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Das verbindende Wollen.

 

Ich enkan die lüte machen nicht
 vornunftig algemeyne,
AI lêre ich sie des rechtes phlicht,
 mir enhelfe got der reyne.
  Sachsenspiegel Vorrede 5-8.

Die Frage nach Recht und Kirche tritt auf, sobald wir mehrere Menschen in ihren religiösen Empfindungen betrachten. Die Gemeinsamkeit, oder aber die Verschiedenheit ihres Glaubens, die wir da gewahren, erschafft die Aufgabe, eine Vereinigung oder eine Ausgleichung unter ihnen zu suchen. Jeglicher bringt hier etwas von dem Eigenen mit, das er gerade sich persönlich vorbehalten und bewahren möchte. Aber sie sind doch auf ein Zusammenleben miteinander angewiesen; und da, wo nun einer des anderen Last mitzutragen hat, kann man nicht teilnahmslos an dem vorübergehen, was die letzte und höchste Frage eines jeden von ihnen ausmacht.

Es ist versucht worden, die also gestellte Aufgabe dadurch sinnenfällig zu machen, daß zunächst

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einmal ein gänzlich vereinzelter Mensch vorgestellt wurde, der allein für sich haust und abgeschnitten von anderen Menschen sein Leben fristet, im vollen Gegensatz zu einem gesellschaftlichen Dasein. Wir alle kennen das genau aus unseren Jugendtagen in der Geschichte des Robinson, deren mannigfach verschiedene Ausmalung freilich nicht immer ein Kinderbuch bedeuten mag. Besonders hat Campe in planmäßiger Schilderung berichtet, wie der Held seiner Erzählung von allen Hilfsmitteln entblößt auf die einsame Insel geworfen wurde. Nach einiger Zeit erst erhielt er durch ein gescheitertes Schiff, auf dem sich keine Besatzung mehr vorfand, mancherlei Werkzeug für besseren Bestand seines äußeren Lebens. In seiner Abgeschiedenheit aber ward er geläutert. Reue und Buße ergriffen ihn, und er fand den Weg zu Gott.

Und nun trat zu ihm die soziale Erwägung heran, als er den jungen Indianer rettete und mit ihm, dem Freitag, sein Geschick teilte und in Verständigung kam; worauf es gelang, auch den Vater seines Gefährten unG einen gefangenen Europäer von den Wilden zu befreien.

Hier setzt alsbald unser Problem ein.

Robinson konnte nicht umhin, zu lächeln, — so heißt es in der genannten Darstellung — da ihm der Gedanke einfiel, daß er einem ordentlichen Könige

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nunmehr immer ähnlicher werde. Die ganze Insel war sein Eigentum; seine Untertanen, die ihm alle ihr Leben verdankten, hingen lediglich von seinem Willen ab und waren verbunden, wenn es sein müßte, Leib und Leben für ihn zu wagen. Am merkwürdigsten schien ihm dabei der Umstand, daß er gerade soviel Glaubensparteien als Untertanen in seinem Reiche hatte. Freitag hatte diejenige christliche Religion von ihm angenommen, welche die Protestanten bekennen; der Spanier war ein katholischer Christ, Freitags Vater sogar noch ein Heide. — Was mußt du nun wohl dabei tun? dachte Robinson. Hättest du nicht etwa das Recht, sie alle mit Gewalt zu zwingen, sich zu demjenigen Glauben zu bekennen, den du für den besten hältst? Er sann darüber nach, weil es eine Sache war, an die er noch niemals gedacht hatte.

Er stand wohl fremd dem gegenüber. Aber wie viele haben nicht vor und nach ihm den gleichen Zweifel gehegt! Es mag sein, daß man vor hundert und mehr Jahren mit besonderem Nachdruck dieser Frage nachging. Sie ist jedoch an keine Zeit gebunden. Man erinnere sich, daß in dem letzten Jahre aus Rußland berichtet wurde, daß die Sowjetregierung eine Verfügung erlassen habe, die das orthodoxe und das protestantische Glaubensbekenntnis verbiete und eine neue Religion einführe, die das neue Christentum genannt werde, und die die einzige zulässige Religion in Rußland sein solle.

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Wenn wir nun hier das Verhältnis von äußerer Regelung und religiöser Überzeugung in methodischer Überlegung durchgehen wollen, so ist darauf acht zu haben, daß es sich in zwei besondere Fragen zerlegt.

Einmal hat eine Abgrenzung unter den beiden Gedankenrichtungen stattzufinden. Es ist einer jeden von ihnen, der rechtlichen Ordnung und der religiösen Lehre, das Gebiet abzustecken, in dem gerade sie zu wirken bestimmt ist. Dabei mag es sich empfehlen, die maßgebliche Theorie für den praktischen Beruf des Seelsorgers, wie des Rechtsgelehrten in Grenzfällen zu bewähren, die als Beispiele zur Anregung und vertiefenden Überlegung dienen können.

Zum andern ist es nötig, die genannten Äußerungen unseres geistigen Lebens, Recht und Religion, in Verbindung miteinander zu setzen. Hier entsteht die Frage nach der Möglichkeit eines Kirchenrechtes und nach den allgemeinen Grenzen seines berechtigten Auftretens.

Wenn wir uns der erstgenannten Frage zuwenden, so müssen wir dem Gedanken der äußeren Verbindung unter den Menschen etwas nähere Aufmerksamkeit schenken.

Das Verbinden der menschlichen Zwecke steht im klaren Gegensatz zu dem Innenleben des Einzelnen

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für sich. Dieses umfaßt die gesamte Gedankenwelt, die einem Menschen in seiner Einheit zukommt. Es enthält die Betrachtung, die er der ihn umgebenden Natur widmet und erfüllt sich in einem Gesamtbild für alle seine Wahrnehmungen. Vor allem aber gehören ihm die wünschenden Gedanken zu. Sie bilden eine eigene Welt. Von ihnen, den Gedanken, darf man mit Grund sagen: daß sie des Menschen bester Freund und schlimmster Feind sind. Sie allein können ihm einen festen Halt bieten oder aber ihn strafend hin- und herwerfen, ohne daß er ihrer ledig zu werden vermag. Um das Roß des Reiters schweben, um das Schiff die Sorgen her.

In solcher Weise tritt die Frage des Innenlebens der äußeren Regelung des gesellschaftlichen Daseins gegenüber. Wir haben sämtlich es gegenwärtig, wie diese beiden Äußerungen des menschlichen Lebens vor allem in der Bergpredigt nebeneinander vorgestellt werden; — so vollendet klar und deutlich, daß es unbedingt jedermann greifbar wird. Dem Verbote des Tötens tritt das Geheiß zur Seite, in seinen Gedanken gar nicht zu zürnen; das Gesetz von der Unversehrtheit der Ehe nach außen wird ergänzt durch die Verwerfung schon des schlechten begehrenden Gedankens. Die Sünde liegt bereits in diesem letzteren, ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ, in seinem Herzen.

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Diese einfache und sichere Unterscheidung ermöglicht es: eine genaue begriffliche Abteilung des sittlichen und des sozialen Wollens zu machen. Beide haben es gemeinsam zu tun mit menschlichem Sehnen und Streben, mit dem Drängen und Wollen. Sollen sie im Interesse der Klarheit unseres Denkens geschieden werden, so bedarf es eines bedingenden Merkmales, durch das sich die zwei genannten Begriffe kennzeichnen und voneinander abteilen lassen.

Dieses Merkmal kann nicht etwa in der Güte oder der Schlechtigkeit eines zur Beurteilung stehenden Begehrens liegen. Diese Unterscheidung kommt vielmehr bei ihnen beiden in gleicher Weise vor. Es gibt auch schlechte Moral und gutes soziales Wollen und umgekehrt. Es entspricht im ersten Falle eine lehrende Anweisung dem Begriffe Moral, genügt aber nicht der richtenden Idee des Guten. Darum ist es auch möglich, verschiedene Moralsysteme miteinander zu vergleichen und ein jedes von ihnen dabei abzuschätzen. Es mag dann das eine in der Wertung gegenüber dem andern mehr oder weniger gut sein, aber dem Begriffe Moral entsprechen sie alle. Und genau das gleiche erhalten wir, wenn wir den Blick auf die begriffliche Eigenart des sozialen Wollens richten.

Die grundlegende Einteilung des Wollens in die zwei hier genannten Begriffe läßt sich nur dadurch

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gewinnen, daß man zum ersten das Wollen eines Men-schen betrachtet, den man als Einheit getrennt für sich nimmt, und zum zweiten es erwägt in seinen Beziehungen zum Wollen anderer. Durch das letzte entsteht eine eigene grundlegende Art des Wollens: Das verbindende Wollen.

Jenes erste — der inwendige Mensch — liegt vor, ehe das Sehnen und Drängen des Innern sich nach außen hin erkennbar zeigt. Das Fehlen einer Äußerung ist nun das bedingende Merkmal für den Begriff des sittlichen Wollens, sobald dieser dem sozialen Streben gegenübertritt. Freilich ist der Sprachgebrauch hier nicht günstig, da das Wort sittlich vielfach auch in der Bedeutung von richtig verwendet wird. Dann gilt es, vor einer Verwirrung in der Sache sich zu hüten. Hier haben wir zuvörderst den Unterschied der Begriffe des Innenlebens und des Zusammenlebens zu betonen.

Für diese Unterscheidung ist es gleichgültig, ob sich die wünschenden Gedanken überhaupt mit den Beziehungen zum Nebenmenschen beschäftigen oder nicht, und wie sie dies etwa tun. Wenn jemand sich vorsetzt, ehrlich im Handel zu sein, aber seine Sucht, auf redliche Weise Geld zu verdienen als seinen alleinigen obersten Zweck aufstellt, so bleiben seine wünschenden Gedanken in mangelhafter Verfassung. Und falls er,

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von körperlichem Schmerze geplagt, dem in Verzweiflung nachgibt und mit der Vorsehung hadert, so hat das mit sozialer Erwägung überhaupt nichts zu tun, bleibt vielmehr der sittlichen Frage nach dem beschriebenen Begriffe Untertan.

Der Begriff des sozialen Wollens besteht darin, daß die Zwecke des einen als Mittel für den anderen genommen werden, und wechselseitig die Ziele des andern dem einen als Mittel dienen. So werden die Bestrebungen mehrerer Menschen miteinander verknüpft. Der moderne Ausdruck, daß die Menschen sich vereinigen, um den Kampf um das Dasein besser führen zu können, mag ruhig stehen bleiben.

Damit wird eine besondere Beschaffenheit des Setzens von Zwecken entscheidend angegeben, die das damit versehene Wollen formal bestimmt. Das verbindende Wollen ist also etwas anderes, als eine Summe von Zwecksetzungen gleichen Inhaltes.

Vielmehr ist es von den Willensinhalten der durch es verbundenen Menschen leicht und deutlich zu scheiden. Jeder Paragraph einer sozialen Anordnung diene als einfaches Beispiel. Wir haben dabei also mindestens drei Willensinhalte vor uns, von denen die verbundenen unter sich der Art nach gleich sind, während das verbindende Wollen als ein solches gedacht wird, das über ihnen bestimmend steht.

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Alles dieses ist eine abstrakte Zergliederung der einheitlichen Denkformen, in denen wir unsere Vorstellungen ordnen. Es ist damit noch gar nichts über das Subjekt gesagt, dem ein verbindendes Wollen innewohnt. Das ist eine bedingte und wechselnde Sache. Hier kommt es nicht auf eine Beschreibung einzelner Vorgänge an, die sich geschichtlich ereignen mögen. Andererseits wird bei der besprochenen grundlegenden Einteilung des Wollens nichts vorausgesetzt, als die Tatsache des Bestehens mehrerer Träger des wollenden Bewußtseins und die Möglichkeit des Ordnens dieses letzteren überhaupt.

Ist nun das verbindende Wollen und der dadurch ermöglichte soziale Zustand eine Notwendigkeit? Ist nicht vielmehr die rechtliche Betrachtung von minderem Werte und selbst nur als eine Art von Notfall zu betrachten?

Es hat sich des öfteren eine Neigung gezeigt, jenes zu verneinen, die zweite eben ausgesprochene Frage zu bejahen. Selbst Luther war dem dahin gehenden Meinen nahe. Mit manchem Beschauer des sozialen Lebens, der dem Studium des Rechtes an sich ferner steht, legte er den Nachdruck in fast ausschließlicher Weise auf das Strafrecht. Er äußerte, daß das Recht unnötig sein würde, wenn die Welt von lauter Christen bewohnt wäre. Das Eingreifen der Obrigkeit sei ein Notwerk,

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um die Guten in ihrem Dasein und Besitz vor den Schlechten zu schützen. Wenn nun jemand die Welt wollte nach dem Evangelio regieren, und alle weltliche Recht und Schwert aufheben, und fürgeben, sie wären alle getauft und Christen, unter welchen das Evangelium will kein Recht noch Schwert haben, auch nicht not ist; Lieber, rat, was würde derselbe machen? Er würde den wilden, bösen Tieren die Band und Ketten auflösen, daß sie jedermann zurissen und zubissen, und daneben fürgeben, es wären feine, zahme, kirre Tierlein; ich würde es aber an meinen Wunden wohl fühlen.

Hiergegen ist zu sagen, daß das verbindende Wollen mit dem Bestehen der Menschen unausweichlich gesetzt ist. Die Vorstellung des sogenannten Naturzustandes des Menschen ist auch in äußerster Abstraktion immer nur eine vorläufige. Sie isoliert den Einzelnen und denkt doch zugleich an sein äußeres Verhältnis zu andern. Sobald man also folgerichtig ausdenkt, muß man die Bestrebungen eines jeden in Beziehung zu den Bestrebungen der ihm begegnenden Menschen bringen.

Auch von den Christen gilt nicht nur, daß sie weit voneinander wohnen, sondern daß ihre irdischen Zwecke gleichfalls bedingt sind und in geordnete Beziehung zueinander treten müssen. Die Beschränkung des Rechtes auf den strafrechtlichen Schutz der Guten

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und Friedfertigen geht im Grunde doch auf den Schutz des Rechtes selbst zurück. Die Achtung vor des Nächsten Hab und Gut setzt die Einrichtung des Eigentumes und somit eine rechtliche Bestimmung voraus; und die Pflicht, seine Person unverletzt zu lassen, leitet sich von dem Verbote seiner Kränkung ab. Ohne das verbindende Wollen, das über den Einzelnen gedacht ist, besteht gar nicht der Gedanke des Zusammenwirkens, des wechselseitigen Helfens und gemeinsamen Arbeitens.

Wir nennen einen Gedanken notwendig, wenn er eine unentbehrliche Bedingung abgibt, um Einheit und Ordnung in unserem Bewußtsein zu haben. Sonach ist mit dem eben dargelegten Beweisgang die Notwendigkeit des verbindenden Wollens, und damit die Notwendigkeit des sozialen Lebens, gegenüber dem in der Phantasie ersonnenen Naturzustand, dargetan. Daß die Geschichte des Robinson, an die oben erinnert wurde, damit nicht im Widerspruch ist, versteht sich von selbst. Sie wird als vorübergehendes Ausscheiden aus der Gesellschaft erst unter der logischen Voraussetzung der letzteren deutlich. Aus ihr kam der zeitweilig Vereinsamte, zu ihr kehrte er wieder zurück. Und wenn unsere Altvorderen in ihrem strengen Rechte die Strafe der Friedlosigkeit kannten, — ein Hinausstoßen in die Wildnis, mit Vogelfreiheit und ohne

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allen Schutz des Rechtes: so geschah diese Verurteilung, wie sie F.W. Weber in Dreizehnlinden poetisch geschildert, gerade durch richterlichen Spruch auf der Grundlage eines Rechtssatzes und stellt sich sonach in ihrer Eigentümlichkeit als Inhalt eines sozialen Wollens dar.

Fassen wir das Gesagte zusammen, so erhalten wir den Satz: daß das gesellschaftliche Dasein der Menschen die Verbindung ihrer Zwecke bedeutet. Soziales Leben ist ein Zusammenwirken. In seinem Begriff sind somit zwei Elemente enthalten: 1. die Verbindung als solche. Sie besteht in der bedingenden Art und Weise des Zusammenlebens und prägt sich in einer äußeren Regelung aus, das ist einem Wollen, das eben die Zwecke der dadurch verbundenen Menschen als Mittel füreinander setzt. 2. Die zusammenstimmende Tätigkeit der Verbundenen. Sie bildet den Stoff des Begriffes Gesellschaft, der durch das verbindende Wollen logisch bestimmt ist.

Diese Auffassung von der menschlichen Gesellschaft, als einem eigenen Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, steht im Gegensatz zu einigen Versuchen neuerer Zeit, die als materialistische und soziologische Lehren unternommen worden sind.

In ersterer Hinsicht wollte man das Wesen der menschlichen Gesellschaft durch eine Bezugnahme auf Tiervereinigungen erfassen. Den ersten Anstoß

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hierzu durfte Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere (1760), gegeben haben. Dann aber hat sich eine weitschichtige Literatur ausgebildet, die nicht etwa, wie Shakespeare im König Heinrich V. nur im Dichtwerk eine übertragene Schilderung vom Tun der Menschen wiedergibt, sondern allen Ernstes den Gedanken der menschlichen Gesellschaft mit der Wahrnehmung instinktmäßiger Vereinigung von Tieren methodisch gleichmäßig kennzeichnen möchte.

Das ist wissenschaftlich ungeeignet.

Wir wissen in genauer Erkenntnis nichts davon, daß die Tiere in voraussehender Weise den Gedanken von Zwecken und Mitteln hegen, und daß sie davon im Sinne einer Verbindung unter sich Gebrauch machen. So wenig, wie des Weiteren ein Wissen darüber besteht, daß sie den bedingenden Gedanken der wissenschaftlichen Einsicht besäßen, oder gar, daß ihnen die Idee zu eigen wäre, als Vorstellung des Unbedingten, von Raum und Zeit Unabhängigen. Die Fähigkeit zu diesem dreifachen Ordnen seines Gedankenreiches eignet dem Menschen, und es ist ihre Feststellung eine einfache Tatsache, ohne alle metaphysische Schwierigkeit. Dagegen ist die Übertragung des genannten gedanklichen Könnens auf das Tier im Grunde eine schwer verständliche Behauptung, bestenfalls das, was nach altem, gutem Sprachgebrauch eine Meinungssache

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heißen könnte. Der Materialist neigt dazu, vom Tiere auszugehen und von diesem zu dem Menschen zu gelangen. Das ist methodisch ganz verkehrt. Ein jeder hat zunächst sein eigenes Bewußtsein, und von diesem aus schließt er erst auf andere Wesen und auf deren gleiche oder verschiedene Eigenschaften mit ihm, dem urteilenden Menschen. Will er nun mit Gewalt die vorhin genannte Übertragung vornehmen, so bliebe die bedingende Art des sozialen Lebens der Menschen — das Verbinden ihrer Bestrebungen — davon unberührt. Es würde der Gegenstand der Betrachtung, nämlich das gesellschaftliche Dasein als solches, nur zahlenmäßig vergrößert, aber nicht der Art nach geändert. Nach dieser letzteren bleibt es, eben als ein Zusammenwirken, notwendig unter der Methode der Zweckwissenschaft.

Die Lehre von der menschlichen Gesellschaft hat sich in neuerer Zeit mehrfach Soziologie genannt. Das Wort ist jedoch von manchen Schriftstellern in besonderem Sinne gebraucht worden; gleichbedeutend zum Beispiel mit Anthropologie, mit Geschichte der Philosophie, mit Beschreibung sozialer Tatsachen. Der Amerikaner Ward hat so nicht weniger als zwölf Bedeutungen jenes Ausdrucks zusammengestellt und hätte das noch vermehren können. Im besonderen bezeichnet aber Soziologie eine Richtung, die es unternimmt, das

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gesellschaftliche Dasein der Menschen nach naturwissenschaftlicher Methode zu behandeln. Dabei versucht man es mit der Aufstellung von Naturgesetzen des gesellschaftlichen Lebens, z.B. dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, dem ehernen Lohngesetz, der Akkumulation des Kapitals u.a.m.

Hier ist übersehen, daß der Gegenstand der körperlichen Wahrnehmung und der Gegenstand der sozialen Betrachtung unter verschiedenen Erkenntnisbedingungen stehen. Die Sozialwissenschaft hat es mit Bestrebungen zu tun, die auf das zusammenstimmende Arbeiten vereinter Menschen gerichtet sind. Es kommt bei ihr auf den Inhalt solchen gemeinsamen Strebens an. Die wissenschaftliche Behandlung des verbindenden Willensinhaltes bedeutet die Aufgabe, diesen Inhalt menschlichen Wollens in einer unbedingt einheitlichen Art und Weise zu begreifen. Das kann aber nicht einfach in demselben methodischen Vorgehen geschehen, in dem körperliche Veränderungen, die wir wahrnehmen, einheitlich geordnet werden. So ist die Sozialwissenschaft, als Lehre von dem verbindenden Wollen und den dadurch bestimmten Bestrebungen, methodisch zu scheiden von der Naturwissenschaft, die, in der hier interessierenden Richtung der Gedanken, auf das Bestimmen der Materie, als des Beweglichen im Räume, abzielt.

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Vergebens hat man nach einer Materie des sozialen Lebens gesucht, von der das letztere selbst bedingungslos abhängig wäre. Die materialistische Geschichtsauffassung tut dies bekanntlich in dem Hinweis auf die gesellschaftliche Wirtschaft. Von der Produktion, und nächst ihr von dem Umsatz der äußeren Güter, sei die rechtliche Regelung und die soziale Gliederung abhängig. Die soziale Wirtschaft bilde den Untergrund, über ihr erhebe sich ein rechtlicher und politischer Überbau.

In Wahrheit ist alle gesellschaftliche Wirtschaft nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Rechtsordnung zu begreifen. Die letztere ist die logische Bedingung (nach altem Schulausdruck: die Form) der ersteren. Ein Zusammenwirken in seiner wirklichen Ausführung, das ist eine soziale Wirtschaft, ist ohne die bedingende Unterlage einer äußeren Regelung gar nicht denkbar. Läßt man zum Exempel die Einrichtung des Privateigentumes und des Vertrages in Gedanken weg, so haben alle Erörterungen über die Höhe von Preisen und Löhnen keinen Sinn mehr. Hiernach ist nicht die rechtliche Möglichkeit des Kaufens oder Mietens von dem tatsächlichen Abschlüsse Von Kauf- und Mietverträgen abhängig, sondern das gerade Gegenteil ist der Fall.

So stellt sich als der zentrale Begriff für die

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sozialwissenschaftliche Erkenntnis der des verbindenden Wollens heraus. Von seiner klaren Erfassung und rechten Handhabung hängt die zutreffende Beherrschung alles dessen ab, was sich unter der Aufgabe der sozialen Frage zusammendrängt. Von ihm aus, von der Verbindung menschlicher Zielstrebungen, führt erst der Weg zu dem, was rechte Gemeinschaft heißen kann.

Wir haben oben gesehen, daß Luther, wie viele andere, Neigung hatte, in allgemeineren Darlegungen das soziale Wollen mit der Aufgabe des Strafrechtes wiederzugeben. In der Praxis mußte er sich eindringlich davon überzeugen, daß solches zu eng ist. Diese Praxis trat ihm in politischen Fragen, wie auch in Aufgaben der Verwaltung und Rechtsprechung entgegen. Jenes besonders in bekannter Weise in den Wirren des Bauernkrieges, das andere in den Erörterungen über den wucherischen Handel oder auch über die Einrichtung des Kirchenvermögens und die Lage der Geistlichen und Kirchendiener. Vor allem ist er jedoch in unmittelbare Beachtung rechtlicher Fragen am Ende seines Lebens gelangt, als er im Beginne des Jahres 1546 zur Schlichtung von Streitigkeiten unter den Grafen von Mansfeld in das Schiedsgericht nach Eisleben berufen wurde.

Die genannten Grafen waren reichsunmittelbar. Es war ursprünglich eine reiche Familie gewesen. Durch stete Teilung des Besitzes und große Zahl der

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Nachkommen sank dieser Wohlstand allmählich. Schließlich waren sie ganz verschuldet. Besonders galt dies von dem Grafen Gebhard, für den Luther eine besondere Vorliebe hatte, da jener ein weichherziger, frommer und guter Mensch war. Leider war er aber auch ein so schlechter Hausverwalter, daß er bei einem Einkommen von 12000 Gulden eine Schuldenlast von beinahe 400000 Gulden aufgehäuft hatte. Sein energischer Bruder, Graf Albrecht VII., bewirkte es, daß ihm die ganze Verwaltung von Gebhards Gütern übertragen wurde; alle Einkünfte und die Deckung der Schulden sollten Albrecht zufallen. Auch bemühte sich Albrecht in jeder Weise, dem Verfall seines Hauses entgegenzuarbeiten, wozu vor allem nötig war, neue Erwerbsquellen zu eröffnen. Er gründete die Neustadt Eisleben und verlieh ihr, ohne kaiserliches Privileg, das gesetzlich erforderlich gewesen wäre, das Stadtrecht. Er zog Bergwerke, die an bestimmte Familien als erbliche Lehen vergeben waren, sogenannte Erbfeuer, ein und machte sie zu Herrenfeuern. Durch derartige Maßnahmen kam er aber in Reibung mit seinen gräflichen Vettern. Und diese Zerwürfnisse nahmen an Zahl und Stärke zu, da die Grafen der einen Linie, die nach der Lage ihres Schlosses die vorderortische hieß, weiter zur katholischen Kirche hielten, während die übrigen zur Reformation übertraten.

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So kam es zu dem erwähnten Schiedsgericht. Seine Durchführung ist die letzte Lebensarbeit Luthers gewesen. Die zu erledigenden Fragen wurden in zwei Teile zerlegt. Der eine betraf die Streitigkeiten über das Patronatrecht in Eisleben, besonders an der dortigen Andreaskirche. Sie waren nach dem Tode von Kaspar Güttel, dem Reformator Eislebens, ausgebrochen und hatten teilweise zu Gewalttätigkeiten der Beamten gegen Kanzelinhaber geführt. Luther arbeitete mit seinem Freunde Justus Jonas einen Vergleich aus, der am 16. Februar 1546 abgeschlossen wurde. Es sollte das Patronatrecht künftighin für manche Stellen gemeinsam ausgeübt werden, für andere wurde es unter die Grafen verteilt. Diese Ordnung des Patronatwesens hat dort längere Zeit bestanden.

Mehr Schwierigkeiten bereiteten die anderen rechtlichen Aufgaben, die uns doch recht klein vorkommen werden. Es handelte sich um das Marktgeld der Neustadt Eisleben an den Rat der Altstadt, um die Berechtigung, in der Neustadt Bier zu brauen oder es in bestimmter Weise zu vertreiben und auszuführen, um die Verwaltung und Nutzung der vorhin erwähnten Bergwerke, um die Regelung der gräflichen Vermögensverwaltung und Schuldentilgung. Es war sehr mühsam, über diese Punkte zu einer Einigung zu kommen. Aber freilich: Es gelang nicht immer, eine

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grundsätzlich überzeugende Begründung der einen oder der anderen Ansicht zu finden. Stachliger als das stachligste Stachelschwein nennt Luther in grollendem Humor die eine Frage. Und in einem Brief an seine Frau stellte er in Aussicht, daß er nach seiner Rückkehr nach Wittenberg einmal als Poltergeist unter die Juristen treten wolle, um ihnen zu zeigen, wie man eigentlich im Sinne prinzipieller Richtigkeit in rechtlichen Dingen urteilen müsse.

Es stand ihm in verneinender Hinsicht fest, daß als letzte und höchste Erwägung in Dingen des Rechtes die Paragraphen nicht genommen werden dürfen. Seine streitbaren Äußerungen gegen die Juristen verstehen sich gegenüber solchen, die gerade jenen Fehler begehen und nichts Besseres, als die technisch geformten Satzungen, kennen. Aber jeder Paragraph ist ja nur ein Versuch, im voraus festzustellen, was in einer künftigen Lage die richtige Entscheidung sein müßte. Und dieser Versuch kann aus mancherlei Gründen fehlschlagen: aus demnächstiger besserer Einsicht oder aus Änderung der begleitenden Umstände. Aber woran kann man nun messen und angeben, ob ein rechtliches Urteil grundsätzlich richtig ist?

Seit alten Zeiten treten die Bemühungen auf, ein natürliches Recht zu finden, das ewig und unveränderlich für alle Völker und Zeiten gelten müßte und den

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Maßstab des positiven Rechtes abzugeben hätte. Es sollte mit der menschlichen Natur übereinstimmen. Aber diese angebliche Unterlage verflüchtigt sich bei näherem Zusehen in bloß physiologische Anlagen, die der Ausbildung zu einer rechten Art der Zwecksetzung erst noch bedürfen. Und alle rechtlichen Ordnungen verbinden die Menschen zu einem Wirken im Sinne gemeinsamen Arbeitens für bedingte Bedürfnisse; dieser Stoff der äußeren Regelung des Zusammenwirkens ist notwendig unstet und wechselnd, endlich und veränderlich und widerstreitet einer absoluten und allem Wandel entzogenen Festlegung, die doch wieder nach begrenzten und paragraphierten Sätzen geschehen würde.

In Eisleben verwies damals Luther, was manchen zunächst befremden könnte, als beste Autorität auf Aristoteles, insbesondere auf das fünfte Buch der Nikomachischen Ethik. Es sollte die ἐπιείκεια den Ausschlag geben, welches Wort Luther in der Bibel mit Gelindigkeit übersetzt hatte, während andere es mit Billigkeit wiedergaben. Aber es kann nicht zugegeben werden, daß Aristoteles hier eine genügende Auskunft erteilt habe. Er verwies auf die verhältnismäßige Gleichheit, als Ziel der austeilenden Gerechtigkeit. Das rechte Verhältnis habe nach dem Werte des einzelnen Bürgers zu geschehen. Das bestimme sich bald nach dem Reichtum, bald nach der Geburt und Familie,

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bald nach der Tüchtigkeit. Das bewegt sich im Kreise. Für die ausgleichende Gerechtigkeit, die bei der Ausübung des Richteramtes zu wahren ist, gibt es vollends überhaupt keine Auskunft.

Um hier zu einem abschließenden Ergebnis zu gelangen, müssen wir auf das Grundgesetz des menschlichen Wollens zurückgehen. Der Gedanke dieses Grundgesetzes besagt aber die Aufgabe, alle jemals denkbaren menschlichen Bestrebungen in Harmonie und Einheit zu erfassen und zu richten. Es kommt darauf an, über diese Möglichkeit — die den Begriff der grundlegenden Gesetzmäßigkeit ausmacht — sich in kritischer Besinnung klar zu werden. In diesem Zusammenhang können wir uns darüber kurz fassen.

Wenn man nämlich die so unendlich verschiedenen Willensinhalte aller Menschen in voller einheitlicher Art und Weise beurteilen soll, so bedarf es dazu einer Methode, die für jede beliebige Bestrebung gleichmäßig anwendbar ist. Kein besonderes Ziel ist imstande, ein solches unbedingt gültiges Richtmaß abzugeben. Das kann nur der Gedanke der Willensreinheit.

Wir denken uns als Maßstab für irgendein bedingt gegebenes Streben ein Wollen, das von den Besonderheiten gerade dieses begehrenden Menschen frei ist.

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Dieses kommt in der begrenzten Wirklichkeit des menschlichen Erlebens in voller Erfülltheit niemals vor. Es ist, nach altem Sprachgebrauch, eine Idee, das heißt — eben in der bestimmten Bedeutung dieses Wortes —: ein Gedanke, der als ein fester Blickpunkt nur vor uns steht, als ein leitender Stern, den wir nicht erreichen können,, nach dem wir uns jedoch in den Fährlichkeiten dieses Daseins richten sollen. So stellt die Idee des reinen Wollens eine Aufgabe, die niemals restlos gelöst werden kann, und der doch unausweichlich nachzugehen ist, soll anders Einheit und Ordnung in dem bunten Inhalte der geschichtlich bedingt entstehenden Bestrebungen walten.

Sieht man sich nach Hilfsmitteln um, das allgemeine Gesetz der Freiheit, wie es im Jakobusbrief genannt wird, in der Praxis zu bewähren, so sind in allgemeingültiger Weise die beiden Arten des menschlichen Sehnens und Strebens festzuhalten, die wir oben besprachen: das Innenleben mit seinen wünschenden Gedanken und das Zusammenwirken unter der Bedingung des verbindenden Wollens.

Für jenes winkt das Ziel der Harmonie des eigenen Gemütes, der innere Friede, dessen leitende Anweisung das Gebot der Lauterkeit ist. Hier gilt es, dem Grundsatz der Wahrhaftigkeit vor sich selbst nachzuleben und nach der Vollkommenheit zu streben, die

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niemals eine Einzelheit in den Mittelpunkt unseres Daseins stellen läßt. Hierfür finden wir wiederum die nötige und genügende Anleitung in den gut verständlichen Sätzen der Bergpredigt. Wir brauchen darüber an dieser Stelle nichts Näheres auszuführen. Nur die Eigenart der dortigen Lehren gegenüber sozialen Satzungen darf im Vorbeigehen erwähnt werden. Der berühmte Satz von dem Hinhalten auch der rechten Wange, so man auf die linke geschlagen ist, und die übrigen Anweisungen, die darin gipfeln, daß man dem Übel nicht widerstreben solle, dürfen ja nicht im Sinn äußerer Regelung aufgenommen werden. Es sind keine Artikel und geformte Satzungen für die soziale Frage, es sind Richtlinien der Gedanken. Indem sie sagen, daß keine Einzelheit, kein äußeres Gut so hoch einzuschätzen ist, daß man bei seinem Verlust sich ganz und gar zerschmettert fühlen dürfe, dienen sie der Reinheit des Gemüts in dem Innenleben, das jeglicher mit sich zu führen hat.

Dagegen kommt es für das Zusammenleben mit anderen auf den Inhalt des sie verbindenden Wollens an. Es ist jetzt nicht mehr eine Summe von Einzelentschließungen, die in Frage steht, sondern die eigene Weise des besonders gearteten Wollens, das die Zwecke der dadurch Verbundenen als Mittel für einander setzt. Wendet man auf das verbindende

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Wollen den Gedanken der Willensreinheit an, so vollzieht sich das in der Idee einer reinen Gemeinschaft. Da in der Verbindung ein jeder in seinem Wollen als bedingtes Mittel für den andern genommen wird, so darf das im Sinne der richtenden Idee nicht stärker geschehen, als er das gleiche in seinem Verbundensein zurückerhält. Es soll ein jeder als Gemeinschafter geachtet werden und teilnehmen, also, daß er nicht als ein bloßes Mittel für das subjektive Begehren des andern eingesetzt wird. Das ist der Gedanke der Gerechtigkeit, wie er von alters her den Menschen vorgeschwebt hat. Er erhebt ihr Zusammenleben, das begrifflich als eine Verbindung zu kennzeichnen ist, zu der idealen Art der Gemeinschaft.

Es ist, wiederholen wir, die Anwendung der Richtlinie von dem reinen Wollen auf das begrifflich abgeteilte verbindende Wollen. Selbständig steht diese Anwendung neben derjenigen, die aus der Willensreinheit auf das Innenleben zu ziehen ist. Sie ist zugleich das, was wir seit etwa hundert Jahren in besonderer Betonung die soziale Frage nennen, — das ist: das Streben nach richtigem Recht!

Aber es handelt sich bei dieser Zweiteilung auch nur um die Bewährung des einen einigen Grundgesetzes des menschlichen Wollens. Erst bei dem Abstieg von dem Gipfel dieser einheitlich geschlossenen

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Gesetzmäßigkeit alles Strebens zu den besonders gesetzten Aufgaben stellt sich die allgemeine Einteilung der möglichen Zwecksetzung — nach Innenleben und nach Zusammenleben — wieder ein. Und wenn wir für die rechte Lenkung der wünschenden Gedanken in der Lehre von Jesus die besonders eindringliche Vermahnung finden, so erscheint das Suchen nach der sozialen Gerechtigkeit im alten Testament schon ausgebildet. Es wird wenige Preisungen und Verheißungen ihrer geben, die in der Wärme der Empfindung und in der Kraft des Ausdrucks vornehmlich mit den Worten des Jesaias (32, 17 f.) wetteifern können: Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Gerechtigkeit Nutz wird ewige Stille und Sicherheit sein, daß mein Volk in Häusern des Friedens wohnen wird, in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe.

Wie aber verhält sich nun zu alledem die Liebe? Ist das Gebot der Nächstenliebe, wie es im Alten Bund schon auftrat und im Neuen Testament ausgebaut wurde, von gleicher Bedeutung, wie die eben besprochenen Gedankengänge der inneren Lauterkeit und der äußeren Gerechtigkeit?

Es wird aufgefallen sein, daß in den von uns angezogenen Äußerungen Luthers die Liebe nicht im Sinn des bedingenden Merkmales für richtiges rechtliches Wollen genannt wurde. Er nahm als dieses Merkmal

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ja die Billigkeit oder Gelindigkeit, die ἐπιείκεια nach dem Vorgang des Aristoteles, und lehnte es ab, daß man die Welt nach dem Evangelium regieren könne. Diese Verneinung ist sachlich wohl begründet. Wir haben ihr aber nun die positive Ergänzung zu geben.

Die begriffliche Klarstellung des sozialen Ideales, mit der Begründung der Möglichkeit eines richtigen Rechtes, hat nicht auf die Liebe zurückzugehen. Und doch bildet sie, die Liebe, die Krönung des ganzen Baues, den wir in Gedanken hier errichten.

Damit hat es diese Bewandtnis.

Die wissenschaftliche Untersuchung unserer Fragen hat die Möglichkeit darzulegen, den Inhalt unseres Bewußtseins objektiv richtig zu gestalten. Das gilt von dem Inhalt der äußeren Eindrücke, wie von dem der Bestrebungen der Menschen. Aber wenn es glückt, so haben wir damit immer nur die Möglichkeit des richtigen Erkennens und Wollens erhalten. Daß davon auch Gebrauch gemacht wird, das vermag die Wissenschaft in ihrer Eigenart nicht zu erreichen. Sie kann nie beweisen, daß man sich um das Richtige bemühen müsse. Sobald es jemand verschmäht, die Betrachtung der Natur und die Erwägung seiner Zwecke in wissenschaftlich begründeter Weise vorzunehmen, so kann aus der wissenschaftlichen

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Lehre selbst kein Gegenbeweis hergenommen werden. Auf die Frage: Weshalb soll ich sollen? — gegen den Zweifel: Wozu Gerechtigkeit üben und objektive Richtigkeit, ohne subjektiven Vorteil, pflegen — gibt die Wissenschaft keine Auskunft. Dieses gehört zu der Zuständigkeit der Religion.

Zu ihrem Beruf zählt es, die Hingebung an das Richtige zu wecken, zu fördern und zu stärken. Ihr ist das eine Folge aus der Versenkung in das Absolute, aus dem Vertrauen auf göttliche Ordnung. Sie betont das notwendige Gefühl, daß wir uns unserer selbst — um mich der Formel Schleiermachers u bedienen — als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind. Und in dem Zuge nach dem vollkommenen Abschluß, den die Wissenschaft nicht erfüllen kann, will sie, die Religion, in dem Menschen den Enthusiasmus für das Gute entflammen. Das drückt sich in der Liebe zu Gott aus, die in vertrauender Hingebung jene Überbrückung des Gegensatzes im Wollen und im Vollbringen ersehnt, die der Mensch aus eigener Kraft nicht leisten kann; — und in dem Gebote, den Nächsten zu lieben, wie sich selbst, als dem barmherzigen Entschließen, sich ihm gegenüber richtig zu verhalten.

So liegt in der Bezugnahme auf die Liebe nicht die methodische Kennzeichnung des Begriffes Gerechtigkeit

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— aber doch die Erfüllung des Gesetzes —, da sie zu dem festen und immerwährenden Wollen nach reiner Gemeinschaft begeisternd und anfeuernd hinführt.

Deutlich müssen die zwei Aufgaben, die wir nannten, in allen Bestrebungen zutage treten, die das christliche Lebensziel in der sozialen Frage zu betätigen gedenken. Als eindringliches Beispiel kann die Wirksamkeit von Viktor Aihmé Huber angeführt werden, als er vor bald siebzig Jahren in Wernigerode genossenschaftliche Unternehmungen in das Leben rief. Ihm schwebte eine Organisation der Sozialwirtschaft vor, bei der der Gemeinschaftsgedanke die bestimmende Richtlinie abgäbe. Aber er hob auch stets hervor, daß ein christlich-evangelisches Gefühl der Bruderliebe einem gerecht einrichtenden sozialen Wollen die Weihe und Kraft erst erteilen müsse.