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II. Die Kirche.

Ohne Ausnahme und ohne Bedenken entnimmt die jetzt herrschende Lehre des Kirchenrechts den Begriff der Kirche der Theologie. Die katholischen Lehrer des Kirchenrechts stehen auf dem Boden der katholischen, die protestantischen auf dem Boden der protestantischen Lehre. Dort bilden die katholischen Bekenntnissschriften, hier die Bibel und die protestantischen Bekenntnissschriften die Grundlage für die Definition 1). Dort wird demgemäss nur die katholische Kirche als Kirche angesehen, hier die Zugehörigkeit auch der lutherischen und reformirten Kirche zu der „Einen Kirche” behauptet 2).

Von protestantischer Seite hat Jacobson eine besondere Untersuchung über den Begriff der Kirche und über das Verhältniss der Theologie zum Kirchenrecht angestellt 3). Sein Resultat ist:


1) Es genügt hier zu citiren: Phillips, Kirchenrecht I, S. 9. Lehrbuch §. 2. Walter, Kirchenrecht (14. Aufl.) §. 11. Schulte, Kirchenrecht I, S. 7. Lehrbuch (2. Aufl.) S. 5. — Richter-Dove, Kirchenrecht (7. Aufl.) §. 1.-3. Mejer, Kirchenrecht (3. Aufl.) §. 1. ff. §. 59.
2) Vgl. die Polemik bei Richter-Dove, Kirchenrecht, 6. Aufl., §. 2. Note 1. gegen Walter, Phillips, Schulte.
3) Jacobson, Kirchenrechtliche Versuche zur Begründung eines Systems des Kirchenrechts. Erster Beitrag. Königsberg 1831. Abhandlung II. III.

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die Kirche ist „das Reich Gottes”, „die Vereinigung aller Gläubigen in Christo und durch Christus mit Gott”, welche vom Theologen „mehr von der inneren geistigen”, vom Juristen „mehr von der äusseren irdischen Seite” aufgefasst werde. Es ergiebt sich ihm demnach, dass „der Theologe und Jurist denselben Gegenstand bearbeiten” 4).

Von katholischer Seite hat Gerlach sich monographisch über die Definition des Kirchenrechts verbreitet 5). Er fasst selber das Resultat seiner Untersuchungen dahin zusammen 6): „Ohne zu wissen, was Recht und was Kirche ist, kann man zu einem Begriffe von Kirchenrecht nicht gelangen. Die Jurisprudenz aber definirt das Recht, und die Theologie die Kirche”.

Bei den katholischen wie bei den protestantischen Vertretern des Kirchenrechts kehrt dieselbe Grundanschauung wieder, dass der Begriff der Kirche auch für das Recht durch Glaubenssätze, nicht durch Rechtssätze bestimmt wird, dass der Begriff der Kirche im Rechtssinn mit dem Begriff der Kirche im Lehrsinn zusammenfällt, klarer ausgedrückt, dass ein Rechtsbegriff der Kirche nicht existirt.


4) Jacobson a.a.O. S. 7. 122. 144.
5) Gerlach, Logisch-juristische Abhandlung über die Definition des Kirchenrechts. Paderborn 1862.
6) Gerlach, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts. 2. Aufl. Paderborn 1872. S. 1.

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Nur schwache Ansätze finden sich, und zwar bei protestantischen Schriftstellern, den Begriff der Kirche im Rechtssinn von dem Begriff der Kirche im Sinn der Glaubensbekenntnisse zu sondern. Für die katholische Auffassung ist schon die Kirche im Lehrsinn eine äusserlich gestaltete, sichtbare Gemeinschaft, welche der rechtlichen Existenz unmittelbar fähig erscheint. Der protestantischen Lehre ist dagegen die Kirche die unsichtbare, äusserlich nicht dargestellte, noch darstellbare Gesammtheit aller wahrhaft Gläubigen. Der protestantische Kirchenbegriff drängt zur Unterscheidung der äusseren, rechtlichen Kirchengemeinschaft von der Kirchengemeinschaft im Lehrsinn. Nichtsdestoweniger ist auch hier die Frage nach dem Rechtsbegriff der Kirche kaum einmal gestellt worden 7). Die Aufgabe ist nur empfunden, nicht


7) Eine Anregung zur Unterscheidung der „geistlichen” und „rechtlichen” Kirche hat Puchta, Einleitung in das Recht der Kirche (Leipzig 1840) S. 64 ff. gegeben, und folgt ihm v. Scheurl, die geistliche und die rechtliche Kirche (1861, in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche Bd. 41, S. 343 ff., jetzt in seiner Sammlung kirchenrechtlicher Abhandlungen S. 265 ff.), doch begnügt sich Puchta, die „rechtliche” Kirche als „äussere Kirche” zu definiren, und kommt auch v. Scheurl, der für eine Reihe von Einzelfragen den fraglichen Gegensatz treffend verwerthet hat, nicht darüber hinaus, die „rechtliche” Kirche im Gegensatz zur „geistlichen” durch die „äusserliche Nothwendigkeit", welche ihren Organismus zusammenhalte, zu charakterisiren. ➝

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formulirt, noch weniger eine rechtsgenügende Lösung gegeben worden. Der Gegensatz, aufweichen der protestantische Kirchenbegriff unmittelbar hinführt, ist mit dem Gegensatz der unsichtbaren und der „sichtbaren” Kirche als identisch gesetzt worden, und damit die gerade für das Recht Gedanken treibende Kraft des protestantischen Kirchenbegriffs entkräftet. Der Begriff der sichtbaren Kirche erscheint bei protestantischen Schriftstellern als Surrogat des Rechtsbegriffs der  Kirche 7a). Aber der Begriff der sichtbaren Kirche steht gleich dem Begriff der unsichtbaren Kirche auf dem Boden der Bekenntnisse, und nicht auf dem Boden des Rechts. Die sichtbare Kirche


➝ — Die Abhandlung von Herrmann, Ueber die Stellung der Religionsgemeinschaften im Staate (Göttingen 1849) zeichnet sich durch Klarheit über die den rechtlichen unterschied von Kirche und Secte begründenden Momente aus, doch lag es nicht im Plan seiner Ausführung, diese Frage zum eigentlichen Zielpunkt seiner Untersuchung zu machen. — v. Schulte, Lehrbuch (2. Aufl.) S. 5. Note 18 giebt einen dem Rechtsbegriff der Kirche nahe kommenden Begriff als Definition der Kirche „für das Staatsrecht” (nicht für das Kirchenrecht), welcher „zufolge der Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert” von „der Jurisprudenz” ausgebildet sei.
7a) Vgl. z.B. Mejer, Kirchenrecht, 3. Aufl. §. 4.: „Von Kirchenrecht kann selbstverständlich nur für diese sichtbaren Kirchen geredet werden.” Es sind die verschiedenen Bekenntnisskirchen im Gegensatz zu der Einen von Christus gestifteten Kirche gemeint.

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ist als solche lediglich eine Kirche im Lehrsinn, und nicht im Rechtssinn. Es braucht nur daran erinnert zu werden, dass auch die sichtbare Kirche Luther’s, d.h. die an der richtigen Wort- und Sacramentsverwaltung erkennbare Kirche, nur eine Kirche ist und, gleich der unsichtbaren Kirche, über die verschiedenen äusseren Bekenntnissgemeinden sich verbreitet 8).

Es kommt darauf an, den Begriff der Kirche für das Recht auf Rechtsboden zu stellen. So sicher das Wesen der Kirche für den Glauben unabhängig ist von der Entwickelung des Kirchenbegriffs durch das Recht, so sicher ist der Kirchenbegriff für das Recht unabhängig von der Verschiedenheit der Glaubensbekenntnisse. Die zweifellose Thatsache, dass es für das Recht nur einen Kirchenbegriff giebt, schliesst die ebenso zweifellose Consequenz in sich, dass der Rechtsbegriff der Kirche ein anderer ist als der Lehrbegriff.

Gewiss, das Recht hat den Begriff der Kirche nicht aus sich hervorgebracht. Das Recht bringt überhaupt seine Begriffe nicht aus sich selbst hervor, sondern schöpft sie aus den Ideen des thatsächlichen Lebens. Aber das Recht formulirt die Begriffe zum Zweck des eigenen Gebrauchs, um das Anwendungsgebiet seiner Rechtssätze zu


8) Vgl. Ritschl, in dieser Zeitschrift VIII., S. 232. ff.

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bestimmen. Der Begriff der Kirche ist durch das Christenthum in die Welt gebracht. Dem Alterthum ist die religiöse Gemeinschaft integrirender Bestandtheil der Staatsgemeinschaft. Erst das Christenthum hat die Idee zugleich der Unabhängigkeit des religiösen Verbandes vom politisch-nationalen, und, vor allen Dingen, des selbständigen ethischen Werthes der religiösen Gemeinschaft hervorgebracht. Der durch das Christenthum erzeugte Begriff der Kirche ist in das Recht eingetreten. Das Recht hat den Begriff der Kirche formulirt und ihn formuliren müssen für die Rechtssätze, welche auf die Kirche sich beziehen.

Der Begriff der Kirche im Rechtssinn ist durch Rechtssätze gegeben. Deshalb steht der Begriff der Kirche im Rechtssinn selbständig dem Begriff der Kirche im Lehrsinn gegenüber. Uns interessirt hier der Begriff der Kirche nur für das rechtliche Leben. In vollem Gegensatz zu der herrschenden Lehre lautet unsere Fragstellung nicht schlechthin: was ist Kirche? sondern: was ist Kirche im Rechtssinn?

Kirche im Rechtssinn ist eine Corporation, d.h. eine äusserlich organisirte Gemeinschaft. Das Recht ist das Macht verteilende ethische Gesetz des äusseren menschlichen Gemeinlebens. Für das Recht existiren nur die äusserlich erkennbaren, die als solche auch äusserlich auftretenden

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Gemeinschaften. Erst die Verfassung bringt die Gemeinschaft Mehrerer zur äusserlichen, und damit zur rechtlichen Existenz. Die Verfassung schafft den Gemeinwillen und die Organe des Gemeinwillens. Sie schafft die Gemeinschaft dadurch, dass sie dieselbe willens- und handlungsfähig, und damit als Einheit nach aussenhin wirksam macht. Die Verfassung erzeugt die Körperlichkeit und damit die Sichtbarkeit der Corporation für das Recht. Kirche im Rechtssinn ist eine verfassungsmässig organisirte Gemeinschaft. Die Kirchen Verfassung ist der Kirche im Rechtssinn wesentlich.

Es folgt daraus, dass die eine Kirche im Lehrsinn, die Gemeinde der Heiligen (im protestantischen Sinne aufgefasst) für das Recht überall nicht existirt. Die eine Kirche ist eine Kirche ohne Verfassung, ist eine Kirche, welche äusserlich als Gemeinschaft nicht erscheint, ist deshalb eine Kirche nur für den Glauben, nicht für das Recht. Es folgt ebenso, dass auch die mehrfach angenommene 9) „evangelisch-deutsche Gesammtkirche”, dass auch eine „lutherische Gesammtkirche”


9) So von Herrmann, Scheurl, Mejer. Vgl. Bierling, Gesetzgebungsrecht der evangelischen Landeskirchen im Gebiete der Kirchenlehre (1869) S. 47. Note 27., der sich selber (S. 44. ff.) in sehr ausführlicher Darstellung gegen diese Ansicht ausspricht.

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für das Recht nicht vorhanden ist. Die protestantische Kirche unterscheidet sich von der katholischen dadurch, dass sie juristisch keine Einheit ist, weil sie äusserlich nicht einheitlich organisirt ist. Nur in den einzelnen Landeskirchen hat die protestantische Kirche Körperlichkeit und damit Existenz für das Recht gewonnen. Soviel Verfassungen, soviel Kirchen im Rechtssinn. Weder die eine Kirche, noch die „eine” lutherische, reformirte, evangelische Kirche ist eine Kirche für das Recht, denn die Kirche im Rechtssinn ist eine Corporation.

Wie der Staat, so unterscheidet die Kirche im Rechtssinn von anderen Verbänden sich durch ihren Zweck. Kirche im Lehrsinn ist die Gemeinde der Heiligen. Kirche im Rechtssinn ist ist die äussere Gemeinschaft, deren Zweck die Erziehung der Gemeinde der Heiligen durch Verwaltung der Heilsmittel, durch Wort- und Sacra-mentsverwaltung ist. Kirche im Rechtssinn ist eine Corporation zur Verwaltung der Heilsmittel, eine äusserlich organisirte Heilsanstalt.

Mit diesem Zweck der Kirche hängt das andere, den Rechtsbegriff der Kirche vervollständigende, juristisch die Kirchencorporation vor anderen Corporationen auszeichnende Moment

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zusammen: die Kirche im Rechtssinn ist eine öffentliche Corporation.

Die Corporationen zerfallen in öffentliche und Privatcorporationen. Den Gegensatz — es ist ein lediglich durch juristische Gründe bestimmter Gegensatz — erzeugt die verschiedene Stellung, welche das Recht zu der Corporation einnimmt. Die Privatcorporation ist nur für das Privatrecht, die öffentliche Corporation auch für das öffentliche Recht vorhanden. Die Privatcorporation existirt nur für das Privatrecht, als abstractes vermögensfähiges Wesen, weil das Recht den Zweck der Privatcorporation, und damit ihren etwaigen ethischen Werth, ignorirt. Die öffentliche Corporation dagegen ist die Corporation mit rechtlich relevantem, mit rechtlich anerkanntem Zweck, sie ist die um ihres Zweckes willen durch Rechtssätze dem Staat ethisch gleichwerthig gesetzte Corporation. Der Staat steht im Dienst des ethischen Gesetzes. Die öffentliche Corporation ist die vom Recht als gleich ethisch nothwendig behandelte Corporation. Die Rechtssätze, welche den gleichen ethischen Werth der Corporation mit dem Staat ausdrücken, sind Rechtssätze des Staatsrechts. Es sind Rechtssätze, welche den Staat zum Dienst der öffentlichen Corporation nöthigen, welche den Staat zur Antheilnahme an dem Leben der Corporation berufen,

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gerade um ihres ethischen Werthes willen. Die Privilegirung der öffentlichen Corporation durch den Staat, und die Beeinflussung des Corporationslebens in der öffentlichen Corporation durch den Staat sind die beiden Momente, in denen der vom Staat der öffentlichen Corporation zu leistende Dienst zum Ausdruck kommt. Das innere Leben der Privatcorporation ist dem Staat gleichgültig. Die öffentliche Corporation ist die durch ihr inneres Leben als solches den Staat interessirende Corporation, ist die Corporation, gegen deren Entwickelung und Ausgestaltung der Staat von Rechtswegen nicht gleichgültig sein darf. Die Rechtssätze, welche die Pflicht des Staates als der höchsten ethischen Macht nicht blos zur polizeilichen Ueberwachung des Corporationslebens (die Corporationspolizei ist vom Staat auch der Privatcorporation gegenüber zu handhaben), sondern zur Betheiligung am Corporationsleben berufen, diese Rechtssätze bringen die ethische Gleichberechtigung der Corporation mit dem Staat zum juristischen Ausdruck, sie begründen das Wesen der öffentlichen Corporation. Wir können den Begriff der öffentlichen Corporation demnach auch dahin definiren: öffentliche Corporation ist die mit dem Staat in Verbindung stehende Corporation.

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Es erhellt die volle Bedeutung des Satzes, dass Kirche im Rechtsinn nur die mit öffentlicher Corporationsqualität bekleidete Kirchengemeinschaft ist. An diesem Punkt ist das allein juristisch die Kirche und die blosse Religionsgesellschaft unterscheidende Moment gegeben. Blosse Religionsgesellschaft, Secte im Rechtssinn, ist die Gemeinschaft zur Verwaltung der Heilsmittel mit blosser Privatcorporationsqualität, Kirche im Rechtssinn die Gemeinschaft mit öffentlicher Corporationsqualität.

Die hervorgehobene Eigenschaft der Kirche im Rechtssinn setzt sie durch ihren Begriff zu dem Staate in Beziehung. Die Consequenzen des aufgestellten Satzes, zugleich die Beweisgründe, welche seine Richtigkeit ergeben, entwickeln sich an der Hand der Lehre des Verhältnisses von Staat und Kirche, welche den eigentlichen Zielpunkt unserer Untersuchung darstellt.