit Bezugnahme auf „Rechtfertigung und Recht”, Wingren: „Evangelium u. Gesetz” in: „Antwort”, S. 312/313.
71) Wie auch Ellul m. Bezugnahme auf Barth vertritt, vgl. „Die theologische Begründung des Rechts”, S. 42/43.
72) Barth, Rechtfertigung und Recht, S. 49.
73) a.a.O., S. 48 unten.
74) a.a.O., S. 50.
75) Ebendort.
76) a.a.O., S. 43.

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nicht eigenes, sondern nur übertragenes Recht” aus. Er ist somit „auch nur in beschränktem Sinne Rechtssubjekt”77).

Insbesondere in diesem Falle, wo die „Es”-Beziehung des Rechtes derart profiliert hervortritt78), verpflichtet die Problematik evangelischen Kirchen„rechts”, sich darüber klarzuwerden, von welchem Rechtsbegriff Barth ausgeht.

Barth deutet „Ordnung” als Protest gegen das Chaos79). Ordnung versteht er zugleich als „Recht, d.h. richtigen Umgang mit der Sache”80). Aus dem Zusammenhang ergibt sich hier zwar, daß unter „Sache” „die wesensnotwendige Form” der Gemeinde, die „Bestimmtheit der ihr eigentümlichen Verhältnisse und Beziehungen” verstanden wird81). An anderer Stelle jedoch wird die „Sach”-Gebundenheit des Rechtes eindeutig: „Weltliches Recht sieht den Menschen in lauter sachlichen Beziehungen”82). Diese Verdinglichung des „Rechtes” mutet juristisch eigenartig an83), um so mehr, als die heute zweifellos bedenklich fortschreitende Überlagerung des öffentlichen Lebens mit Rechtskodifikationen sich doch vornehmlich in öffentliches (vor allem Verwaltungs-) Recht niederschlägt und darin sowohl als erst recht im Zivilrecht das „Sachenrecht" nur einen kleinen Raum einnimmt. Das „Recht” ist eine Ordnung menschlichen Verhaltens und menschlichen Zusammenlebens. Jedes zivilrechtliche „Rechtsverhältnis” enthält die durch Rechtsnormen geschaffenen Beziehungen zwischen Personen und Personen oder Sachen; in jedem öffentlich-rechtlichen „Rechtsverhältnis” sind die rechtlich geregelten Beziehungen zwischen einem Hoheitsträger und Personen(gegebenenfalls als Fiktion) oder Sachen angesprochen84). Eine Verkürzung des Rechtsbegriffes auf eine „Nur-Sachherrschaft”, auf eine Art Gewererecht, zeichnet sich im Rechtsleben nicht ab.

c) Das Kirchenrecht bei Barth

Den dinglich verkürzten Rechtsbegriff wird man nicht ganz aus den Augen verlieren dürfen, wenn Barth sich mit der „Ordnung der Gemeinde” befaßt und sie unzweideutig als Kirchen„recht” anspricht. Ohne Umschweife und Vorbehalte ist bei Barth von Kirchen„recht” die Rede. Das Kirchenrecht definiert er


77) Zu den drei Zitaten: Ordnung der Gemeinde, S. 26.
78) Simon schreibt zu Barths Stellung zum Recht: „Barth geht entscheidend von „vorn”, von der in der neuen Schöpfung gültigen Gerechtigkeit aus. . . . Wird uns nicht vom künftigen Äon als der wirkl. Polis unter d. Herrschaft Christi berichtet? Sollten sich nicht daraus sogar tiefere ontische Zusammenhänge ergeben? Der Modus solcher Zusammenhänge ist noch nicht ganz durchsichtig, ihre Tragweite mehr geahnt als gewußt” (Die kritische Frage Karl Barths, S. 353/354).
79) Barth, Ordnung und Gemeinde, S. 6.
80) Daselbst.
81) Daselbst; a.a.O., S. 11: „Die ,Sache’, um die es da geht, ist die vorläufige Darstellung der in Jesus Christus geheiligten Menschheit.”
82) a.a.O., S. 82.
83) Es sei denn, Barth meine, im Recht herrsche das Prinzip der Sachlichkeit in der Wertung vor; aber wie kann man die Objektivität der Jurisprudenz zum Vorwurf machen?
84) Vgl. Forsthoff zum „Recht der öffentlichen Sachen” (Lehrb. d. Verwaltungsrechts, Bd. 1, 4. Aufl., S. 288-307).

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„als das jeweilig erkannte und aufgerichtete Recht dieser Kirche zu dieser Zeit”1).

Er zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen Kirchenrecht und staatlichem Recht2), zu dem er auch das „Staatskirchenrecht” zählt. Mithin kann „Staatskirchenrecht nie Kirchenrecht werden”3). Das Kirchenrecht „muß sich selbst in aller Strenge als ius humanum verstehen”4). Das Kirchenrecht soll „ohne Ziererei auch in juristischer Form und Genauigkeit bestehen”5)!

Nach Barth gibt es kein „allgemeines Kirchenrecht”6). Es kann und muß sich verschieden entfalten. Das „Recht” der „Gemeinde” kann und wird „verschiedene Gestalten” bekommen7). Ganz gleich aber, in welcher Erscheinungsform, hält Barth in allem Kirchenrecht wesensmäßig vier Voraussetzungen für gegeben:
— Kirchenrecht ist Dienst,,recht”. Es bedeutet „Recht” im Rahmen einer Dienstordnung8). Die Dienstbestimmung des Kirchenrechts ist eindeutig9), total10) und universal11).
— Kirchenrecht ist liturgisches „Recht”12). Die „Gemeinde” hat ihre „distinkte Mitte” im Gottesdienst13). „Das Kirchenrecht hat in ihm seinen ursprünglichen Sitz”14). Gesehen als liturgisches Recht, erweist es sich als das „Recht” einer Bekenntnis-, Tauf-, Abendmahls- und Gebetsgemeinschaft15).
— Kirchenrecht ist lebendiges „Recht”16).
— Kirchenrecht ist vorbildliches „Recht”17).

Im ersten großen Überblick hat es den Anschein, besonders angesichts verschiedener Hinweise auf das Juristische18), als bejahe Barth rückhaltlos das Kirchen„recht”. In Anknüpfung an den christologischen Aspekt seiner Dogmatik ergibt sich daraufhin die Frage, wie weit in näherer Untersuchung erlaubt sei, das, was Barth wiederholt „rechtes Kirchenrecht”19) nennt, juristisch zu verstehen.


1) Barth, Ordnung d. Gemeinde, S. 83.
2) Geschehen schon in „Rechtfertigung u. Recht”, vgl. S. 15 u. Anm. 6, sowie S. 41/42. „Kirchenrecht nennt man diese Sache", S. 42.
3) Ordnung d. Gemeinde, S. 24, ähnlich vertreten von Erik Wolf, Rechtsgedanke, S. 83.
4) Ordnung d. Gemeinde, S. 64.
5) a.a.O., S. 61.
6) a.a.O., S. 27.
7) a.a.O., S. 70.
8) a.a.O., S. 27.
9) a.a.O., S. 28.
10) a.a.O., S. 30.
11) a.a.O., S. 32.
12) a.a.O., S. 35 ff.
13) a.a.O., S. 39.
14) a.a.O., S. 35.
15) dazu a.a.O., S. 43-52.
16) a.a.O., S. 59 ff.
17) a.a.O., S. 73 ff.
18) Barth, a.a.O., S. 62/63.
19) Vgl. a.a.O., S. 29, 31, 34, 54. 56.

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aa) „Gemeinde”

Bei der von Barth überwiegend als „Gemeinde” angesprochenen Kirche — mögen auch die Termini weithin synonym verstanden sein — haben wir es nach seinen eigenen Worten immer mit der „communio sanctorum” zu tun20).

Basis seiner Begründung des Kirchenrechts, darüber hinaus seiner gesamten Weltschau, bietet der „christologisch-ekklesiologische Begriff der Gemeinde”. Die Kirche „ist”, „indem Jesus Christus ist: der Herr der menschlichen Gemeinschaft der Heiligen”21). Den Begriff definiert Barth in hervorgehobener „umgekehrter Formulierung”:

„Sie ist die menschliche Gemeinschaft der Heiligen, in welcher als in seinem Leibe, als in seiner irdisch geschichtlichen Existenzform, Er das Haupt und der Herr ist”22).

Die Definition schließt jede polarisierte Zweiheit von ecclesia visibilis et invisibilis aus. Das Refugium der Verflüchtigung der Kirche zu einer „Geist”-, „Glaubens”- oder „Liebes”kirche bietet sie nicht23). In dieser Richtung begegnet die Formung, die juristische Ansprechbarkeit der „Kirche” keinen Schwierigkeiten.

Welche Struktur bedingt nun für die Kirche die „Hauptschaft”24) Christi? „ER befindet wie über ihren Glauben . . . so auch über die Form ihres Lebens, so auch darüber, was in ihrem ganzen Tun Ordnung und Recht” sei25). Es handelt sich um eine Gemeinschaft, „die sich selbst nicht zum Rechtssubjekt qualifiziert weiß”26). Vielmehr hat sie allezeit (theologisch, „in diesem Äon”) „strikt und ausschließlich der Mandatar Jesu Christi zu sein”27). Die juristisch auftauchende Spannung, wenn auch nicht Kontradiktion, zwischen mangelnder Rechtssubjektivität und Mandatareigenschaft vermehrt sich dadurch, daß in Barths Begriff der Gemeinde, wiewohl (und vielleicht weil) kein Rechtssubjekt, das Ineinander von primärem und sekundärem Subjekt sichtbar wird, das als Zweiheit den Doppelaspekt ecclesia visibilis et invisibilis zu streifen vermag. Primär handelndes Subjekt ist Christus als Haupt der Gemeinde; die ebenfalls handelnde Gemeinde tritt demgegenüber als sekundäres Subjekt auf28). In dem doppelten (gleichzeitigen) Subjekt drückt sich das „echte”29), das grundlegende „Verhältnis” des christologischen Gemeinde„begriffes”30) aus, wobei juristisch unter Verweisung auf das untersuchte evangelische Kirchenverständnis wiederum die Schwierigkeit vor uns steht, daß das primäre Subjekt (nicht „Teil”), dessen Eigenart „im Glauben” besteht — darin, „geglaubt zu werden”


20) a.a.O., S. 5.
21) a.a.O., S. 9.
22) Ebendort.
23) Vgl. Barth „Die lebendige Gemeinde und die freie Gnade” (1947), S. 3-18.
24) Ausdruck bei Holstein, KR, S. 288; Weerda, ZEK, Bd. 4, S. 281.
25) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 14; „sein” von Barth hier im Indikativ gebraucht.
26) a.a.O.. S. 81.
27) a.a.O., S. 65.
28) a.a.O., S. 11.
29) a.a.O., S. 8.
30) Vgl. a.a.O., S. 8 und 11.

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— der begrifflichen, ingleichen „begriffenen” Aussage zugeführt werde.

Das Bi-Subjekt-Verhältnis, dargetan durch das „Anordnen, Befehlen, Verfügen” seitens Christi31) und das jenem „sich unterordnende Verhalten der menschlichen Gemeinschaft der Heiligen”32), „konstituiert”33) bei Barth die „Gemeinde”. „Dieses Verhältnis ist ihr . . . Grundrecht”34).

bb) „Grundrecht”

Das stets aufs neue angesprochene „Grundrecht”35) bildet den Angelpunkt der Barthschen Kirchenrechtsbegründung.

Im einzelnen führt die theologische Aussage über das „Grundrecht” der Kirche zu eigenartigen Gleichsetzungen. Überwiegend beinhaltet es das Verhältnis der im Hören auf den weisenden Christus in seinem „Wort” bestehenden Weisungsgebundenheit der „Gemeinde”36). Man möchte es geradezu ein „Ver-Halten” der menschlichen Gemeinschaft „für diese Zeit” nennen, für die „Zwischenzeit” — zwischen der Asumptio und der erneuten Wiederkunft Christi.

Sodann aber setzt Barth das „Grundrecht” mit dem „Kirchenrecht”, ja, auch mit dem für die Kirche „geltenden” Recht gleich37).

An anderer Stelle erscheint als das in der christlichen Gemeinde gültige „Grundrecht” die „Bruderschaftliche Christokratie”38). Um das Einzigartige dieser Christokratie darzustellen, setzt Barth sie auf dem Wege des Vergleichs mit den Staatsformen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie betont von diesen ab39). Weil ich nur komparable Größen „Vergleichen” kann, ist zu folgern, daß mit „bruderschaftlicher Christokratie”, wenn keine Staatsform, so doch in irgendeiner Weise eine Verbandsform gemeint sei. Das „Grundrecht” wird also in diesem Falle zur Verbandsform (um den engeren Terminus „Staatsform” zu vermeiden).

Hinwiederum ist auch von dem „Ius divinum der Christokratie” die Rede40).

Wir finden somit, daß das Barths Kirchenrechtsbegründung gravierende „Grundrecht” gleichzeitig ein „Ver-Halten”, Kirchenrecht, Recht, eine Verbandsform und ius divinum darstellt. Juristisch aber handelt es sich um fünf sauber zu unterscheidende Begriffe. Die Begriffsdifferenzierung legt Barth selbst nahe, weil er mit aller Schärfe andererseits alles „Kirchenrecht” als „Ius humanum” verficht41). Es ist auf dem Wege exakter


31) a.a.O., S. 11.
32) Ebendort.
33) Ebendort, vgl. S. 52.
34) a.a.O., S. 11.
35) Vgl. a.a.O., S. 36, 37, 40, 52, 59, 64, 66, 74, 76.
36) Barth, a.a.O., vgl. S. 15.
37) a.a.O., S. 11: „Dieses Verhältnis hat sie, indem sie christliche Gemeinde ist, als „Kirchenrecht” d.h. als das in ihr als Kirche aufgerichtete und für sie geltende Recht in sich.”
38) a.a.O., S. 21.
39) Vgl. a.a.O., S. 32.
40) a.a.O., S. 64.
41) Vgl. a.a.O., S. 64, 67, 70.

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Begriffsbestimmungen unmöglich, daß das „Grundrecht” qua „bruderschaftliche Christokratie” ius divinum und qua „Kirchenrecht” ebenfalls „ius humanuni” sei. Auch die Gleichsetzung von Verbandsform und Recht („Grundrecht” als Christokratie und Recht) läßt sich juristisch nicht vollziehen. Monarchie und vergleichsweise Christokratie sind Herrschaftsformen, also Gebilde, Teile des Rechts; das Recht allgemein aber ist Ordnung.

Der Gedanke liegt nahe, daß der Zentralbegriff der Barthschen Kirchenrechtsbegründung, wiewohl unter Entlehnung eines juristischen Nomens gebildet — „Grundrecht” — rein theologisch gemeint sei und verstanden werden müsse, während ihm jede Justiziabilität mangelt. Sollte dem so sein, dann liegt in der Wortwahl — Grundrecht! — ein Verhängnis, das zur theologischen und juristischen Identifizierung des Begriffes nicht nur verleitet, sondern sie geradezu heraufbeschwört.

Wäre man nun geneigt, in dem „Grundrecht”, einmal als Verhältnis zwischen Christus, dem weisenden König der Welt, und der ihm untergeordneten Gemeinde und zum anderen als Christokratie, verstanden als besonderes Herrschaftsverhältnis (= Verbandsform), ein Vergleichbares zu erblicken, würde gerade hier die stärkste Barriere der Inkommensurabilität aufgetürmt. Jeder Verbands (Staats-) form liegt ein Zustand zugrunde, kurz: ein Tatbestand; das von Barth mit „Grundrecht” umschriebene Verhältnis aber setzt in jedem Falle ein Ereignis, ein Geschehen42) voraus! —

Die Schwierigkeit auch nur einer entfernt vorgenommenen Abstimmung zwischen dem theologischen und juristischen Verstehen des „Grundrechts” erhöht sich noch dadurch, daß die „Grundrechte” einer nicht unbestrittenen Rechtsmaterie angehören. Einteilungsmäßig muß es dahingestellt bleiben, ob Grundrechte Menschen- und Bürgerrechte umfassen43), oder immer Menschenrechte seien; zum anderen ist offen, ob Grundrechte nur Freiheitsrechte sein können44). Erblickt man in den „Grundrechten” metajuristisch ein allem positiven Recht „Vorgegebenes”45), einen Teil des Naturrechts, ein Stück des nicht normierbaren Rechtskernes, dann hat die von einem Großteil der modernen Verfassungen vorgenommene Kodifikation der Grundrechte zu einem Dilemma geführt: Das „Grundrecht” ist Verfassungsnorm geworden mit all den Einschränkungen, die der Status einer Verfassungnorm beinhaltet. Wie aber kann Nicht-Satzbares „gesatzt” sein, ohne an seinem Wesensgehalt Schaden zu nehmen?


42) Barth, a.a.O., S. 5, 39-42.
43) Wie es in den Grundrechtskatalogen der meisten Verfassungen geschieht! z.B. „Jeder hat das Recht auf . . .” (Art. 2 I, II; Art. 5 I GG. Art. 1: 5 I; 14 I—III Saarl. Verf.), andererseits „Alle Deutschen haben das Recht . . .” (Art. 8, 9, 11, 12 GG; Art. 6, 7, 9, 11 Saarl. Verf.). Vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 1951, S. 74/75.
44) Bezügl. Gleichheitssatz vgl. Ipsen, Gleichheit, S. 126-131! „Der Gleichheitssatz ist Emanation u. Instrument zur Verwirklichung d. allgem. Freiheitsrechtes u. seiner Spezifikationen im Rahmen ihrer Gesetzesvorbehalte”, a.a.O., S. 126.
45) Vgl. Giese, GG-Kommentar, Grundrechte, Vorbemerkung! Schranil, Kommentar z. Saarl. Verf., Grundrechte und Grundpflichten, Bern. 3; Maunz, a.a.O., S. 70-73.

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cc) „Kirchenrecht”

Das „Grundrecht” im Sinne Barths legt den Grund des Kirchenrechts. Dieses muß das Grundrecht respektieren46). Das Kirchenrecht „muß von seinem Ansatz her und bis hinein in alle seine Verästelungen geistliches Recht sein”47).

Weil das „Recht” aller menschlichen Gemeinschaften (einschließlich des Staates) mit dem „entscheidenden Grundrecht gerade nicht rechnet”48), „muß sich jedes geltende und jedes geplante Kirchenrecht von allem, was sonst ,Recht’ heißt, scharf und klar unterscheiden”49). Die Andersartigkeit des Kirchenrechts geht so weit, daß es in Begründung und Gestaltung ein von dem Recht sämtlicher anderen menschlichen Gemeinschaften „toto coelo verschiedenes Recht”50) darstellt. Außer in der Gemeinde entsteht es „nirgends in der Welt, formal nicht und dann auch nicht material”51).

Von der Gemeinde nun als „Bruderschaftlicher Christokratie” weiß und kann die „Welt” nach Barth nichts wissen52). Sie weiß damit auch nichts von dem „Grundrecht”. Es kann der „Gemeinde” (Kirche) in ihrer Fremdlingsherrschaft in diesem Äon”53) „etwas anderes gar nicht widerfahren”54) als stets mißverstanden, falsch interpretiert und schief analogisiert zu werden . . . Es fragt sich, ob die Rechtswissenschaft sich einer Materie annehmen könne, von der a priori sicher ist, daß sie sie niemals versteht.

Nicht einmal das Mittel der Approximation ist ihr erlaubt. Barth fragt: „Wie könnte denn erwartet werden, daß die Welt auch ein approximativ vollkommenes Kirchenrecht auch nur verstehen . . . geschweige denn ihrerseits sinnvoll handhaben werde55)?” Der Schluß liegt nahe, daß Barth ein juridisch nicht faßbares „Recht” für die Gemeinde aufzeigt.

Darauf scheinen Merkmale hinzudeuten, die die Eigenart des Kirchenrechts ausmachen und es von jedem bekannten und angewandten Recht unterscheiden. Im Kirchenrecht ist die Scheidung zwischen (den hier juristisch unklaren Termini) „Ansprüchen und Beanspruchungen, Anrechten und Pflichten undurchführbar”56). Auf die „Gemeinde”, weil kein „Etwas”, treffen die Begriffe „Stiftung”, „Anstalt” und „Institution” nicht zu57). Barth verwirft für das Kirchenrecht als „Dienstrecht” jede Möglichkeit der Rechtsdelegation und der Stellvertretung58). Weder eine Staatsverfassung noch auch das Statut des kleinsten Vereines indes sind vorstellbar ohne die (bedingtermaßen einfach nicht hinwegzudenkenden) Rechtsinstitute der Rechtsdelegation und Stellvertretung. Hinsichtlich letzterem erspart auch


46) Barth, Ordn. d. Gemeinde, S. 64.
47) a.a.O., S. 14.
48) a.a.O., S. 76.
49) a.a.O., S. 14, ähnl. S. 13.
50) a.a.O., S. 75.
51) a.a.O., S. 14.
52) a.a.O. S. 21.
53) Rechtfertigung u. Recht, S. 35.
54) Ordnung der Gemeinde, S. 22.
55) a.a.O., S. 76. Das doppelte „auch” findet sich in der vorliegenden Fassung.
56) a.a.O., S. 28.
57) a.a.O., S. 37.
58) a.a.O., S. 33.

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das „Kirchenrecht” den Widerspruch nicht ganz, weil doch die Mandatarstellung der Gemeinde expressis verbis59) bejaht wird.

Barth sieht das Kirchenrecht irgendwie als ein (am gegenwärtigen Stande gemessen) höher entwickeltes, sublimiertes Recht an, das „die kümmerliche Dialektik von Leistung und Anspruch, von Nehmen und Geben grundsätzlich hinter sich hat”60). Wie aber kann man, im Blick auf das tatsächliche Zusammenleben von „Menschen”, Rechtsnormen schaffen ohne Berücksichtigung des Grundsatzes „do ut des”?

Wenn dann „klar”61) ist, daß das Kirchenrecht „besseres und schlechteres Kirchenrecht” (was noch hingehen könnte), in anderer Version „richtigeres und weniger richtiges (!) Recht” enthalte62) und „eine allgemein verbindliche Rechtsform”63) nicht aufweise, wird unklar, ob das Kirchenrecht überhaupt Kriterien der Verbindlichkeit, der „Richtigkeit", darbietet. Woran soll sich in der Entscheidung des Einzelfalles der Kirchenjurist halten, wenn es dem Kirchenrecht an allgemeiner Verbindlichkeit mangelt? Entscheidend ist dann die Frage nach dem „Wer”. Quis iudicabit? Wer befindet, daß das, was allgemein nicht verbindlich ist, für den Einzelfall „richtig” sei? „Die Kompetenz zur Aufrichtung von Kirchenrecht ist . . . grundsätzlich nicht aufweisbar”64). Das Handeln-Dürfen beruht auf dem „Vertrauen”65), das in der Gemeinde, zwischen den Gemeindemitgliedern, besteht. „Schon die Aufstellung und Formulierung geschieht also in diesem Vertrauen, könnte ohne dieses nicht geschehen66).” Vertrauen aber ist schwierig festzulegen oder zu bestimmen. Es ist weder sachgebunden noch sachbezogen. Seine Personbezogenheit widersetzt sich der Gegenständlichkeit. Wie läßt sich feststellen, ob es erheuchelt oder ehrlich sei? Hängt das Setzen von Kirchenrecht vom Vertrauen ab, besteht dann nicht (bei aller Schriftorientierung) die Gefahr des Abrutschens in die Faktizität67), die vergröbert zu einer Huldigung des Grundsatzes der Effektivität wird?

Barth räumt selbst ein, daß Setzen und Anwenden von Kirchenrecht ein „Wagnis”68) seien. Er hält es für ein „notwendiges Wagnis des Gehorsams”69), wiewohl es nicht „heilsnotwendig”70) für die „Gemeinde” ist.

„Das Recht der Kirche ist das Ergebnis ihres Versuches, in Erkenntnis und Anerkennung des Rechtes Jesu Christi zu denken und zu handeln: in der ganzen, auch ihr eigenen Gebrechlichkeit und Vorläufigkeit nun eben dieser menschliche Versuch71)!”

Die völlige Andersartigkeit des Wagnisses, des Versuchsergebnisses „Kirchenrecht” in der Sicht Barths wird von ihm in der Weise charakterisiert,


59) Barth, a.a.O., S. 65, vgl. oben S. 137 und Anm. 27.
60) a.a.O., S. 80.
61) a.a.O., S. 69.
62) Ebendort
63) a.a.O., S. 71.
64) a.a.O., S. 54/55.
65) Vgl. a.a.O., S. 44, 54/55, 81.
66) a.a.O., S. 54.
67) Die Barth selbst gutzuheißen scheint, vgl. die Ausführungen a.a.O., S. 57.
68) a.a.O., S. 68.
69) Ebendort.
70) Vgl. a.a.O., S. 66/67.
71) a.a.O., S. 78; Bezugnahme darauf bei Ernst Wolf ZEK, Bd. 4, S. 246 und Anm. 26a.

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daß er es als „lebendig, dynamisch bewegtes Recht”72) bezeichnet. Alles „Recht” aber als „Ordnung”, als „Norm” erweist sich seiner Natur nach überwiegend als statisch73), ihm obliegt die Wahrung und Erhaltung des Rechtsfriedens. Tritt an die Stelle der Statik die Dynamik, dann muß am Ende die Rechtssicherheit jeder Rechtsordnung zu Grunde gehen74).

Barth nennt das Kirchenrecht in seiner Unterschiedlichkeit und seiner Unvergleichlichkeit zu allem anderen „Recht” ein „ius sui generis”75). Juristisch müßte diese überdeckende und stets griffbereite Formel geradeswegs zur Nachforschung verpflichten, was das Kirchenrecht denn nun eigentlich sei, wenn nicht auf Grund seiner sich aus dem soeben Dargelegten ergebenden Andersartigkeit die Überlegung davorzutreten hätte, ob der Terminus zutrifft. Handelt es sich hier noch um ein „ius”? Darf man eine Ordnung (im weitesten Sinne), die — wir fassen zusammen — keine allgemein verbindliche Rechtsform kennt, in der der Unterschied zwischen Geben und Nehmen, zwischen Forderung und Leistung aufgegeben ist, die die Approximation ablehnt, die wichtige Rechtsinstitute wie Rechtsdelegation und Stellvertretung verwirft, noch als „ius” bezeichnen. Die Anzeichen stützen mithin die Annahme, das also verstandene „Kirchenrecht” nähere sich mehr einem „Tertium”, das außerhalb der Sphäre des Rechts liegt.

Indessen soll nicht in Abrede gestellt werden, daß bei Barth, trotz aller Verkehrung des Juristischen im Kirchen„recht”, dennoch angestrebt wird, ähnlich wie das Licht im Wasser, die grundandere Ordnung der Gemeinde im Bereich des Rechtes einer „Brechung” zuzuführen. Kirchliches und weltliches Recht sollen nicht schlechterdings beziehungslos nebeneinander stehen76). Die Gemeinde soll behufs ihrer Ordnung aus der Sphäre des Unverbindlichen heraustreten,

„um die nötigen Worte, die hier nun eben juristisch brauchbare Worte sein müssen, ohne Zimperlichkeit, weil zu ihrer Aussprache verpflichtet, auszusprechen und auch aufzuschreiben77).”
„Im Bekenntnis der Gemeinde geschieht . . . auch dann das Rechte, wird und ist sie auch dann konstituiert, wenn sie sich — und wo täte sie das nicht? — mit ihrem menschlichen Sprechen und Hören ins Unrecht setzt78).”
„Indem die Gemeinde sich Versammelt und indem in ihr . . . bekannt wird, ist sie schon konstituiert: ob sie es weiß oder nicht, ob sie es gut oder schlecht weiß, wie immer sie sich dann auf diesem Boden ihrerseits kunstituiere und also ihr Recht Recht sein lasse” . . .79).


72) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 60.
73) Wobei man den Bogen nicht gleich zu überspannen braucht, indem man es für „nur” statisch erklärt!
74) Nicht eindeutig Ellul, nach dem alles Recht „System” ist, der es stets f. einen „Akt Gottes” hält u. negativ formuliert, es sei „nicht statisch”, während andererseits „Institutionen” . . . bei ihm zu den Elementen des menschlichen Rechtes gehören (Theol. d. Rechts, insbes. S. 56, S. 56-63).
75) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 65 und 75.
76) Barth, a.a.O., S. 83. — Etwas später sagt Barth, wie es zu erwarten sein sollte, daß in den Gestaltungen des weltlichen Rechtes es an Analogien zum kirchlichen Recht gänzlich fehlen werde (daselbst).
77) Barth, a.a.O., S. 63.
78) a.a.O., S. 43/44.
79) Barth, a.a.O., S. 44.

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Die Rechtswissenschaft wird den leicht abwertenden Unterton80) in solchen Zitaten nicht überhören dürfen. Es erscheint jedenfalls keineswegs für sie unbedenklich, ein „Kirchenrecht” begrifflich als „ius” zu bestimmen, das in der „Gemeinde” nur „eben in der gebrochenen Form dieses ihres menschlichen Rechts”81) existent sein kann. Wo wird die „Brechung” zum Bruch zwischen „ius” und einem, wie immer gestalteten „Tertium”, christologisch gesehen, als einem „vom Evangelium her Evangelium verkündigenden Recht”82)? — Wohnt nicht dem juristischen Hinnehmen dieses also verstandenen „Kirchenrechts” als „Recht” im weiteren die theologische Gefahr inne, daß, in Anwendung eines Wortes von Guardini, „christlicher Glaubensinhalt ins Welthafte gleite” . . .83)

 

4. Ein Ringen um Formfestigkeit und Normfähigkeit
(Zusammenfassung zu 1—3)

Suchen wir nun in der Vielfalt der seit Sohm unternommenen Anstrengungen, evangelische Kirche und „ihr” Recht in Übereinstimmung zu bringen, nach sich abhebenden Gedankenlinien, so finden wir unter ihnen, weit vor allen anderen Überlegungen, zwei Stränge: den steten Bezug auf die „Kirche” und den stets gegenwärtigen Rückgriff auf die Reformation. Die Untersuchung hat sich in ihrem Aufbau diese Erscheinung zu eigen gemacht, indem sie im ersten Falle dargelegt hat, in welchem Maße und bis zu welcher Grenze evangelisches Kirchenrecht an einen Kirchen„begriff” anknüpfen kann, und im zweiten Falle Ort und Bedeutung des evangelischen Kirchenrechts in den Reformationstagen aus der Sicht heutiger Forschung umriß. Eine Betrachtung evangelischen Kirchenrechts in seiner der-zeitigen Lage vermag nicht anders, als insofern dem Zug seiner Auseinandersetzung zu folgen und beide Gedankenkomplexe — Kirchenverständnis und Reformationsgeschehen — zu wichtigen Teilen ihrer Untersuchung zu machen.

a) Zu einigen Hauptgedanken in der heutigen Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht

Neben diesen Gedankenkreisen sind, wenn es im folgenden darum geht, die Charakteristika der heutigen evangelischen Kirchenrechtsauseinandersetzung herauszuarbeiten, weitere in der Untersuchung schon aufgetauchte oder mindestens angeklungene Elemente zu berücksichtigen. Aus ihrer Vielzahl sind zuvor drei noch besonders zu erwähnen: Das ius divinum, die Urgemeinde und die Frage der Willensfreiheit.


80) Noch gesteigert a.a.O., S. 81, wo es von der Vorbildlichkeit d. KR f. d. Welt u. deren Recht heißt: „Aber wird ihrem Rechtsdenken u. Rechtshandeln nicht schon das gesund sein, sich mit d. Rechtsfindung u. d. Rechtsgebaren einer menschl. Gemeinsch. konfrontiert zu finden, die von dem Fahren auf jenem Karussell dispensiert zu sein scheint?”
81) a.a.O., S. 79.
82) a.a.O., S. 83.
83) Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (München 1953), S. 346.

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Mag es auch im ersten Anlauf scheinen, als sei heute das ius divinum für die evangelische Kirche keine „Frage” mehr, sondern eine Gegebenheit, nicht nur für die Reformierten1), sondern auch für die Lutheraner, so fragt sich eben doch, ob die nicht zu leugnende stärkere Hinwendung2) zum ius divinum im letzten Vierteljahrhundert für die Begründung eines evangelischen Kirchenrechts als Gewinn anzusehen sei. Abgesehen von der sehr schwankenden begrifflichen Erfassung des „ius divinum”, tritt selbst dort, wo die protestantische Theologie bejahend von ihm spricht, eine Verdichtung des Rechtlichen darin nur zögernd ein. Das Verstehen des ius divinum von Luther her als „Heilsbotschaft”3), als Gottes Recht-schaffender Wille4), als „Geist, der geistliches Leben wirkt”5) oder bei Barth als „Christokratie”6), nämlich Herrschaft Christi ad dexteram Patris omnipotentis in Seiner Gemeinde7), führt zu der Einsicht, daß es „rational auch nicht zum Teil erfaßbar”8) sei. Münter hält das ius divinum für einen „Integrationsfaktor” der Kirchenordnung9). Bei Heckel ergeht zur Interpretation Luthers der Hinweis:

„Christus hat . . . die infralapsarische Deutung der lex divina strikt abgelehnt10).”

Man wird darin gewahr, wie weit sich das evangelisch theologische Verständnis des ius divinum selbst von einer metajuristischen Betrachtungsweise entfernt. Von der Beantwortung der vom ius divinum der protestantischen Theologie aufgegebenen hermeneutischen Fragen bis zu einer möglichen Abstimmung auf juristische Begriffe ist ein weiter Weg. Es ist Wehrhahn beizupflichten, daß in der bisherigen protestantischen Hinwendung zum ius divinum ein Nachweis des Rechtscharakters des ius divinum noch nicht zu erblicken sei11). Vielmehr gibt die Lage zu der Überlegung Anlaß, daß eine in der protestantischen, vornehmlich lutherischen Theologie sich verstärkende Bejahung des ius divinum im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Erträglichkeit für eine Begründung evangelischen Kirchenrechts sich bewege . . . . .

Ähnlich dieser Überlegung fällt der Eindruck aus, den die Rolle des Urchristentums hinsichtlich seiner Bedeutung für die evangelische Kirchenrechtsbegründung hinterläßt. Zwar verfolgt die Kirchenrechtsauseinandersetzung aufmerksam, was die Forschung über das Wesen des Urchristentums — im weiteren Sinne, über das Leben der Kirche vor allem im ersten Jahrhundert — ans Licht fördert12) und schenkt dabei zwei Fragen vor


1) Von denen dies die jeweilige Gegenseite immer gern behauptet hat.
2) In bezug auf die luth. Bekenntnisschrift vgl. dazu Wehrhahn, ZEK, Bd. 1, S. 70.
3) Vgl. Oeschey, Fragen der Kirchenordnung, S. 194.
4) Heckel, Lex charitatis, S. 52/53.
5) a.a.O., S. 55-60.
6) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 64.
7) a.a.O., S. 83.
8) Ernst Wolf, ZEK, Bd. 4, S. 235.
9) Münter, Die Gestalt der Kirche nach göttl. Recht (München 1941), S. 44-47.
10) Heckel, ZEK, Bd. 4, S. 261.
11) Wehrhahn: „Versuche, den Rechtscharakter des ius divinum der lutherischen Bekenntnisschriften nachzuweisen, sind bisher mißglückt” (ZEK, Bd. 1, S. 71).
12) Wobei überraschende Ergebnisse nicht ausgeschlossen sind, man denke an das Erschließen bislang nicht bearbeiteter Quellen oder an neue Bibelfunde (zu letzterem vgl. den Bericht von Gillis Quispel über den „Codex Jung” in der Zeitschr. f. Religion u. Geistesgesch., Köln 1954, Heft 4; I. Allegro, Die Botschaft vom Toten Meer, S. 123-141).

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allem Aufmerksamkeit: der Form, im engeren Sinne, der Rechtsgestalt der Ur-Kirche und dem möglichen Vorhandensein jedweden „Rechts” in ihr. So ertragreich im einzelnen die Forschungen sind, sei es, daß sie die Ur-gemeinde als soziologisches Gebilde ausgewiesen13) oder Unterschiede zwischen der Urgemeinde in Jerusalem und den paulinischen Gemeinden herausgestellt haben14), sei es, daß sie das Neben- und Nacheinander von Körperschaft und Anstalt in der Frühkirche beweisen15) oder in ihr die Entwicklung „vorkirchlicher” Rechtselemente bis zur Ausbildung des monarchischen Episkopats verfolgen16), die Bedingtheit jeder „konstitutionellen Bedeutung”17) ur- und frühkirchlicher Verhältnisse für das evangelische Kirchenrecht wird dadurch nicht verringert. Irgendwie erweckt das Bemühen um die Grundlegung des evangelischen Kirchenrechts den Eindruck, als sei den Juristen dabei mehr an einer Übereinstimmung des Kirchenrechts mit der Situation in der Urkirche gelegen als den Theologen. Man wird juristisch fragen müssen, ob die evangelische Kirchenrechtsdiskussion überhaupt dort auf dem richtigen Wege sei, wo sie stante pede das Urchristentum anvisiert18). Theologische Auffassungen unserer Tage19) lassen aufhorchen und schränken die Bewertung der möglichen rechtlichen Verhältnisse in der Urkirche als eine konstitutive Wurzel heutigen evangelischen Kirchenrechts empfindlich ein. —

Die Behandlung der Freiheit menschlichen Willens in ihren Aus- und Rückwirkungen hinsichtlich des Kirchenrechts tritt in den Auseinandersetzungen wenig hervor. Niemand findet sich, der die absolute Unfreiheit menschlichen Willens in der von Luther vertretenen herben Form heute expressis verbis verficht. Die Anhänger des Indeterminismus unterstellen zumeist die Willensfrage in irgendeinem positiven Sinne, ohne näher darauf einzugehen.

Indes läßt sich die Bedeutung dieses für das Verständnis des Kirchenrechts als „Recht” wichtigen Punktes nicht hintansetzen. Die immer stärkere Ausformung des modernen Strafrechtes zu einem Willensstrafrecht (Schuld = vorwerfbares Handeln) und der hohe Rang, den im gesamten Zivil- und Verwaltungsrecht die Willenserklärung und das Konsensprinzip einnehmen, sind nur möglich und sinnvoll auf Grund der Voraussetzung menschlicher


13) Dazu die Untersuchungen von Troeltsch, vor allem „Soziallehren der christl. Kirchen und Gruppen” 1912.
14) Karl Holl, Der Kirchenbegriff d. Paulus in seinen Verhältnissen zu dem der Urgemeinde (1921), S. 44 ff.
15) Vol. Plöchl, Die Geschichte d. KR, Bd. 1, S. 40-42; Honig, Beiträge zur Entwicklung des KR, 1954, S. 11/12.
16) Dazu, teilweise in Abweichung von der noch vorherrschenden Auffassung von Ulr. Stutz, Feine, Kirchl. Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1950, S. 28-32.
17) Einen wichtigen Beitrag zu dieser Frage bietet v. Campenhausen in der Untersuchung „Kirchl. Amt u. geistl. Vollmacht in den ersten 3 Jahrhunderten”, Tübingen 1953.
18) Wie umgekehrt das evtl. Nichtvorhandensein einer Rechtsordnung in der Urkirche noch nicht unbedingt beweist, daß Kirche und Kirchenrecht unter allen Umständen sich ausschließende Gegensätze seien (vgl. Hauck, a.a.O., S. 155).
19) Vgl. Gollwitzer: „Der Weg von der urchristlichen Gemeinde zu den heutigen Kirchen ist nicht der einer geradlinigen Entwicklung, in der sich das gleiche durch verschiedene Formen hindurch erhält, sondern eher der einer Transformation, auf dem durch wesensfremde Einflüsse Andersartiges entsteht. Die Reformation hat das Kirchenproblem nicht durch Rückkehr zur neutestamentlichen Gemeinde gelöst, sondern blieb in dem nach-neutestamentlichen Kirchenwesen hängen” Evang. Lit-beobachter, 1952, S. 135).

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Willensfreiheit, obwohl en passant anzumerken ist, daß medizinische und psychologische Erkenntnisse sie in manchen Fällen (zu denken ist an Vererbungsvorgänge, an Triebdelikte) nicht unerheblich in Frage stellen.

Über das Verhältnis zum Willensproblem entscheidet jeweils das „Menschenbild”, das Theologie und Jurisprudenz in ihren Aussagen vorschwebt. In der Einstellung dazu äußern sich oft kaum wahrnehmbare Unterschiede zwischen den beiden evangelischen Konfessionen. Auf Grund des Glaubenssatzes von der Radikalverderbnis des gefallenen Menschen verhält sich die lutherische Kirche mindestens im deutschsprachigen Raum20) zur Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit sehr zurückhaltend. Die reformierte Seite neigt stärker zu ihrer Bejahung. Elluls Rechtsvorstellungen21) gehen von dem freien Willen des Individuums aus22). Barth lehnt den innerweltlichen Determinismus ab23). So wirkt auf den reformierten Bereich die im Calvinismus gegebene Bejahung des freien Willens, mag diese sich auch selbst bei Zuhilfenahme diffiziler Unterscheidungen zwischen doppelter Praedestination und vorherbestimmter Freiheit (resp. Unfreiheit) des Menschenwillens durchaus nicht problemlos von der Praedestinationstheorie Calvins ableiten lassen. Nicht der geringste Grund, die Willensfrage in der evangelischen Kirchenrechtsauseinandersetzung wenig erörtert zu finden, darf darin erblickt werden, daß das Problem des freien Menschenwillens weit über Theologie und Jurisprudenz hinaus in letztlich alle Gebiete menschlichen Zusammenlebens vorstößt, wo dann schon allein die begriffliche Vielfalt verhindert, gemeinsam Boden zu finden.

Auch ohne den heiklen Punkt geschöpflicher Willensfreiheit zu berühren, sieht sich die Kirchenrechtsdiskussion einer Überfülle von Begriffen gegenüber. Man wird die Vielzahl der vorzufindenden Begriffe gern als Zeichen der Lebendigkeit und Beweglichkeit werten, mit denen das Suchen nach den Kirchenrechtsgrundlagen erfolgt. Doch ist auch der Umkehrschluß nicht von der Hand zu weisen, das begriffliche Durcheinander für ein Spiegelbild unserer Tage zu halten, in denen man mißtrauisch oder besorgt auf die babylonische Begriffsverwirrung24) und das allgemeine Unvermögen hinweist, in der immer weiter um sich greifenden Spezialisierung genaue Unterscheidungen zu treffen, um durch sie wieder den Blick für die Zusammenhänge des Lebens zu gewinnen.

In der Bewältigung der Begriffsfülle nun zeigt sich zwischen der protestantischen Theologie und der Jurisprudenz ein bemerkenswerter Unterschied. Beide gestehen der Begriffsbestimmung nicht dasselbe Gewicht zu. Die Jurisprudenz kann nur dann Aussagen treffen, wenn sie hinsichtlich der zu verwendenden Begriffe zu klar umrissenen, jeden Zweifel ausschließenden Definitionen gelangt ist, was ihr nicht verwehrt, Grenzen zu ziehen,


20) Stärkere Betonung der Willensfreiheit bei Berggrav in seinem Buch „Der Staat u. d. Mensch” sowie in seiner Rede „Kirche u. Staat”, 1953 (in d. Broschüre „Kirche und Staat” v. Kurt Klein, Beilage, S. 40-48).
21) Vgl. Ellul, Theol. Begründung d. Rechts, S. 81-85.
22) Lang-Hinrichsen (a.a.O., S. 24) äußert: „Die voluntaristisch-positivistische Linie in theistischer Wendung ist u. a. von Jaques Ellul wieder fortgeführt worden.”
23) Vgl. Barth, KD III, 3, S. 141.
24) Carl Schmitt, Nomos der Erde, Vorwort S. 6.

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an denen sie feststellt, daß sie jenseits davon einen Begriff nicht näher „festzulegen” vermag. Die evangelische Theologie ist in der Anwendung der verschiedenen Begriffe sicherlich nicht kleinlicher als die Rechtswissenschaft. Doch scheint hier die Frage der Definition der aufgebotenen Begriffe für die daraus gezogenen Schlüsse — zum Unterschied zu den genau begriffsbestimmten Aussagen katholischer Theologie — eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle zu spielen. Die Unbekümmertheit in Begriffsbestimmungen ermöglicht, in strittigen Angelegenheiten mit allem Ernst das Ergebnis zu vertreten: „Nun ist es deutlich, daß der Begriff wirklich nicht entscheidend ist; denn die gemeinte Sache ist (in der Bibel) allenthalben gegenwärtig25).”

Vereinfachend liegt es nahe, derartige Einzelheiten ebenso wie in der Auseinandersetzung hervortretende Eigentümlichkeiten, denen wir uns nun zuwenden, irgendwie immer den Bereichen des evangelischen Kirchenverständnisses und der Reformation einzurechnen, gar einzuordnen. Eine juristische Untersuchung wird ihnen ein gesondertes Augenmerk im Fragen nach dem Kirchenrecht als „Recht” ungern versagen. Die Möglichkeit der Isolation in der Erörterung der folgenden Kriterien soll nicht bestritten werden, doch darf bei dem Herausstellen des „Auffälligen” ein ceteris paribus stillschweigend unterstellt werden.

b) Das Kirchenrecht — eine Notwendigkeit

Kaum eine Betrachtung der Grundlagen evangelischen Kirchenrechts findet sich, die nicht mit dem Hinweis der „Notwendigkeit” operierte. Die „Notwendigkeit”26), in jedweder Form bemüht, darf als eine der häufigsten und auffälligsten Argumente zur Begründung evangelischen Kirchenrechts angesehen werden. Daß dabei die begriffliche Bedeutung der „Notwendigkeit” in ein vielfarbiges Schillern übergeht, bleibt nicht aus.

Überall muß die „Notwendigkeit” herhalten. Herhalten, wozu? — Um das evangelische Kirchenrecht als nicht zu leugnende Gegebenheit in der evangelischen Kirche not-„wendig” zu machen.

Nun erweist sich aber in concreto das Kirchenrecht nicht so „wendig”, um in seiner aus „Kirche” und „Recht” resultierenden Eigenart — nicht zu reden von seiner teilweise begründeten „Andersartigkeit” — alle dem Begriff der „Notwendigkeit” unter- und nachgeschobenen Bedeutungen aufsaugen zu können.

Der vielfache Gebrauch der „Notwendigkeit” in der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion zwingt, ihre „gebräuchlichen” Hüllen abzustreifen, um zu dem eigentlichen Sinne des Begriffes zu gelangen. Weithin meint „Notwendigkeit” nichts anderes als Nützlichkeit. Oft soll mit der „Notwendigkeit” nur die Zweckmäßigkeit eines Kirchenrechts für die Kirche dargetan, wenn nicht gar in ihm eine Zwecksetzung angedeutet werden.


25) Herrenbrück, Die Zucht in der eigenen Amtsführung, in: Die kirchl. Zucht (hektographiert), Norden, 30. 5. 1938, S. 1.
26) z. B. Radbruch, Einführung in die Rechtsw., S. 202; Ruck, KR, S. 4; Stammler, Recht und Kirche, S. 84 u. 115; Schoch, KR, S. 16, 60, 142-145.

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Was „nützlich” für die Kirche ist, braucht ihr aber nicht „notwendig” zu sein27). Was sich für die Kirche „zweckmäßig” erweist, muß ebenfalls nicht, kann aber ihr „notwendig” sein28). Kirchenrecht, „zweckgesetzt” in der Kirche, endlich kann sich nach evangelischem Kirchenverständnis leicht ins Gegenteil des „Notwendigen” verkehren29). Droht das Nützlichkeitsargument die evangelische Kirchenrechtsfrage auf eine Utilitätsebene herabzuziehen, so unterwirft die Zweckmäßigkeit die Kirche einer teleologischen Betrachtungsweise, die im Kirchenrecht eine „teleologische Notwendigkeit”30) erblickt, ohne jemals der juristisch und soziologisch unfaßbaren (lutherischen) Kirche und der (reformierten) Christokratie (,Gemeinde’) als Herrschaft göttlicher Omnipotenz in der menschlichen Gemeinschaft der Heiligen gerecht zu werden. Von daher entspricht es der Untersuchungsmaterie, wenn einsichtige Stimmen das Sinnvolle der Argumente Förderlichkeit, Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit, Zwecksetzung für die Bejahung evangelischen Kirchenrechts bestreiten.

Nicht unbedenklich erscheinen attributive Umrahmungen der „Notwendigkeit”. Das Kirchenrecht als „praktische Notwendigkeit”31) ist sicherlich dem herkömmlichen reformierten Kirchenbegriff leichter beizuordnen als dem lutherischen Kirchenverständnis. Wenn aber schon Kirchenrecht „praktisch notwendig” sei, kann es sich eben nur um „Recht” handeln, worin die Gefahr eingeschlossen ist, entweder — lutherisch — das Kirchenrecht „nur praktisch” als weltliches (staatliches) Recht hinzunehmen32) oder aber — calvinistisch — über das praktische Kirchenrecht die ganze Kirche „praktisch” zu finden, so daß in beiden Fällen die „geistliche” Bindung schließlich aufhört. Jedoch kommt das Kirchenrecht, verstanden als „geistliche Notwendigkeit”33), weder der geistlichen Eigenart evangelischer Kirche noch dem „Recht" näher. Was nach christlicher Auffassung dem Menschen nottut, kann sehr wohl das sein, was unter rationalen und empirischen Gesichtspunkten gerade ein ihm Nicht-„Notwendiges” darstellt.

Eine gewisse Übereinstimmung zwischen den evangelischen Konfessionen besteht darin, daß Lutheraner und Reformierte (diese auf dem Kontinent stärker betont als im angelsächsischen Bereiche) das „Kirchenrecht” als „nicht heilsnotwendig” betrachten. Doch stellt diese Gleichrichtung überwiegend nur eine betonte Abgrenzung von der katholischen Auffassung des ius ecclesiasticum als „ius sacrum” dar. In Einzelheiten ist die evangelische Ablehnung des Kirchenrechts für die Christen nicht ohne Widersprüche. Sie treten dann auf, wenn man sich in der Bejahung eines Kirchenrechts gezwungen sieht, oft in vorsichtiger Form, seine „Wesensnotwendigkeit”, seine „konstitutive Bedeutung” anzudeuten34). Mit großer


27) Vgl. Schoch, a.a.O., S. 187: „Wir können das Verhältnis (zwischen Kirche u. Kirchenrecht) nicht als eine Beziehung bloßer Nützlichkeit erklären.”
28) Vgl. Liermann, Grundlagen, S. 13: „Auf Fragen der Zweckmäßigkeit kommt es . . ., wo das Grundsätzliche herausgearbeitet werden soll, zunächst nicht an.”
29) Vgl. Erik Wolfs Ausführungen, Rechtsgedanke, S. 83.
30) So schon 1895 Reischle, Sohms KR, S. 451
31) Vgl. Erik Wolf, a.a.O., S. 76.
32) Erik Wolf, ebendort.
33) Erik Wolf, a.a.O., S. 82.
34) Vgl. dazu die Ausführungen zu Bultmann und Dombois, oben S. 125 und Anm. 89.

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Zurückhaltung nimmt Holstein an, daß die „Wesens”kirche für die empirische Kirche „ganz bestimmte, wesensnotwendig gegebene Ansatzpunkte” entwickele35). Schoch hält „eine kirchliche Ordnung für die Christen notwendig, aber nicht zum Heil notwendig”36). Sobald Kirchenrecht als wesensnotwendiges Element der Kirche anerkannt wird, bekundet sich darin begrifflich auch eine Heilsnotwendigkeit. Ich kann nicht die „Wesens”notwendigkeit des Kirchenrechts behaupten und seine „Heils”notwendigkeit verdammen. Was anders sollte denn bei aller Verschiedenheit des lutherischen und reformierten Kirchenverständnisses das „Wesen” der Kirche als communio oder congregatio sanctorum für den Menschen ausmachen als das ewige „Heil” in Christo? Die begriffliche Gleichsetzung von Wesens- und Heilsnotwendigkeit läßt sich schwerlich vermeiden.

Der überall anzutreffende Hinweis auf die „Notwendigkeit” eines Kirchenrechts in dem (resp. für das) „Geschehen” Kirche bildet das schwächste Glied in der Gedankenkette jedes Grundlegungsversuches evangelischen Kirchenrechts. Der Gedanke der „Notwendigkeit” führt die evangelische Kirchenrechtsproblematik letzten Endes einer Ausweglosigkeit zu37). Die Notwendigkeit unterliegt unseren Denkgesetzen. Was wir für notwendig halten, richtet sich nach empirischen Maßstäben. Die „Kirche” als christusverbundene Glaubensgemeinschaft gehört nicht allein dem empirischen Bereich an (ohne damit zu sagen, sie sei ihm völlig entzogen), weder nach dem heraklitischen Verständnis des Luthertums noch der begrifflich stärker durchgebildeten Gemeindevorstellung der Reformierten. Ob es in Bereichen, wo das Denken aufgehoben ist, wo empirische Maßstäbe keine Gültigkeit haben, eine „Notwendigkeit” gibt, läßt sich rational nicht bestimmen, „wissen wir nicht”. Sapientia enim huius mundi, stultitia est apud Deum” (I. Cor. 3, 19). Bei aller gebotenen Behutsamkeit im Umgang mit der Idee des „Glaubens” darf festgestellt werden, daß die protestantische Theologie, wo sie die Aussage der „Notwendigkeit” trifft, streng genommen ein „Nottun”, christozentrisch gesehen, die „Nottat” meint, niemals aber den wissenschaftlichen Begriff der Notwendigkeit, ohne den eine juristische Betrachtung des Kirchenrechts nicht auskommen kann, wobei, um vorsorglich die Spitze abzubrechen, nicht behauptet wird, daß sie allein damit auskäme und auf das „Nottun” nicht Obacht zu geben hätte.

Die einzige klare begriffliche Distinktion in dieser Frage findet sich bei Barth. Er stellt der Heilsnotwendigkeit eine „besondere Notwendigkeit” gegenüber38). Dem Kirchenrecht „in der Gemeinde” eignet nicht die ihm in fast allen übrigen Abhandlungen großzügig zugestandene „Notwendigkeit” im allgemein wissenschaftlichen Sinne, sondern nur die auf die Ort-und Zeitgebundenheit, die Situationsbedingtheit bezügliche, eben „je diese


35) Holstein, KR, S. 97; vgl. Kritik bei Foerster, Sohm widerlegt, S. 323 u. 336/337. „Wie will Holstein die Wesensnotwendigkeit einer solchen Rechtsordnung f. d. Kirche gegenüber dem reformatorischen Kirchengedanken beweisen?” (a.a.O., S. 336).
36) Schoch, KR, S. 187.
37) Der Gedanke klingt bei Foerster an: „Die Christen werden dies Stück rechtlicher Gewalt mit Furcht und Zittern verwalten, mit tiefer Trauer darüber, daß nun doch manchmal bei dem Mangel an Glaube und Liebe sich kein anderer Ausweg bietet als das Recht” (Sohm widerlegt, S. 339).
38) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 66/67.

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besondere Notwendigkeit”39). Klarheit muß darüber bestehen, womit die gedanklich saubere Abgrenzung erkauft ist. Sie ist nur zu erreichen auf dem Boden der von Barth in seiner Weltschau überall befolgten Christozentrik. Sie bedeutet gleichzeitig ein Argument gegen das Verstehen des Kirchenrechts als „Recht”, weil sie, indem Kirchenrecht nicht heilsnotwendig ist, innerhalb der Kirche das Rechtskriterium der Verbindlichkeit einschränkt. Das jeweilige Kirchenrecht besitzt gerade in dem, was das „Wesen” der Kirche ausmacht, nämlich die Herrschaft Christi in Seiner Gemeinde, also das „Heil”, „keine allgemeine und dauernde Gültigkeit”40), sondern nur eine Art Verbindlichkeit von Fall zu Fall und wird sich einer an anderem Ort und zu anderer Zeit lebenden Gemeinde nicht „so” darstellen41). Eine Ordnung ohne allgemeine Gültigkeit, anders gesehen, ohne generelle Verbindlichkeit für diejenigen, die sich ihr unter „ordnen”, ist jedenfalls keine „Rechts”ordnung.

Um nicht einer vordergründig nahe liegenden Täuschung anheimzufallen, muß für den Zusammenhang der evangelischen Kirchenrechtsauseinandersetzung eingesehen werden, daß die häufigen Hinweise und Überlegungen zur „Notwendigkeit” des Kirchenrechts eines nicht bedeuten: eine Widerlegung Sohms! Das Kirchenrecht als eine „Notwendigkeit” für die christliche Kirche hat er nicht verkannt42), vielmehr spricht er selbst von „geschichtlicher”43) und „eiserner” Notwendigkeit44), die ein Kirchenrecht in der Kirche hervorbrachte.

Die ständige Wiederkehr des Gedankens der „Notwendigkeit” des evangelischen Kirchenrechts deckt in der heutigen Grundlagendiskussion weithin eine Verlegenheit45) und darf als Anzeichen für die Schwierigkeit gewertet werden, „Kirche” und Kirchenrecht gemäß evangelischer Glaubenslehre als „möglich” zur Übereinstimmung zu bringen.

c) Die Flucht in die Ordnung

Gemessen an dem Grade der Häufigkeit des Gebrauchs wird in der evangelischen Kirchenrechtsauseinandersetzung der Ausdruck „Notwendigkeit” von dem Nomen „Ordnung” noch übertroffen. Die großen Züge der Grundlagenproblematik veranlassen, zurückhaltend von einem „Nomen" zu sprechen; denn darin, ob das Wort „Ordnung” einen „Begriff” meine und gar welchen, liegt eine entscheidende — wenn nicht „die” — Frage für die juristische Betrachtung des evangelischen Kirchenrechts.

Bevor wir auf das Phänomen der „Ordnung” — um ein solches handelt es sich im Rahmen des Diskussionsganzen — näher eingehen, sei angemerkt, daß begrifflich verschiedene Bedeutungen der „Ordnung”


39) Barth, a.a.O., S. 67.
40) Barth, ebendort.
41) Barth, ebendort.
42) Vgl. die Ausführungen oben S. 107.
43) Sohm, KR, I, S. 156.
44) Sohm, KR, I, S. 3, 162, 700.
45) In Abwandlung eines Satzes von Foerster (a.a.O., S. 323). Vgl. Stammler: „Es bleibt die Notwendigkeit eines Rechtes der Kirche . . . Und wir behalten alsdann das Bedenken des grundsätzlich berechtigten Umfanges dieses kirchlichen Rechtes” (Recht und Kirche, S. 115).

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auseinanderzuhalten sind. Auf der einen Seite versteht sich „Ordnung” sowohl als Oberbegriff für das Recht generell46) als auch im speziell rechtlichen Sinne mit teilweise allerfeinsten Unterschieden, man denke an Grundordnung47), Verbandsordnung, Gemeindeordnung, in concreto an die Konkursordnung von 1877, an die Reichsabgabenordnung von 1919, die verschiedenen Prozeßordnungen usw. Auch wenn die Gesetzgebung besonders seit 1945 die Grenzen zwischen „Ordnung” und Satzung, Statut oder „Gesetz” keineswegs scharf nachzieht, so gelten doch unstreitig alle obigen Beispiele als „Rechts”ordnungen. Auf der anderen Seite kann „Ordnung” im nichtjuristischen Sinne Moralordnung, Sittenordnung, ethische Ordnung besagen; neuerdings finden mehr und mehr die Begriffe „Wirtschaftsordnung” und „Sozialordnung” Eingang in die Wissenschaft, obwohl ihre Bedeutung nicht fest umrissen ist.

Die Bedeutungsvielfalt der „Ordnung” in den dargestellten Bemühungen um die Kirchenrechtsgrundlegung von Schüle bis Barth und Holstein bis Liermann reicht für eine farbensatte Begriffspalette aus. Es gibt kaum einen theologischen Begriff, der nicht schon mit der „Ordnung” gepaart worden wäre. In der Diskussion spricht man mit beängstigender Selbstverständlichkeit im selben Atemzuge von geistlicher Ordnung und Glaubensordnung sowie von Lebensordnungen und Lehrzuchtordnungen. Nicht einmal die christliche ἀγάπη wird verschont und muß als „Liebesordnung” herhalten, die Sache, die man nach Barth „Kirchenrecht” nennt48), zu veredeln.

All das ist unbedenklich, soweit es aus dem Grunde erfolgt, „Ordnung” a-juristisch zu verstehen. Schoch führt aus:

„Der theologische Begriff der Ordnung sucht einen — verborgenen — ordo des Kosmos zu fassen. Man weiß um den ,ordo’ nicht im Wissen, sondern im Gewissen. . . . Diese Ordnung ist nicht ,Recht’, ihre Verletzung nicht ,Unrecht’49).”

Der Lebensordnung der Kirche wird grundsätzlich der Charakter einer Rechtsordnung abgesprochen50). Ganz eindeutig sagt Farner: „Die pneumatische Ordnung aber kann in keinem Sinne Recht genannt werden51).” Es handelt sich dann um jene „Überordnung”52), die das Schriftwort erfüllt, „Alter alterius onera portate et sic adimplebitis legem Christi (Gal. 6, 2).

Bedenklich wird das offenbare Vorziehen der „Ordnung” in dem Bestimmen evangelischen Kirchenrechts dann, wenn die Kirchenordnung „sich gleichsam als durchbrochen”53) erweist und damit gleichsam perforierte Rechtsvorstellungen in die Kirche eingeschleust werden. Die vorliegende


46) Vgl. oben S. 9.
47) Für „Grundgesetz” resp. „Verfassung" vgl. Maunz: „Verfassung ist die Grundordnung, die die Vielheit politischer Kräfte und Werte durch rechtliche Gestaltung zur staatlichen Einheit zusammenfaßt” (Deutsches Staatsrecht, S. 31). Vgl. Bonner Kommentar, Wernicke, Präambel, Anm. I, 1a und 2.
48) Barth, Rechtfertigung und Recht, S. 42.
49) Schoch, KR, S. 9.
50) Vgl. Maurers Darstellung, ZEK, Bd. 3, S. 241.
51) Farner, Die Lehre v. Kirche u. Staat, S. 25.
52) Vgl. Reischle, Sohms Kirchenrecht, S. 16.
53) Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S. 71.

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Untersuchung stellt dies fest, gerade weil sie nicht auf einem positivistischen Rechtsbegriff aufbaut, sondern das Recht als „Es”-bezogene Norm versteht. Eben weil Beziehungen zwischen dem Recht und der Moral, zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen Recht und Gott bestehen, sind die Grenzen zwischen ihnen einzuhalten.

„Christliche Ordeninge nach dem hilligen Evangelio”54) nannten sich schon lutherische Kirchengesetze des 16. Jahrhunderts, bei dem sowohl hinsichtlich des Erlasses wie der Einhaltung kein Zweifel daran besteht, daß es sich um staatliches Recht handelte. Man kann also schon rechtsgeschichtlich sehr wohl „Ordnung” sagen und doch „Recht” meinen. Insofern erscheint zweifelhaft, ob in dem vorzugsweisen Gebrauch des Ausdrucks „Ordnung” statt Kirchenrecht oder Kirchenverfassung überhaupt ein „veränderter Sprachgebrauch”55) zu erblicken ist. Aber selbst wenn man die Veränderung hinnimmt,, indem man hauptsächlich auf die quantitative Erscheinung abstellt, bleibt offen, ob sich darin „ein Zeichen für neuartiges Verständnis der Sache, um die es hier geht”56), bekundet.

Man mag über juristische „Nüchternheit”57) geteilter Meinung sein, doch wird man juristische „Genauigkeit”58) für unverdächtig halten, die es sich nicht ersparen kann, an dieser Stelle aus der begrifflichen Vielheit in der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion einiges herauszugreifen, um den Unterschied zu demonstrieren, zwischen dem, was „Ordnung” besagen will und dem, was „Recht” herkömmlicherweise (einige Einschränkungen zugegeben) ist.

Eine „Richtschnur” kann ich meinem Handeln anlegen und mich danach verhalten. Unterlasse ich es, dann mag das moralisch verwerflich oder theologisch Sünde sein. Eine „Richtlinie” kann ich in meinem Tun einhalten. Geschieht es nicht, so kann das ebenfalls sittlich anstößig sein oder theologisch ein Abgefallen-Sein darstellen. „Weisungen” kann ich befolgen; befolge ich sie nicht, ist mein Handeln möglicherweise ebenfalls ethisch oder theologisch abzulehnen. Nicht anders steht es mit der Achtung oder Nicht-Achtung von „Geboten” (hier allgemein, nicht nur im engen Sinne des Dekalogs verstanden.) Hingegen: Wenn ich das „Recht” verletze, liegt stets und unter allen Umständen „Unrecht” vor! Es darf zwecks Erkennens der Grenzen nicht darauf abgestellt werden, daß mein Handeln „ein” Recht mißachte; im Falle der Notwehr etwa mag ich unter Umständen viele einzelne „Rechte” verletzen und werde dennoch nicht „Unrecht” tun.

Das Nicht-Einhalten des „Rechtes” unterscheidet sich vom Nicht-Befolgen der Richtschnuren, Richtlinien, Weisungen und Gebote grundsätzlich dadurch, daß im ersten Falle darin immer — ipso iure! — eine Rechtsverletzung, ein Rechtsverstoß (abus de droit) vorliegt, während im zweiten Falle nicht ohne weiteres „Unrecht” geschieht. Es sei erlaubt, zu


54) Richter, D. ev. Kirchenordnungen d. 16. Jahrh., Bd. 1, S. 230 ff.
55) Erik Wolf, Rechtsgedanke, S. 65.
56) daselbst.
57) daselbst.
58) daselbst.

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wiederholen: nicht ohne weiteres. Sicherlich wird ein Sich-Hinwegsetzen über Richtschnuren, Richtlinien, Weisungen und Gebote oft (was nicht sogleich die überwiegende Anzahl der Möglichkeiten bedeutet) einen Verstoß gegen juristische Tatbestände (i.w.S.) enthalten und somit implicite „Unrecht” sein. Aber rein gar nichts erlaubt, der prima vista-Vorstellung des Alltags nachzugeben und die beiden Fälle großzügig zu egalisieren.

Richtschnur, Richtlinie, Weisung und Gebot sind weiter gesteckt als die Rechtsnormen. Sie orientieren sich am Idealen. Das Recht aber als menschliche Friedens- und Interessenordnung bezieht sich auf den . . . Menschen59). Wäre es anders, dann wäre das Recht nicht mehr „Es”-bezogene Norm, sondern eben jenes „Es” selbst — die Gerechtigkeit, das Gewissen, das Gute, Gott — und hörte auf, „Recht” zu sein, ganz einfach, weil das, was das „Es” bestimmt, fordert, erheischt, nicht mehr justiziabel ist60).

Überall nun, wo menschliches Handeln „Unrecht” schafft, tritt eine Ahndung ein, auf daß die menschliche Friedens- und Interessenordnung wiederhergestellt werde. Bei Nicht-Einhalten von Weisungen und Geboten hingegen ist, menschlich gesprochen, vielfach eine Ahndung nicht möglich. Eine ungefähre Vorstellung der hier bestehenden Verschiedenheit, ins Säkulare abgewandelt, kann das verwaltungsrechtlich sehr umstrittene Verhältnis von „Richtlinie” und „Gesetz” (Recht) vermitteln . . .

Das als „Ordnung” angesehene Kirchenrecht vermag, statt seinen Grund zu legen, die den Ausdrücken Richtschnur, Richtlinie, Weisung, Gebot eigene Begrifflichkeit noch fortzuspülen, wenn die Interpretation der „Ordnung” stärker verschwimmt. Wilhelm Vischer führt einleitend zu einer sehr umfassenden Untersuchung der Textstelle Matth. 16, 13-20, 28 beispielsweise aus:

„Matthäus bietet in diesem Abschnitt die Evangelische Gemeindeordnung: das grundlegende Bekenntnis der Christusgläubigen, ihre Stellung zu der heiligen Schrift und zu der israelitisch-jüdischen Kultgemeinde, die Rangordnung, die Ämter und Pflichten der Brüder untereinander, ihr Beten und ihre Zucht, und endlich die Stellung der Gemeinde zu der Ehe und den Kindern, zu den Gütern und zu der Obrigkeit. Alles wird durch Worte Jesu und keine andere Autorität geordnet. Das verleiht dieser ersten Gemeindeordnung ihre einzigartige Bedeutung61).”

Bis zu diesem Punkte ist man geneigt, der also verstandenen „Evangelischen Gemeindeordnung” sehr wohl juristischen Sinngehalt zuzusprechen. Man glaubt es fast tun zu müssen; denn in diesen Sätzen wird vorzugsweise mit juristischen Begriffen gearbeitet, denen die Jurisprudenz durch mehr als zwei Jahrtausende eine scharfe und eindeutige Prägung verliehen hat. Es fehlt weder an „Ordnung” noch „Amt”, weder an „Zucht” noch


59) Vgl. Maihofer, Recht und Sein, S. 31 (mit Bezugnahme auf Homer): „Überall, wo uns Rechtliches begegnet, geht es nicht um ein ,Heroenrecht’ der Ausnahme, im Blick auf ein unvergleichbar einzigartiges Wesen, sondern im Blick auf das ,wesenhaft Menschliche’.”
60) Es ist nicht nötig, daß die evangelische Theologie den Grund des Unvermögens der Jurisprudenz in diesem Punkt fast nur in der Praktikabilität sucht, von der die Justiziabilität menschlicher Willensäußerungen keineswegs allein abhängt.
61) Wilhelm Vischer, Die ev. Gemeindeordnung, S. 6.

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„Pflichten”, weder an „Obrigkeit” noch „Autorität”. Nur von „Recht” ist keine Rede. Man könnte das für Zufall halten, wenn nicht der folgende Satz offenbarte, welch tiefer Sinn dem Vermeiden des Begriffes „Recht” innewohnt. Die „einzigartige Bedeutung” der ersten Gemeindeordnung sieht Vischer nämlich darin:

„Die Kirche wird zu allen Zeiten und an jedem Orte sich immer wieder vor allem an dieser Gemeindeordnung prüfen und neu gestalten müssen62).”

Sicherlich wird in diesem Gedanken wieder ein Stück der ecclesia semper reformanda sichtbar; aber das „ius” entschwindet nun ganz. „Prüfen” kann der Mensch („Kirche” ist doch wenigstens als „Gemeinde” auch menschliche Gemeinschaft) sein Tun an Geboten, er kann es prüfen an der Gerechtigkeit, aber nicht am „Recht”. Indem er sein Handeln an der Gerechtigkeit prüft, verhält er sich (normaliter!) „rechtens”. Das Recht als Inbegriff von Normen ordnet ja gerade dieses menschliche Verhalten. Jedes Anders-Verhalten als es das So-Sollen des Rechtes bestimmt, bedeutet immer „Unrecht”.

Der Bedeutungswandel, der sich bei Vischer in dem Nomen „Ordnung” vollzieht, verläuft mithin von einer vagen Vorstellung der Richtlinie oder Richtschnur in Richtung auf ein Auslegungsmittel. „Ordnung” meint hier eine besondere Art von Interpretationsregeln. Auslegungsregeln dienen nun zwar der Anwendung des Rechts, aber sie erreichen darum nicht selbst „Norm”qualität.

Hinter der Vorliebe für die Kirchen„ordnung” in der evangelischen Grundlagenproblematik verbergen sich somit zweierlei Bestrebungen, die nur bedingt gleichgerichtet sind: in geringerem Maße das ehrliche Bemühen, das Nicht-Juristische evangelischen Kirchenrechts herauszustellen, in stärkerem Maße aber der Versuch, mit dem Ausdruck „Ordnung” der Frage nach dem „Recht” in der evangelischen Kirche auszuweichen! Es ist eine Flucht in eine begrifflich unfertig bestimmte „Ordnung”, um dem in diesem Falle ungenehm präzisen Begriff „Recht” der Kirche zu entgehen. Man flieht in die „Ordnung” und vermeint, damit gegen jeden Zweifel an der Möglichkeit des vorhandenen Kirchenrechts gefeit zu sein.

Lediglich Barth weicht dem „Kirchenrecht” nicht aus. Aber gerade sein Beispiel des „rechten Kirchenrechts”63) beweist, daß heute der Gebrauch desselben Nomens verschiedene Wissenschaften nicht hindert, damit sehr verschiedene (um nicht in diesem Falle „diametrale” zu sagen) Begriffe zu verbinden. Barths „Rechtes Kirchenrecht” als ius sui generis, in der Sicht eines „Wagnisses”, eines „vom Evangelium her Evangelium verkündigenden Rechts”64), ist juristisch nicht faßbar. —

Man sollte sich darüber im klaren sein, daß mit der Flucht in eine begrifflich wässrige „Ordnung” dem in der evangelischen Kirche geltenden sogenannten „Kirchenrecht” kein guter Dienst erwiesen wird. Die Auffassung,


62) Wilhelm Vischer, a.a.O., S. 6.
63) Vgl. oben S. 136 und Anm. 19.
64) Vgl. oben S. 143.

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Gemeinde„ordnung” sei Weisung, sei Interpretationsregel, die der Schrift zu entnehmen ist, führt in der Konsequenz zu der Unmöglichkeit65), bei Handhabung geltenden Kirchenrechts, wie es unbekümmert getan wird, etwa das juristische Analogieverfahren anzuwenden. Auf der Grundlage des reformierten Verständnisses der Kirche als „Gemeinde” etwa kann eine reformierte Landeskirche nicht unter analoger Anwendung des verfassungsrechtlichen Satzes „Bundesrecht bricht Landesrecht” gegen einzelne „Gemeinden” vorgehen. Während mit dem dynamischen evangelischen Kirchenverständnis eine analoge Übernahme der Maxime „lex posterior derogat legi priori” gegebenenfalls übereinstimmt (sie enthält bedingtermaßen die adäquate Aussage zum Gedanken der ecclesia semper reformanda), steht gleichzeitig der juristische Umkehrsatz, „Lex posterior generalis non derogat legi priori speciali”66), zu ihm in gröbstem Widerspruch. Genau so erweist sich eine Analogie etwa des juristischen Gleichheitssatzes, gleich ob in einem episkopalen oder presbyterianen Kirchenrecht, als sinnwidrig67).

Neben dem Erschweren bzw. Absagen der juristischen Analogie für das vorhandene „Kirchenrecht” erbringt im Umkehrschluß dazu das Aus- und Abweichen in die „Ordnung” der Kirchenrechtsproblematik einen weiteren wenig tröstlichen Nutzen. Wenn „Kirchenordnung” nun schon mal kein Recht sei, sondern ein Anderes oder ein Unbestimmtes, dann muß das tatsächlich überall in Unmengen vorgefundene evangelische „Kirchenrecht” notgedrungen „Recht” bleiben, genaugenommen staatliches Recht; denn die Kirche vermag im Höchstfalle nur eine rechtsgebrochene, anders gesehen, eine rechtstransparente „Ordnung” hervorzubringen. Angesichts dieser Sachlage wird ein allzu leichtfertiger Gebrauch von Wortpaarungen wie „Liebesordnung”, „Glaubensordnung”, „Gnadenordnung”, „Bekenntnisordnung” einer Profanierung und Entsakralisierung christlicher Glaubensstücke Tür und Tor öffnen68).

Aber diese Wortpaarungen, beliebig zu erweitern, lassen auch spüren, daß die Vorliebe für die „Ordnung” in dem Auf und Ab evangelischer Kirchenrechtsdiskussion nicht immer das Ausmaß einer Flucht in die Ordnung (ingleichen eines Dem-Recht-Fliehen) annimmt, entweder um sich deutlich vom „Recht” zu distanzieren oder der Vereinbarkeitsfrage von Kirche und Kirchen„recht” auszuweichen, sondern streckenweise wohl nur Ausdruck eines Hanges ist, um jeden Preis etwas Neues und Originelles zu bieten, um up to date zu erscheinen. Die Wertüberschätzung der in der evangelischen Kirchenrechtsauseinandersetzung so gern gebrauchten „Ordnung” führt sich dann selbst durch die von Liermann für sie angedeutete Bezeichnung „Modewort”69) auf ein genehmes und erträgliches Maß zurück.


65) Dies die eigentliche causa, weshalb das Beantworten einer Reihe von Geiger aufgeworfener Fragen, nach „Betreten vulkanischen Bodens”, „nicht leicht gelingen dürfte”! (Vgl. Geiger, Wesen und Aufgabe kirchlicher Ordnung, Zürich 1955).
66) Juristische Geltung umstritten.
67) Vgl. Stählin: „Das Gleichheitsideal ist der Widersacher jeder Ordnung” (NA 1953, S. 605).
68) Zu den Gefahren vgl. Erik Wolf, Rechtsgedanke, S. 68.
69) Liermann, Grundlagen, S. 9.

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d) Das Verhängnis der Fehlidentifikationen

Die Begriffsfülle in der evangelischen Kirchenrechtsproblematik führt, wie die Untersuchung vom Augenblick an, da sie auf das evangelische Kirchenverständnis einging, bis zu dem allfällig schillernden Begriff der „Ordnung” verdeutlicht, zu einer Serie von teils oberflächlichen, teils vorurteilsbehafteten, jedenfalls schwerlich vertretbaren Gleichsetzungen.

An sich besteht in Fragen evangelischen Kirchenrechts die Möglichkeit, verschiedene Begriffe zu identifizieren, für beide Seiten, für Theologie und Jurisprudenz. Sie gründet wesentlich in dem in der Einleitung ausgesprochenen Verhältnis, das zwischen Theologie und Jurisprudenz besteht. — Dieses Verhältnis gestattet nur bedingt eine adäquate Aussageweise. In der Wechselbezüglichkeit des Zusammentreffens von Kirche und Recht im evangelischen „Kirchenrecht” entscheidet über das „Verstehen” der Begriffe der Grad der zu erreichenden Approximation, weshalb die a priori-Ablehnung einer Approximation bei Barth70) die Kirchenrechtsfrage eigentlich zu einer rein theologischen erklärt und jede nicht-theologische Stellungnahme dazu versagt. Verböte sich das Mittel der Approximation hier nicht, dann wäre gerade Barths Christozentrik als das Verweisen auf das „Du”, als die Hinführung zum „Bruder” Mensch, wie selten eine theologische Konzeption geeignet, die Brücke zum „Recht” zu schlagen; denn, wie Maihofer jüngst in Fortsetzung der Gedanken Heideggers ausführt, bei dem

„Im-Recht-Sein geht es . . . allerdings nicht um die individuale Eigenheit des Selbstseins, sondern um die soziale Eigentlichkeit des Seins als Bruder, Sohn, Gast oder Gastfreund. Als dieser unterliegt er dem Anspruch und geschieht ihm der Zuspruch des Rechts71).”

Fehlerhafte Gleichsetzungen auf juristischer Seite können sich in theologischen Dingen ergeben, ganz besonders eben in Verfolg begrifflicher Durchdringung, bei nicht gebührender Beachtung der lutherischen und reformierten Unterschiede in der Darstellung der „Kirche”. Das Erfassen der „evangelischen Kirche” als Spezial„begriff” statt eines General-„begriffs” — „Begriff” hier approximativ verstanden — geht immer auf Kosten der Würdigung der Unterschiede zwischen dem lutherischen und reformiert-calvinistischen Verständnis der „Kirche”72). Jede stärkere begriffliche Fixierung der „evangelischen Kirche” folgt im allgemeinen reformierten (calvinistischen) Ansichten — von Barth abgesehen — weil das reformierte Kirchenverständnis teilweise jene Begriffsansätze bietet, die das heraklitische Verständnis des Luthertums und, wenn auch aus völlig anderer Richtung, die Christozentrik Barths dem juristischen Erfassen verwehren.

Wie dem Juristen mit dem Verständnis der „Kirche” ergeht es dem Theologen mit dem Begriff des „Rechts”. Nur ist die Gefahr des


70) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 76; vgl. oben S. 140.
71) Maihofer, Recht und Sein, S. 31.
72) Wenngleich nicht verschwiegen werden sollte, daß mit der Verwendung des Spezialbegriffs „evangelische Kirche” die Jurisprudenz gerade kirchenpolitischen Tendenzen — vor allem im deutschen Raum — Rechnung trägt.

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Mißverstehens hier ungleich größer, weil die entscheidende Rolle (wohl auch einmal Überbewertung), die in der Jurisprudenz der Definition zufällt, in juristischen Aussagen über theologische Gegebenheiten gewissermaßen als Bremse wirkt, während die Geringschätzung der Begriffsbestimmung in der evangelischen Theologie hier großzügiger Erfassung des „Rechtes” freie Fahrt gestattet.

Die Auseinandersetzung, theologische und juristische Begriffe zum Zwecke der „Grundlegung” evangelischen Kirchenrechts zur Übereinstimmung zu bringen, trifft fortwährend und überall auf die Vorstellung des „Rechts” als „Gewalt”. Es handelt sich teilweise um ein (resignierendes) Hinnehmen des Rechtes als Gewalt, zurückzuführen auf die protestantische Unsicherkeit in der theologischen Beurteilung des Rechts. Auf einen großen Teil des Protestantismus, besonders im deutschen Raum, trifft die harte Feststellung zu: „Weil man des Rechts nicht mächtig wurde, erklärte man die Macht für rechtens73).” Dieser Weg führte und führt noch zu einer Identifikation des Rechtes mit der Gewalt74). Es zeigt sich, daß für die protestantische Theologie in ihrer Einstellung zum „Recht” der von ihr Mitte der 20er Jahre aufgestellte, geradezu ungeheuerliche Satz:

„Zwischen dem, was die Menschen ,Recht’ nennen und der Gewalt ist überhaupt kein wirklicher und wesentlicher Unterschied”75),

trotz sporadisch wahrzunehmenden tieferen Eindringens in das „Wesen” des Rechts76), noch immer Gültigkeit hat. Dieser so verhängnisvolle Satz bedeutet letzten Endes die theologische Sanktionierung eines jeglichen staatlichen Totalitarismus (der dann allerdings jedes Fragen nach Kirchen„recht” obsolet macht).

Selbst wenn man einräumt, daß dem Betrachter des „Laufs der Welt” der Eindruck entstehen mag, es sei so, „als ob”77), darf eine Wissenschaft vordergründigen Als-Ob-Vorstellungen nicht so weit nachgeben, daß sie großzügig Recht und Gewalt für ein und dasselbe erklärt.

Stellenweise zieht die vermeintliche Identität Von Recht und Gewalt weitere Vorstellungen in ihren Bann. Wenn so wie das Recht auch die „Gewalt” begrifflich unscharf bleibt, verwischen die Grenzen zwischen Gewalt, Macht und Zwang. Neuerdings hebt eine theologische Besinnung von reformierter Seite „über die Grundfragen des kirchlichen Rechtes”78) als die Eigentümlichkeiten „weltlich juristischen Rechtes”79) „seinen formalen Charakter und seine Erzwingbarkeit”80) hervor, ohne die Essentialia Normqualität und Es-Beziehung81) auch nur zu erwähnen. Auf diesem Wege


73) Simon, Die kritische Frage Karl Barths, S. 350.
74) Vgl. Barths Ausführungen, Ordnung der Gemeinde, S. 81.
75) Präses Wolff nach einem Bericht von W. Stählin über die Weltkonferenz von Stockholm, August 1925, Zeitwende 1925, S. 490.
76) Zu denken ist an Berggravs Ausführungen „Internationales Recht” in: Der Staat und der Mensch, S. 139-161; „Das Recht zum Aufruhr”, a.a.O., S. 274-285. — Barths Verständnis des Rechtes (in: „Rechtfertigung und Recht”; „Christengemeinde und Bürgergemeinde”; „Ordnung der Gemeinde”) läßt bei aller Christozentrik immerhin, wie oben aufgewiesen wurde, dem Rechtspositivismus viele Möglichkeiten.
77) Habakuk, 1, 3.
78) Max Geiger, Wesen und Aufgabe kirchlicher Ordnung, Zürich 1954, S. 3.
79) Geiger, a.a.O., S. 23.
80) a.a.O., S. 23-26.
81) Eine theonome Begründung des Rechts lehnt Geiger ausdrücklich ab, vgl. a.a.O., S. 26.

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kommt es in der evangelischen Kirchenrechtsproblematik so häufig zu der Auffassung, Recht sei Zwang, Gewalt oder Macht. Das Mißverständnis vergrößert sich dadurch, daß einmal diese drei Elemente ja keineswegs ohne Beziehung zu dem als „Ordnung”, als Norm verstandenen „Recht” sind und sie zum andern formellrechtlich sehr differenzierte Begriffe darstellen. „Zwang” setzt das Vorhandensein von Macht (Gewalt) voraus. Juristisch: nur der Inhaber der jeweiligen Kompetenzhoheit kann einen Menschen (im engeren Sinne den Angehörigen eines Verbandes) „zwingen”, dieses oder jenes zu tun. Im weiteren kann sich „Gewalt” eben gerade vom „Rechte” herleiten (z.B. als gesetzgebende, vollziehende und richterliche „Gewalt”; denn die Gewaltenteilung ist sicherlich kein Naturrecht!).

Das Identifizieren von „Recht” mit „Zwang”82) übersieht sodann, daß die dem Rechte innewohnende Tendenz der Durchsetzbarkeit83) faktisch oft als mittelbare Erzwingbarkeit stärker in Erscheinung tritt denn als „Zwang”84); das rein Konventionelle kann dafür schon genügen. Die „Es”-Beziehung der Rechtsnorm wird eben auch darin sichtbar, daß Konvention und Sittenordnung häufig „durchschlagender” im Zusammenleben der Menschen wirken als „Macht” und „Zwang”.

Das Verständnis des „Rechtes” als „Macht”, gar „Willkür”85), fußt genau wie das Gleichsetzen mit Gewalt auf einer „als ob”-Hypothese, die die, wie Radbruch sagt, „vorläufige Überlegenheit der Macht gegenüber gültigen Forderungen des „Rechts”86) übersieht (aus Weltabkehr zuweilen übersehen will). Die „Vorläufigkeit” enthüllt aber schonungslos, daß „Macht” und „Recht” zweierlei87) sind88).

Die Fehlidentifikation von Recht und Gewalt, sowie teils in Ableitung, teils unabhängig davon, mit Macht und Zwang, stellt den Kardinalfehler in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Grundlagen evangelischen Kirchen„rechts” dar. In diesem Punkt sind evangelische Theologen oftmals viel stärkere Rechtspositivisten89), als es die an der Diskussion beteiligten Juristen gemeinhin (besonders seit 1945) jemals zu sein wagen. Auch darin wird ein Paradoxon sichtbar; denn der Schritt in den Rechtspositivismus ist den evangelischen Theologen von der „Schrift” her eben nicht „vollziehbar”, eingedenk jener Worte des Magnificat: „Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles” (Luc. 1, 52).

Die vermeintliche Auffassung, „Recht” sei „Zwang”, die der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion so abträglich ist, löst verschiedene Folgen aus. Die Vorstellung einer „Zwangs”ordnung verleitet dazu, den Rechtsbegriff


82) Vgl. Farner, Kirche und Statt, S. 26, Anm. 2; Reischle, Sohms KR, S. 23 und 38.
83) Vgl. oben S. 16, Anm. 63.
84) Vgl. Simons, Religion und Recht, S. 204.
85) Foerster: „Aber in der Kirche ist Rechtsordnung unmöglich. In der Kirche soll nur das Wort herrschen, aber nicht etwa die Willkür” (Sohm widerlegt?, S. 332).
86) Radbruch, mit Bezugnahme auf Goethe, in: Geschichte des Verbrechens, S. 263.
87) Stammler: „Recht und Macht sind weder ein- und dasselbe, noch auch stehen sie sich gegnerisch gegenüber, sondern sie ergänzen sich” (Recht und Kirche, S. 90).
88) Auch hier böte sich wieder ein Anknüpfungspunkt zwischen Barths christozentrisch verstandenem Kirchenrecht und der Jurisprudenz, wenn die approximatische Aussage erlaubt wäre!
89) Vielleicht darf ein von Iwand festgestellter „ausgesprochen positivistischer Zug innerhalb der theologischen Fachwissenschaft” als Parallelerscheinung zugrunde gelegt werden. (Vgl. JK 1953, S. 512).

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auf den Teil zu verkürzen, wo allen der Zwang offenbar ist: auf das Strafrecht. Die in dem heutigen Bemühen um die Grundlagen evangelischen Kirchenrechts immer wieder anzutreffende Meinung, Recht sei in jedem Falle „Strafrecht”, darf als zeittypisch gewertet werden. Man spürt zwar mit (begründetem) Unbehagen, daß die fortschreitende Spezialisierung immer mehr und immer neue Gesetze, Verordnungen, „Regelungen” in das Gemeinschaftsleben hineinträgt, aber man nimmt kaum Notiz davon, daß die enorme Zunahme der Rechtskodifikationen vornehmlich ein Anschwellen des Verwaltungsrechtes darstellt90), während die Masse der Strafrechtsnormen seit langem relativ konstant bleibt.

Andere Verkürzungen des Rechtsbegriffes in der evangelischen Kirchenrechtsproblematik führen zu Gleichsetzungen des „Rechts” mit Formen der Rechtskodifikation (Verfassung, Gesetz, Verordnung), wodurch das Gewohnheitsrecht dem Rechtsbereich entzogen wird, zu dem Beschneiden auf ein Sachenrecht, wie in der Darstellung der Auffassung Barths aufgezeigt91), oder auf ein nur synallagmatisches Recht92).

Sicherlich, Strafrecht, Sachenrecht und synallagmatische Verträge als Formen der Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens gehören zum „Recht”. Aber sie sind eben doch nur Teile — Stücke — der das Gemeinschaftsleben der Menschen umfassenden Rechtsordnung. Das einzelne Stück erlaubt hinsichtlich der begrifflichen Erfassung der Gesamtheit „Recht” keinen pars pro toto-Schluß. Die evangelische Theologie läuft bei obigen Reduzierungen im Verständnis des „Rechtes” immer Gefahr, Extremen zu verfallen, die das gemeinsame Suchen von Theologen und Juristen nach Grundlagen evangelischen Kirchenrechts verhängnisvoll erschweren.

Die „Zwangs”vorstellung auf theologischer Seite kann in dem Bestreben, sich in der Kirchenrechtsproblematik ostentativ von der nicht zu leugnenden Unzulänglichkeit aller menschlichen Rechtsordnung abzusetzen, dazu führen, „Recht” mit „Gerechtigkeit” zu verwechseln. Nach der Gleichsetzung von Recht und Gewalt ist das Verstehen des Rechts als „Gerechtigkeit”93) die am häufigsten anzutreffende Fehlidentifikation.

Sie ist aber für Theologie und Jurisprudenz gleichermaßen die gefährlichste, weit gefährlicher, als wenn in der evangelischen Kirchenrechtsfrage begrifflich das Recht zu Macht, Gewalt oder Strafrecht wird. In diesen Fällen wird nur das Recht abgewertet, in jenem Falle aber die Gerechtigkeit „realisiert”. Indes, die Gerechtigkeit ist „ideal”. Jedes Identifizieren von ius und iustitia, oft im Zusammenhang damit von ius und iustificatio94), bedeutet stets eine Devaluation der Gerechtigkeit.


90) Vgl. Schönfeld, über die Gerechtigkeit, ein Triptychon, 1952, S. 119.
91)  Vgl. oben S. 135.
92) „Irrationalität besteht in der ausschließlichen Unmöglichkeit, Gott erkenntnismäßig zu fassen und irgendein ihn verpflichtendes Verhältnis auf Gegenseitigkeit zu denken” (Selle, Moderne Wandlung im Gottesbegriff, S. 59).
93) „Der Mensch . . . verkehrt das Recht vor Gott, das er aus Gottes Gnade empfängt, in ein Rechtsverhältnis zu Gott, in dem er nach Leistung Anspruch hat. Die Leistungs- (Werk-, Selbst-) gerechtigkeit ist die letzte Steigerung der Sünde zur Gesetzlichkeit” (Brunstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 16); hier eine demonstratio ad oculos der unbesehenen Identifikation von Recht, Synallagma und Gerechtigkeit.
94) Vgl. Barth: „Die Christengemeinde ist Zeuge der göttlichen Rechtfertigung, d.h. des Aktes, in welchem Gott in Jesus Christus sein ursprüngliches Recht auf den Menschen und eben damit das Recht der Menschen selbst gegen Sünde und . . . Tod aufgerichtet und befestigt hat”, Christengemeinde und Bürgergemeinde, S. 23.

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Die Gerechtigkeit wirkt als Idee. Sie erscheint sowohl bei Platon und Aristoteles als auch bei Augustin und Thomas als „Tugend”. Die Gerechtigkeit bietet ein Richtmaß menschlichen Handelns. Aber sie sinkt darum nicht zur „Ordnung”, zur „Regel” ab. Insoweit „existiert” das als „Es”-bezogene Ordnung aufgefaßte „Recht” gerade in seiner Bezogenheit auf die Idee, die Tugend, das Richtmaß „Gerechtigkeit” und hört, wie schon erwähnt95), in dem Augenblick auf, „Ordnung” zu sein, wo es die Normqualität aufgibt und ganz zum „Es” wird.

Die Gerechtigkeit ist in christlicher Schau die Ordnung des Himmels, das „Recht”, das vor Gott gilt96), das ius der civitas coelestis. Die Coinzidenz von ius und iustitia vollzieht sich stets in der Transzendenz. Bei aller schuldigen Ehrerbietung vor dem evangelischen Kirchenverständnis und unter gebührender Berücksichtigung der Verschiedenheit zwischen der lutherisch heraklitischen Kirchenauffassung, der reformierten ecclesia reformanda und dem modernen christozentrischen Kirchenbild Barths erlauben aber alle evangelischen Begriffsaussagen zur „Kirche” nirgends, jene Coinzidenz aus der Transzendenz „herüber” zu holen, und, darauf bezogen, in puncto evangelisches Kirchen„recht” die begriffliche Identität von „Recht” und „Gerechtigkeit” zu unterstellen. Der Schluß muß in die Irre führen, weil co-incidere stets zwei Größen benötigt. Identisches kann nicht coinzidieren.

Während die Annahme der Identität zwischen „Recht” und „Gewalt” und die damit zusammenhängenden Hypothesen (Recht = Macht; Recht = Zwang; Recht = Strafrecht usw.) die Kirchenrechtsproblematik in einen Rechtspositivismus zu überführen drohen, bedeutet eine fehlende Differentiation zwischen „Recht” und „Gerechtigkeit” zwangsläufig die Theologisierung des evangelischen Kirchenrechts. Die Folgen der darin liegenden Denaturierung des Kirchenrechts97) geben in Hinblick auf den wahrnehmbaren, den erkennbaren Teil der evangelischen „Kirche” zu größeren Bedenken Anlaß als das Abgleiten in den Rechtspositivismus.

e) Das reformierte „aliud”

Die Begriffsfülle und die damit Verbundene Gefahr der Fehlidentifikation in Fragen nach dem „Recht” der evangelischen Kirche läßt überlegen, ob der Stand der heutigen Auseinandersetzung überhaupt erlaubt, von dem „evangelischen” Kirchenrechtsproblem zu sprechen. Wenn soeben98) festgestellt wurde, daß „evangelische Kirche” nur als Generalbegriff, nicht aber als Spezialbegriff gelten kann, dann zeigt sich, daß Bezeichnungen wie


95) Vgl. oben S. 153.
96) So daß sich auch von hier größte Bedenken gegen die von Wehrhahn als „antithetisches Diktum” vertretene Beziehung zwischen dem Geist der Gerechtigkeit und dem Geist Christi erheben (Vgl. oben S. 117 und Anm. 111).
97) Vgl. Erik Wolf, Zur Rechtsgestalt der Kirche, S. 257. Er erkennt drei Gefahren dieser „Denaturierung” für das Kirchenrecht: a) die Möglichkeit eines bloßen „theologischen Dogmatismus”, b) die Möglichkeit des „ius divinum positivum” in Gestalt einer „traditio humana”, c) die Vernachlässigung der sachlich gebotenen Ordnung.
98) Vgl. oben S. 156.

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„evangelisches Kirchenrechtsproblem”, „evangelische Kirchenrechtsproblematik” und „Grundlagenproblematik” kaum in der Lage sind, als Oberbegriff die mehr aus- als zueinanderstrebenden protestantischen Auffassungen zum „Kirchenrecht” auch nur locker zu umfassen.

In Fortführung und Ausweitung der Sohmschen Antithese von „Kirche” und „Recht” wird in der Bezeichnung „evangelisches Kirchenrechtsproblem” der Frage nach der möglichen Vereinbarkeit von „Kirche” und „Recht” Ausdruck gegeben. Die Auffassungen nun des reformierten Kirchentums zum „Kirchenrecht” antworten, streng genommen, nicht auf diese Frage, sondern bilden ein aliud.

Recht eigentlich handelt es sich um ein zweifaches aliud. In herkömmlichem Sinne liegt ein „Recht in der Gemeinde” vor, ohne daß ein „Gemeindeprinzip” um jeden Preis zur Begründung diente99) und wiewohl das reformierte Kirchenrecht als Teil des Bekenntnisses seine juristische Eigenschaft mehr oder minder stark einschränkt. Auf diese Weise geriet und gerät die reformierte Kirche nicht so leicht, wie zuweilen geargwöhnt, „auf den Abweg des geistlichen Rechts”100). Aber „Gemeinde” (Kirche) und „Recht” werden nicht als Gegensätze empfunden101). Sie gehen in dem „Recht in der Gemeinde” eine Verbindung ein, in der sich „Gemeinde” und „Recht” um so stärker durchdringen, je größer der calvinistische Einfluß ist, ohne daß es auf dem Kontinent dazu käme, wie in gewissen angelsächsischen Denominationen, die Form der „Gemeinde”organisation zum Glaubensgegenstand zu erheben102). Das lebhaftere „Rechts”verständnis des Kirchenrechts im reformierten Kirchentum nährt sich aus der Vorstellung, in Gott den Schöpfer allenRechts zu schauen — Christus ist der einzige Reformator „Seiner” Kirche103) — und im anglo-amerikanischen Bereich auch aus dem hohen Ansehen, das Common Law und Convention Law im dortigen Rechtssystem besitzen.

Ein zweites reformiertes „aliud” zeichnet sich, so möchten wir sagen, im „modernen” Sinne ab. Das Selbstverständnis reformierten Kirchen„rechts” ist gewissermaßen so kräftig, daß nicht, wie lutherisches Verständnis zuweilen mutmaßt, eine „Verrechtlichung” reformierter Gemeinden eintritt, sondern die reformierte Theologie das Kirchenrecht zu einem Teil der Dogmatik erklärt. Man darf mit entsprechender Vorsicht von einer „Vergeistlichung” des reformierten Kirchenrechts in unseren Tagen sprechen. Nicht von ungefähr stammen in der Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht seit 1920 entscheidende Darlegungen auf reformierter


99) Es ist nicht allein kirchenrechtlich bedenklich, wenn Hildebrandt das Gemeindeprinzip für ein „Prinzip des Naturrechts” hält (Das Gemeindeprinzip der christlichen Kirche, Zürich 1951, S. 141-144). Die Ansicht ist nicht ohne Widerspruch, da Hildebrandt a.a.O., S. 5, das Gemeindeprinzip „auch als Grundsatz des kirchlichen Naturrechts” bezeichnet.
100) Brunstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 21.
101) „Wo . . . erkannt wird, daß auch unsere ,Ordnungen’ bei allen Berührungspunkten mit dem, was sich sonst an Ordnungen finden mag, unter die Gewalt des Gekreuzigten geraten, wo die unauflösliche Eigenart — oder sollen wir sagen: Fremdart — der Kirche erfahren wird und Achtung findet, da ist die kirchliche Ordnung in Gleichklang mit dem Bekenntnis gekommen” (Otto Weber, Vers. Gemeinde, S. 71).
102) Vgl. Simons, Kirchenvolk und Staatsvolk, S. 175.
103) Herrenbrück, Bezirksbruderbrief 1953, Nr. 18, S. 3: die Grenzen zwischen Christus als Legislator und legis interpres können in dieser Sicht ins Fließen geraten.

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Seite von Theologen — E. Brunner, Schoch, Max Geiger, Weerda, Barth — während die lutherische Theologie das Aufspüren der Grundlagen den Juristen — (Sohm!), Holstein, Schönfeld, Liermann, Dombois, Wehrhahn — vornehmlich überläßt.

Falsch wäre es, in dem Unterschied zwischen dem herkömmlichen (entwicklungsmäßigen) und dem heutigen reformierten aliud einen Gegensatz zu vermuten. Auch das Verstehen des Kirchenrechts als ein Stück reformierter Dogmatik fußt auf der reformierten Grundansicht, daß „die” Kirche immer die sichtbare Gemeinde104) unter der Hauptschaft Christi sei und dieser letzthin die Quelle allen Rechts.

Das moderne aliud zieht mithin die „Kirche” als Grundlage, besser: als Heimstatt eines Kirchenrechts, nicht in Zweifel. Auch dieses aliud bedeutet, besonders unter Berücksichtigung Barths, ein „Recht in der Gemeinde”, nämlich das durch Christi Gemeinde als Rezeptionsmedium göttlicher Anordnungen am je konkreten Ort und zur je bestimmten Zeit gestaltete „Kirchenrecht”105)106).

Das sich stellende Problem erscheint angesichts unserer Ausgangsfrage wirklich als „ein anderes”. Hier geht es nicht um die Wesensverschiedenheit von „Kirche” und „Recht”, nicht darum, daß die „Kirche” eigenes „Recht” nicht hervorbringen könne, sondern um die Frage, ob die von der reformierten Theologie mit dem vertrauten Nomen „Kirchenrecht” bezeichnete Materie noch als „Recht” verstanden werden dürfe, oder sich zu einem „Tertium” entwickele, dem lediglich eine gewisse Rechtstransparenz eigen ist.

Der Jurisprudenz ist das reformierte Kirchenrecht im herkömmlichen Verständnis, so wie es im angelsächsischen Bereich noch heute gilt, vertraut und zugänglich. Reformiertes Kirchenrecht als ein gegebenenfalls rechtstransparentes Tertium schafft für sie eine ganz neue Lage, in der sie zwischen der Transparenz und der Brechung, die das „Recht” in diesem Tertium erfährt, unterscheiden muß. Die Transparenz kann vom Kirchenrecht her jede menschliche Ordnung durchdringen, so daß dann in der reformierten Dogmatik alles „Recht” nur noch rechtsdurchscheinend (damit aber im entscheidenden Punkte unverbindlich) gewertet wird. Die Brechung bringt eine Abwertung des „Rechts” zum Ausdruck; das Juristische stellt nur die „gebrochene” Form107) des „Kirchenrecht” genannten Stücks reformierter Dogmatik dar.

Reformiertes Gemeinderecht im Sinne rechtstransparenter Ordnung lehnt sich an die traditionelle reformierte Auffassung an. Die Vorstellung der Rechts „gebrochenheit” des Kirchenrechts neigt sich leicht nach der lutherischen Seite (ohne deren Auffassungen zu berühren).

Barth nimmt in solcher Gegenüberstellung einen Sonderplatz ein. In seinem „rechten Kirchenrecht" lassen sich sowohl Rechtstransparenz als


104) Vgl. oben S. 540; dazu Karl Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 16-21.
105) Vgl. Simon, Die kritische Frage Karl Barths, S. 352/353.
106) Eine juristisch äußerst kühne Konstruktion (vgl. dazu die oben S. 141 vorgebrachten Bedenken).
107) Vgl. oben S. 142, 143; dazu Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 79. — Hingegen heißt es bei Otto Weber: „Die Ordnung erweist sich gleichsam als durchbrochen” (Vers. Gemeinde, S. 71).

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auch Rechtsbrechung nachweisen. Trotz des Bejahens eines Kirchen„rechts” rückt seine Christozentrik die reformierte Kirchenrechtsfrage näher an die lutherischen Überlegungen heran. So grundverschieden Barths christologischer Kirchen„begriff” vom lutherischen Kirchenverständnis ist, sein Ausrichten alles Geschöpflichen auf Christus und die darin (gewollt oder ungewollt) gegebene Nihilierung jeglichen Eigenwertes alles menschlich Geschaffenen, aus dessen Bereich sich das „Recht” nicht eliminieren läßt — es sei denn, es würde zur „Gerechtigkeit”! — schafft viele Verbindungslinien zu dem lutherischen Problem der Unvereinbarkeit von „Kirche” und „Recht”. Barths christozentrischem Kirchenrechtsbild wird man gegenwärtig am ehesten den Namen „evangelisch” zugestehen dürfen, während man links und rechts von ihm das reformierte aliud auf das Fragen nach kircheneigenem Recht unterscheiden muß von der lutherischen Animosität, gar Antithese von Kirche und Recht, die gemeinhin und oberflächlich nach wie vor — wenigstens in deutschsprachigen Gebieten — für „das” evangelische Kirchenrechtsproblem gehalten wird.

f) Sohm überholt?

Von hier aus ist zu fragen, ob der heutige Stand der Grundlagenproblematik die Feststellung, wie sie in der Auseinandersetzung hier und dort getroffen wird, rechtfertige, daß Sohm „überholt” sei108).

Wenn wir heute sehen, daß in der protestantischen Theologie die entscheidenden Anstrengungen zur theologischen Untermauerung des Kirchen„rechtes” von reformierter Seite ausgehen, dann darf man insoweit nicht auf eine Überwindung Sohms schließen. Das sog. „Kirchenrecht”, verstanden als eine rechtstransparente Ordnung, als „gebrochenes” Recht (Barth)109) oder „durchbrochenes”, also perforiertes Recht (O. Weber)110), antwortet nicht auf die von Sohm aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer wesensmäßigen Übereinstimmung von Kirche und Kirchenrecht, weil dieses „Kirchenrecht” mit dem „Recht” nur das herkömmliche Nomen gemeinsam hat, begrifflich aber ein Tertium darstellt. Die von reformierter Seite heute aufgezeigten Grundlagen tragen kein „geistliches Recht”, sondern ein geistliches Tertium, eine Art theologische Ordnung, die in den für das Wesen der „Kirche” entscheidenden Kriterien keine Verbindlichkeit hat und somit keine ius-Qualifikation erlangt. Theoretisch zum mindesten berührt das reformierte Tertium in der Problemstellung weder Sohms wesensmäßigen Widerspruch zwischen Kirche und Kirchenrecht, noch — in Erweiterung — seine Antithese von Kirche und Recht; alles, was hier getan wird, widerlegt nicht Sohm, weil es seine In-Fragestellung nicht trifft.

Aber auch, wenn reformierte Darstellungen die Kirchen„ordnung” verschiedentlich — gerade auch bei Barth — als ein stark rechtsangenähertes


108) z.B. Dombois, Glaube, Recht, Europa, S. 134.
109) Vgl. oben S. 142, 143.
110) O. Weber, Vers. Gemeinde, S. 71.

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Tertium vermuten lassen oder wenn man, geschichtlich oder auf den anglo-amerikanischen Teil ausgerichtet, reformierte Kirchenordnung als „Recht in der Gemeinde”, als ein presbyterianes „Recht” in Rechnung stellt, wird damit nur die Alternative zu Sohms These geboten, nicht aber seine These entkräftet; denn die Bedeutung der „Gemeinde” auf reformierter Seite, das „Gemeindeprinzip” und das reformierte Kirchenrecht als ein Recht „in der Gemeinde” waren ihm nicht fremd. Er hat sich mit ihnen auseinandergesetzt111), sie konnten ihn nicht davon abhalten, konsequent bei der Unvereinbarkeit von Kirche und Kirchen„recht” zu verharren. Sein Verständnis der „Kirche” ließ keine andere Schlußfolgerung zu.

Hier liegt das Entscheidende. Die sog. „These” Sohms, richtig verstanden, ist nur von seinem Kirchenverständnis her zu widerlegen. Anzeichen dafür, daß die lutherische Theologie diesbezüglich ihre Einstellung grundlegend geändert habe, bietet die bisherige Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht kaum. Ehestens noch dürfte eine leicht verstärkte Betonung der „Gemeinde” Kirche als ein solches Indiz gewertet werden.

Wie vorhin gesagt, stehen in der Kirchenrechtsdiskussion auf lutherischer Seite die Juristen in vorderster Reihe. Theologische Beiträge dazu sind meistens retroperspektiv ausgerichtet und erschöpfen sich oft in der (zweifellos modernen!) Interpretation der Einstellung Luthers und der lutherischen Bekenntnisschriften112). Eine restaurative Tendenz läßt sich nicht übersehen. Die Grundlegungsbemühungen um evangelisches Kirchenrecht seitens Nicht-Theologen besitzen in dem lutherisch orientierten Teil der protestantischen Theologie zudem nur geringe Resonanz. Was für Holsteins Werk feststeht, scheint sich für die Grundlagenaspekte von Liermann, Dombois, Wehrhahn u.a. zu wiederholen. Wehrhahns Worte sind genügend aktualitätsbezogen und treffen zu — eine Feststellung, die Sohms These mehr stützt als untergräbt —: „Theologie und Kirche sind diesen Bemühungen nicht beigesprungen113).”

„Beigesprungen” aber wird neuerdings dem Grundgedanken Sohms! Kurioserweise von reformierter Seite. Emil Brunner wendet sich scharf gegen „das Mißverständnis der Kirche”114). Dies „Mißverständnis” besteht für ihn in der weithin fehlenden Unterscheidung zwischen „ecclesia” und „Kirche”115). An dieser Stelle verläßt die theologische Terminologie ihre gewohnten Pfade. Brunner erkennt als „wahre Kirche” die „sichtbare ecclesia”116), die er als „reine Persongemeinschaft”117), „Christusgemeinschaft”, „Christusgemeinde”118) und „Lebensgemeinschaft” bezeichnet119). Terminologisch erlauben die von Brunner gewählten Nomina gemäß herkömmlichem Sprachgebrauch den Schluß, daß er unter der „eigentlichen Kirche” ganz in


111) Vgl. oben S. 107 und Anm. 18-20.
112) Walter Künneth geht so weit, in der biblischen Aussage wegen ihrer Bedeutungsfächerung eine „Bekenntnisautorität” für begründet zu halten (Die Autorität des Bekenntnisses, Neudettelsau 1950, S. 17).
113) Wehrhahn, Grundlagenkrise und KR, DRZ 1948, S. 368.
114) So der Titel der Schrift von Emil Brunner, Stuttgart 1951.
115) Brunner, a.a.O., S. 119-126, 134-136.
116) a.a.O., S. 124.
117) Vgl. a.a.O., S. 9-21.
118) a.a.O., S. 134.
119) Brunner, a.a.O., S. 129-132.

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reformiertem Sinne die stets sichtbare, die „Gemeinde” Kirche verstehe. Gerade das aber, was die Terminologie auszuweisen scheint, meint Brunner nicht! Seine „sichtbare ecclesia” entspricht Sohms Kirchenverständnis, deckt sich mit Sohms Geist- und Liebeskirche als der Kirche im Glaubenssinne120), die notabene bei Sohm stets . . . ecclesia invisibilis bleibt! Es fragt sich, ob nicht allein die terminologische Unscharfe ein Stück Mißverständnis des „Mißverständnisses” bloßlegt.

Von der „sichtbaren Ecclesia” trennt Brunner scharf die „Kirche”. Weit gefehlt nun, anzunehmen, mit dem Nomen „Kirche” begrifflich das Eigentliche, das „Wahre” bezeichnet zu finden. Die „Kirche” ist nur das soziologische und rechtliche Gebilde. Es kommt wieder zu dem nicht unbekannten Anschauungsbild von „Schale” und „Kern”121). Die „Schale” ist für Brunner immer rechtliche Institution. Die „Institution” Kirche kann nie „Kern”, nie „sichtbare Ecclesia” werden. Brunner warnt gar vor dem Mißverständnis, zu hoffen oder zu wünschen, daß „Kirche” einmal „sichtbare Ecclesia” werden sollte122). Er erklärt Sohms These vom Wesensgegensatz von Kirche und Recht für unwiderlegbar123).

Brunners Darstellung im Zusammenhang legt nahe, diese nicht unbeachtliche theologische Stimme124) als Bestätigung Sohms nicht überzubewerten. Bei näherem Hinsehen spricht vieles dafür, daß hier das „Recht” bedauerlicherweise als Prellbock dienen soll, um inter lineas ineins gegen eine ganz andere Erscheinung zu Felde zu ziehen. Nicht allein der juristische Sachverhalt „Kirche” (qua Institution) wird befehdet, sondern ebenso die politische Gegebenheit der „Konfessionskirche”, die — trotz Barmen — seit 1950 sich zusehends verhärtet und mit der reformierten Vorstellung der ecclesia semper reformanda schlechthin unvereinbar ist.

Kirchen„recht” und Kirchen„politik” bewegen sich auf verschiedenen Ebenen. Die politische Erscheinung „Konfessionskirche” und die juristische Institution „Kirche” mögen im Einzelfalle kongruent sein, eine generelle Identität besteht nicht. Sie zu behaupten, vermehrt die Zahl der Fehlidentifikationen.

Die Ansicht, daß die gegenwärtige Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht „den Kirchenbegriff Sohms widerlegt”125) habe, läßt sich somit generell schwerlich vertreten. Strenggenommen, geht eine solche Ansicht zudem von falschen Voraussetzungen aus. Es handelt sich ja nicht um „Sohms Kirchenbegriff”, genau so wenig wie etwa um einen „Holstein-schen Kirchenbegriff”. Nicht Sohm, Holstein und heute Liermann, Erik Wolf oder andere Juristen schaffen einen eigenen Kirchenbegriff. Den Begriff der Kirche — unverfänglicher formuliert: das Verständnis der Kirche — bildet stets die Theologie. Die an der Kirchenrechtsdiskussion


120) Vgl. Barths Auseinandersetzung mit E. Brunner, Ordnung der Gemeinde, S. 10.
121) Vgl. E. Brunner, Das Mißverständnis der Kirche, S. 134.
122) Vgl. a.a.O., S. 124-128.
123) Vgl. Gollwitzer, Buchbesprechung zu Brunner, KiZ, Lit. beobachter, 1952, S. 135.
124) die „trotz allem” die „Institution” Kirche als „das wirksamste ,externum subsidium’ der Christusgemeinschaft erwiesen” sieht (a.a.O., S. 134).
125) Vgl. die Kritik von Oskar Kühn zu einem (oben S. 115, Anm. 96 zitierten) Literaturbericht von Wehrhahn, JK 1952, S. 133.

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beteiligten Juristen vermögen nur, das vom jeweiligen Stand der evangelischen Theologie gebotene Kirchenverständnis juristisch zu interpretieren, zu formen und somit der juristischen Ansprechbarkeit zugänglich zu machen. Einen „neuen” (oder „anderen”) Kirchenbegriff zu finden, obliegt immer der Theologie. Darum liegt von Fall zu Fall ein von Sohm, Holstein, Wehrhahn oder einem anderen Juristen benutzter, angewandter oder unterstellter Kirchen„begriff”126) vor.

Sohms Kirchenbegriff sei überholt, müßte also besagen, daß die lutherische Theologie heute zu einem anderen Kirchenverständnis als dem gelangt, auf das Sohm seine „Antithese” aufbaute. Eine juristische Darstellung kann auf Grund der heutigen Kirchenauffassung im Luthertum dieses Überholt-Sein nicht bejahen, sie wird vorsichtig beachten, daß heute selbst auf reformierter Seite das (Miß-?127)) Verständnis der Kirche wie bei Sohm vertreten werden kann.

Wenn sich seit Sohm etwas in dem Grundlegungsbemühen um evangelisches Kirchenrecht geändert hat, dann ist es die Einstellung der meisten der daran beteiligten Juristen zum „Recht”. Besonders nach 1945 hat allgemein ein neues Durchdenken naturrechtlicher Prinzipien begonnen. Ein einseitiger Rechtspositivismus wird wenigstens von juristischer Seite in der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion derzeit höchst selten128) vertreten, während, wie der Abschnitt über die Fehlidentifikationen beweist, die Theologie sich sehr schwerfällig von einer positivistischen Einschätzung des Rechts loszureißen vermag. „Es läßt sich eine gewisse — zuweilen polemisch übertriebene — Nähe des Protestantismus zu einem gemilderten juristischen Positivismus beobachten129).” Die Fronten verlaufen hier genau umgekehrt, wie eine metajuristische Betrachtung in Wertschätzung der Theologie annehmen möchte.

Weil also das „Recht” nicht nur als „Norm” Verstanden wird, weil ihre „Es”-Beziehung — zwar verschieden stark — berücksichtigt und bejaht wird, erstrecken sich Brücken der Begegnung für Jurisprudenz und Theologie im Fragen nach evangelischem Kirchenrecht. Die Betonung der „Es”-Beziehung der Rechts verhindert, Sohms aufgezeigten Wesensgegensatz von Kirche und Kirchenrecht zur Antithese von „Kirche” und „Recht” zu entwickeln. Das Recht als „Es”-bezogene Norm macht immerhin Ansätze sichtbar, von denen statt Wesensgegensatz eine Wesensübereinstimmung von Kirche und Kirchen„recht” in gegenseitigem Bemühen, im Entgegen-Kommen zu erreichen vorstellbar werden könnte.

Indes bedeuten die nicht zu übersehenden metajuristischen und naturrechtlichen Standpunkte in der evangelischen Kirchenrechtsfrage in einem


126) Soweit uns die vorgenommene Untersuchung des ev. Kirchenverständnisses überhaupt erlaubt, hier von einen „Begriff” zu sprechen.
127) Wenn man Barth in seiner Kontroverse mit Brunner folgt, vgl. Ordnung der Gemeinde, S. 9/10, 16-20.
128) Z.B. Wehrhahn, siehe oben S. 116 und Anm. 100.
129) Simon, Die kritische Frage Karl Barths, S. 347.

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nur äußerst engen Rahmen ein „Überholt-Sein” Sohms. Die Rechtsentwicklung bis auf den heutigen Tag Veranschaulicht anscheinend, daß Naturrecht und Rechtspositivismus zyklenartig130) „ewig wiederkehren” . . .131)

g) Formfest — normfähig

Suchen wir nun in den Charakteristika des heutigen Fragens nach evangelischem Kirchenrecht — in der Begriffsfülle, der Gefahr der Fehlidentifikation, der NichtÜberwindung der Sohmschen Frage und der aliud-Antwort der Reformierten — das Gemeinsame (gewissermaßen das integrierende Charakteristikum), dann erkennen wir, daß es in allem auf den Modus des Zusammentreffens ankommt, welches leider weithin statt eines „Begegnens” Formen eines Zusammenstoßens annimmt. Das „Problem” liegt in dem Zusammenstoß der (reformiert) an Bibel und (lutherisch) an Bekenntnis gebundenen Form der Aussage der christlichen Botschaft mit der dem wissenschaftlichen Denken sich stellenden Wirklichkeit.

Es geht um das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit. Die evangelische Theologie will sich auf Grund des Kirchenverständnisses der Wirklichkeit nur soweit verpflichten, wie es die (vorgegeben von ihm im „Glauben” bekannte) Wahrheit gestattet. Ohne formlos zu sein, fühlen sich die lutherische und reformierte Konfession in ihrer Formfreiheit beeinträchtigt132), sobald sie eine bestimmte Form bejahen. Sie argwöhnen hinter jeder Form die Gefahr der Statik, die die „Kirche” als Werden, als Geschehen nicht erträgt — eine Haltung, in der die keinesfalls hypothetische Möglichkeit liegt, „einem heimlichen ecclesiologischen Doketismus und Spiritualismus zu huldigen”133) und zu einer Verachtung äußerer Ordnung zu neigen.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es in dem heutigen Suchen nach dem „Grunde” evangelischen Kirchenrechts Lutheranern und Reformierten, obzwar in verschiedener Intensität, um „Norm” geht. Aber es soll eine nicht formbezogene Norm sein. Insoweit aber kann das aufgewiesene Kirchen„recht” nicht ein Rechtsnormatives darstellen. Es handelt sich um Gewissensnorm, eine theologische „Ordnung”, um — so große Bedenken der Ausdruck erweckt — „spirituale Norm”. Umrisse ihres Wesens enthüllt eine aufschlußreiche Bemerkung Heckels:

„Nicht der Normenbestand als solcher hat . . . geistliche Qualität, sondern einzig und allein der spiritualis usus iuris durch die .rechten Christen' als die wahren Rechtsträger im Kirchenwesen. Nur in diesem usus iuris erhält das menschliche Kirchenrecht verbindliche Kraft, und zwar nicht aus eigener Autorität als ,selbstherrlich verbindliches Wollen’, sondern lediglich wegen der geistlich gebotenen


130) Vgl. oben S. 14.
131) Wie es die Titel der Schriften von Rommen und Lang-Hinrichsen sich darzutun bemühen, vgl. oben S. 14, Anm. 47 und 51.
132) Vgl. Hauck, Sohm u. Tolstoi, S. 252.
133) Geiger, Wesen und Aufgabe kirchlicher Ordnung, S. 8.

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Rücksicht auf die Mitchristen. Das Kirchenrecht verdient also seinen Namen, genau besehen, nur im Tatvollzug der lex Christi an den Mitchristen134).”

Ein Kirchen„recht” im Sinne spiritualer Norm bedingt den „homo spiritualis qui omnia iudicat”135). Die Wirklichkeit indes, auch der „Kirche” in der uns wahrnehmbaren Gestalt, hat es mit Menschen zu tun! Es sei ausdrücklich wiederholt, daß das Recht als „Norm” nicht gleich Form ist, aber ohne Form ist die Rechtsnorm nicht denkbar136). Sowohl der Spiritualisierung der Kirchen„ordnung” auf lutherischer Seite als auch dem christozentrischen „rechten Kirchenrecht” bei Barth fehlt es an der Realitätsbezogenheit137), um als „Recht” — gerade eben als „Es”-bezogene Norm! — verstanden zu werden. Beide greifen über das Recht hinaus. Beide entfernen sich vom Handeln des Menschen in seiner Unzulänglichkeit (theologisch, „in seiner Schwachheit”). Beide entfordern ihn. Das Entfordern vollzieht sich in der Weise, daß die „Ordnung” der spiritualen „Kirche” des Luthertums als „Liebesordnung”, als Gewissensordnung, in die Verinnerlichung führt, damit aber das abwertige „weltliche”, also faktische Handeln des Menschen unterfordert, während eine Kirchen „Ordnung” in der immer „gebrochenen Form des Rechts” bei Barth138) (etwa durch Verwerfung der Approximation, durch Ablehnung der Rechtsdelegation) den Menschen in seinem faktischen Handeln überfordert. Die Gefahr im ersten Falle liegt in der Weltflucht139). Im zweiten Falle kann sie, wenn aus dem reformierten „Recht in der Gemeinde”, dem „gemeindlichen Recht”, ein souveränes „Gemeinderecht” wird, zur Verrechtlichung kirchlichen Lebens oder, wenn eben jedes „Gesetz” christologisch verstanden wird, zur Dogmatisierung140) — in nuce Denaturierung — allen Rechts führen.

Während die Theologie auf diesem Wege die Normfähigkeit kirchlichen Handelns anstrebt, ohne dafür in den letzten Dingen eine Rechtsnormativität zugestehen zu wollen, versucht die Jurisprudenz das evangelische Kirchenverständnis begrifflicher Aussage zuzuführen. Nur wo begriffliche Abklärung einen gefestigten „Begriff” erlaubt, kann sie etwas über die „Form” der Kirche sagen. Wir finden bei Troeltsch, wennzwar in


134) Heckel, Savigny, Zeitsdir. f. RG, Kan. Abt. 40, 1954, S. 313/314.
135) Vgl. dazu Heckel, ZEK Bd 4, S. 264.
136) Ohne dem Positivismus das Wort zu reden, kann man juristisch nicht die Feststellung negieren: „Der Schein gilt viel im Recht und das Recht hängt, wie Rud. Sohm sagt, wesentlich an der Form” (Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba, 1956, S. 59).
137) Klaus Ritter stellt allgemein fest, daß „der Relativismus in seiner vollen Konsequenz — nämlich in der dogmatischen Form des Nihilismus — irreal ist” (Zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus, 1956, S. 79).
138) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 79.
139) Vgl. Hauck, S. 15 — Simon: „Demgegenüber (d.h. der Christozentrik Barths) sieht die an Sündenfall und Gesetz orientierte Lehre den gefallenen Äon ausschließlicher als nicht mehr Schöpfung und noch nicht Reich Christi. Dies Denken ist namentlich in Deutschland heimisch. Ihm wohnt — wie geschichtlich erwiesen — ein heimlicher Hang zur Flucht aus der dämonisierten Welt und deren Preisgabe an ihre Eigengesetzlichkeit inne” (Die kritische Frage Karl Barths, S. 354).
140) Insoweit ist Edmund Schlink bezüglich der von ihm aufgezeigten Gefahren beizupflichten, die er darin sieht, daß die drei usus legis gemäß der Lehre Calvins bei Barth „faktisch im tertius usus zusammenfallen” (E. Schlink, Gesetz und Paraklese, in ,Antwort’, S. 334/335).

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umgekehrter Sicht, die gleiche Feststellung zur Bezüglichkeit zwischen Begriff und Form in den Worten141):

„Nur ein der Faßbarkeit in reiner Lehre und Sakrament entkleideter, in reinen religiösen Gemeingeist und rein innerliche Gemeinschaft aufgelöster Kirchenbegriff kann des Rechts entbehren. Aber das ist dann auch kein Kirchenbegriff mehr142).”

Nur wo sich die „Erscheinung” Kirche bis zu dem Grade zur „Form” verfestigt143) — der Grad muß weder ein Verhärten noch ein Erstarren sein —, daß das sich in der „Form”-gestalt vollziehende kirchliche Handeln generelle Tatbestände erkennbar macht, kann die Jurisprudenz dafür allseits verbindliche „Rechtsnormen” finden144). Die Findung kirchlicher Rechtsnormen schließt die Orientierung an biblischen Weisungen, an der Richtschnur des Evangeliums nicht aus, die „Es”-Beziehung des Rechts verlangt sie sogar. Jedoch können die also zu schaffenden „Sätze” keine Rechts-normativität erwerben, wenn sie gerade in dem Bereiche, der das Wesensnotwendige der „Form” — id est das „Heilsnotwendige” in der „Kirche” — ausmacht, keine Verbindlichkeit für das Handeln der „Gemeinschaft”, für das Verhalten des einzelnen Gliedes in ihr besitzen.

Um also in die Lage zu kommen, von „Kirchenrecht” zu sprechen, muß der Jurist eine optimale Formfestigkeit dessen, was evangelische „Kirche” heißt, zu erreichen trachten. Aber optimale Formfestigkeit hat mit absoluter Form nichts zu tun. Und nicht jede juristisch relevante Form ist unumgänglich „Institution”.

Trotzdem treffen die theologische Arbeit an der Normfähigkeit und die juristischen Anstrengungen um die Formfestigkeit der evangelischen „Kirche” in der „Institution” zusammen wie in einem Brennglas, dessen Strahlen jede aufgewiesene „Grundlage” evangelischen Kirchenrechts sogleich wieder entzünden.

Lutheraner und Reformierte empfinden einen Horror vor jedem Institutionellen145). Im Luthertum streichen die Bekenntnisschriften jedes institutionelle Erfordernis der „communio” Kirche146). Die reformierte „congregatio” Kirche verträgt das Institutionelle (mindestens im kontinental europäischen Bereiche) genau so wenig, es sei denn in der „gebrochenen” oder „durchbrochenen” Form des Rechts. Ohne den Unterschied zwischen „Gebrochenheit” (Barth) und „Durchbrochenheit” (Weber) zu mißachten, ohne auch zu bezweifeln, daß sich darin (trotz Barth) zwei Approximationsstufen zum „Rechtlichen” bieten, kommt man zu dem Schluß, daß das


141) Mahnung zugleich, welche äußerste Vorsicht in der Anwendung des Nomens „Kirchenbegriff” geboten ist!
142) Troeltsch, Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, S. 453.
143) Hier sei auf die in der Darstellung des Kirchenbegriffs Calvins, oben S. 83 schon vorgebrachten Gedanken verwiesen.
144) Indirekt von theologischer Seite zugestanden, wenn es bei Brunstäd heißt: „Es geht um einheitliche Norm, aber nicht um gleichbleibende Form, wenn auch aus der einheitlichen Norm ein übereinstimmender Grundzug der Form sich immer wieder ergeben wird” (Die Kirche und ihr Recht, S. 21).
145) In Emil Brunners Schrift, „Das Mißverständnis der Kirche” (vgl. oben S. 165), geht es, wenn auch nicht allein, um die Befreiung der „sichtbaren Ecclesia” von allem Institutionellen (in Brunners Terminologie synonym mit „Kirche”!).
146) Vgl. Wehrhahn, Grundlagenkrise und KR, DRZ 1948, S. 369.

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„Institutionelle” angesichts der fortwährenden Ereignishaftigkeit der „Kirche” reformierter Schau eben nur außerrechtlichen Charakter haben kann.

Die Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht macht zwei Bewegungen sichtbar, die streckenweise diametral verlaufen. Die evangelische Theologie sucht in der Betonung des fortwährend „Sich-Vollziehens” der communio sanctorum, der steten Ereignishaftigkeit der „Gemeinde”, die Norm aufzuweichen. Die Jurisprudenz sucht das Kirchenverständnis begrifflich zu erhärten. In der Auswirkung strebt die theologische Seite, die Rechtsnorm zu dynamisieren147), während die Rechtswissenschaft in die fluktuierende Vorstellung von evangelischer „Kirche” eine gewisse Statik hineinträgt. Es liegt in der Natur der Sachlage, daß beide Seiten ihre diesbezüglichen Bemühungen von der Penetranz einer deformation professionelle nicht immer freihalten können. Die Theologie übersteigert die „Es”-Beziehung in der Bewertung des Rechts und vergißt seine Normqualität148). Das differenzierte Denken der Juristen nimmt sich einseitig des Zuständlichen der Lebenserscheinung „Kirche” an und verliert die Verbindung mit dem glaubensmäßigen Anteil149) an dem, was „Kirche” heißt.

In einem Bilde gesprochen, zeichnen sich als Grundlage evangelischen Kirchenrechts ätherförmiges Glauben und marmorartige Norm ab. Um die Verbindung „ius ecclesiasticum” herzustellen, kommt es darauf an, zu erreichen, daß die Norm sich nicht gasartig verflüchtigt und der Glaube nicht Mineralgestalt annimmt.

Wenn sich in der gegenwärtigen Auseinandersetzung die verschiedenen Standpunkte von Theologie und Jurisprudenz zuweilen schroff voneinander abheben, bleibt dahinter nicht verborgen, daß es weder der protestantischen Theologie (besonders reformierter Provenienz) an der Einsicht gebricht, daß „Kirche” nicht jeglicher Formfestigkeit entbehren könne, noch der Jurisprudenz an dem Erkennen, daß Normfähigkeit nicht ohne Berücksichtigung wenigstens eines „ethischen Minimums” bestehe. Doch vermag der heutige Stand evangelischer Kirchenrechtsdiskussion nicht völlig die Überlegung zu verdrängen, ob das Fragen und Suchen nach den Dingen, die „darinnen” sind — „Form” in Kirche und das „ES” im Recht — nicht streckenweise mehr ad maiorem fidei gloriam denn ad maiorem Dei gloriam vollführt werde.


147) Ganz allgemein, nicht nur hinsichtlich eines ev. Kirchenrechts! Vgl. Simon: „Wohl lassen sich aus der biblischen Offenbarung Gottes über den Menschen, seine Daseinsordnungen und sein rechtliches Verhalten einige stets neu zu konkretisierende richtunggebende Weisungen für eine hier und heute gültige dynamische Ordnung herleiten” (Die krit. Frage Karl Barths, S. 355; Sperrung hinzugefügt).
148) Die „ecclesia invisibilis” kann dann nicht nur „korrektiv” wirken (vgl. Hauck, S. 54), sondern gegebenenfalls decompositiv!
149) Wesentlich erscheint daher die jüngst auf juristischer Seite gewonnene Einsicht: „Aus der Feststellung, daß es weder absolute Gewißheit noch absoluten Zweifel gibt, folgt der Satz, daß Leben nicht ohne Erkennen und Erkennen nicht ohne Glauben möglich ist” (Klaus Ritter, Zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus, 1956, S. 80).

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II. Die praktische Seite

 

In Hinwendung zu der den Juristen im Alltag so nahestehenden, oft vordergründig allzu sehr beschäftigenden „praktischen” Seite, nämlich dem vorhandenen evangelischen Kirchenrecht, ergibt sich eingangs die Überlegung, ob und wieweit diese „Praxis” geeignet sei, Antwort auf die Ausgangsfrage zu geben.

Die Untersuchung kann schwerlich von dem Antwort erwarten, was sie selbst in Frage stellt. Es liegt mindestens bedingt ein Trugschluß vor, wenn die Grundlagenauseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht ab und zu ihre Be„gründung” dem nach 1945 in Unmengen geschaffenen sog. evangelischen „Kirchenrecht” selbst entnimmt, dessen Rechtscharakter und dessen kirchliche Eigenständigkeit ihr mangels tragfähigen Grundes „problematisch” ist.

Eine juristische Betrachtung steht zudem immer in Gefahr, in dem Maße, in dem sie in das „geltende” (genau: das „praktizierte”) evangelische Kirchenrecht eindringt, sich von der eigentlichen Auseinandersetzung als einem Ringen um Formfestigkeit und Normfähigkeit zu entfernen, weil jedes angewandte Kirchengesetz der positiven Norm breitesten Raum läßt, die die eigentliche Problematik verdeckt, gar „mit einem pseudotheologischen Mantel verkleidet”1).

Mithin kann die Praxis nur insoweit Untersuchungsgegenstand sein, als sie zum einen „praktische” Grundlagen bereit hält, auf denen die geltenden Kirchengesetze fußen, und zum anderen in dem zum angewandten „Kirchenrecht” gebotenen Begriffsbestimmungen zu „Kirche” und „Kirchenrecht” Anhaltspunkte gewährt — Anhaltspunkte als Ausdruck (nicht Antwort!) jenes Ringens um Norm und Form.

In diesem Sinne wird sich die Untersuchung zum ersten Punkt mit der Barmer Theologischen Erklärung vom 30. 5. 1934 zu beschäftigen haben, weil darin der praktische Niederschlag der Auseinandersetzung für die evangelische Kirche am fühlbarsten wird, ein Niederschlag, an dessen kirchlicher „Eigenständigkeit” man trotz der aus der bisherigen Analyse offen zutage tretenden Bedenken nicht zu zweifeln wagt und der systematisch vor und über dem jeweils geltenden „Kirchenrecht” liegen sollte, aber — die sog. Lehrzuchtordnungen2) sind zu evident3) — nicht immer liegt.

Im zweiten Punkt geht es darum, gewissermaßen als Gegenstück zu der terminologischen Streuung im theoretischen Bereich, hinsichtlich des evangelischen Kirchenverständnisses und des Charakters des Kirchenrechtes, die praktisch teils in Kirchengesetzen vorhandene, teils versuchte Begriffsabgrenzung von „Kirche” und „Kirchenrecht” abrißartig aufzuzeigen.


1) Ernst Wolf, Der christliche Glaube und das Recht, ZEK Bd. 4. S. 229.
2) Z.B. „Lehrzuchtordnung der Ev. Landeskirche in Württemberg” vom 1. 2. 1951, Amtsbl. d. Ev. Landeskirche in Wttbg., Bd. 34, Nr. 28 (21. 3. 1951).
3) Zur Geschichte der Lehrzuchtordnungen vgl. Rethmeyer, Die Kirchenzucht, in: Die kirchl. Zucht (hektographiert) Norden 30. 5. 1938, S. 1/2. — Zur rechtlichen Problematik der Kirchenzucht vgl. Holstein, „Das Problem des Lehrzuchtverfahrens”, KR S. 279-294; Steck, Evangelische Lehrzucht? in ,Bekennende’ Kirche, S. 118-131; Dipper, Lehrzuchtordnung in der Ev. Kirche? KiZ 1952, 285/286.

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1. Die Barmer Theologische Erklärung

a) Zur Eigenart der „Erklärung”

Wegstein und Mahnmal zugleich in der jüngsten Entwicklung des deutschsprachigen Protestantismus ist die Barmer „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche” vom 30. Mai 19344) — Grund des Verweilens auch für kirchenrechtliche Überlegungen.

Die juristische Betrachtung kann diese sog. „Barmer Erklärung” nicht abstrakt sehen, sondern nur eingebettet in die Zeit, die sie hervorbrachte, und in engstem Zusammenhange mit der „Erklärung zur Rechtslage der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche”5) vom selben Tage und der ein Jahr vorher erschienenen Schrift Barths, „Theologische Existenz heute”6) — letztere gleichsam das dogmatische Spektrum zu der pragmatischen Vorlage der beiden Erklärungen. Dieser Zusammenhang offenbart ein Stück Kirchengeschichte, wenn auch nicht übersehen sei, daß mehr als zwanzig Jahre nachher nicht mehr alle Schichten des gegenwärtigen deutschen Protestantismus derartiger Sicht beipflichten.

Über die kirchenrechtliche Bedeutung der „Erklärung” entscheidet der Status, der ihr beizumessen ist. Bedenkt man, daß dem evangelischen Kirchenrecht nicht die subtilen Differenzierungen der annähernd vergleichbaren canonistischen Formen zur Verfügung stehen, dann wirkt der Begriff „Erklärung” sehr allgemein gehalten. Formell rechtlich kann man nach Lage der Dinge in der „Bekennenden Kirche” um 1934 der „Erklärung” nicht den Rang eines „Synodal-Beschlusses” der „Deutschen Evangelischen Kirche” (DEK) zusprechen, sondern man wird sehr genau auszuloten haben, daß es sich hier um eine „Erklärung” der „Bekenntnissynode” handelt, die in der sich in Barmen konstituierenden Form in der DEK-Verfassung vom 11. 7. 1933 nicht normiert war. Diese Verfassung sieht zwar eine „Nationalsynode” vor (Art. 5 Ziff. 3 und Art. 8 DEK-Verf.), nicht aber eine „Bekenntnissynode” qua Barmen. Auch die Verfassung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes von 1922 kennt keine „Bekenntnissynode”. Würde man die „Erklärung” als einen „Synodal”-Beschluß werten, gar in ihm ein Kirchen„gesetz” sehen, dann gelänge man zu einer gefährlichen Fiktion, die die Möglichkeit enthält aufzuzeigen, daß diesen „Normen” die formellrechtliche Voraussetzung fehlt, da sie den Rahmen des ranghöheren Gesetzes (DEK-Verf.7)) sprengen.

Die Auffassung, daß diese „Erklärung” nicht „Gesetz”, nicht „Rechtsnorm” sei, tritt besonders klar in der attributiven Bestimmung als „Theologische Erklärung” zutage. Es handelt sich also materiell um theologische


4) Abgedruckt in: „Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche”, Barmen 1934, Vorträge und Entschließungen, herausgegeben von Karl Immer, S. 8-11.
5) Abgedruckt mit obigem Titel, a.a.O., S. 37/38. — Sehr aufschlußreich ist, daß diese Erklärung 20 Jahre später bei Schoch (KR S. 91-93) mit dem verkürzten Titel „Erklärung zur Rechtslage der Deutschen Evangelischen Kirche” (S. 91) erscheint. Juristisch darf die Restriktion „Rechtslage der Bekenntnissynode” (statt „. . . der Deutschen Evangelischen Kirche”!) nicht vernachlässigt werden.
6) Barth, „Theologische Existenz heute!” vom 25. 6. 1933.
7) Worauf die „Barmer Erklärung” in der Einleitung, Abs. I und II. expressis verbis Bezug nimmt!

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Aussagen, die, auch wenn sie „als Theorem oder als Rezept”8) nicht aufgestellt wurden, sich nahe an der Grenze von Postulaten bewegen.

Man möchte es im ersten Augenblick für einen Glücksfall halten, in der „Barmer Erklärung” für die evangelische Kirchenrechtsproblematik ein von der Praxis her Vorgegebenes, ein Vor-Rechtliches anzutreffen, das der Theologie und Jurisprudenz eine gleichermaßen annehmbare „Grundlage” eines evangelischen Kirchenrechts gewähren kann.

Und doch macht gerade der theologische Charakter der „Barmer Erklärung” behufs der kirchenrechtlichen Rückwirkung ihre „Grundlagen”art für die heutige Kirchenrechtsauseinandersetzung schwer bestimmbar. Es liegt theologisch nahe, in der „Erklärung” ein „Glaubensbekenntnis”9) zu sehen und zu fragen:

„Wer wollte ernstlich die Barmer Erklärung von 1934 wegen des Mitwirkens sowohl reformierter als auch lutherischer Pastoren für ein minderes Bekenntnis als jene des 16. und 17. Jahrhunderts erklären?”10)

Der Bekenntnischarakter der „Erklärung” führt dann zwangsläufig dazu, daß in reformierter Sicht das „Kirchenrecht” maßgeblich als Stück eben auch dieses „Bekenntnisses” verstanden werden kann, während herkömmlicherweise das Luthertum genau umgekehrt aus seiner Bekenntnisverhaftung diese „Erklärung” qua Confessio als durch das Recht abgestützt, letztlich als bedingten Teil eines — wie die Untersuchung bewiesen hat, aus dem Wesen der „Kirche” nicht zu begründenden — „Kirchenrechts” empfinden muß.

Viele Mißverständnisse seither in der Beurteilung „Barmens” finden ihre Wurzel in der unterschiedlichen Betrachtungsweise, das „Kirchenrecht” als einen „Integrierenden Bestandteil des Bekenntnisses”11) oder das Bekenntnis als einen Kirchenrechtsteil zu sehen12). Daraus entspringt im ersten Falle auf reformierter Seite, in weiterem Sinne in der „Bekennenden Kirche”, die mitreißende Parteinahme „für” Barmen, im zweiten Falle die gemäßigte, wenn nicht kühle Reserve „gegen” Barmen lutherischer Kreise, die in der modernen Form eines „Bekenntnisses” mehr ein Stück inferioren Kirchenrechts argwöhnen (dessen die „eigentliche” Kirche nicht bedarf), denn einen christlichen Glaubensbestandteil.

Ebenso wie eine kirchenrechtliche Untersuchung der „Barmer Erklärung” keine Rechtsnormativität unterstellen kann, wird sie gut tun, ihren „Bekenntnis” Charakter nicht überzubetonen. Sie wird sie verstehen als einen Inbegriff von Interpretationsregeln, einer Interpretation von selten erreichter Lebendigkeit13) allerdings; denn es ist nicht zu bezweifeln, daß in weiten Kreisen des heutigen Protestantismus, nicht allein auf Deutschland


8) Barth, Barmen (1952), S. 15.
9) Barth, a.a.O., S. 10.
10) Hans Kanitz, Reformationsfest 1954, FAZ 30. 10. 1954, S. 1.
11) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 15; vgl. auch oben S. 92.
12) Immer verstanden mit den oben S. 99/100 dargelegten Einschränkungen!
13) Doch möchten wir wegen dieser Lebensnähe nicht so weit gehen, die in der „Barmer Erklärung” sich für das Verständnis der heutigen Kirchenrechtsproblematik bietenden Auslegungsregeln als „Richtschnuren” etwa im Sinne Erik Wolfs zu verstehen.

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beschränkt, die feste Überzeugung lebt: Wir können hinter „Barmen” nicht zurück.

Die „Barmer Erklärung” stellt irgendwie eine Überdachung der beiden protestantischen Konfessionen dar14). Und so wie unter einem Dach zwei sehr verschieden geartete Familien erträglich zusammen leben können, ist diese Erklärung in hohem Maße geeignet, die aufgewiesene Fragwürdigkeit der Konfessionsunterschiede darzutun und die verschiedenen Ansichten über den „Grund” eines evangelischen Kirchenrechts aus- und anzugleichen.

Ob aber durch „Barmen” diese Verschiedenheiten — gar das „Problem” evangelischen Kirchenrechts überhaupt — aufgehoben seien, ist der uns nun beschäftigende Punkt.

b) „Recht” und „Kirchenrecht” in der Barmer Erklärung

Über das Wesen des „Rechts” sagt Satz 2 der „Erklärung” das Entscheidende. Es gibt keine Bereiche menschlichen Lebens, in denen nicht Christus der Herr wäre15). Das heißt aber nichts anderes, als daß auch das Recht als eine menschliche Lebens-, eine menschliche Friedensordnung innerhalb des Herrschaftsbereiches Gottes liegt. Es hieße dann den Sinngehalt des Satzes 2 verkehren, wollte man im weiteren folgern, daß dem vornehmsten Bereich Seiner Herrschaft — der „Kirche” — das Recht nicht angehöre.

Besonders die Verbindung des Satzes 2 mit Satz 1 macht es unmöglich, „Kirche” und „Recht” als unverträglich, als nicht zusammengehörig, als antipolar zu verstehen. Der Zusammenhang von Satz 1 und 2 läßt die Es-Beziehung des Rechtes so prägnant hervortreten, daß es greifbar nahe liegt, aus dem Kommentar zu Satz 1 zu entnehmen, das biblische Zeugnis sei in einem approximativ-metajuristischen Sinne „normativ für alle Zeiten”16). Ist „konstitutive Ursache und legitimierender Grund”17) für die (staatliche!) Rechtsetzung ganz allgemein die göttliche Anordnung (Satz 5), dann muß für das Kirchenrecht demnach zwangsnotwendig das „eine Wort Gottes” konstitutiv ursächlich und mithin Legitimation sein.

Der Schwerpunkt der Barmer Erklärung in Fragen evangelischen Kirchenrechts lagert viel mehr in der Verbindung Von Satz 1 und 2 als in dem in der Kirchenrechtsauseinandersetzung so häufig zitierten Satz 5. In den beiden ersten Sätzen ist die „Kirche” eindeutig Mitte der Aussage, sie ist es in Satz 5 nicht weniger, hier aber in Konfrontierung und gleichzeitigem Wechselbezug zum „Staate”. Eine isolierte Verknüpfung der Grundlagenfrage evangelischen Kirchenrechts mit Satz 5 ist daher schon immer Ausdruck einer Aspektverschiebung; sie erfaßt nicht


14) Vgl. Middendorf: „Lutheraner, Reformierte und Unierte einigten sich auf sechs Sätze, ohne ihr besonderes Bekenntnis zu verleugnen” (Sonntagsbl. f. ev. ref. Gemeinden, 30. 5. 1954, S. 2); dazu Satz 5a der „Erklärung zur Rechtslage”.
15) Vgl. Simon, Die kritische Frage, K. Barths, S. 356.
16) Obendiek, KiZ 1952, S. 221.
17) Simon, Die kritische Frage Karl Barths, S. 347.

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mehr die Kirche und ihr Recht, sondern die Kirche und staatliches Recht. Die Gefahr des Abdrängens des kirchlichen Rechts zum staatlichen Recht hin ist gegeben. Christologische Klammern zwecks Präzisierung eines Kirchenrechts helfen da nicht mehr viel.

Es soll dabei nicht übersehen werden, daß eine maßgeblich sich aus Satz 1 und 2 ergebenden Kirchenrechtsmöglichkeit juristisch mit einer für die Auseinandersetzung leidvollen Unscharfe behaftet ist, die sich in der Verbindung des Bibelwortes in Satz 2 (1. Kor. 1, 30) mit dem dazugehörigen Verdikt durch die Gleichsetzung von iustitia und iustificatio dartut18). Im Zusammenhang kann auch diese Gleichsetzung nicht anders, als eine Abwertung der iustitia bedingen. Jedes „iustificare” setzt das Vorhandensein von „ius” voraus; die iustificatio kann begrifflich im letzten nicht eines juristischen Sinngehalts entbehren. Bezogen auf die angeführte Textstelle des Satzes 2, wäre sinngemäß in dem betreffenden Verdikt die Formulierung, daß es „keine Bereiche unseres Lebens gebe . . ., in denen wir nicht der Gerechtigkeit und Heiligung19) durch Christus bedürften”, näherliegend und in juristischer Sicht als Bezugspunkt für ein evangelisches Kirchen-recht besser geeignet.

Während die christologische Sicht im Satz 1 und 2 vorherrscht — eine Sicht, die die Existenz eines Kirchen„rechts” einschließt — tritt sie in Satz 5 neben (gar hinter?) den Gedanken der traditionellen protestantischen Auffassung vom „dazwischenhineingekommenen” Gesetz20). Auch diese Verschiebung ist neben dem soeben gebrachten Hinweis, daß ja Satz 5 vom staatlichen Recht handele, zu berücksichtigen, wenn man das sich in dieser These äußernde protestantische Rechtsverständnis für die evangelische Kirchenrechtsproblematik heranzieht. Nimmt Barth an, daß in Satz 5 „von den entscheidenden Elementen einer gesunden Lehre vom Staat keines fehle”21), dann sollte man nicht außer acht lassen, wie in diesem Problemkreis „Kirche und Staat”, neben der von ihm vertretenen christozentrischen Betrachtungsweise, im Protestantismus seit langem gewordene Gedankenreihen (unseres Erachtens stärker als in den übrigen Sätzen der Erklärung) ihren Ausdruck finden. Mehr noch: Satz 5 entbehrt nicht der (auch von Barth sehr klar erkannten22)) eschatologischen Pointe.

Man wird, gerade mit Verweisung auf Satz 2, auch aus Satz 5 Gottes Anspruch entnehmen, daß die Menschen ihr menschliches Recht untereinander als seinen Auftrag gestalten und halten sollen23). Viel wichtiger aber für die Grundlegung evangelischen Kirchenrechts erscheint es, daß in Satz 5 der Staat — wenn zwar nach göttlicher Anordnung — „für Recht zu sorgen” hat „unter Androhung und Ausübung von Gewalt”!

Wie stark auch in den übrigen Sätzen der Barmer Erklärung der Blick „von vorn”, vom Ereignis der Menschwerdung Gottes her ergehen mag,


18) Es sei auf die Ausführungen oben S. 160 verwiesen.
19) statt „Rechtfertigung und Heiligung”.
20) Vgl. Simon, Die kritische Frage Karl Barths, S. 351 und 353.
21) Barth, Barmen, S. 15.
22) Barth, a.a.O., S. 16.
23) Vgl. Heinemann, StdG, 1954, 7. Heft, Sp. 389.

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in Satz 5 bleibt die umgekehrte Blickrichtung, die herkömmliche Neigung der protestantischen Theologie zum Rechtspositivismus24) unverkennbar. Es ist, als sei es dem (wenigstens kontinentalen) Protestantismus unmöglich, das „Recht” anders als in engster Verbindung, gar Gleichsetzung mit der „Gewalt” zu sehen. Wie weit Barmen, Satz 5, von einer Vorstellung vom „Recht” als „Friedensordnung”25) entfernt ist, ermißt sich aus der Formulierung, daß der Staat für Recht „und Frieden” zu sorgen hat.

Was uns im Letzten in Satz 5 bei aller theologisch sicherlich sehr ernst gemeinten Gebundenheit an „göttliche Anordnung” entgegentritt, ist der Staat als Rechtssetzer und das Recht als Zwangsordnung. Ein Vergleich kann diesen Eindruck noch verstärken.

Die jüngst ergangene — offensichtlich nicht nur in lockerem Zusammenhang mit „Barmen” stehende — „Declaration of Faith” der Presbyterianen Kirche in Kanada vom 6. Juni 195526) sagt in Satz II des Art. 3:

„He (= Christ) commissions the civil authorities with the right and duty of using force under law against internal disorder and external aggression27).”

Hier ist also die „Gewalt” dem Recht unterstellt. Nicht wie in „Barmen” Satz 5 hat der Staat „unter Ausübung von Gewalt für Recht zu sorgen”, sondern hier steht die „Gewaltausübung unter dem Recht”. Der Staat ist gehalten, seine Aufgabe (als Oberbegriff für „right and duty”), Gewalt zu üben, nach Maßgabe des Rechts zu erfüllen.

In beiden „Erklärungen” handelt es sich um die Beziehung zwischen Recht und Gewalt. Während das Beispiel aus dem angelsächsischen Kirchenrecht diesbezüglich eine Überordnung des Rechts ausweist, macht „Barmen” sichtbar, daß der kontinentale Protestantismus, wie schon bei der Untersuchung der Fehlidentifikationen dargestellt, sich schwerlich von der Vorstellung einer Subordination des Rechts zur Gewalt, die höchst-falls eine Koordination zu nennen wäre, zu lösen vermag. Man geht nicht zu weit, an dieser Stelle von einer negativen Wertvorstellung vom „Recht” in der evangelischen Theologie zu sprechen.

Eben diese Wertvorstellung ist es wohl auch, die in Satz 4 den Begriff der „Ämter in der Kirche” betont von „Herrschaft” absetzt, deren begriffliche Grenzlinie zum „Recht” zu ziehen dem Protestantismus weithin nicht gelingt. Sofern man auf die übliche Fehlidentifikation zurückgreift, folgt aus Satz 4, daß „Ämter in der Kirche” nicht „Recht” begründen, nicht „Recht” sind. Die Absage an ein „Kirchenrecht” qua „Amtsrecht” ist unmißverständlich28) .

Um so kräftiger lassen Satz 3 und 4 den Gemeindegedanken hervortreten. Er erfährt noch eine Verdichtung durch Satz 5 b der „Erklärung zur Rechtslage”, der die „Gemeinde” als „Trägerin der Wortverkündigung”


24) Vgl. Simon, Die kritische Frage Karl Barths, S. 347.
25) Vgl. die Darstellung von Verdros, Was ist Recht? S. 593/94.
26) Genaues Rubrum: „A declaration of faith concerning Church and Nation” by the Presbyterian Church in Canada. 6. Juni 1955 — abgedruckt in der Festschrift für Barth, ,Antwort’, S. 456.
27) Sperrung hinzugefügt.
28) Dazu auch Satz 4 der „Erklärung zur Rechtslage”.

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umschreibt. Indem Satz 3 der „Barmer Erklärung” in seinem Kommentar sogar von „ihrer Ordnung” spricht, ergibt sich ein Ansatzpunkt für das Kirchenrecht als „Recht in der Gemeinde”, eben als Teil der „Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes” (Satz 4). Allerdings wird man dabei an die Vorstellungen etwa eines Dienst- und liturgischen Rechtes29) zu denken haben, die mehr auf ein Tertium, denn auf eine Es-bezogene Norm hindeuten.

Das „Amt” als ein Gemeindedienst im Verein mit der ohnehin starken Hervorhebung der Gemeinde verhindert, soweit der „Barmer Erklärung” Weisungscharakter zugestanden werden darf, in der Ausgestaltung eines materiellen Kirchenrechts jeden Zentralismus. Die „Gemeinde” als der „Grund” eines Kirchenrechts kann gegebenenfalls zu einer Ausbalancierung aller Kirchen„organe”30) untereinander, zu einem pretentiösen Gleichgewichtet-Sein führen31). Die darin verborgene Gefahr einer Atomisierung kirchlichen Zusammenhalts vergrößert sich in dem Maße, in dem die schon erwähnte Funktionalisierung unseres öffentlichen Lebens fortschreitet. Diese latente Gefahr zu bedenken, erscheint angezeigt, wo in der Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht die „Barmer Erklärung” von Satz 1 aus („Christus — das eine Wort Gottes”), in Anwendung einer rein theologischen Formulierung Iwands, noch als Kanon für den Kanon empfunden wird32).

Eine Hinwendung und Abgrenzung der „Kirche” zum „Recht” ist in der Barmer Erklärung nicht zu leugnen. Auch die „Erkenntnis einer wechselseitigen Bedingtheit von innerer Ordnung und politischer Predigt der Kirche”33) ist ihr zu entnehmen. Ob aber diese „innere Ordnung” eine Ordnung im Rechtssinne, damit aber Kirchen„recht” sei, läßt der Sinngehalt „Barmens” offen. In dem Grade, in dem die Verbindung von Satz 1 und 2 für eine solche Annahme spricht, steht der gedankliche Zusammenhang von Satz 3, 4 und 5 (in der Verbindung mit Satz 5 a und b der Erklärung zur Rechtslage) dagegen, übrig bleibt jene, wie die Analyse zeigt34), schwer bestimmbare evangelische Vorstellung von der teils vor-juristischen, teils a-juristischen „Ordnung”.

c) Zur Traditions- und Situationsbindung der „Barmer Erklärung”

Abgestellt auf die formale Seite des Aufbaus, fällt in der Betrachtung auf, daß die Erklärung in jedem Satz von einem „Wort” der Hl. Schrift ausgeht, dann eine Art zeitgemäße Wahrheit zu bezeugen sich bemüht und mit der Abwehr einer Irrlehre schließt. Dialektisch erfaßt, enthält jeder Satz die Reihenfolge These, Synthese, Antithese.


29) Vgl. die oben (S. 136 und Anm. 8-15) behandelten Ausführungen Barths.
30) Ihre juristische Unscharfe unterstellt.
31) Der Einfluß ist deutlich in der Grundordnung der EKD, in dem fast übertrieben kleinlich durchgeführten Ausgleich der Kompetenzen zwischen „Synode”, „Kirchenkonferenz” und „Rat” (Grundordnung der EKD vom 13. 7. 1948, Art. 22-32).
32) JK 1953, S. 516.
33) Wehrhahn, DRZ 1948, S. 370.
34) Vgl. oben „Die Flucht in die Ordnung”, S. 150-155.

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Dabei macht sich von der formalen Seite her eine juristische Verdichtung der Redaktion bemerkbar. Unter Zuhilfenahme juristischer Termini läßt sich jeder Satz in die Dreiheit gliedern: Norm, Kommentar und Sachverhaltssubsumtion.

Das Durchschlagen des Juristischen im Formalen der Barmer Erklärung stellt sie in die lange Reihe der Kirchen- und Konzilsbeschlüsse der Jahrhunderte. Auch „Barmen" steht in der gesamtkirchlichen Tradition. Von den einzelnen Verdicta in den 6 Sätzen ist es formell kein großer Schritt etwa zum Syllabus Pius IX. von 1864 oder zu den Beschlüssen des Tridentinum. Das Anathem dort wie hier reicht gar weiter als nur in das Juridisch-Formale.

Allerdings erreicht die Disposition der „Barmer Erklärung” nicht mehr die hochscholastische Form wissenschaftlicher Untersuchung, die geschlossene Dreistufung von sie (pro) — non (contra) — conclusio. In dem betonten Nachstellen des „contra” — dialektisch der Antithese — findet die Traditionsbindung ihre Grenze.

In dem Nachstellen des „contra” liegt das eigentlich Protestantische. Die dialektische Umstellung der Folge These, Antithese, Synthese bedeutet nicht nur einen graduellen, sondern auch einen funktionellen Unterschied zwischen der Barmer Erklärung und berühmten Erklärungen (seien sie Konzilsbeschlüsse oder Enzykliken) der katholischen Kirche.

An diesem Punkt schlägt das Formale auch in einen Unterschied des Materialen um. Formal traditionsgebunden, erweisen sich die 6 Sätze (die „Erklärung zur Rechtslage” ohnehin) material als situationsverhaftet. Die Absage an „Amt” und „Hierarchie”, das pointierte Herausstellen der „Gemeinde”, aber auch der Einbezug von Kirche und Staat in den allumfassenden Bereich, in dem der Mensch Christus zu eigen ist (Satz 5 i. V. m. Satz 2!) — sie erwachsen aus den Verhältnissen in der „Deutschen Evangelischen Kirche” der Jahre 1933/34, als ein Staat mit seinem, rechtspositivistisch verstandenen, staatsrechtlichen Souveränitätsanspruch ernst macht und sich anschickt, reformatorisches Wirken seinen Zwecken dienstbar zu machen.

Hier gewinnt das „Evangelische” Gestalt. Trotz christozentrischer Vorstellungen (besonders in Satz 1, 2 und 6) verhindert der Sinnzusammenhang der 6 Sätze, Christus als Ordnungsaxiom zu verstehen und damit dem kirchenrechtlich so bedeutsamen Gedanken anzuhangen, der, in ganzheitlicher Schau der Katholischen Kirche, das „Kirchenrecht” — nun eben sehr wohl als „Recht” — beinahe nahtlos in das Dogmengebäude einfügt.

Nicht die Synthese, sondern die Antithese ist das Fanal Barmens. Sie kann eine kirchenrechtliche Betrachtung auch zwanzig Jahre nachher nicht überhören. Barmen bringt nicht die für die Begründung eines Kirchenrechts so wichtige ausgewogene Verbindung von „Recht und Gnade”, von „Evangelium und Gesetz”. Barmen proklamiert nicht Christus als „Richter und Herrscher” (etwa im Sinne Calvins). Der in der „Barmer Erklärung” bekannte Gottessohn ist . . . ganz „evangelisch”, ganz protestantisch verstanden . . . „ist das eine Wort Gottes” (Satz 1). Für die Frage nach

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evangelischem Kirchenrecht als „Recht” bleibt es nicht bei zufälliger, sondern wird es zu ernster Bedeutung, daß die „Barmer Erklärung” schließt: „Verbum Dei manet in aeternum” und nicht — — Deus manet in aeternum.

 

2. Die juristisch angewandte Begriffserfassung von „Kirche” und „Kirchenrecht”

Angesichts des begrifflich verschieden stark durchsetzten — alles in allem: dynamischen — Kirchenverständnisses und des in der derzeitigen Kirchenrechtsauseinandersetzung letztlich nirgends völlig auszuräumenden Zweifels, daß Kirchen„recht” in der evangelischen Kirche seinen „Grund” finde, lassen sich angewandte Begriffserfassungen auf diesem Gebiete nicht anders werten, wie in der Einleitung zur praktischen Seite der Diskussion betont, denn als Anzeichen, als Merkmale des Fragens nach evangelischem „Kirchenrecht”, nicht aber als unbestrittene Antworten, gar als normierte Größen in juristischem Sinne.

Diese Einsicht wirkt juristisch dort sehr befremdend, wo es das sogenannte „Kirchenrecht” selbst ist, das in seinen verschiedenen Formen — als Kirchenverfassung, Kirchengesetz, Kirchenverordnung — die begriffliche Erfassung bietet. Doch können wir uns gemäß der Ausgangsfrage der Untersuchung dazu nicht anders verstehen, weil die dargestellte theoretische Auseinandersetzung nach ihrem heutigen Stande eine klare Bejahung des evangelischen „Kirchenrechts” als „Recht” nicht erbringt. Wir kommen trotz begrifflicher Ansatzpunkte, trotz einer Vielzahl von „Grundlagen”, trotz des so oft gehörten Nomens „Recht” nie ohne Einschränkung aus.

Wo sich angewandte Begriffsbestimmungen zu Kirche und Kirchenrecht außerhalb des kodifizierten evangelischen „Kirchenrechts” finden, sei es in der staatlichen Gesetzgebung, sei es als Ertrag, als Niederschlag des theoretischen Ringens, können sie juristisch leichter zugänglich und ansprechbar sein. Doch wird bei ihrer „Anwendung” die theologische Reserve naturgemäß größer sein.

Hinzuweisen ist schließlich darauf, daß die Grenzen des Bereiches der „Anwendung” nicht völlig abzustecken sind. Im einzelnen kann es heute zweifelhaft sein, ob eine Begriffsbestimmung zu „Kirche” und „Kirchenrecht” noch der theoretischen Auseinandersetzung angehört oder schon praktisch „angewandt” wird. Die Möglichkeit des Bestrittenseins muß selbst dann noch gelten, wenn ein kirchliches „Gesetz” einmal einen im theoretischen Bereich gebildeten Begriff übernimmt. Widerspricht solche Möglichkeit zwar jeder herkömmlichen Rechtsvorstellung, so ist sie doch im non-conformist-Element der protestantischen (vorzüglich reformierten) Theologie angelegt.

a) Zur Begriffsbestimmung der „Kirche”

Die Hauptfeststellung, die es hier zu treffen gilt, besteht darin, daß das vorhandene evangelische „Kirchenrecht” überwiegend eben von „Kirche”

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spricht35) und damit die begriffliche Bestimmung offen läßt. Damit ist, streng genommen, in jede einzelne Kirchen„rechtsvorschrift” (denn sie wird ja „angewandt”, als sei sie „Recht”) das Bemühen evangelischer Theologie um das Verständnis der „Kirche” hereingeholt. Juristisch geschieht damit aber mehr: Nicht nur das Verständnis, sondern auch die Verständnisdivergenz in Fragen nach der „Kirche” mitsamt allen resultierenden Friktionen wird in die mindestens als „Rechtsnorm” angewandte Kirchenvorschrift hereingezogen. Daß es sich hier nicht um eine abstrakte Folgerung handelt, zeigt sich am Beispiel des Art. 1 der Grundordnung der EKD. Die Interpretation des Verhältnisses zwischen Absatz I und II hat schon Anlaß zu Beeinträchtigungen in der Zusammenarbeit zwischen den hier zusammengeschlossenen lutherischen Gliedkirchen und der reformierten Gliedkirche gegeben36). Der Zusammenhang der beiden Absätze des Art. I GO/EKD reicht weiter als bis zu der juristisch adäquaten Überlegung der Eigenart eines Kirchen„bundes”37). Das Zusammenhängende erschließt sich in der Tiefe aus der alles bewegenden Frage, wie die „Glieder” den Bund als „Kirche” verstehen38). Wenn ein Ratsbeschluß der EKD vom 18. 1. 1950 eine „mit Art. 1 GO/EKD gegebene Spannung” konstatiert39), dann ist damit — formaljuristisch am Eingang der ranghöchsten Kirchenrechtsnorm — in groben Zügen das Zentralproblem evangelischen Kirchenrechts angesprochen. Das Selbstverständnis evangelischer Kirche besteht aus und in dieser „Spannung”. Beachtung für die „Grundlegung” verdient, wenn in Art. 1 GO/EKD eine „beharrende” und eine „vorwärtsweisende” Linie unterschieden werden40); dem Wesen des Rechts, die Friedensordnung zu wahren, steht das beharrende Element näher als die Dynamis des Vorwärtsweisens . . .

Einen Großteil wichtiger Aussagen zur „Kirche” enthalten die Präambeln und sog. „Grundartikel”41) in den Kirchengesetzen. Formulierungen dieser Art besitzen im ersten Falle bestimmt und im zweiten in bestrittenem Ausmaße keine Normqualität. Da ihnen der Wert von Auslegungsregeln zukommt, können sie indirekt den „Rechts”charakter des jeweiligen Kirchengesetzes stark reduzieren.

Wo außerhalb des Theologischen die Kirche erfaßt wird, erscheint sie weithin als „Körperschaft des öffentlichen Rechts”42). Unwillkürlich wird man dabei an einen Begriff des niederländischen Staatsrechts, „getolereerde Kerken”, erinnert43). Er läßt einen doppelten Sinn offenbar werden.


35) Vgl. Grundartikel I und II Abs. 1 sowie Art. 1 der Grundordnung der ev. Kirche im Rheinland; Art 1 Abs. II GO/EKD. Auf reformierter Seite statt „Kirche” „Gemeinde”, z.B. Art. II der Kirchenordnung der Nederlandse Hervormde Kerk vom 7. 12. 1950.
36) Vgl. Brunotte, GO/EKD, Ihre Entstehung und ihre Probleme, S. 118-120.
37) Vgl. Brunotte: „Absatz I der Präambel besagt durchaus nicht, daß den verschiedenen, in der EKD zusammengeschlossenen Bekenntnissen ein gemeinsames Schriftverständnis zu eigen sei. . . . Wie Absatz III ausdrücklich betont: im Verständnis der Heiligen Schrift unterscheiden sich die Lutheraner, Reformierten und Unierten voneinander” (a.a.O., S. 116).
38) Betonung des Bundes als „Kirche” bei Herrenbrück, Bezirksbruderbrief 1953, Nr. 18 Anhang S. 6/7; vgl. Schoch, KR S. 176/77.
39) Brunotte, a.a.O., S. 120.
40) Nach Brunotte (a.a.O., S. 121) ist diese Deutung auf Grund des Ratsbeschlusses vom 18. 1. 1950 abzulehnen.
41) Z.B. Kirchenordnung der Ev. Kirche im Rhld. vom 2. 5. 1952.
42) z.B. Art. 4 KO/Rhld.
43) Vgl. van Apeldoorn, Inleiding tot de Studie van het Nederlandse Recht, blz. 86.

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Nicht nur der Staat „toleriert” die „Kirche” in streng positivistischer Auffassung44) als „privilegierte Korporation”45), sondern die Kirche „toleriert” ihre juristische Erfassung in der „Körperschaft” nicht weniger, die, unbeschadet der korporativen Merkmale der „Kirche”, wie sie in der Leib-Christi-Vorstellung angelegt sind, ihr Selbstverständnis als communio resp. congregatio mehr oder minder stark unberücksichtigt lassen muß.

Stellt man auf das Werden und Sich-Vollziehen der „Kirche” in der communio oder congregatio ab, dann wirken die zivilrechtlichen Institutionen der „Gemeinschaft” und „Gesellschaft” zu farblos, der „Verein” zu eng; denn die „Kirche” sprengt den Rahmen eines ideellen Zweckverbandes46). Die öffentlich rechtlichen Verbandsformen der Stiftung und der Anstalt entsprechen in ihrer Anwendung zwar gewissen Wesenseigenschaften der „Kirche”, erwecken aber wegen ihrer Innenstruktur (z.B. Anstaltsgewalt) Bedenken. So nahe sich entwicklungsmäßig die politischrechtliche „Gemeinde” und die Kirche als „Gemeinde” stehen, so entfernt ist der heutige Staats- und verfassungsrechtliche Begriff der Gemeinde von der theologischen „Gemeinde”-Vorstellung. Der im geltenden Kirchenrecht oft angewandte Ausdruck „Gemeinde” deutet viel mehr auf eine unklar geprägte „Gemeinschaft” hin als auf den juristischen Kommunalbegriff. Gerade an dieser Stelle kann die praktische Anwendung des Kirchenrechts — etwa in Anlehnung an das verwaltungsrechtliche Subordinationsprinzip, in Fragen der Weisungsgebundenheit der (Einzel-) „Gemeinden” — zu schwerwiegenden Abweichungen zwischen dem juristischen Begriffsgehalt und der theologischen Vorstellung führen.

Um dem Besonderen des evangelischen Kirchenverständnisses besseren Ausdruck zu verleihen, geht man in dem Bestreben, das Typische verschiedener bestehender Verbandsformen zu verwerten, dazu über, deren konstitutive Merkmale zu kombinieren. Auf diese Weise erscheint die „Kirche” als Anstaltsverband, als Stiftungsgemeinschaft47), als Organisation mit genossenschaftlichen Zügen48), als Mandatsverband (wegen des Mandatum Christi), gar als „autoritärer Verband”49). Nun liegt aber in dem Verbinden von Merkmalen verschiedener Institutionen dieselbe Gefahr, die uns schon bei den Wortpaarungen zur Bestimmung der Ordnung begegnet ist50). Die zu einer neuen „Form” vereinigten Strukturteile schließen sich gegenseitig unter Umständen aus, weil sie grundverschiedenen juristischen Gebilden entstammen. Es werden also abstrakte Gebilde geschaffen, die der Eigenart des Kirchenverständnisses entsprechen sollen, während sie wegen der Heterogenität ihrer Teile nicht normierbar sind, so daß in solchen Fällen oft schon eine rechtlich mögliche Institution fehlt, ganz zu schweigen von der theologischen Möglichkeit.


44) Was Sohm sehr klar gesehen hat, vgl. KR I, S. 692.
45) Z.B. Art. 140 BGG mit Verweisung auf Art. 137 Abs. V und VI WRV; entspr. Art. 37 Abs. II Saarl. Verf.
46) Vgl. Liermann, KR, S. 17.
47) Zur „Stiftungsanstalt” vgl. Brunstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 23.
48) Liermann KR S. 17.
49) Brunstäd, a.a.O., S. 24.
50) Vgl. oben S. 155.

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Bedingt durch das reformierte „Gemeinde”verständnis, gefördert durch die Ideale der Liebes- und Dienstordnung, erscheint heute die „Genossenschaft” als der am häufigsten auf die evangelische „Kirche” angewandte juristische Begriff51). Es gibt kaum eine Kirchenrechtsdarstellung, die nicht wenigstens einen genossenschaftlichen Einschlag in der evangelischen Kirche dartäte. Die Häufigkeit der Anwendung erweist sich dabei aber nicht als Gradmesser der am weitesten erreichten Annäherung zwischen der theologischen Kirchenvorstellung und dem rechtlichen Verbandsbegriff. Es ist zu bedenken, daß die heute rechtlich relevante Form der „Genossenschaft” aufs engste mit der ökonomischen Entwicklung der letzten hundert Jahre verbunden ist. Die „Genossenschaft”52) in ihrem rechtlichen Gehalt läßt sich aus unserer Wirtschafts- und Sozialstruktur nicht lösen, so daß sie nicht die reine Verkörperung der von Otto von Giercke (1840-1921) entwickelten Genossenschaftstheorie darstellt. Die Bezeichnung der evangelischen „Kirche” als „Genossenschaft" unterstellt statt des rechtlich relevanten Verbandes eine idealisierte Genossenschaftsvorstellung, die germanische Wurzeln stärker sichtbar werden läßt und etwa auf Vorstellungen der germanischen Markgenossenschaft, der Gemeinderschaft oder der patriarchalisch genossenschaftlichen Form der altserbischen Zadruga hindeutet.

Gegen eine extensive Übernahme des juristischen Genossenschaftsbegriffes für die evangelische Kirche erheben sich daher mit gutem Grund Bedenken. Die der evangelischen Kirche essentiellen Strukturlinien etwa ihres pneumatischen Wesens oder des Prinzips des allgemeinen Priestertums widersprechen der Genossenschaftsstruktur. Man wird Wehrhahn beipflichten müssen, daß der Sinn dieser Stücke evangelischer Lehre „nahezu in ihr Gegenteil verkehrt wird, wenn man sie auf eine Linie rückt mit der juristischen Genossenschaftstheorie”53).

Die Unzulänglichkeit, die in der Anwendung juristischer Spezialbegriffe auf die „Kirche” gemäß evangelischem Verständnis sichtbar wird, zeitigt als Rückwirkung den Gebrauch sehr allgemein gehaltener Formen, die teilweise schwerlich noch die Voraussetzungen eines Generalbegriffs erfüllen. Die „Kirche” wird dann zur „Religionsgesellschaft”54), zur „Religionsgemeinschaft” oder „Kultgemeinschaft” („association culturelle” im sog. französischen „Trennungsgesetz”). Während die Spezialbegriffe immerhin annähernd jeweils bestimmte Wesenszüge, wenn auch nicht das „Wesen” der „Kirche” in evangelischem Verständnis andeuten55), lassen die allgemeinen Begriffe den eigentlichen Wesensgehalt der evangelischen „Kirche” verblassen; denn sie beschränken sich nicht einmal auf die „Kirche”, sondern meinen jeden religiösen Zusammenschluß.


51) Z.B. Adolf v. Hamack, Die Entstehung der Kirchenverfassung, 1910, S. 151; Brunstäd, a.a.O., S. 23/24; Liermann, a.a.O., S. 17; Maurer ZEK Bd. 4 S. 338; Holstein, KR, S. 96-99, S. 264-269.
52) Entsprechend, wenn auch nuanciert, niederländisch „genootschap” (vgl. van Appeldoorn: „kerk-genootschap”, a.a.O., blz. 86), französisch „co-operative”.
53) Wehrhahn, ZEK Bd. 1, S. 71; dazu die Ausführungen S. 70/71.
54) Auch im Bonner Grundgesetz durch die in Art. 140 enthaltene Verweisung auf Art. 137 Abs. II-VII WRV. — Zu den historischen Wurzeln der „Religionsgesellschaft” vgl. Hauck, Sohm und Tolstoi, S. 150-153.
55) Z.B. in der „Stiftung” den Stiftungsgedanken, in der Anstalt die ,,Amts”idee, in der „Genossenschaft” das „Gemeinde”bewußtsein.

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„Jede christliche Kirche und sonstige, nichtchristliche Religionsgemeinschaft ist als organisiertes Gemeinwesen ein rechtlich geordneter Verband56).”

Um äußerlich ähnliche soziologische Gebilde begrifflich in Einklang zu bringen, wird die Begriffsbestimmung soweit abgeflacht, daß ihr auch nichtchristliche „Gemeinschaften” zuzuzählen sind. Damit erreicht die juristische Begriffsbestimmung der „Kirche” die Grenze der Sinnentsprechung; denn die irgendwie organisierte Gemeinschaftsbildung „Kirche” (gleich ob als „kyriake” oder „ecclesia” angesprochen) beschränkt sich auf die christlichen Konfessionen. Ein juristischer Generalbegriff, der christliche und nichtchristliche „Gemeinschaften” umschließt, besagt eine Indifferenz, die gegen den Ausschließlichkeitsindex im theologischen Verständnis der „Kirche” verstößt, weil sich gemäß dem Glauben aller christlichen Richtungen die „Kirche” im Besitze der ganzen57) Wahrheit „weiß”.

Es liegt daher nahe, daß die Begriffsbestimmung der „Kirche” dort theologisch und juristisch gleichermaßen die stärkste Präzision erreicht, wo sie — paradoxerweise — deren geistlichen und weltlichen „Status” möglichst geöffnet hält58). Es braucht wegen des Geöffnet-Bleibens der Definition weder an juristischer Klarheit noch durchdachter Formulierung zu fehlen. Bei Stutz heißt es:

„Kirche im Rechtssinne ist nach evangelischer Auffassung die innerhalb menschlicher Ordnung in Erscheinung tretende und an rechter Wort- und Sakramentsverwaltung äußerlich erkennbare Gemeinschaft der an Gott in Jesu Christo Glaubenden59).”

Ähnlich erscheint die „Kirche” bei Liermann als

„eine anstaltlich verfaßte, mit genossenschaftlichen Zügen durchsetzte rechtliche Organisation Von Christen auf der Grundlage evangelischen Glaubens”60).

Allerdings ist auf diese Weise, die das Sich-Offen-Halten für das „Eigentliche”, das „Besondere” der Kirche zu einem Imponderabilium ihrer Begriffsbestimmung werden läßt61), der Gefahr nicht ganz zu entgehen, daß der Jurist im konkreten Falle sich in Aussagen über die Kirche mit der sui generis-Formel zufrieden gibt und damit die sich dem Kirchenrecht in der evangelischen „Kirche” bietenden, begrifflich wässrigen „Grundlagen” einfriert.


56) Giese, in Koeniger-Giese, KR, S. 213.
57) Christliche Paradoxie!
58) Vgl. Otto Weber in der Besprechung zu Art. II der Kirchenordnung der Nederlandse Hervormde Kerk vom 7. 12. 1950, ZEK Bd. 2, S. 230: .Ohne Frage gehört zu einer derartigen Offenhaltung der Grenzen Mut, und zwar jener Mut, der im Gedanken des Apostolats sich ausspricht”.
59) Ulr. Stutz, KR, Enzyklopädie der RW Bd. 5, 1914, S. 460.
60) Liermann, KR, S. 17.
61) Vgl. Otto Weber: „Indem die Kirche sich (nach der Kirchenordnung der Nederlandse Hervormde Kerk vom 7. 12. 1950, Art. II) als eine in Bewegung befindliche und dienstbare Gemeinschaft versteht, verliert sie zugleich das Bestreben, ihre Abgrenzung nach außen absolut eindeutig zu vollziehen” (ZEK Bd. 2, S. 229); dazu auch Otto Weber, Zur neuen Kirchenordnung der Nederlandse Hervormde Kerk, Smend-Festschrift 1952, S. 360.

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b) Zur Begriffsbestimmung des evangelischen Kirchenrechts

Es ist ein leichtes und zudem juristisch die Konsequenz, von der jeweils auf die evangelische „Kirche” angewandte Verbands- resp. Organisationsform her in der Praxis festzustellen, das evangelische „Kirchenrecht” sei eben das „Recht” dieses so und so gearteten Verbandes. Das evangelische Kirchenrecht tritt dann als ein Satzungsrecht auf und wird (keineswegs nur von staatlicher Seite) im näheren als Anstaltsordnung, Stiftungsordnung oder Vereinsrecht bestimmt62). Die allgemeinste Formulierung führt, entsprechend der Erfassung der „Kirche”, zum „Religionsgesellschaftsrecht”63). Das „Kirchenrecht” gerät somit formell auf dieselbe Ebene mit irgendeinem beliebigen Vereinsrecht (i.w.S.)64).

Aber auch dort, wo das Kirchenrecht nicht von der „Kirche” als einer Organisationsform abgeleitet wird, bleibt es bei der juristischen Vorstellung vom „Recht”. Das Kirchenrecht wird dann als Inbegriff der Rechtssätze aufgefaßt, die die Kirche als Ganzes und den einzelnen als ihr Glied betreffen. Es ist „die Summe der Normen, welche für die rechtlichen Beziehungen und Verhältnisse der Kirche maßgebend sind”65).

Unbeschadet dessen, daß als Auswirkung der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion in juristisch-technischer Hinsicht der Ausdruck „Ordnung” vordringt66), führt die praktische Erfassung des evangelischen Kirchenrechts schließlich immer aufs neue zur „Norm” und zwar sehr wohl im Sinne der Rechtsnorm. Diese Art der praktischen Begriffsbestimmung ohne Rücksicht auf die Zweifel an der Art der Rechtsqualität im theoretischen Bereich kann sich weithin auf die ungenaue, oft widersprüchliche Unterscheidung zwischen „Recht” und „Ordnung” in dem geltenden evangelischen Kirchenrecht stützen. Sagt eine Landeskirche:

„In der Bindung an Schrift und Bekenntnis, die auch für die Setzung und Anwendung ihres gesamten Rechtes grundlegend ist, gibt sich die . . . Kirche . . . folgende Ordnung”67),

dann wird eine originäre, also kircheneigene (nicht delegierte!) Befugnis behauptet, „Recht” (nicht „Ordnung”) zu setzen und die „Ordnung” als „Rechts”ordnung, nämlich als ein Teil des kircheneigenen Rechts, ausgewiesen.

Der „Grund” der kircheneigenen „Rechts”setzungsbefugnis bleibt eine Fiktion; denn die erwähnte Bindung an Schrift und Bekenntnis verweist auf die theoretische Seite der Auseinandersetzung, wo niemand eindeutig eine kirchliche Rechtserzeugung bejaht, sondern selbst auf reformierter


62) Begriffsbestimmungen dieser Art z. B. bei Friedberg, KR, S. 2; Ruck, KR, S. 2 und 5.
63) „Gesamtheit von Rechtsnormen, die das Leben einer Religionsgemeinschaft regeln” (Kost, Jur. Wörterbuch, 2. Aufl., S. 259). Vgl. Oeschey, Luther und das Recht, S. 299.
64) z.B. v. Apeldoorn: „. . . de kerken . . . moeten up een lijn gesteld worden met verenigingen. Dit sluit vanzelf in, dat haar regelingen niet in strijd mögen zijn met het positieve recht, voor zover dit althans van dwingenden aard is” (a.a.O., blz. 86) — vgl. Wegner, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 304/05.
65) Frantz, KR, S. 2.
66) Vgl. Grundordnung der EKD vom 3. 12. 1948; Oldenburgische Kirchenordnung vom 20. 2. 1950; Grundordnung der provinzial-sächsischen Kirche vom 30. 6. 1950; Kirchenordnung der Ev. Kirche im Rhld. vom 2. 5. 1952.
67) Nach Ziff. IV der Grundartikel der Kirchen Ordnung d. Ev. Ki. Rhld.

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Seite, wie schon behandelt68), das negative Ergebnis zu finden ist: „Die Kompetenz zur Aufrichtung von Kirchenrecht ist grundsätzlich nicht aufweisbar” (Barth).

Den „Grund” des praktisch als „Recht” bestimmten evangelischen Kirchenrechts bietet auch der „Auftrag” nicht. Es ist kein Zufall, daß die Grundordnung der EKD in Art. 2 vom „Recht der evangelischen Kirche” (Abs. I) und von der „Gesamtkirchlichen Rechtssetzung” spricht (Abs. II), hingegen in Art. 3, Abs. I, wo die Kirche ihre Unabhängigkeit „um ihres Auftrages willen” statuiert, den Begriff „Recht” nicht verwendet, sondern die kirchliche Unabhängigkeit als bestehend „in der Aufstellung ihrer Grundsätze, in der Ordnung und Verwaltung” sowie in der Amtsverleihung und -aberkennung umreißt. Im Unterschied zum vorigen Beispiel aus dem geltenden Kirchenrecht kann hier zwischen „Ordnung” und der „Rechtsnorm” getrennt werden. Wenn Art. 2 Abs. I GO/EKD heute dahingehend kommentiert wird, daß das Kirchenrecht in der evangelischen Kirche keine „konstituierende Funktion” habe69), dann besagt das für Art. 2 Abs. II, daß die „gesamtkirchliche Rechtsetzung” auf Grund delegierter Rechtssetzungsbefugnis erfolgt. Das sog. „Kirchenrecht” ist dann zweifellos „Recht”, nämlich auf Grund staatlicher Delegation von der Kirche gesetztes Recht, nicht ius ecclesiasticum. Hingegen muß „Grundsätzen” und „Ordnung”, weil in ihrer „Aufstellung” gemäß Art. 3 Abs. I GO/EKD die Kirche „um ihres Auftrages willen unabhängig ist”, konstitutive Bedeutung beigemessen werden, was eo ipso ausschließt, sie als „Recht” zu werten.

Jede Begriffsbestimmung des evangelischen Kirchenrechts, die dieses, in welcher näheren Umschreibung auch immer, als „Inbegriff von Rechtsnormen” erfaßt, enthält die dreifache Fiktion: Kirche = Organisation (Verband); Kirchenrecht = „Recht”; Kirchenrecht = kircheneigenes Recht. Die praktische Erfassung des evangelischen Kirchenrechts findet Rückhalt in vielen Bestimmungen des geltenden Kirchenrechts sowie in seiner Anwendung und Auslegung „als Recht”. Während die angewandten juristischen Begriffsbestimmungen der „Kirche” sich nie ganz runden und immer irgendwie „offen” bleiben, läßt die an der „Tatsache” orientierte, in der Praxis vorhandene begriffliche Erfassung des evangelischen Kirchenrechts die eigentliche „Grundlagenproblematik” kaum noch durchschimmern. Verwunderlich nicht, denn können schon „offene” Rechtsbegriffe im Rechtsganzen Bedenken erwecken, so beraubt sich eine „Rechts”ordnung, die dem fortwährenden Ereignis in seiner Gestalt an je diesem Ort und zu je diesem Augenblick „fortwährend” geöffnet ist, ihres Wesens, der Normativität.


68) Vgl. oben S. 141.
69) Brunotte, Grundordnung der EKD, S. 133.

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III. Die Dissonanz im Zusammenklang von Theorie und Praxis
(Zusammenfassung zu I und II)

 

Es ist zu sagen, daß Erfassung und Handhabung des evangelischen Kirchenrechts als „Recht” praktisch um so nachdrücklicher und unerbittlicher erfolgen, je höher sich Zweifel, Vorbehalte und Ablehnung bezüglich seines Wesens als eigenständiges Kirchenrecht theoretisch auftürmen.

Trotz der vielen theoretischen Bemühungen, besonders seit den zwanziger Jahren, das, was die „Tatsache” in der evangelischen Kirche als „Recht” präsentiert, als Kirchenrecht zu begründen, trotz der dabei sichtbar werdenden Ansätze, die sich in der reformierten „Gemeinde”vorstellung kräftiger abzeichnen als im lutherischen ,,Amts”gedanken1), hat sich das „Irrelevanz-Dogma”2) vom evangelischen Kirchenrecht erhalten. Es ist zu vermerken, daß jeder Versuch, die „Ordnung” evangelischer Kirche theologisch als ein irgendwie geartetes Tertium zu bezeichnen, keine Aufhebung dieser Irrelevanz bewirkt.

Das Echo des Mißklanges zwischen Theorie und Praxis evangelischen Kirchenrechts durchschallt indes das reformatorische Selbstverständnis der evangelischen Kirche laut relevant.

 

1. Fiktives Recht

Wenn gemäß der Auffassung Barths „so ziemlich alle Kirchenrechtsirrtümer ihren Grund darin haben, daß die Gemeinde . . . sich selbst nach Maßgabe des ihr von der Welt her widerfahrenden Mißverständnisses verstanden hat”3), dann findet das Mißverständnis in der in den letzten Jahrzehnten fortwährend neu und fortwährend mehr vorgenommenen Kodifikation evangelischen Kirchenrechts immer neue Nahrung. Das Mißverständnis verhärtet sich in der juristischen Ansprache, weil diese sich mit einem evangelischen Kirchenrecht in Form eines frei schwebenden Überbaus4) ohne „Grund”pfeiler in der „Kirche” nicht zufrieden geben kann, zur Fiktion.

Mit ihrer Hilfe wird gearbeitet, wenn heute ein eingehender juristischer „Beitrag zum kirchlichen Organisationsrecht”5) davon ausgeht, daß „kirchenrechtlich die Kirche von jeher als selbständiges Rechtssubjekt”6) erscheine und alle Untersuchungsergebnisse der Basis der einleitenden Feststellung entwachsen:


1) Vgl. Wehrhahn, Kirchenrecht und Kirchengewalt (1956), S. 83-88.
2) Wehrhahn, DRZ 1948/368.
3) Barth, Dogmatische Grundlegung, S. 22.
4) Jede Assoziation mit Marx sei vermieden.
5) So der Untertitel der Schrift von Günter Wasse, „Die Werke und Einrichtungen d. ev. Kirche”, Göttingen 1954.
6) Wasse, a.a.O., S. 20 und Anm. 2.

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„Gegen das Bestehen einer eigenen kirchenrechtlichen Rechtsfähigkeit . . . brauchen auch für das evangelische Kirchenrecht grundsätzlich keine Bedenken zu bestehen7).”

Das Ringen um Norm und Form in der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion liefert keine Bejahung dieser „Grundsätzlichkeit”. Genau so wenig findet in diesem Ringen die in einer bedeutenden juristischen Darstellung der staatskirchenrechtlichen Gegenwartslage anzutreffende Grundansicht — hinsichtlich der evangelischen Kirche — eine Stütze:

„Die beiden Kirchen verstehen sich, wie der Stand des Ständestaates, als öffentliche Institutionen aus eigenem, nicht verliehenem, abgezweigtem oder konzediertem Recht8).”

Derselbe Autor sagt an anderer Stelle:

„Übrigens ist auch in der Vergangenheit die staatskirchenrechtliche Situation über Umschreibungen Von vorsichtiger Allgemeinheit nicht hinausgediehen9).”

Vergegenwärtigen wir uns in diesem Zusammenhang das teilweise vorhandene Bestreben, die „Ordnung” der Kirche rein geistlich zu verstehen. Denken wir gleichzeitig an die knappe Formulierung Barths: „Staatskirchenrecht kann nie Kirchenrecht werden.”10) Das Ausmaß der „Umschreibung” macht dann wegen der bisher nicht gefundenen Grenzen deutlich, wie stark jede Aussage evangelischen „Kirchenrechts” von der ihm implizierten Fiktion „Recht” abhängig ist. Überall, wo vermöge evangelischen „Kirchenrechts” das Zusammenleben von Menschen in der evangelischen Kirche ge„ordnet” werden soll, ist dem evangelischen „Kirchenrecht” die Rechtsnormqualität trotz fehlender theologischer Sanktion unterstellt.

 

2. Die Laienfrage

Die Fiktion des „Rechts” im evangelischen Kirchenrecht bedrängt das Selbstverständnis der evangelischen Kirche am ärgsten, wo es ihr um den Menschen geht (wo ginge es allen christlichen Kirchen nicht um ihn?) und sie sich als „radikaler Laizismus”11) versteht. Mißklang zwischen Theorie und Praxis, Kodifikationssog und die Fiktion „Recht” vergrößern das ohnehin „sehr fatale Problem des Laien”12). Die „Ordnungen” in der evangelischen Kirche „erfassen” den Laien, von Ansätzen abgesehen13), vornehmlich als „Mitglied”. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß das evangelische Kirchenverständnis statt Mitgliedschaft „Gliedschaft” jedes Christen bedinge14). Das „Mitglied” macht den Laien im evangelischen Kirchenrecht weithin (oft nur) zum Objekt — Objekt nicht nur des äußerlichen


7) Wasse, daselbst.
8) Werner Weber, die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, S. 174, Sperrung hinzugefügt.
9) Werner Weber, a.a.O., S. 171.
10) Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 24.
11) Tillich, Der Protestantismus, S. 222.
12) Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S. 45.
13) Z.B. Kirchenordnung der Nederlandse Hervormde Kerk v. 7. 12. 1950, Art. VII: „Van de bedieningen”, Art. VIII: „Van het Apostolat der Kerk”.
14) Vgl. die Ausführungen von Maurer, ZEK Bd. 4, S. 337-338.

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Handelns (z.B. Kirchensteuerveranlagung), sondern auch des geistlichen Handelns der Kirche (Taufe, Abendmahl).

Versteht man unter Laien „alle diejenigen, die nicht zu einem ganz bestimmten Dienst in der Kirche eingesetzt sind”15), dann zeigt sich, daß das geltende evangelische Kirchenrecht diesen Kreis der Christen so gut wie nicht erwähnt. Dem Gedanken des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen16) — in der reformierten Gemeinde-Vorstellung stärker prononciert17), durch die lutherische Amtsvorstellung kompensiert — geben die evangelischen Kirchen-„Ordnungen” keinen Ausdruck. Der „Laie” sieht sich kirchenrechtlich im Verhältnis zu den „Dienstträgern” letztlich stets in einer Subordination. Das Subsidiaritätsprinzip kommt in der kirchlichen „Gesetz”gebung kaum zum Zuge.

Die Schwierigkeit, dem Priestertum aller Gläubigen im Kirchenrecht Form zu geben, wird vermehrt durch die protestantische Hinneigung zum Rechtspositivismus. Gerade in diesem Punkte der Häufung von Antipoden des Laienpostolats wird wiederum die Gefahr besonders sichtbar, das gesamte evangelische Kirchenrecht als eine rein geistliche Materie zu betrachten.

Gemessen an dem theologischen Begriff des Priestertums aller Gläubigen, ohne es auch nur irgendwie in die Nähe eines religiösen Anarchismus zu rücken18), fehlt dem gesamten evangelischen Kirchenrecht die Adäquanz, um es „Kirchen”recht zu nennen. An diesem Orte dann erscheint Barths Auffassung der Verwerfung von Approximation und Rechtsdelegation19) vollends systemgerecht; denn sie ist seiner Konzeption vom Nihilismus alles Geschöpflichen, sofern es den Schöpfer ignoriert, adäquat.

In Anbetracht der laizistischen Koordinate im Protestantismus enthält eine Feststellung Diems eine selten tiefe Einsicht in die Zusammenhänge der Grundlegung eines evangelischen Kirchenrechts, wenn er sagt, daß das Gemeindeprinzip nur noch ein praktisch ohnmächtiger Gedanke sei, der die Ordnung der Kirche gerade nicht bestimmt20).

Man möchte sagen, daß die derzeitig wahrzunehmende Kodifikationswelle das Gemeindeprinzip trotz der vielen Begriffsansätze überrollt. Der Kirchenrechtstrend fördert unausweichlich die Neigung zur Autorität in Glaubensdingen und macht den Mut zum non-conformist zu einer deliziösen Tugend. Das geltende evangelische Kirchenrecht qua „Recht” bietet dem Ringen um das laikale Element kaum einen Impuls. Unschwer tritt die Versuchung heran — jede Simplifikation potenziert ihre Kräfte — das evangelische Kirchenrecht somit den Immobilismen des modernen Protestantismus zuzugesellen.


15) Vgl. den Bericht „Pastor oder Theologe?”, Eine Laienfrage zum Hamburger Kirchentag, Deutsche Kommentare v. 8. 8. 1953, S. 4.
16) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 44.
17) Vgl. Barth, a.a.O., S. 34.
18) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 51.
19) Vgl. oben S. 140 und Anm. 58-, Barth, a.a.O., S. 76.
20) Diem in einer Buchbesprechung zu Hildebrandt, ZEK Band 2, S. 196.

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3. Trendschatten

Es bleibt nicht aus, daß die Tatsache des in den letzten Jahren in jedweder Gesetzesform geschaffenen evangelischen „Kirchenrechts” sein Grundlagenproblem beeinflußt. Der Einfluß des quantitativen Überhangs21) bei weithin fragwürdiger qualitativer Rechtsgrundlegung besteht in starken, teils übermäßig engen Gegenwartsbindungen des evangelischen Kirchenrechtsproblems. Merkmale, die die heutige allgemeine Entwicklung, nicht allein des Rechts, kennzeichnen, überziehen auch das vorhandene evangelische „Kirchenrecht”.

Die Vielheit der evangelischen Kirchengesetze läßt für die durchdachte Redaktion weder Zeit noch Raum. Wegen des wenig ausgebildeten Begriffssystems wirkt sie sich besonders ungünstig auf die Sicht in Zusammenhänge, in die Rangabstufungen des geltenden Kirchenrechts aus.

Die sehr weit vorgetriebene Juridifizierung22) stellt eine Expansion statt einer Konsolidation kirchlichen Lebens dar. In dem Verhältnis des zahlreich vorhandenen evangelischen Kirchenrechts zu der ihm nur zögernd, oft widerstrebend zugestandenen Rechtsnormativität spiegelt sich das unserer Zeit fehlende harmonische Gleichgewicht zwischen Tätigkeit und Schau. Die Hinneigung zu einer juristisch nicht klar bestimmbaren „Ordnung” macht das stark angewachsene evangelische Kirchenrecht zu einem Stück organisierter Betriebsamkeit wie in vielen anderen Sparten des öffentlichen Lebens auch. Rein juristisch betrachtet, ist auch ein eingewurzelter „Hang zu grundsätzlicher Programmatik in Gesetzesform”23) in der Kodifikationszunahme im Spiel. In völliger Übereinstimmung mit dem weltlichen — „öffentlichen” — Recht bildet das vorhandene evangelische Kirchenrecht deutliche Züge einer Technokratie aus.

Das Nebeneinander des offensichtlichen „Gestaltens” des (äußeren) Lebens der Kirche durch das vorhandene evangelische „Kirchenrecht” und des gleichzeitigen Offen-Seins des evangelischen Verständnisses für die „Gestalt” eben dieser „Kirche” und dieses „ihres” Rechts enthält fortwährend die Gefahr, daß der „Begriff” Gottes24) ins Redensartliche fällt. Die große Zahl geltender Kirchengesetze im Verein mit der Vielzahl der teils sich gegenseitig aufhebenden, teils konträren Begriffsvorstellungen vom „Wesen” evangelischen Kirchenrechts fordert die Frage nach der „Kernhaftigkeit”25) des christlichen Elements im jeweils gegebenen „Recht" der evangelischen Kirche heraus. Die Untersuchung wagt auf Grund des Dargelegten nicht zu entscheiden, wer hier die christliche Substanz mehr bedränge: der nicht zu übersehende derzeitige Kodifikationsrun oder das genau so wenig zu leugnende Irrelevanzdogma im evangelischen Verständnis des „Kirchenrechts” als eines ius ecclesiasticum.


21) Fast jede Landeskirche hat ihr eigenes „Gesetz- und Verordnungsblatt”, in dem laufend neue „Vorschriften” veröffentlicht werden. — Allein die Sammlung „Ev. Kirchenrecht in Rheinland-Westfalen” von Thümmel — Dalkopf — Lohr (Bielefeld 1950/51) umfaßt 5 Bände!
22) Vgl. die Ausführungen bei Erik Wolf, Zur Rechtsgestalt der Kirche, S. 254-256.
23) Hettlage, Das Trauerspiel der Finanzreform, FAZ 16. 4. 1955, S. 5, Sp. 5.
24) Der ausweislich des evangelischen Kirchenverständnisses Gottes-„Glaube” ist.
25) Vgl. Heer, Der Bildungsauftrag des christlichen Historikers, in: Die neue Rundschau 1954, Jg. 65, Heft 2.

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Wir stehen völlig im Heute, wenn wir in den — hominum confusione sed providentia Dei — spätestens seit 1918 in Fluß geratenen Auseinandersetzungen um evangelisches Kirchenrecht etwas von innerer Bedrohung evangelischer Kirche spüren26). „Wer schützt die Kirche vor sich selbst?” kann dann die beklemmende Frage lauten27). Statt einer Antwort finden wir in dem Anschwellen des geltenden „Kirchenrechts” den Ausdruck eines Sekuritätsdenkens. Das libertäre Denken — im Protestantismus der reformatorischen Zeit, im Staats- und Völkerrecht der rationalistisch-liberalen Epoche — ist dem sekuritären Denken gewichen. Jede Unsicherheit ist unerwünscht. Die Menschen suchen sie mit Hilfe der Rechts„norm" abzustützen. Die „Regel” soll jede Unebenheit ausglätten. Die „Vorschrift” soll jede Biegung begradigen. Hier stellt das Sicherheitsbedürfnis im dynamischen menschlichen Zusammenleben in Staat und Kirche das Recht vor Aufgaben, mit denen es gemäß seiner Wesensart als verbindliche Ordnung nicht vollends fertig wird28). Das „besonders augenfällige Symptom eines Sekuritätstrachtens muß”, wie im Schrifttum festgestellt wird, „im Ergebnis zur völligen Umgestaltung der Strukturprinzipien der staatlichen Rechtsordnungen führen”29). Wir dürfen hinzufügen: der kirchlichen „Ordnungen” nicht weniger.

Mag nun diese juristisch-soziologische Folgerung die protestantische Theologie weithin kalt lassen, da sie die „Welt” betrifft, die ohnehin im Argen liegt, von der die „Kirche” nicht „ist”, weder in der lutherischen Schau der „wahren” Kirche als geistiger Gemeinschaft (ecclesia invisibilis) noch dem reformierten Verständnis der „Gemeinde" von völliger Andersartigkeit30) (allerdings ecclesia visibilis!), so kann sie der Tatsache des Kodifikationstrends in der evangelischen Kirche als Ausdruck des Sekuritätsdenkens schwerlich Völlig ausweichen. Eine evangelische Kirche, in ihrer Daseinsform allseitig mit „Kirchenrecht” ausgekleidet, das als „Recht” gehandhabt wird, ohne daß ihm unumwunden die Rechtsnormativität zugestanden würde, läßt dem „Wagnis” keinen Raum. Jedes neue und angewandte Kirchengesetz verkleinert das „Risiko”, das nach protestantischer Auffassung dem christlichen „Glauben” essentiell ist. Das in der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion wahrzunehmende Als-„Recht”-Nehmen und doch nicht Für-„Recht”-Halten relativiert nicht nur das Recht, sondern noch viel mehr jedes „Risiko”.

Die Beweisführung steuert hier einem Zirkelschluß zu. Finden wir, daß der Kirchenrechtstrend unserer Tage der evangelischen Theologie das „Risiko”, das „Wagnis” des von ihr vertretenen christlichen „Glaubens” aushöhlt, dann zeigt sich sogleich, daß dieselbe Theologie den Trend fördert, weil der Protestantismus vermöge des strikten „sola fide” stets nur die certitudo fidei, nie aber31) die securitas fidei zu bieten bereit ist.


26) Walter Leo, Der Christ ohne Sicherheiten, FAZ 23. 12. 1953, S. 6, Sp. 3.
27) Vgl. Dombois, Glaube — Recht — Europa, S. 150.
28) Vgl. die Abhandlung von Hans Huber, Die Überanstrengung des Rechts in der modernen Klassengesellschaft, Universitas, 1954, S. 1055-1063.
29) Ridder, Meinungsfreiheit, in: Neumann-Nipperdey-Scheuner „Die Grundrechte”, S. 287.
30) Vgl. oben S. 137; dazu Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 9 und 74.
31) Anders der Katholizismus in der analogia entis!

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Die paradoxe Wechselbezüglichkeit macht den tiefen Sinn des Hinweises von Erik Wolf voll plastisch: „Die Kirche entdeckt sich ,in Unordnung’ gerade durch ihre Rechtsgestalt32).” Meint Hauck:

„Der einzige Gewinn der kirchlichen Ordnung im Sinne organisatorischer Formgestaltung besteht darin, das Chaos zu bannen und den Anarchismus zu verhindern, weil sonst auch Friede und Liebe nicht herrschen und gedeihen können”33),

so wird angesichts der in den letzten Jahren sich durch die wachsende Anzahl der geltenden Kirchen „Ordnungen” bei oft „offenen” Begriffsprägungen vergrößernden Unübersichtlichkeit in den Zusammenhängen des evangelischen Kirchenrechts der „Gewinn” zweifelhaft. Die Vielzahl der heute geltenden Kirchengesetze in der evangelischen Kirche droht wegen fehlender „Grundlagen” gerade das, was das evangelische Kirchenrecht bannen soll, in anderer Form herbeizuführen: das Vorschriftenchaos.

Das Wort von Schoch, „nur eigenes Recht schützt vor fremdem Recht”34), zielt genau auf den „wunden Punkt, den das Kirchenrecht im evangelischen Kirchenwesen” bildet35). Aber: „Kirchenrecht” schützt nur vor anderem Recht, wenn es selbst „ius” ist! Gerade in Schochs Auffassung jedoch genau so wie bei Schüle und Barth, erreicht das evangelische Kirchenrecht jene letzte Verbindlichkeit für die „Kirche” nicht, die seine Qualität als „eigenes Recht” der evangelischen Kirche ausmacht. Alle drei Autoren legen unmißverständlich dar, daß das evangelische Kirchenrecht nur theologisch zu verstehen sei36). Die Tatsache der großen Masse vorhandenen evangelischen Kirchenrechts beweist nicht seine Eigenständigkeit in der „Kirche”. Bei fehlenden Grundlagen ist von einem Kodifikationsrun kein Schutz der Kirche vor „anderem Recht” zu erwarten; das hier produzierte „Kirchenrecht” trägt deutlich die Züge der allgemeinen Entwicklung jenes „anderen Rechts” unserer Tage.

Genau so wie in der historischen Entwicklung des evangelischen Kirchenrechts zeigt sich auch in der gegenwärtigen Kirchenrechtssituation, wie sehr die „Kirche” dieser Welt verhaftet erscheint. Der wahrnehmbare Kirchenrechtstrend im evangelischen Raum unterstreicht — über das rein Juristische hinaus — die religions-soziologische Methode von Troeltsch. Je spärlicher der „Grund” ist, den die evangelische Theologie für ein Recht in der Kirche anerkennt, um so kräftiger zieht die große Masse angewandten evangelischen Kirchenrechts die communio, die congregatio, die Gemeinde in die von ihm aufgewiesene (nur) soziologisch sichtbare Erscheinungsform37) der Kirche hinein.

Nach Meissinger gehört es zum Wesen der ecclesia militans, daß die Kirche jederzeit den historischen Bedingungen ihrer Umwelt „bis zu einem


32) Erik Wolf, a.a.O., S. 254.
33) Hauck, a.a.O., S. 72.
34) Schoch, KR, S. 145.
35) Wehrhahn, DRZ, 1948, S. 368.
36) Es sei hier auf die vorgenommene Darstellung zu Schüle, Schoch und Barth verwiesen.
37) Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christl. Lehren und Gruppen, 1912, S. 451 ff.

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gewissen Grade”38) verhaftet bleibt. Die Schatten, mit denen der Kodifikationstrend die Grundlagenauseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht überzieht, erzeugen ein Halbdämmern, in dem unklare Sichtverhältnisse der Rechtswissenschaft verwehren, zu sehen, wo die Grenzen des „gewissen Grades” liegen. Soviel Licht aber lassen die Trendschatten durch, daß erkennbar wird, wie Staat und Kirche — i.w.S. Gesellschaft und Kirche — nirgends eine völlige organische Verbindung eingehen. Dennoch bleibt auch im Schatten, in der Unabgrenzbarkeit des Vorhandenen beweisbar, daß vieles, ja, „sogar fast alles”39), was in dem einen Gebiet „sich ereignet”, seine Wirkung auch auf dem anderen bemerkbar macht.

 

4. Evangelisches Kirchenrecht — das protestantische Paradoxon

Knüpfen wir an das Verständnis der evangelischen Kirche an, die sich begrifflich nie zur Gänze erfassen läßt, die, wiewohl im Letzten lutherisch wie reformiert immer die „eine” Kirche, sich zwecks gefälligerer „Ansprechbarkeit” immer aufs neue in dualistische Begriffsbehelfe gezwängt sieht, dann findet dieses Verständnis in der zwiespältigen Wertung evangelischen Kirchenrechts nur eine Fortführung. Anders ausgedrückt: der so stark schillernden evangelischen Kirchenvorstellung entsprechen die nie restlos positiven Auffassungen vom evangelischen Kirchenrecht.

Gehört zur evangelischen „Kirche” das Paradoxon, so gehört zum evangelischen „Kirchenrecht” seine geistige Wesensunwichtigkeit. Bezogen auf die Paradoxie im Wesen evangelischer „Kirche”, macht die allseitige Betonung der „Notwendigkeit” ihres „Rechts” unter gleichzeitiger Negation seiner Wesensnotwendigkeit das Mißverständnis zwischen Theorie und Praxis im „Kirchenrecht” zu einem „notwendigen” Widerspruch.

Auch das Verwenden des „Kirchenrechts” als „Recht”, bei impliziertem Nichtverstehen als kircheneigenes „Recht”, ist ein Abbild der Paradoxie christlicher Existenz40). Die stets nur zögernd und immer nur unter Einschränkung zu erlangende Anerkennung des evangelischen Kirchenrechts als „Recht” ist eine Ausdrucksform der übermäßigen Spannung, die zwischen Gesetzesverneinung und Gesetzesanerkennung in der evangelischen Theologie obwaltet41). Diese über das rationale Vermögen hinausgehende Spannung erträgt der Protestantismus idealiter in der certitudo fidei. Zu entscheiden, ob diese Glaubensgewißheit sich realiter als ausreichend „tragfähig” erweise, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Die auffällig (und wegen des in der „Kirche” nicht


38) Meissinger, Der katholische Luther, S. 99.
39) Meissinger, a.a.O., S. 181.
40) Vgl. Erik Wolf: „Die Antinomien des Daseins sind freilich unaufhebbar, und die Paradoxie der christlichen Existenz bleibt immer offenkundig” (Rechtsgedanke und biblische Weisung S. 64).
41) Sinnfälliges Beispiel: „In der Tat, die Bergpredigt entnimmt uns der Welt und versagt uns ein Programm zu ihrer Gestaltung. Aber indem Jesus uns . . . den reinen und klaren Willen Gottes vernehmen läßt und unser Dasein zur Gegenwart vor Gott erhebt, ruft und ermutigt er uns zugleich, als die Befreiten inmitten einer zerrissenen Welt, die an ihrem Unrecht und an ihrem Recht, . . . an ihrer Gesetzlosigkeit wie an ihrer Gesetzlichkeit sterben muß, die Zeichen einer neuen Gerechtigkeit aufzurichten” (Günther Bornkamm, Die Gegenwartsbedeutung der Bergpredigt, Universitas 1954, S. 1296).

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aufzuweisenden „Grundes” beängstigend) anschwellende Welle kirchenrechtlicher Kodifikationen im evangelischen Raum während der letzten Jahre spricht immerhin juristisch schwerlich dafür.

Es besteht kein Anlaß, das Dilemma des evangelischen Kirchenrechtsproblems zu verharmlosen. Der Spalt, der sich im Verständnis des evangelischen „Kirchenrechts” zwischen Leben und Lehre auftut, ist geeignet, die Glaubwürdigkeit christlicher Aussagen zu mindern. Der klaffende Gegensatz zwischen Theorie und Praxis im evangelischen Verständnis des „Kirchenrechts” bildet ein unumstößliches Faktum.

Seinen „Ort” hat das evangelische Kirchenrechts„problem” im evangelischen Kirchenverständnis. Es vermehrt die der christlichen Kirche wesenseigene Paradoxie um ein weiteres Paradoxon, das wir — erfaßt als Widerspruch zwischen Lehre und Leben, als Dissonanz zwischen Theorie und Praxis, juristisch präzisiert als Ringen um Norm und Form — da es sich in dieser Weise für das kanonische Recht nie stellt, ein protestantisches Paradoxon zu nennen haben. In der fortwährenden Ereignishaftigkeit der „Kirche” als Corpus Christi in evangelischer Schau, in dieser Permanenz der Dynamis, „ist” Christus des „Gesetzes” Ende (Römer 10, 4) und die Liebe des „Gesetzes” Erfüllung . . . womit nur der „Ort” des Paradoxons „evangelisches Kirchenrecht” umschrieben ist, seine Begründung, gar seine Erklärung, aber offen bleibt.