|1|

Einleitung

 

I. Die Fragestellung

 

Eine Darstellung des Stoffes, der sich als Grundlagenproblematik evangelischen Kirchenrechts1) oder — unter Aspektverschiebung — als das Methodenproblem der evangelischen Kirchenrechtslehre2) umschreiben läßt, der kurz, wenn auch mit Hilfe einer allzu gefälligen Begriffsmünze, das „evangelische Kirchenrechtsproblem” zu nennen ist, hat, bevor sie in die Untersuchung eintritt, zu klären, was hier in Frage gestellt wird. Ja, die Frage nach der „Frage” kann für eine juristische Betrachtung des Themas kaum schürfend genug sein.

Gibt es ein evangelisches Kirchenrecht, welches diesen Namen verdient? Ein Recht also, welches als „Recht” anzusprechen ist und gleichzeitig als eigenständiges Kirchenrecht auftritt. Man mag in dieser Überlegung die einfache Frage finden: Ist evangelisches Kirchenrecht möglich? Und doch bleibt diese Art der Fragestellung zu farblos. Es handelt sich darum, ob der Protestantismus ein „Kirchenrecht” innerlich akzeptieren kann3). Unter Verwendung einer abgewandelten Formulierung Liermanns ist zu sagen: „Wie verhalten sich, im Lichte des evangelischen Glaubens betrachtet, Kirche und Kirchenrecht zueinander?”4).

Es geht um die Vereinbarkeit von Kirche und Kirchenrecht in evangelischer Sicht. Hier treffen wir den Kern der Frage. Es bedarf der nachdrücklichen Betonung, daß im Mittelpunkt der Untersuchung das Verhältnis von Kirche und Kirchenrecht nach evangelischer Auffassung steht. Nicht „Kirche und Recht”, nicht „Kirche und Staat”, nicht „Staat und Kirchenrecht”, nicht „Rechtfertigung und Recht”5) bilden die Ausgangsfrage! Gefragt ist nach der Existenz „evangelischen Kirchenrechts”.

Damit wird nicht behauptet, daß die soeben berührten Problemkreise für unser Thema ohne Bedeutung wären. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, daß sie sich mit dem zu untersuchenden Problem vielfach überschneiden. Eben weil es so ist, erfordert eine klare Abgrenzung die Besinnung darauf, daß jenen Problemkreisen jeweils eine andere Fragestellung zugrunde liegt.

Die unsrige befaßt sich mit dem Verhältnis der evangelischen Kirche zu „ihrem” Recht. In terminologischer Straffung lautet der Status quaestionis: Gibt es ein ius ecclesiasticum der evangelischen Kirche?

 

II. Begriffsabgrenzung

 

Die Frage enthält zwei Begriffe: Das Adjektiv „Evangelisch” und das Substantiv „Kirchenrecht”. Beide gilt es zu bestimmen.


1) Wehrhahn, Theol. Rundschau, 1950, S. 69-91, 112-147; 1951, S. 221-252.
2) Wehrhahn, ZEK, Bd. I, S. 55 ff.
3) Vgl. dazu die Fragestellung bei Holstein KR, S. 89.
4) Liermann KR, S. 1.
5) So der Titel einer später zu behandelnden Schrift von Karl Barth.

|2|

Die Untersuchung versteht „evangelisch” als einen Oberbegriff, wie ihn die Verbindung „evangelisches Kirchenrecht” üblicherweise meint und nahelegt. Infolgedessen behandelt sie die Einstellung des Luthertums und des reformierten Kirchentums zum Kirchenrecht, letzteres wiederum als Kollektivbegriff in weitestem Sinne gedacht, reichend von der Anglikanischen Kirche bis zu der Unzahl der „Denominationen”6), die aus dem Calvinismus erwachsen sind.

Indem unter „evangelisch” die lutherische und die reformierte Konfession erfaßt werden, bleibt zu überlegen, in welchem Verhältnis ihnen das unierte Kirchentum beizuordnen sei. Versteht man unter einer Konfession „den besonderen historischen Glaubenstypus innerhalb der christlichen Religion”7), dann hält es schwer, eine Gleichordnung vorzunehmen, weil es für die damit erreichte Einstufung der Unionskirchen als dritte evangelische Konfession an Allgemeinverbindlichkeit fehlt, mögen sie auch hier und dort so angesprochen werden8). Die historisch relativ kurze und zudem noch weithin offene Entwicklung des Unionskirchentums9) rät an, in ihm eine Mischform zu erblicken, die die Untersuchung auf ihre Bestandteile, das Luthertum und die reformierte Konfession, zurückführt10).

Weitestgehend deckt sich terminologisch der Gebrauch der Begriffe „evangelisch” und „protestantisch”11); jedoch erweist sich in Verbindung mit „Kirchenrecht” heute im Schrifttum der Ausdruck „evangelisches Kirchenrecht” als vorherrschend. Für die Unterscheidung verdient das Sprachgefühl Berücksichtigung. „Evangelisch” erscheint als ein Höherwertiges — Evangelium! — „Protestantisch” hingegen ist nicht völlig frei von einem gewissen Beigeschmack, der von leichtem Unmut bis zu grollgeladenem Ressentiment reichen kann12). —

Was das Objekt der Untersuchung anbetrifft, so ist im folgenden evangelisches „Kirchenrecht” stets im denkbar weitesten Sinne zu verstehen. Nicht, ob die evangelischen Kirchen Teile des Kirchenrechts anzweifeln oder bejahen, etwa das Kirchenverfassungsrecht oder die sog. Lehrzuchtordnungen, gilt es zu erörtern. Auch die Einteilung des Kirchenrechts13) und die damit verbundene Problematik14) können dahingestellt bleiben. Die Untersuchung hat stets, auch wo sie sich mit Teilerscheinungen beschäftigt, den umfassenden, jede Unterteilung implizierenden Oberbegriff „Kirchenrecht” im Auge.


6) Vgl. Simons, Kirchenvolk und Staatsvolk, S. 174-175.
7) Schoch, KR, S. 8.
8) Vgl. Fritz Fischer, Die Auswirkungen der Reformation, S. 41.
9) Dazu Gollwitzer, Wollen wir heute . . . , S. 65; Simons, Religion und Recht, S. 216.
10) Auch Art. 1 I. Satz 1, EKD Verf., besagt nicht, daß die „Unierten Kirchen” eine dritte Konfession seien! Vgl. Brunotte, Grundordnung der EKD, S. 123.
11) Der Name geht historisch zurück auf den 19. April 1529, an welchem Tage sich in Speyer zum ersten Mal die ev. gesonnenen Fürsten mit den oberländischen Städten zu den „Protestanten” zusammenschlössen, welche dann gegen den Reichstagsbeschluß der strengen Durchführung des Wormser Edikts von 1521 „protestierten”.
12) Vgl. Hermann Ehlers, (Ostfriesenzeitung 30. 10. 1954, S. 1 Sp. 1) „Der Gebrauch des Wortes „Protestanten” hat zu einer gefährlichen Verengung ev. Bewußtseins geführt. — „Protestantisch” bedeutet eine gefährliche Verlagerung ev. Seins in das Negative, in die Abwehr”. (Sp. 2) „protestantisch leistet manchmal sogar Minderwertigkeitskomplexen Vorschub”.
13) Vgl. Liermann KR, S. 24-27.
14) Etwa, ob die Unterscheidung in öffentliches und privates Recht für das Kirchenrecht zu bejahen (so dem Gegenstande nach für das kath. KR Holböck, KR I S. 29) oder abzulehnen sei (z.B. Helfritz, Allg. Staatsrecht, S. 64).

|3|

III. Schwierigkeiten der Untersuchung

 

Der Stoff der Untersuchung gehört nicht einer Wissenschaft an. Der Name „Kirchenrecht” macht deutlich, daß hier theologische und juristische Aussagen zusammenfließen. Das Kirchenrecht trägt ein Doppelgesicht, ist ein „Grenzgebiet”15) der Theologie und Jurisprudenz, das man ein „Kondominium”16) nennen mag (wobei der Jurist reflektiert, ob nicht ein „Co-Imperium” vorliegen könne!)17).

Gleichzeitig befindet sich dieses Grenzgebiet, erhellen wir die historischen und gesellschaftlichen Hintergründe des Kirchenrechts, im Ausstrahlungsgebiet weiterer Wissenschaften: der Geschichte, der Philosophie, der Soziologie18), ja, sogar der Psychologie, deren Vorgänge in der historischen Entwicklung und der heutigen Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht „hinter den Dingen” in stärkerem Maße wirken, als sie uns gemeinhin greifbar werden.

Die Einsicht, daß eine Untersuchung des Kirchenrechts auf weite Strecken nur eine metajuristische Betrachtung zuläßt, drängt entscheidende Überlegungen auf.

 

1. Theologie als „Wissenschaft”

Das Spannungsverhältnis zwischen „theos” und „logos”, gleich ob wir es als unvorstellbar oder beängstigend empfinden, verpflichtet, die Theologie als „Wissenschaft” zu erwägen. Nach Jaspers gelangen wir „in den Wissenschaften zu zwingendem, allgemein gültigem und faktisch anerkanntem Wissen”19). Hingegen, spricht die Theologie von „Wissen”, ist

„dieses Wissen freilich ganz augenscheinlich ein anderes Wissen als alles, was Menschen sonst mit Wissen bezeichnen. Es ist das Wissen der unter dem Worte von dem gekreuzigten und auferstandenen Christus mit Christus . . . auf Gott Geworfenen”.20)

Die hier anklingende Fraglichkeit in der Bewertung der Theologie als Wissenschaft kann im äußersten Falle zu der Einsicht führen, daß vom „Glauben” her stricto sensu eine „Wissenschaft” von der Religion nicht zu erreichen sei, wobei dann die höchst umstrittene Unterscheidung zwischen „Theologie” und „Religionswissenschaft” in Erscheinung tritt.

Unterstellt nun, daß ursprünglich alles Wissen in religiöser Bindung stand, unterstellt auch, daß allen Wissenschaften gemeinsam die Suche nach der Wahrheit ist21), bleibt trotz des doppelt einenden Bandes in der heutigen geistigen Situation ein gewisser Unterschied zwischen der


15) Liermann KR, S. 3.
16) Wehrhahn, Stand des Methodenproblems . . . . ZEK Bd. I S. 55.
17) Wozu Wehrhahn a.a.O., S. 56, 61-63, Anlaß gibt, wenn er die Theologie als „Deduktionsbasis der Kirchenrechtslehre” bezeichnet und Soziologie sowie Geschichte als „Hilfsdisziplinen” skizziert.
18) in der man „das Naturrecht unserer Zeit” zu erkennen glaubt! So Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 5. — Franz Böhm spricht von „unserem soziologisierenden Jahrhundert”, vgl. die Auseinandersetzung bei M. Freund, Die Gegenwart 1955 Nr. 237, S. 429.
19) Jaspers, Rechenschaft und Ausblick, S. 328.
20) Herbert Werner, Nicht töten brauchen, StdG 1954 Heft 17, Sp. 395.
21) Den Keim der Selbstzerstörung enthält das hier berührte Problem dann, wenn die prot. Theologie heute von einem modernen Wahrheitsbegriff spricht, „der kein Wahrheitszeugnis mehr abgibt”. Iwand JK 1953/513.

|4|

Theologie und den Wissenschaften. Er ist in der Form zu umschreiben, daß die Theologie stärker emotional bedingte Urteile fällt, die übrigen Wissenschaften stärker kognitiv fundierte Urteile22). Der Erkenntniswahrheit hier tritt dort eine Bekenntniswahrheit entgegen23). Ziel der Wissenschaft ist das „Feststellen”, das „Wissen”; die Theologie müht sich um das „Vertrauen”, das „Glauben”24).

Entscheidend dürfte sein, diesen Unterschied zwischen der Theologie und den „Wissen”-schaften als ein „Mehr-oder-Weniger” zu verstehen und ihn nicht als ein contradiktorisches „Entweder-Oder” a priori vorauszusetzen!

 

2. Zur Verschiedenheit des Begriffsverständnisses

Der Unterschied ist Ursache, wenngleich keineswegs die einzige, der heute auf wissenschaftlichem Gebiet allgemein, im Grenzgebiet evangelischen Kirchenrechts besonders bestehenden Gefahr des Aneinandervorbeiredens in äußerlich übereinstimmenden Aussagen über dieselbe Sache. Gerade mit den sog. „gängigen” Begriffen verbinden sich für Angehörige verschiedener Wissenschaftszweige gar leicht voneinander abweichende Vorstellungen.

Es ist Schoch beizupflichten, wenn er feststellt:

„Theologen und Juristen müssen einander zugestehen, daß sie dieselben Begriffe verschieden gebrauchen und verstehen.”25)

Begriffe, die in der Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht immer wiederkehren: Recht, Gesetz, Norm, Ordnung; Herrschaft, Gewalt, Zwang; Gemeinde, Behörde, Amt — sie und viele andere erfahren ein verschiedenes Verständnis, je nachdem, welche Wissenschaft sie anwendet. Bei aller möglichen Analogie bleiben die Begriffe im letzten zum Teil inkommensurabel.

Eine Untersuchung des evangelischen Kirchenrechtsproblems wird davon auszugehen haben, daß es für die Möglichkeit der Aussage auf die entsprechende Annäherung der Begriffe ankommt. Es gehört zur Eigenart der Darstellung evangelischen Kirchenrechts, diese entsprechende Annäherung jeweils als eine bestmögliche zu erreichen.

Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang das Begriffspaar lutherisch-reformiert ein, auf das, gemäß der Begriffsabgrenzung, die Vielzahl der Erscheinungen protestantischen Kirchentums zurückzuführen ist. In dem Maße, wie begrifflich und systematisch zwischen der lutherischen und reformierten Einstellung zum „evangelischen” Kirchenrecht korrekt zu unterscheiden ist, verwischen faktisch ihre Grenzen.

Die reformierte Kirche in reiner Form ist für Deutschland eine Randerscheinung, eine Gegebenheit, die naturgemäß auch in der deutschsprachigen Literatur, soweit sie nicht schweizerischer oder niederländischer Provenienz ist, ihren Niederschlag findet. Reformiertes Gedankengut durchsetzt


22) Selle, Moderne Wandlung im Gottesbegriff, Zeitwende, 1. Jg. 1925/59.
23) Vgl. Müller-Freienfels, Der Mensch und das Universum, S. 174-177.
24) Bei Stammler — Recht und Kirche, S. 31 — heißt es, die Religion stelle „die Frage nach der grundsätzlichen Hingebung an das Richtige”.
25) Schoch KR, S. 7.

|5|

die Unionskirchen Deutschlands verschieden stark. Doch beschränkt es sich einigermaßen auf den westdeutschen Raum. Dessenungeachtet, ist die lutherische Überlagerung in den deutschen Unionskirchen sehr weit gediehen26). Diese Lage verdient bei Eintritt in die Untersuchung der bewußten Betonung. Um eine Verzerrung der Dimensionen in erträglichen Grenzen zu halten, bedarf es in der Diskussion um „evangelisches Kirchenrecht” stets der Einsicht, daß die Verhältnisse im deutschen Raum — in gewissem Sinne — sich reziprok verhalten zur Lage des Weltprotestantismus, der calvinistisch fundiert ist27).

Weiterhin wird die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes dadurch erschwert, daß einmal reformierte Residuen im Unionskirchentum vornehmlich im Organisatorischen anzutreffen sind und dort gerade das ausmachen, was im folgenden Untersuchungsgegenstand sein wird, und daß zum anderen die umfassenden Völkerverschiebungen nach 1945 in Mitteleuropa zu einer Fluktuation der Konfessionsgrenzen, damit aber auch des „Herkömmlichen” konfessioneller Unterscheidungsmerkmale geführt haben, die bislang nicht zum Stillstand gekommen ist.

Der Hinweis, vor dem letzten Kriege für eine partielle Gegebenheit konfessionellen Zusammenlebens im deutschen Raum getroffen:

„In Bayern denken die einfachen Gemeindemitglieder über das Abendmahl katholisch, die Gebildeten zwinglisch, der Pfarrer calvinisch”,28)

kann heute generell die Situation widerspiegeln. Die Untersuchung ist dadurch darauf angewiesen, in der Unterscheidung lutherischer und reformierter Einstellung zum Kirchenrecht auf weite Strecken das jeweils „Typische” herauszuarbeiten. Die aus systematischen Gründen einzuhaltende „große Linie” will und soll nicht die Einsicht verdecken, daß das tägliche Leben in seiner Vielfalt oft „atypisch” verläuft . . .

 

3. Zur Frage der Objektivität

Eben das Typisieren, unerläßlich für das Herausarbeiten eines „Tatbestandes”, ohne den das Recht in vielen seiner Bereiche nicht auskommt, verpflichtet zu überlegen, ob wir denn in Dingen, die dem religiösen Bereich angehören, fähig sind, unvoreingenommen zu sichten und zu werten. Können wir uns in den diffizilen Belangen der Religion überhaupt von bestimmten Vorurteilen befreien, die uns „anhängen”?

Die Erziehung von frühester Kindheit an, die Art der Ausbildung und die mannigfaltigen Einflüsse der Umwelt wirken bei der Formung dessen mit, was der Mensch „für wahr hält”. Nirgends treten sein Empfinden, sein


26) Auf reformierter Seite kann es dazu kommen, die „Union” hinzustellen als ein „hervorragendes Mittel für die Lutheranisierung reformierter Gemeinden, das „weltliche” Diplomaten von Rang nicht besser hätten erfinden können”. (Bezirksbruderbrief 1953, Nr. 19, S. 23). Doch sollte man den Akzent der Stimme nicht überbewerten.
27) Schollenberger, Geschichte der schweizerischen Politik, S. 373, schreibt, daß „die calvinische Konfession . . . also fast wie die katholische zur Weltreligion wurde”.
28) W. Loewenich, Vom Abendmahl Christi, S. 17.

|6|

Gemüt und sein Gefühl stärker in Erscheinung29); selten geben sie ungehemmter, ihm oft unbewußt, den Ausschlag, als wenn er in der Auseinandersetzung um religiöse Dinge seine „Überzeugung” kundtut, wenn er sich „bekennt”.

Von hier aus versteht sich, wieviel davon abhängt, daß eine Untersuchung evangelischen Kirchenrechts sich von konfessionellen Vorurteilen, seien sie katholischer oder protestantischer Färbung, freizuhalten versucht. Versucht! Denn das nicht zu leugnende „Abgestempelt-Sein” der verschiedenen Standpunkte in dieser Frage zäunt das für jede wissenschaftliche Arbeit erforderliche „Audiatur et altera pars” überall dort ein, wo religiöse Aussagen sich in ihrer Ausschließlichkeit gegenüberstehen.

 

4. Vom Einfluß der Gegenwart

Und noch ein anderes kann die Objektivität wissenschaftlicher Darstellung ausschließen: das Heute. Genau so wenig, wie von Erziehung und Ausbildung, sind wir frei von ihm. Besonders wenn wir sog. „herrschender Lehre” folgen, entsteht die Gefahr, die Aussage eingeengt mit dem jeweiligen „Jetzt” zu identifizieren.

Darzulegen, welches Antlitz unser „Heute”, unser „Jetzt”, trage, zeigt Bedingt-Sein und Begrenzung menschlichen Kennens und Erkenntnis mit einem Schlage. Ist das Nicht-Abstand-Nehmen-Können, das Fehlen allgemeingültiger Vergleiche für das Verstehen dessen, was gerade geschieht und also auch mit uns geschieht, schon aus der Sache heraus nachteilig, so tritt für die Gegenwart hinzu, daß das Individuum sich mehr und mehr in riesige Massenstaaten gestellt sieht, in Europa und Amerika zudem in eine hochindustrialisierte Gesellschaft.

Der Standort des einzelnen gestattet ihm nicht mehr, die Lebensvorgänge im Zusammenhang zu überschauen. Es kommt zum Konflikt zwischen Person und industrialisierter Massengesellschaft, zwischen Individuum und Kollektiv30). Es scheint dem einzelnen verwehrt, seine Bestimmung innerhalb eines Ganzen zu überblicken, dem er verpflichtet sein soll, aber eben sich nicht verpflichtet fühlen kann. Der unbehauste Mensch vermißt das Sinnvolle in seiner Existenz31).

Er stellt an diesem „Ort”, der, philosophisch betrachtet, seine Ortlosigkeit ist, unter rationalem Blickwinkel den Fortschrittsglauben bestürzt in Frage. Was uns heute und am „Heute” auffällt, ist eben die rationale


29) F. Walter schreibt in „Naturrecht und Politik im Lichte der Gegenwart” (Bonn 1871), S. 7, wer über diese Dinge nachdenke, „bringt dazu schon eine gewisse Bildung und eine Summe von Begriffen mit, die man nur der christlichen Erziehung und der Anschauung der nach dem Christentum gebildeten Lebensordnung verdankt und wovon man sich, selbst wenn man wollte, nicht losmachen kann.” — Diese Feststellung verdient im Grundsätzlichen Zustimmung, bedarf aber hinsichtlich der Anwendung auf das „Heute” gewisser Restriction.
30) Vgl. Tillich, Der Mensch in der technisierten Gesellschaft, „Perspektiven” 1954, Heft 8.
31) Sehr aufschlußreich Bollnows Versuch, dem Menschen in dieser Phase des Existentialismus wieder eine Heimstatt aufzuzeigen, ihm wieder das Behaust-Sein zu geben. Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentialismus. — Ob der Sinn in „einer Rationalität, die nicht nur Technik erzeugt, sondern Technik beherrscht”, liegt, ist sehr fraglich. (Bense, Descartes und die Folgen, 1955, S. 14.)

|7|

Bewertung und Betrachtung aller Lebensvorgänge. Die Tätigkeit erdrückt die Beschaulichkeit. Die vita activa hat Vorrang vor der vita contemplativa. Die Tatsache wird höher gewertet als die Idee.

Wir dürfen mit aller gebotenen Vorsicht sagen, daß das Besondere unserer Zeit in dem Mißverhältnis liege zwischen dem Einsichtig-Sein in das, was wir nach Naturgesetzen erkennen, und in das, was wir nicht mit ihrer Hilfe „begreifen” können.

Die Theologie nun, erheblichen Raum in jeder Untersuchung evangelischen Kirchenrechts einnehmend, dabei heute, wie von protestantischer Seite aufgezeigt, selbst nicht frei von dem „überwiegen der Praxis, der weithin undurchdachten, nur durch den momentanen Erfolg imponierenden Praxis”32) — sie stellt das Heilige in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. „Das Heilige gehört nicht zum Rationalen”33). Die Gegenwart indes, da sie dem Praktischen vor dem Geistigen den Vorzug gibt, fördert die Säkularisierung der Gottesvorstellung. Es fehlt dem „modernen” Menschen weithin jede Art einer Beziehung zur Transzendenz34).

Eine unbesehene Übernahme der Vorstellung vom „christlichen” Abendland in das Heute ist nicht möglich. Die Darstellung evangelischen Kirchenrechts impliziert eine gründliche Selbstüberprüfung des Abendlandes und seiner sogenannten „Christlichkeit”. —

Zusammengefaßt führen die in der Eigenart der vorzunehmenden Untersuchung begründeten Schwierigkeiten zu dem Ergebnis, daß, trotz Bemühens um ein Verstehen theologischer und juristischer Begriffe in bestmöglicher Annäherung, trotz Einblicks in das nur unvollkommen zu erreichende Aufschlüsseln der Konfessionsunterschiede, trotz Erkennens unseres irgendwie Festgelegtseins in religiösen Überlegungen und bei allem Wissen um die Gegenwartsverhaftung, in der Objektivität wissenschaftlicher Darstellung evangelischen Kirchenrechts dem Subjektiven ein weiter Spielraum bleibt. Die Maxime „Sine ira et studio” erstellt sich der Untersuchung als das stets und unter allen Umständen anzustrebende Ideal, das in den Niederungen der Wirklichkeit nicht — den Juristen Grund starker Zweifel, den Theologen Quelle eigener Bestätigung — zu erreichen ist.

 

IV. Der Gang der Untersuchung

 

Der Verlauf der Darstellung zeichnet sich in Umrissen in dem Begriff „Kirchenrecht” ab. Wer die Frage nach dem evangelischen Kirchenrecht stellt, fragt damit nach der „Kirche”, nach dem „Recht” und dem „Kirchenrecht”.

Da es sich um eine juristische Untersuchung handelt, ist auszugehen vom Begriff und Wesen des Rechts, dem der erste Teil gewidmet ist. Ihm folgt eine Erörterung der „Kirche” in evangelischer Sicht, die nicht eine Ekklesiologie sein will, sondern einen Teil der Plattform zu schaffen


32) Iwand, JK 1953/512.
33) Berggrav, Der Staat und der Mensch, S. 297.
34) Vgl. Lauk, Gibt es ein christliches Abendland?, S. 15 ff.

|8|

versucht für den dritten Teil, die Auseinandersetzung als solche um das evangelische Kirchenrecht.

Sein erster Abschnitt beschäftigt sich mit dem Kirchenrecht bei den Reformatoren und in seiner historischen Entwicklung. In ihm geht es nicht darum, längst Bekanntes in neuer Form zusammenzufassen oder gar eine gefällige Argumentenbastion aufzubauen. Indem das Bekannte vorausgesetzt wird, sollen hier Beiträge der heutigen Forschung zu dieser Entwicklungsspanne berücksichtigt und, soweit erlaubt, gewürdigt werden.

An dieser Stelle ist anzuhalten, um eine weitere Nuance des Aufbaus zu begründen. Vor dem Teil, der die „Kirche” behandelt, ist ein kurzer Ausblick auf den katholischen Kirchenbegriff zu geben, ebenso wie dem Abschnitt über die historische Entwicklung eine kurze Skizze des katholischen Kirchenrechts vorgeschaltet wird. Beides möchte verstanden sein aus der „Besinnung darauf, daß der 31. Oktober 1517 nicht der Beginn der christlichen Kirche” ist35), aus der Erkenntnis, daß ein Negieren der „tradierenden Macht der Katholischen Kirche”36) der Untersuchung den wissenschaftlichen Boden entzieht und schließlich aus der Einsicht heraus, daß es für das Thema den Verlust des entwicklungsmäßigen Zusammenhanges bedeuten würde, so zu tun

„als ob die Kirchengeschichte zwischen dem Abschluß des neutestamentlichen Kanons und dem Thesenanschlag Luthers ein leerer Raum wäre, der nur mit Irrtümern und Fehlentwicklungen angefüllt wäre, und als ob die Väter, Lehrer und Märtyrer jener Jahrhunderte nicht auch unsere Väter, Lehrer und Heilige wären”.37)

Dieser soeben umrissene Standpunkt bedingt keineswegs, einem anderen Extrem, der Illusion eines Mittelalters mit Goldgrund, zu verfallen.

Der zweite Abschnitt des dritten Teils enthält die gegenwärtige Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht. Zuerst wird dabei die theoretische Seite der Problematik untersucht, danach sein Niederschlag in der Praxis.

Der vierte Teil endlich kehrt zur Ausgangsfrage zurück und sucht sie zu beantworten, einmal durch Vergleiche und Gegenüberstellung der Untersuchungsergebnisse, zum anderen durch die Suche nach der Wurzel evangelischer Kirchenrechtsproblematik.

Grob abgestrichen läßt sich sagen, daß die Untersuchung in der ersten Hälfte vornehmlich erkennenden, exegetischen Charakter trägt, während sie in der zweiten Hälfte, etwa Von dort an, wo die Betrachtung der Gegenwart einsetzt, fortschreitend stärker, wertende Züge annimmt.

Durch Erschlüsseln des Aufbaus aus dem Begriff „Kirchenrecht” selbst unterstellt die Untersuchung uno actu die Relation — in bewußter Abwandlung eines Satzes von J. Klein — daß der Glaube die Kirche38) und die Kirche das Kirchenrecht bestimme, . . . quod est demonstrandum.


35) Ehlers, Ostfriesen-Zeitung, 30. 10. 1954, S. 1-2.
36) Hauck, Sohm und Tolstoi, S. 12.
37) Stählin, Erneuerung in Demut, Christ und Welt 1953, Nr. 4, S. 4, Sp. 4.
38) Auf kath. Seite kommt Josef Klein in seiner Abhandlung „Grundfragen und Grenzen des kanonischen Rechts” auf S. 5 von der Sohm’schen These her zu dem Satz: „Der Glaube bestimmt den Kirchenbegriff und der Kirchenbegriff das Kirchenrecht.”