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Zweiter Abschnitt:

Das profane Naturrechtsdenken der Gegenwart

 

Insbesondere der Naturrechtsversuch H. Coings.

I.

Aus der Fülle neuerer Fachliteratur, die den Naturrechtsgedanken aus den eingangs geschilderten Erwägungen heraus wieder in einem positiven Sinne aufgreift, bleibt — wie schon einleitend ausgeführt wurde — nur sehr wenig, auf das die Bezeichnung einer Naturrechtserneuerung in der spezifischen Bedeutung dieses Wortes zuträfe. Um einen Versuch in dieser Richtung handelt es sich jedoch der Sache wie der ausdrücklichen Bezeichnung nach bei den Arbeiten H. Coings1. Ihr Anspruch geht auf den Nachweis oberster Rechtsprinzipien, die als überzeitliche, materiale Maßstäbe für Rechtsbildung, Rechtskritik und Rechtsanwendung eben mehr als nur ein „formaler Topos”2, andererseits aber in ihrer Summe durchaus kein geschlossenes Normensystem und auch kein unmittelbar anwendbares Recht nach Art der „fertigen Gesetzbücher” der rationalistischen Naturrechtsepoche darstellen sollen. Von dem Vorwurf einer Überbeanspruchung des Naturrechtsgedankens sucht Coing seine Darlegung „oberster Rechtsgrundsätze” jedenfalls freizuhalten.

Aber nicht nur hinsichtlich der Grenzen, innerhalb deren Naturrecht Geltung beanspruchen könne, sondern vor allem in methodischer Hinsicht will Coing seinen Vorschlag von den alten Naturrechtssystemen streng unterschieden wissen3: es könne sich heute nicht mehr darum handeln, more geometrico ein natürliches Recht aus bestimmten Vernunftprinzipien zu entwickeln, in denen der Rationalismus das sittlich-soziale Wesen des Menschen begründet glaubte. Vielmehr gelte es, in einem an den Geisteswissenschaften orientierten Verfahren die Werte aufzudecken, die uns „in den seelischen und geistigen Kräften des sozialen Lebens” als „unreduzierbares Phänomen der fühlenden Anschauung”4 gegeben seien und um deren Verwirklichung es allem wahren Recht gehe. Die Möglichkeit, oberste Rechtsgrundsätze als „naturrechtlichen” Kernbestand einer Rechtsordnung herauszuarbeiten5, beruhe einerseits auf unserer apriorischen Einsicht in das „Reich sittlicher Werte” (N. Hartmann), andererseits aber auf einer gewissen Konstanz der sozialen Probleme. Denn sofern deren Lösung die im sozialen Leben wirksamen Werte in ihrer ontischen Bedeutung jeweils richtig zum Ausdruck bringe, komme den betreffenden Lösungen der Rang von Rechtsprinzipien mit „übersubjektiver und überzeitlicher” Gültigkeit zu6.

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Im folgenden wird der zu dieser Überzeugung führende gedankliche Weg nachzugehen sein, um so die Haltbarkeit des Naturrechtsentwurfs Coings zu erweisen oder in Frage zu stellen. Das Gewicht seiner Argumentation erfährt indessen von vornherein eine gewisse Beeinträchtigung dadurch, daß er seine Auffassung mehr oder weniger ausdrücklich der materialen Wertethik M. Schelers und N. Hartmanns entnimmt7, ohne sie in den entscheidenden Punkten selbst zu fundieren, oder aber seine eigenen Voraussetzungen als solche genügend kenntlich zu machen. Es wird daher notwendig sein, sich zur Klärung der hier interessierenden Grundlegensfragen von seinen Ausführungen weitgehend zu lösen bzw. durch Rückgriff auf seine Gewährsleute das von ihm entworfene Bild zu ergänzen. Da jedoch mit seinen Arbeiten der bisher eindeutigste und relativ ausführlichste Versuch vorliegt, die Phänomenologie und neuere Ontologie für den engeren Problemkreis des Juristen heranzuziehen und für eine Wiederbelebung des Naturrechts in Anspruch zu nehmen, sollen sie im Rahmen dieser Untersuchung als Vorlage für die Beurteilung einer Naturrechtserneuerung vom Boden dieser Lehren aus dienen.

 

II.

Den Ausgangspunkt des Coingschen Gedankenganges bilden zwei Feststellungen: „Der Mensch wird in seinem Handeln und Verhalten, in seinen Entscheidungen und Zielsetzungen in erster Linie nicht durch die Vernunft, sondern durch sein Fühlen bestimmt, genauer durch die Werte, die ihm in seinem Fühlen gegeben sind.” „Diese Welt des Fühlens ist nicht . . . ein im Grunde unerkennbares Chaos, sondern trägt eine Gliederung in sich, in der die einzelnen Tendenzen und deren Aufbau und Rangordnung erkennbar sind. Die Seele des Menschen ist uns in ihrer Struktur erfaßbar"8. Auf eine Begründung dieser Sätze läßt sich Coing nicht näher ein. Er hält sie als Ergebnisse der modernen geisteswissenschaftlichen Forschung für genügend gesichert, um von ihnen auszugehen.

Weiterhin stellt Coing fest, daß der Ursprung objektiv gültiger Maßstäbe sozialer Ordnung in den uns als Phänomen gegebenen Werten zu suchen und zu finden sei9. Damit macht er einen weiteren, von ihm wiederum nicht näher begründeten Schritt. Denn der empirischen Feststellung, daß unser Handeln und Entscheiden primär von erlebnismäßig gegebenen Wertvorstellungen bestimmt werde, kommt nicht der Rang eines Urteils darüber zu, ob und inwieweit die sich bei der Phänomenerschließung zeigenden Werte auch die Bedeutung streng „objektiver” und insofern allgemeinverbindlicher Entscheidungskriterien beanspruchen dürfen.

Der zweite der oben mitgeteilten Sätze enthält allerdings einen Hinweis darauf, warum Coing sich gleichwohl zu dieser prinzipiellen Aussage berechtigt glaubt: hält man die „Welt des Fühlens” mit den in ihr sichtbaren Wertphänomenen als in ihrer Struktur erfaßbar,

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glaubt man in den Erscheinungen unseres Wertgefühls und Wertbewußtseins ein „Reich sittlicher Werte” anzutreffen, das seinem Inhalt nach mehr oder weniger vollständig aufgewiesen werden könne, so liegt der Schluß nahe, daß man als Endergebnis der Phänomenanalyse die Werte in dem unserer geschichtlichen Existenz vorgegebenen Ansichsein und dementsprechend in ihrer objektiven, vom erkennenden Subjekt unabhängigen Gültigkeit vor sich habe. Aber ist dieser Schluß richtig? Oder sind überhaupt seine Voraussetzungen haltbar?

 

Es sei erlaubt, an dieser Stelle eine grundsätzliche Bemerkung zur Problemstellung bei Coing vorauszuschicken. Denn es ist notwendig, sich die Grenzen vor Augen zu halten, in denen sich bei Coing schon allein auf Grund der von ihm verfolgten Methode Fragestellung und Antwort bewegen. In dieser Hinsicht gilt es klarzustellen, daß die von ihm ins Feld geführte Phänomenologie die „Wahrheitsfrage” im Sinne einer Reflexion über den Grund der Möglichkeit absoluter Erkenntnis gar nicht aufwirft10. Vielmehr werden von ihr die im konkreten Erlebnismaterial sichtbaren Werterscheinungen als elementare, unreduzierbare Gegebenheiten hingenommen und deskriptiv-analytisch ausgewertet; auf die reflexive Unterscheidung zwischen Grund und Erscheinung, dem Gegenstand als solchem und der Weise seines Gegebenseins für das Subjekt der Erkenntnis, d.h. seinem Phänomensein, und damit auch auf die Unterscheidung von Erscheinung und Schein wird bewußt verzichtet. Damit bleibt aber schon ihre Fragestellung hinter dem abstrakten Problem unbedingter Seinserkenntnis bewußt zurück.

Indem sich die Phänomenologie die Aufdeckung der jeweiligen Qualität, Strukturierung und Schichtung des uns als Erscheinung schlicht Gegebenen zur Aufgabe macht und hierfür das Gegebene in seiner Anschauungsfülle als Grundlage unserer Erfahrung unkritisiert gelten läßt, entspricht sie unter Verzicht auf alle spekulativen Übertreibungen zwar ganz dem Verhalten des natürlichen Menschen, der nicht aller Erscheinung mißtraut und darum echte, d.h. verbindliche Sacherfahrung für möglich hält. (Die Praxis des täglichen Lebens ist durchaus geeignet, ihm den guten Sinn dieses Verhaltens zu bestätigen.) Aber dementsprechend ist auch ihr Wahrheitskriterium nur die schlichte Evidenz im Sichzeigen der Sachverhalte, nicht jedoch eine schlüssige Argumentation, die eine strenge Allgemeinverbindlichkeit und Evidenz gewonnener Einsichten erweisen könnte11. Mit anderen Worten: die Haltung der Phänomenologie ist die eines praktischen Realismus, der den Zweifel an der Realität sowie an der Möglichkeit objektiver Erkenntnis der sich als Phänomen zeigenden Gegenstände oder Sachverhalte nicht verbietet, ihn aber auch nicht auf wirft und darum auch nicht beseitigen kann12. Die hierin liegende Beschränkung gilt es vorwegnehmend ins Auge zu fassen, wenn nunmehr die hinsichtlich ihrer eigenen Voraussetzungen

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wenig klärenden Ausführungen Coings weiterhin zu Wort kommen sollen.

 

III.

Den Weg seiner Phänomenanalyse gibt Coing in der Exposition seiner Arbeit an: „Die vorliegende Arbeit wird sich von einer Analyse der seelischen Kräfte, aus denen Recht sich bildet, zu einer solchen der Grundwerte wenden, die uns in diesen Kräften gegeben sind; sie wird von da zu einer Untersuchung der Rechtsprinzipien fortschreiten, die sich aus den Werten ergeben . . .”13

Die Betrachtung der rechtsbildenden geistigen Kräfte läßt Coing zunächst „das tief in der menschlichen Seele verwurzelte Ordnungsstreben und den Wunsch nach Frieden” erkennen14. Aus diesen Gegebenheiten entwickelt er den Wert der Rechtssicherheit und veranschaulicht anschließend durch verschiedene Hinweise die grundsätzliche Bedeutung dieses Wertes für das Recht als „Friedensordnung”.

In das Zentrum unseres Problems führen uns aber erst seine Ausführungen zu den Grundphänomenen des Rechtsgefühls und des Rechtsbewußtseins15. Coing weist an verschiedenen Stellen auf das zwischen der Rechtssicherheit (als dem „Formwert” des Rechts) und den materialen Gehalten einer Rechtsordnung bestehende dialektische Verhältnis hin. Demzufolge gehe die Zielsetzung des Rechts notwendig über die bloße Herstellung des äußeren Friedens hinaus auf die Verwirklichung einer Ordnung bestimmten Inhalts. Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein aber seien die Kräfte, auf denen die inhaltliche Orientierung des Rechts beruhe16. Das Rechtsgefühl — so führt er im weiteren aus — verlange als ein „Urgefühl” im Menschen die Anerkennung der eigenen wie der fremden Persönlichkeit und dementsprechend eine Begrenzung der eigenen Ansprüche. Dabei knüpfe es überall an feste Wertungen an, die das Recht der eigenen wie der fremden Person umgrenzen17. Der uns im Rechtsgefühl gegebene sittliche Grundwert aber sei die Gerechtigkeit.

Bevor jedoch Coing in eine nähere Untersuchung dieses Wertes eintritt, überrascht er mit einer Hinwendung zur konkreten Rechtsmaterie. Der nach einem allgemeingültigen Inhalt des obersten Rechtswertes der „Gerechtigkeit” suchende Blick wird mit der Begründung, daß das Rechtsgefühl „in seinem vollen Gehalt nur deutlich werden könne, wenn man es im Zusammenhang mit einem konkreten Wertsystem betrachte”18, auf eine bestimmte historische Gestalt des Rechtsbewußtseins verwiesen.

Es hat also — übrigens nicht nur an dieser Stelle — zunächst den Anschein, als solle der inhaltlich noch unbestimmte Wert der Gerechtigkeit mit dem empirischen Material konkreter Wertentscheidungen aufgefüllt werden, mit der Folge, daß der Gerechtigkeit dann nicht wesentlich anders als bei dem logischen Formalismus Stammlers nur die Bedeutung eines formalen Prinzips mit

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wechselnden Inhalten zukäme. Coing betrachtet dann aber als Ausbeute seiner Untersuchung des Grundrechtsteils der Weimarer Verfassung, den er zur Demonstration eines bestimmten Rechtsbewußtseins auswählt, nur die generelle Feststellung, daß sich im Rechtsbewußtsein „die allgemeine Forderung nach Gerechtigkeit im sozialen Leben mit einem bestimmten Persönlichkeitsideal19, bestimmten institutionellen Ordnungsideen und bestimmten weiteren, den sozialen Umgang beherrschenden sittlichen Werten verbinde”20. Der Umweg über die Weimarer Verfassung bleibt in Anbetracht des dabei gewonnenen Ergebnisses unverständlich. Denn der eben mitgeteilte Satz folgt bereits unmittelbar aus der von Coing gegebenen Definition des Rechtsbewußtseins — der reflexiven Form des Rechtsgefühls — als eines „Wissens um die konkreten Ideale, die das Rechtsgefühl... verwirklicht sehen will”21.

Zu der gleichen Feststellung gelangt er bei der sich anschließenden Untersuchung des im Rechtsgefühl wahrgenommenen Grundwertes der Gerechtigkeit. Ausgehend von der Definition Ulpians22, insbesondere von deren Kernstück, dem „suum cuique”, führt er die Gerechtigkeitsanalyse über die bekannte aristotelische Unterscheidung verschiedener Gerechtigkeitsprinzipien zunächst nicht anders als etwa Brunner bis zu dem Punkt, an dem die Frage nach der näheren Bestimmung des „suum” in die Frage nach dem Begriff des Menschen einmündet: „die großen sozialen Gerechtigkeitskonflikte erwachsen aus einer verschiedenen Bewertung des Menschen, weil diese den Maßstab abgibt, womit die Gerechtigkeit mißt, wonach sich bestimmt, was einem jeden zukommt und wo die Grenzen für die Gleichbehandlung des Menschen liegen.” Damit sei „die grundsätzliche Einsicht gewonnen, daß der Grundwert der Gerechtigkeit in sich „noch nicht völlig eindeutig” sei. Er bedürfe der Ergänzung durch andere sittliche Werte, die den Masstab für die gerechte Zuteilung abgeben23.

Bis hierher sagt uns Coing im wesentlichen nichts anderes als diejenigen, die die Gerechtigkeitsidee für ein formal-regulatives Prinzip halten, dem alle in der Rechtssphäre zu treffenden, inhaltlichen Wertentscheidungen zu unterstellen seien. Wenn er nichtsdestoweniger die — gewiß nicht bei ihm allein anzutreffende — Ansicht vertritt, daß schon der Wert der Gerechtigkeit als solcher „dem Recht einen bestimmten Inhalt gebe”24, insofern als er die Forderung der gegenseitigen Achtung, das Verbot der Willkür und das „neminem laedere” in sich schließe, so kann dies nicht überzeugen. Denn das „neminem laedere” heißt ja nichts anderes als „tue niemandem Unrecht”, das Verbot der Willkür nichts anderes als „handle nicht unter Außerachtlassung oder in bewußtem Widerspruch zur Gerechtigkeit” und die Forderung der gegenseitigen Achtung als unmittelbarer „Inhalt” der Gerechtigkeit spricht nichts als die Selbstverständlichkeit aus, daß da, wo die Gerechtigkeit als oberstes Handlungsprinzip des sozialen Lebens gelten soll, jeder

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jedermanns potentieller Schuldner und Gläubiger von Gerechtigkeit ist und in diesem Sinne zu achten ist25. Diese angeblichen „Inhalte” der Gerechtigkeit stellen also im Verhältnis zu ihrem Begriff nur Tautologien dar, d.h. sie definieren ihn unterschiedlich, ohne ihn jedoch inhaltlich schon näher zu bestimmen26.

 

IV.

Mag man den Sinn des „suum cuique” in seinen verschiedenen Formulierungen bereits einen bestimmten „Inhalt” der Gerechtigkeit nennen oder nicht: für den von Coing versuchten Nachweis einer eindeutigen, unauswechselbaren Grundsubstanz jeden Rechts wird — sofern die Gerechtigkeitsidee nicht in dem hier gemeinten Sinne „formal” bleiben soll — alles darauf ankommen, ob die fraglichen Ergänzungswerte zur inhaltlichen Bestimmung des „suum” „wechselnden Anschauungen entnommen werden müssen”, oder — wie er meint — in einer allgemeinverbindlichen Weise erkannt werden können27.

Für den Bereich der „Vertragsgerechtigkeit”28 bezeichnet Coing als die Invarianten, die den Wert der Gerechtigkeit ergänzen sollen, eine Reihe von sittlichen Werten, die unserem Wertbewußtsein vorgegeben und damit von absoluter, d.h. von einer „Wertung” des sie auffassenden Subjekts unabhängigen Geltung seien. Es werden von Coing die Werte der Zuverlässigkeit, der Treue, der Wahrhaftigkeit und des Vertrauens genannt. Auf diese Werte weise das geltende positive Recht selbst hin. Es „beschwöre” in einer Anzahl von Vorschriften — wie etwa den §§ 157, 242 BGB, 138 ZPO, 263 StGB — diese Werte als diejenigen, die im geschäftlichen Verkehr herrschend sein sollen29. Im Rahmen unserer Fragestellung wird nicht der Versuch gemacht werden, die von Coing angezogenen Vorschriften auf ihren sittlichen Gehalt hin zu überprüfen. Auch auf die von ihm gegebene Erläuterung der obengenannten Werte soll hier nicht weiter eingegangen werden30. Vielmehr ist zu fragen, ob denn mit seiner die betreffenden Ausführungen zusammenfassenden Aussage, daß „im Bereich des gegenseitigen Umgangs die Gerechtigkeit im einzelnen ergänzt werde durch eine ganze Reihe eng miteinander verwandter sittlicher Werte”31, für eine eindeutige Substantiierung dieses Begriffs wirklich etwas gewonnen ist.

Ganz abgesehen davon, daß Coing seine auf die Behauptung eines absoluten „Reichs sittlicher Werte” gestützte Rechtsmetaphysik nicht wirklich fundiert, indem er sich nirgends tiefergehend mit der Frage auseinandersetzt, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen der den sittlichen Werten anhaftende „Verdacht der Subjektivität”32 und damit der Relativität unberechtigt ist, in welchem Sinne bzw. in welcher Einschränkung also gegebenenfalls von einer „Absolutheit” oder einem „Ansichsein” der Werte gesprochen werden könnte und ob denn mit der Feststellung ihrer Phänomenalität schon als ausgemacht gelten darf, daß sie in ihrem Ansichsein

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erkannt werden können — abgesehen von all’ diesen offenen Fragen, auf die später zurückzukommen sein wird, muß hier zunächst noch ein anderer Einwand gemacht werden: es wird bezweifelt, daß der ganz unpräzisierte Hinweis auf eine Reihe sogenannter „Ergänzungswerte” mehr als ein Hinweis auf den inneren Zusammenhalt oder die Verwobenheit der sittlichen Werte schlechthin zu sein vermag. Daß kein sittlicher Wert — in seinem unverkürzten Gehalt — isoliert dargestellt oder verwirklicht werden kann, ist eine wohl kaum bestrittene Grundtatsache ethischer Forschung33.

Eben dieser Umstand würde zu einer eindeutigen Charakterisierung eines bestimmten Einzelwertes (hier dem der Gerechtigkeit) erforderlich machen, daß die in ihn unterschiedlich eingreifenden weiteren Werte in ihrer gegenseitigen Abgrenzung und Rangordnung — und zwar in bezug auf den fraglichen Grundwert — exakt angegeben werden können. Es soll weder bestritten werden, daß die Treue, die Zuverlässigkeit usw. den Wert der Gerechtigkeit „ergänzen” — eben dies folgt aus der Verwobenheit aller sittlichen Werte — noch daß diesen Werten im Bereich der Vertragsgerechtigkeit ein gewisser Vorrang vor anderen zukommen mag; aber eine streng gültige, inhaltliche Bestimmung des Wertes „Gerechtigkeit” wäre eben nur dann möglich, wenn bindend gesagt werden könnte, nach welchen Kriterien sich etwa der Wert der Treue einerseits und der der Wahrhaftigkeit andererseits und diese beiden wiederum gegen weitere sittliche Werte sowie gegen die mit jeder Handlung intendierten Sachverhaltswerte abgrenzen lassen, wann also die Verwirklichung des einen Wertes im Hinblick auf die Wahrung anderer Werte wertwidrig im Sinne des untersuchten Grundwertes wird. Hier ergibt sich eine Fülle ganz ungeklärter Fragen. Nur zwei sollen herausgegriffen werden:

In jeder sittlichen Handlung ist der im eigentlichen Sinne sittliche Person- oder Aktwert und der jeweils intendierte Sachverhaltswert — der wiederum vielfach auf Güterwerte rückbezogen ist — zu unterscheiden. Abgesehen von dem hier nicht zu erörternden, spezifisch ethischen Problem, ob überhaupt eine Sollensnorm (und um Sollensnormen geht es im Bereich des Rechts ausschließlich) direkt auf sittliche Personwerte gerichtet sein kann, ohne daß damit deren sittlicher Charakter aufgehoben wäre34, ergibt sich aus dieser Unterscheidung von sittlichem Aktwert und intendiertem Sachverhalts wert die Notwendigkeit, für jeden Wert (hier den der Gerechtigkeit) je nach seiner Werthöhe anzugeben, wieweit die in ihm mitsprechenden sittlichen „Ergänzungswerte” (wie Treue, Zuverlässigkeit usw.) mit Rücksicht auf das begründete Interessiertsein an Güterwerten preisgegeben werden dürfen oder müssen. Die Preisgabe sittlicher Werte zugunsten von Güterwerten ist zwar dem Prinzip nach unsittlich35. Aber es ist die Eigenart der Gerechtigkeit, gerade auf die geordnete Wahrnehmung von Güterinteressen bedacht zu sein. Gerechtigkeit kann also nicht um ihres sittlichen

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Grundcharakters willen auf Kosten der jeweils zu ordnenden Güterwerte verwirklicht werden. Ihre Tendenz besteht vielmehr umgekehrt darin, durch den Schutz elementarer, sittlich indifferenter Sachverhalts- oder Güterwerte die für jede sittliche Existenz notwendige Grundlage zu schaffen36. Der Satz „fiat justitia et pereat mundus” ist offensichtlich ein Widerspruch in sich selbst.

Für den Ausgleich zwischen den der Gerechtigkeit koordinierten Aktwerten einerseits und den von ihr zu berücksichtigenden Sachverhaltswerten andererseits läßt sich jedoch kein eindeutiges Prinzip aufstellen37. Diesen Ausgleich herzustellen im Sinne eines „sowohl als auch” oder präziser noch im Sinne der Formel, „eins durchs andere” macht hier wie überhaupt den eigentlichen Gehalt konkreter sittlicher Verantwortung aus.

Aber nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen den sittlichen „Ergänzungswerten” der Gerechtigkeit einerseits und dem jeweils intendierten Sachverhaltswert andrerseits, sondern die Rangordnung der integrierenden Wertbestandteile der Gerechtigkeit überhaupt gilt es für eine inhaltliche Bestimmung dieses Wertes zu klären. Denn es ist — wie oben schon angedeutet wurde — unmöglich, über den Gehalt eines Wertes wie den seiner Ergänzungswerte etwas auszumachen, ohne die jeweils in Betracht kommenden Werte zugleich in ein bestimmtes Rangverhältnis zu setzen: die Aufgaben, Werte inhaltlich zu bestimmen und sie in der Wertskala zu dislociieren, sind — auf Grund der Verwobenheit aller Werte — strenggenommen identisch. Für eine Lösung dieser Doppelaufgabe findet sich jedoch bei Coing keinerlei Hinweis. Dem Versuch einer prinzipiellen Lösung steht in der Tat eine nicht zu behebende Schwierigkeit im Wege, die Hartmann die „methodologische Aporie des Ordnungsprinzips” nennt38; gemeint ist die Unmöglichkeit, eine Rangordnung zu finden, ohne sie bei dem Nachweis der einzelnen, später einzuordnenden Werte schon vorausgesetzt zu haben. Auf die Frage, ob es gleichwohl möglich ist, eine Reihe von Kriterien zur Bestimmung der Rangfolge zu finden, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Es soll hier nur das summarische Urteil N. Hartmanns wiedergegeben werden, daß die Methode einer „Werteinstufung noch im Zeichen des Suchens und Tastens stehe”. Von einer „apriorischen Überschau” sei „keine Rede”39.

Die vorangehenden, die innere Problematik der Werte nur eben andeutenden Ausführungen mögen zeigen, daß die Darlegungen Coings weit davon entfernt sind, dem Wert der Gerechtigkeit für den Bereich der Vertragsgerechtigkeit einen schon irgendwie gesicherten, „naturrechtlichen” Inhalt zu geben.

 

Für die gegenwärtige Naturrechtsproblematik sehr viel zentraler liegt indessen die Fragestellung Coings nach den die Gerechtigkeit ergänzenden Werten im Bereich der „sozialen und politischen Gerechtigkeit”40. Coing greift hierbei zunächst den an früherer Stelle

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entwickelten Gedanken wieder auf, daß sich in diesem Bereich die Antwort auf die Frage nach dem näheren Inhalt der Gerechtigkeit aus der Einsicht in den sittlichen Wert des Menschen ergeben müsse. Schon ein oberflächlicher Blick in die Geistesgeschichte zeigt aber — wie Coing natürlich weiß —, daß gerade auf die Frage nach dem Wert oder Wesen des Menschen zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Antworten gegeben werden. So hat etwa die Antike unter dem Einfluß der Stoa den Wert des Menschen in seiner Vernunftnatur, die germanische Frühzeit in bestimmten vitalen Vorzügen, das christliche Mittelalter in seiner persönlichen Gottbeziehung, die Aufklärung wiederum in seiner Partizipation an einer harmonisierenden Weltvernunft und der Marxismus in seiner ökonomischen Produktivkraft gesehen. Empirische, philosophische und religiöse Interpretationen lösen einander ab. Das Selbstverständnis des Menschen, das für Ethik und Recht jeweils axiomatische Bedeutung gewinnt, unterliegt offensichtlich der geschichtlichen Entwicklung. Es sei nun aber die Frage, meint Coing, ob wir uns mit dieser Pluralität von Maßstäben zufrieden geben müßten, „oder ob wir eine tiefere und grundsätzlichere Einsicht in das Wesen der Menschen gewonnen hätten, die uns erlaube, über diese verschiedenen Ansichten hinaus einen allgemeingültigen Maßstab für die Rechte des Menschen in der sozialen Ordnung zu gewinnen. Die Antwort hänge davon ab, worin der sittliche Wert des Menschen liege und ob er uns erkennbar sei41”. Es erscheint sehr unbedenklich, wenn Coing bündig erklärt, daß dies „zu bejahen” sei.

Er sagt zunächst sicher zutreffend, daß es sich bei den verschiedenen historischen Anschauungen vom Wert des Menschen nur um Teilansichten handle, daß der Mensch mehr als ein Vernunftwesen, mehr als ein Träger gewisser physischer Vorzüge usw. sei. Diesen Teileinsichten aber müsse als unbedingtes Humanum das sittliche Wesen des Menschen, d.h. die Tatsache seines Personseins entgegengestellt werden42. Hieraus gelte es die Konsequenzen für das Recht zu ziehen: bei der Frage, was das „suum” eines jeden sei, müsse zuerst diese Einsicht in das Wesen des Menschen maßgebend sein; dahinter müßten alle anderen Maßstäbe, die nur einen Teil seines Wesens erfassen, wie Abstammung oder soziale Leistung, zurücktreten. „Die Personwürde des Menschen, gegründet auf den unvertauschbaren Wert der Einzelpersönlichkeit, tritt als ergänzender Maßstabswert neben die Gerechtigkeit. Dem Menschen muß gerechterweise gegeben werden, was ihm als Person zukommt”43.

Von hier aus ergibt sich dann für Coing eine Reihe von „grundsätzlichen Anforderungen an die soziale Ordnung”, wie die der Beachtung des Willensprinzips im Strafrecht, der Anspruch auf Schutz der Personwürde (d.h. der Mensch dürfe nie zum Mittel fremder Zwecke degradiert werden), ferner auf Gewährleistung einer seelisch-geistigen Entwicklung des Menschen, daraus folgend die Forderung nach einem „gewissen Maß”44 an Freiheit, nach

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Sicherung der physischen Existenz sowie des Besitzes „als materieller Grundlage des Lebens und aller Freiheit der Entfaltung”, und schließlich der Anspruch auf Zuerkennung und Schutz von privatem Eigentum und „auf Sicherung eines gewissen tatsächlichen Mindesteinkommens, der sogenannten Freiheit von Not”45. Die Anerkennung des Menschen als Person sowie die hieraus unmittelbar folgenden „Grundrechte” betrachtet Coing als den absolut gültigen Inhalt sozialer Gerechtigkeit.

Coing schränkt allerdings die praktische Bedeutung seines Ergebnisses wieder ein, indem er feststellt: „der sittliche Wert der Persönlichkeit beantwortet uns die Frage, was allen Menschen in gleicher Weise zukommt. Aber er läßt uns im Stich, wo es sich darum handelt, die unterschiedliche soziale Stellung des Menschen zu begründen". Hier aber liege das eigentliche Problem der justitia distributiva, bei der es um die Maßstäbe gerechter Güterverteilung gehe46. Coing unterläßt es, seine absolute Rechtsethik mit einer prinzipiellen Lösung dieses Problems zu überanstrengen. Er weicht vielmehr mit der etwas unklaren Wendung aus, es sei „unmöglich, den Forderungen der justitia distributiva voll zu genügen”47.

Erstaunlich ist aber seine Begründung hierfür: die Schwierigkeit findet nach seiner Meinung darin ihren Grund, „daß wir keinen allgemeinen Maßstab besitzen, um die Höhe einer Persönlichkeit zu messen und sie mit anderen zu vergleichen. Wir können Kenntnisse feststellen, Leistungen . . . wenn auch nur sehr grob abschätzen. Aber alle diese Maßstäbe erfassen nur einen Ausschnitt des menschlichen Wesens; wir haben keinen allgemeinen Maßstab, um damit zu messen: diese konkrete Persönlichkeit steht so und so hoch; deshalb muß ihr die und die soziale Stellung werden”47. War denn mit dem „Personwert”, der die Würde des Menschen als eines sittlichen Wesens ausmachen soll, nicht etwas gemeint, was den quantitativen Vergleich schlechterdings ausschließt? Sofern man von der Personhaftigkeit überhaupt als von einem dem Menschen zugehörigen „Wert” sprechen kann, so doch nur in dem Sinne, daß hiermit seine Bestimmung als sittlicher Selbstzweck und daraus folgend sein prinzipiell unvertauschbarer, inkommensurabler Eigenwert zum Ausdruck gebracht wird. Das, was man gemeinhin den „Wert einer Persönlichkeit” nennt, ist doch etwas völlig anderes als das, was sinnvollerweise unter dem — gewiß nicht unmißverständlichen — Begriff des „Personwertes” verstanden wird. Jedenfalls aber gilt: will man den Menschen nach der Höhe seiner Persönlichkeit „messen”, so würde man ihn eben damit gerade nicht als Person, sondern als Objekt behandeln, das auf eine vergleichbare Summe bestimmter Qualitäten ansprechbar ist. Über die mögliche Bedeutung des sogenannten Personwertes als materiales Prinzip der Gerechtigkeit wird noch eingehend zu handeln sein. Hier ging es vorerst nur darum, auf ein noch vor dem eigentlichen Problem liegendes Mißverständnis hinzuweisen.

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V.

Wir haben indessen erneut zu fragen, ob denn mit den — hier freilich nur in ihren Grundzügen wiedergegebenen — Ausführungen Coings zur näheren Bestimmung der „sozialen Gerechtigkeit" wirklich ein absoluter Rechtsinhalt nachgewiesen werden konnte. Greift man zunächst das von ihm einschränkend im Hinblick auf die justitia distributiva Gesagte auf, so stellt sich sofort der Einwand ein, daß auf Grund des Zugeständnisses, es fehle an einem eindeutigen Prinzip für die Begründung und Beurteilung der de facto bestehenden unterschiedlichen sozialen Stellung des Menschen48, zugleich auch das, was allen in gleicher Weise zukommen soll, durchaus zweifelhaft bleibt. Denn die Frage nach dem „suum" stellen heißt ja nach den Grenzen fragen, innerhalb deren die Gleichbehandlung und jenseits deren eine der Eigenart und Begrenztheit des einzelnen Rechnung tragende Behandlung gerecht ist. Die Ansprüche auf ein gewisses Maß an Freiheit, an materieller Sicherung, an Entwicklungsmöglichkeiten usw. sind in der Tat elementare Forderungen menschlicher Existenz. Aber was wir von materialen Naturrechtsprinzipien erwarten, ist ja gerade eine endgültige Entscheidung darüber, wie solche Forderungen mit der faktischen Ungleichheit der Menschen in Einklang zu bringen sind, oder wo sie an der wesentlichen Verschiedenartigkeit der Menschen jeweils ihre Grenze finden. Welchen Inhalt hat schließlich die Forderung nach Freiheit, wenn man nicht zugleich sagt, was sie im Hinblick auf das in der Ungleichheit wurzelnde Angewiesensein auf Gemeinschaft und den sich hieraus ergebenden unterschiedlichen Pflichten des einzelnen bedeutet? Erst damit gewönne diese Forderung inhaltliche Züge.

Daß das wechselseitige Bedingungsverhältnis der beiden aristotelischen Gerechtigkeitsprinzipien (der arithmetischen und proportionalen Gerechtigkeit) bei Coing völlig verwischt wird, hat darin seinen Grund, daß er diese Unterscheidung mit einer Einteilung in verschiedene Rechtsgebiete gleichsetzt, nicht aber als zwei verschiedene, jedoch untrennbar miteinander verbundene Aspekte der Gleichheitsidee versteht49.

Der bisher vorgebrachte Einwand ist aber noch zu flach, um die Naturrechtsbehauptung Coings im Umkreis der „sozialen Gerechtigkeit” zu entkräften. Es soll ferner auch durchaus nicht abgestritten werden, daß Coings Hinweis auf die aus der sittlichen Idee des Menschen als einem autonomen Personwesen gefolgerten „Grundrechte” im einzelnen als Grundlage für die nähere Bestimmung des „suum" Beachtung verdient. Aber haben die betreffenden Rechtsinhalte den Rang unbedingt gültiger Naturrechtssätze? Ist die Evidenz der von Coing aufgeführten Grundrechte zwingend?

Zur Entscheidung dieser Fragen bedarf zunächst das, was Coing den „Personwert” des Menschen nennt und aus dem er die genannten Rechtsinhalte unmittelbar folgern zu können glaubt, einer eingehenderen Klärung. Es wird dabei notwendig sein, den Rahmen

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seiner Ausführungen zu verlassen. Andererseits kann hier nicht der Versuch gemacht werden, das sich in diesem Zusammenhang stellende Autonomieproblem voll zu entwickeln; ihm soll nur insoweit nachgegangen werden, als dies zur Beantwortung der thematisch gestellten Frage erforderlich ist, ob man vom Autonomiegedanken aus ein absolutes, inhaltliches Prinzip der Rechtsethik und daran anknüpfend im Sinne der Ausführungen Coings bestimmte „grundsätzliche Anforderungen an die Rechtsordnung” gewinnen kann.

 

Die Voraussetzung der Freiheit ist aller Moral gemeinsam. Aber der Autonomiegedanke, d.h. der Gedanke, daß der vernünftige Wille in sich selbst das Gesetz des Handelns als den Ausdruck seiner wahren, innersten Tendenz zu finden vermöge und daß in diesem Umstand Wesen und Würde des Sittengesetzes begründet sei, ist erst eine Errungenschaft des neuzeitlichen profanen Denkens50. Bei Kant, von dem er erstmalig in voller Schärfe erarbeitet wurde, hatte er den Charakter eines Postulats: Sittlichkeit kann nicht ohne ihre Bedingung, d.h. die freie Selbstbestimmung des vernünftigen Willens, gedacht werden51.

Von dem Begriff der Autonomie aus entwickelt Kant dann im weiteren die These, daß ein streng allgemeingültiges Sittengesetz nur in einem von allen empirischen Inhalten des natürlichen Willens unabhängigen Prinzip des „reinen Willens”, in einem von allen „hypothetischen Imperativen” zu unterscheidenden „kategorischen Imperativ" gefunden werde. In Kants Formulierung52 bringt der kategorische Imperativ also nichts anderes als eben das Postulat einer auf Freiheit beruhenden moralischen Selbstgesetzgebung zum Ausdruck. Er ist bei Kant der gesetzmäßige, objektivierte Ausdruck des sittlichen Willens. Als „das Grundgesetz der moralischen Welt” wird er zwar als auf den Hintergrund einer transzendenten, objektiv-sittlichen „Ordnung der Dinge” bezogen gedacht53, aber er selbst betrifft nur die subjektive, rein formale, inhaltlich gleichsam uninteressierte Seite des sittlichen Aktes. Denn nur ihr kommt nach Kants Meinung Allgemeinheit und Notwendigkeit zu54. Allgemeinheit und Notwendigkeit aber sind die Merkmale dessen, was Kant unter einem „Gesetz” versteht.

Diese Auffassung findet in dem von ihm in der Kritik der theoretischen Vernunft eingenommenen Standpunkt des transzendentalen Idealismus eine weitgehende Entsprechung: hier wie dort wird alles, was den Charakter eines Prinzips hat, in das Subjekt, in die reinen Formen des Bewußtseins bzw. des vernünftigen Willens verlegt. Die Kritiker Kants haben indessen oft genug darauf hingewiesen, daß eine reine „Gesinnungsethik”, die das Sittliche nur seiner Form nach (als „Achtung fürs Gesetz” oder als „pflichtmäßige Gesinnung”) bestimme55 und jeden materialen Bestimmungsgrund als „relativ" und als dem Prinzip der Autonomie

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widersprechend abweise56, grundsätzlich allen Inhalten offen sei, damit aber die aller Ethik gestellte Frage nach dem, was wir tun sollen, verfehle und überdies den subjektiven Aktwert bis zur eigenen Belanglosigkeit isoliere57. Denn es ist deutlich, daß reine Moralität, für die alle Inhalte, auf die sie sich jeweils bezieht, als solche wertindifferent sind, also ohne jeden Rückhalt an objektiv Wertvollem ins Leere greift: Indem man das Sittliche um einer begrifflichen Allgemeingültigkeit willen auf den abstrakten Begriff pflichtmäßiger Gesinnung reduziert, macht man jede Ethik schließlich unmöglich58.

Kant mag das selbst empfunden haben. Hier gilt es nur festzustellen, daß er trotz seiner prinzipiellen Abweisung des Materialen und dessen — gegen den Sensualismus gerichteten — Abwertung zu bloßen „Triebfedern des unteren Begehrungsvermögens”59 einem Inhalt unbedingten Wert beigemessen hat: dem Menschen als sittlicher Person. „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein . . . Nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.”60

Nun würde Kants Anerkennung dieses einen absoluten Inhalts der Ethik eine hier nicht näher interessierende Systemwidrigkeit sein, die übrigens der nachkantische Formalismus in radikal folgerichtiger Abweisung alles Materialen (allerdings um den Preis einer eindeutigen Ethik) zu vermeiden gesucht hat61, wenn nicht hieran eine Schwierigkeit sichtbar würde, in die notwendig jede Begründung der Ethik wie des Rechts geraten muß, die ihre Legitimation durch begriffliche Allgemeinheit zu erweisen sucht. Um diese Schwierigkeit aufzuweisen, gilt es, die bezeichnete Unstimmigkeit bei Kant in ihren Gründen darzulegen.

Bei Kant wird das, was die Würde der praktischen Vernunft und damit zugleich die Würde ihres apriorischen Gegenstandes, des allgemeinen Sittengesetzes ausmacht, auf den Menschen, das Subjekt sittlichen Handelns, als ein ihm angehöriger, absoluter Wert übertragen. Kant ist — wie oben schon gesagt — der Meinung, daß das konkrete menschliche Dasein auf Grund der in ihm waltenden freien Selbstbestimmung des sittlichen Willens einen absoluten Wert an sich selbst habe62. Damit aber geschieht eben das, was bei ihm im übrigen streng vermieden wird: es wird die Realität metaphysischer Gegenstände — in diesem Falle der Freiheit vernunftbegabter Wesen — behauptet. An dieser einen Stelle wird die Ebene des intelligiblen und des empirischen Menschen nicht auseinandergehalten63: wenn einerseits gesagt wird, daß das Ding-an-sich in seiner Realität unserer Erkenntnis grundsätzlich transzendent sei, daß also die Distanz zwischen der absoluten Realität und der Welt der Erscheinungen für unsere Erkenntnis prinzipiell unüberschreitbar sei, dann ist es nicht folgerichtig, wenn andererseits das, was nur als Bedingung

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praktischer Vernunft notwendig gedacht wird und demnach allein dem abstrakten Subjekt des intelligiblen Menschen zukommt, auf den konkreten Menschen übertragen wird. Autonomie als freie Selbstbestimmung kann, sofern eben der Satz gilt, daß metaphysische Gegenstände transzendent sind, nicht als absolutes „Wesen”, sondern nur als begriffliche Voraussetzung von Sittlichkeit und demnach nur als ein prinzipiell mögliches Sein des Menschen verstanden werden64. In welchem Maße diese Möglichkeit jeweils realisiert wird, erweist immer nur der konkrete sittliche Akt, in dem sich ein konkretes Subjekt mit einer konkreten Umwelt auseinandersetzt. Über die hiermit gegebenen relativen Grenzen geht die Realisierbarkeit nicht hinaus.

Der Inhalt des Sittlichen ist mit seiner formalen Voraussetzung — der Personhaftigkeit des Menschen — weder identisch, noch kann er aus ihr herausinterpretiert werden; und zwar nicht einen Schritt weit65. Macht man aber mit diesem Gedanken Ernst und hält zugleich an dem Grundgedanken der Vernunftkritik fest, daß Allgemeinheit und Notwendigkeit — wenn überhaupt — nur im Subjekt gefunden werden können, so ist zu folgern, daß eben „überall gar nichts von absolutem Wert angetroffen werden" kann, mithin alles relativ, oder wie Kant auch sagt, „zufällig” sein würde66. Hier steht man also vor der peinlichen Wahl, einen absoluten Inhalt „erschleichen" zu müssen, oder aber alles der Beliebigkeit preiszugeben. Für die Vernunft als solche ist die Gegensatzstellung von „Kritik” und „Metaphysik” ein unüberwindliches Dilemma.

Obgleich in der schon mehrfach zitierten Schrift Welzels „Vom irrenden Gewissen” klarer als in irgendeiner anderen neueren Stellungnahme zur Naturrechtsfrage die mit der Philosophie Kants entstandene Problemlage gesehen und dargelegt ist, entgeht auch Welzel der beschriebenen Schwierigkeit nicht. Einerseits stellt er fest, daß es seit Kants Widerlegung der rationalen Metaphysik sowie des ethischen Dogmatismus kein Naturrecht absoluter materialer Normen mehr geben könne67, andererseits aber glaubt er, an dem Autonomiegedanken als einem unbedingt gültigen, materialen Prinzip der Ethik wie des Rechts festhalten zu müssen: „der Mensch als Person (als sittlicher Selbstzweck) sei der materiale Mindestgehalt jeder Ethik68.”

Der Sinn dieser Aussage Welzels bleibt im Zusammenhang seiner sonstigen Ausführungen zweifelhaft. Will er — und dafür spräche seine vorausgehende Stellungnahme zu Kant — lediglich sagen, daß Ethik nicht gedacht werden könne, ohne daß man zugleich die sittliche Idee des Menschen, d.h. seine Bestimmung zur Autonomie voraussetze69, so wäre damit eben nicht mehr als eine formale Bedingung des Sittlichen festgestellt. Das ist aber offensichtlich weder dem Wortgebrauch, noch den anschließend gezogenen Folgerungen nach70 Welzels Meinung. Wenn er den Zwangseingriff in die „Personsphäre des Menschen (Freiheit, Körper, Leben)”71 abgesehen

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von der Strafverfolgung und bestimmten Sicherungsmaßnahmen für absolut unsittlich und damit auch für absolut rechtswidrig hält, so füllt ja auch er im Ergebnis den Personbegriff mit gewissen „Bestandsstücken der empirischen Natur des Menschen" auf, obwohl er eben dies in einer Anmerkung zu dem oben mitgeteilten Satz als einen bei Kant „in klassischer Weise hervortretenden Fehler” rügt72.

Hierzu ist zu sagen: entweder ist die Personhaftigkeit schlechterdings die Voraussetzung, auf Grund deren man den Menschen als Menschen ansprechen kann, eben die Bedingung, unter der man von ihm als von einem sittlichen Wesen — und zwar in jeder Lage — reden kann; dann aber kann sie weder durch empirische Merkmale einer sogenannten Personsphäre (deren Grenzen übrigens ganz unbestimmt sind) illustriert noch durch Zwangseingriffe betroffen oder vernichtet werden; das würde bedeuten, daß strenggenommen konkrete Angriffe auf die Personhaftigkeit als solche wertindifferent sind. Oder aber sie ist selbst nur ein integrierender Bestandteil unseres endlichen, empirischen Seins und somit nicht absolut73.

 

Offenbar kann nur durch eine völlig veränderte Blickrichtung das zwischen den Gegensatzpaaren formal-material und absolut-relativ festgefahrene Grundlegungsproblem wieder in Fluß gebracht werden. Aus dem mit begrifflicher Allgemeinheit versehenen Persongedanken, d.h. aus der notwendigen Annahme eines autonomen Subjekts der intelligiblen Welt, kann, ohne daß das empirische Sein des Menschen in Anspruch genommen würde, jedenfalls keinerlei Inhalt der Ethik gewonnen werden. Das ist unmittelbar einleuchtend, wenn man bedenkt, daß ja gerade umgekehrt die Inhalte des Sittlichen aussagen müssen, mit welchen konkreten Verhaltensweisen der empirische Mensch die „Form” seines intelligiblen, sittlichen Personwesens gleichsam assymtotisch erreichen oder erfüllen kann bzw. soll — sofern man, um in dem fraglichen Denkschema zu bleiben, diesen Begriff auch weiterhin verwenden will.

Mit dieser Einsicht wird der Blick zugleich für die eigentliche Bedeutung des kategorischen Imperativs frei, wie sie etwa H. Blüher in seiner philosophischen Arbeit über „Die Achse der Natur”74 anschaulich gemacht hat: echte sittliche Inhalte treten zwar der Form nach als ein kategorischer Imperativ auf, aber ihrem Inhalt nach werden sie uns gegeben und zwar — wie Blüher meint — im Sinne der Aussage, daß das Personsein nur als ein polares Gegenübersein verstanden werden könne. Denn so wenig als der Verstand die Gegenstände der anschaulichen Welt, die er ordnend „versteht", selbst hervorbringen könne, so wenig könne die praktische Vernunft das Gebotene aus sich selbst schaffen. Den Formen des Verstandes entspreche als konstante „Form” der praktischen Vernunft der kategorische Imperativ. Die Inhalte des kategorisch Gebotenen aber seien

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nicht statische, an sich seiende Wesenheiten oder Werte, sondern stammen aus dem personhaften, konkreten Gegenübersein, d.h. aus geschichtlicher Begegnung75. Ist der hiermit umrissene Grundgedanke zutreffend, so dürften die fraglichen Inhalte des Sittlichen weder in einem objektiv vorhandenen „Reich sittlicher Werte” — wie die moderne, phänomenologisch begründete Ontologie und in deren Nachfolge auch Coing meinen — wissenschaftlich gefunden, noch aus einer apriorischen, im Subjekt der Erkenntnis anzutreffenden „Form” abgeleitet werden können76.

Worum es bei dieser anderen Art des Hinblicks auf das vorliegende Problem des „Personwertes” geht, wird in der ganz in den fraglichen Zusammenhang gehörenden theologischen Diskussion über den Begriff der „Imaginität” sehr viel deutlicher.

Überall da, wo wir es mit irgendeiner Art „natürlicher Theologie”, d.h. mit der Anerkennung einer mehr oder weniger großen Eigenständigkeit rationalen Erkenntnisvermögens (als eines von der Sünde gleichsam ausgesparten Bereichs) zu tun haben, wird die Imaginität als ruhende Qualität, als inhärentes „Wesen" des Menschen verstanden. Vernunfthaftigkeit und Personhaftigkeit gelten dort als absolute, nur hinsichtlich ihrer Potenz in ihrer Ursprünglichkeit mehr oder weniger geminderte Eigenschaften des Menschen. Auch da noch, wo die Distanz des sündigen Menschen von dem ursprünglichen Wesen der Dinge und seiner selbst für unendlich und dementsprechend als für die menschliche Erkenntniskraft ohne Hilfe der geschichtlichen Offenbarung für unüberwindlich gehalten wird, herrscht durchaus die gleiche Grundvorstellung. Hier wird lediglich die Einschränkung geltend gemacht, daß die fraglichen absoluten „Eigenschaften” der Vernunfthaftigkeit oder Personhaftigkeit nur mehr als im Prinzip erhalten gelten, also nur im Sinne einer Möglichkeit, nicht mehr im Sinne einer Fähigkeit gedacht werden könnten. Eben dies meint Brunner, wenn er von einer „formal”, nicht aber „material" erhaltenen imago spricht. Gleichwohl ist die Imaginität auch bei Brunner ein Qualitätsbegriff, mit dem etwas über die Essenz des Menschen ausgesagt werden soll77.

Es ist deutlich zu sehen, daß eben diese Vorstellung, es handle sich bei dem Personsein — und nicht anders bei der Imaginität — um einen materialen Selbstwert oder eine Eigenschaft des Menschen (und in diesem Sinne um einen letzten „Rest” seines ursprünglichen Seins), das Gegenstück zum metaphysisch-gegenständlichen Wahrheitsbegriff darstellt. Die hier wirksame Grundvorstellung ist indessen nicht zufällig; sie entspricht der Subjekt-Objekt-Struktur unserer Bewußtseinsakte: unsere traditionelle Bewußtseinshaltung ist so beschaffen, daß wir Seiendes nur gegenständlich zu fixieren und zu erfassen vermögen. Dementsprechend wird unbedingtes Sein als „Ding-an-sich” oder als das „Absolute” oder als höchstes Gut angesprochen und das ihm gegenübergestellte Subjekt des existierenden Menschen gleichfalls unter seinem gegenständlichen Aspekt gesehen,

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d.h. als etwas, das Prädikate haben kann. So wird dann auch die als schlechthin bestehend gedachte Möglichkeit der Beziehung zum absoluten Gegenstand als eine unbedingte Eigenschaft des Menschen, als sein „Wesen” und damit als ein für ihn verfügbarer „Anknüpfungspunkt” zum Absoluten verstanden. Aber diese ganze Betrachtungsweise, die in dem Begriff der analogia entis ihren klassischen Ausdruck findet, führt eben in die oben aufgewiesene Aporie des gegenständlich-metaphysischen Denkens, in den Gegensatz von „Kritik” und „Metaphysik”78.

Nun ist es zwar so, daß die verschiedenen Aporien des philosophischen Denkens die endliche Vernunft des Menschen immer wieder in ihre Schranken verweisen und ihr den Zugriff auf das, was als absoluter Gegenstand gedacht wird, verwehren; sie sagen indessen nur etwas über die fraglos bestehende Tatsache der Begrenzung unseres Einsichtsvermögens und im konkreten Fall über die Unangemessenheit der betreffenden Fragestellung etwas aus, nicht aber über das objektive Vorhandensein endgültiger Grenzen an der von ihnen jeweils bezeichneten Stelle. Sie zwingen vielmehr zu neuen Fragestellungen, mit denen wir die uns begegnenden Wirklichkeiten wieder sinnvoll zu erfassen vermögen.

 

Als eine neue, vom metaphysischen Denken im oben gemeinten Sinn grundsätzlich unterschiedene Fragestellung ist es indessen zu werten, wenn man die Personhaftigkeit — so wie es oben etwa unter Hinweis auf H. Blüher angedeutet wurde — als Polarität zu beschreiben sucht. Als weittragender, jedoch als auf der gleichen Linie liegend wird die neuerdings von K. Barth vertretene Auffassung gefunden, nach der die Imaginität als Relationsbegriff zu verstehen und dementsprechend an die Stelle des von Barth auch früher schon bekämpften Begriffs der analogia entis der von Dietrich Bonhöffer geprägte Begriff der „analogia relationis” zu setzen sei79. Karl Barth führt hierzu aus: zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen „Gnade” und „Natur” bestehe nicht ein statischer, kontinuierlicher, logisch einsehbarer Zusammenhang, insofern als Schöpfer und Geschöpf beide ein „Sein” hätten und nur in verschiedener Art, gleichsam „in verschiedener Dichtigkeit” an dem gleichen, sie beide umspannenden Sein teil hätten80; sondern es bestehe — von Gott her — eine stets aktuelle Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, die die Existenz des Menschen als eines solchen begründe, auf Grund deren der Mensch also nicht habe, sondern in jedem Augenblick werde oder sei, wozu er geschaffen ist. Die Gottebenbildlichkeit könne demnach nicht als eine „Qualität” oder als ein „Wert” des Menschen verstanden werden. Es habe darum auch „keinen Sinn, zu fragen, in welchen Eigenschaften oder Verhaltensweisen des Menschen sie bestehen möchte”81. Sie bedeute vielmehr, daß der Mensch Gottes „Gegenüber” sei — und zwar in der Weise einer Ich-Du-Beziehung, die in dem in Gott selbst stattfindenden

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Sichbegegnen (nämlich dem trinitarischen von Vater und Sohn) vorgebildet sei und in der Ebene menschlicher Existenz ihre Entsprechung und Wiederholung in der Beziehung von Mensch zu Mensch (speziell in dem Gegenüber von Mann und Frau) finde. Die „Analogie” liege also in der Entsprechung dieser die göttliche und menschliche Existenz begründenden Relationen82.

Es ist deutlich, daß hiermit das Problem der Seins-Erkenntnis ganz aus den metaphysischen Grundvorstellungen herausgenommen wird: es geht hierbei nun nicht mehr um die Frage, ob und wie das erkennende Bewußtsein das Absolute oder Ansichseiende zu erfassen vermöge, das — eben weil es als ein jenseits der Bedingungen menschlicher Existenz Bestehendes gesucht wird — auch als das unbedingt und an sich Gültige gedacht wird. Von dem Begriff der analogia relationis her wäre vielmehr umgekehrt zu sagen: die Erkenntnisaufgabe besteht in dem Eingehen und Innewerden einer Beziehung, in der uns der wahre (der in Gott selbst vorgebildete) Grund und die Struktur der menschlichen Existenz offenbar wird — und zwar in dem Maße, in dem sie von uns vollzogen wird.

Diese wenigen Andeutungen zur Auffassung Barths müssen hier genügen, zumal da der Begriff der analogia relationis in seinem vollen Gehalt nicht ohne ein tieferes Eindringen in die Trinitätslehre verständlich ist83. Sie mögen zeigen, daß sich hiermit von theologischer Seite her eine durchgreifende Veränderung der Problemlage ankündigt, die — was in jüngster Zeit verschiedentlich, meist bewußt zurückhaltend bemerkt, aber freilich auch noch ganz unausgetragen ist84, zu den erkenntnistheoretischen Folgerungen, die die moderne Physik aus ihren Entdeckungen zieht, wichtige Parallelen erkennen läßt.

Denn hier hat man sich — von den ganz anderen Erfahrungen physikalischer Forschung ausgehend — dazu entschließen müssen, auf die Vorstellung einer im Prinzip bestehenden „Objektivierbarkeit" unserer Naturbeschreibung zu verzichten, und zwar in dem grundlegenden Sinne, daß der Begriff des „Objektes” nicht mehr ohne Bezugnahme auf das Subjekt der Erkenntnis verwendet werden könne85. Der Erkenntnisakt bestehe demnach nicht in dem Erfassen eines an sich oder streng objektiv Vorhandenen, sondern in der Herstellung einer Relation zwischen dem „Subjekt” und dem jeweils ins Auge gefaßten „Objekt”, die sich sowohl für die Struktur des erkennenden Bewußtseins wie auch die seines Gegenstandes als konstitutiv erweise.

Die sich hiermit vollziehende Ablösung des sogenannten „klassischen Weltbildes” der Physik beruht neben den Erkenntnissen, die zu den verschiedenen Relativitätstheorien geführt haben, vor allem auf einer (für sie selbst grundlegenden) Entdeckung der Quantenmechanik. Sie besteht darin, daß — ungeachtet der Feststellung, daß die klassische Physik als methodische Voraussetzung

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für die Kenntnisnahme und Beschreibung quantenmechanischer Zustände weiterhin gültig bleibe — von den komplementären Sachverhalten dieser Zustände jeweils nur einer bestimmt werden könne, da die Kenntnisnahme des einen die des anderen prinzipiell ausschließe (sog. „Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation”). Die sich hieraus ergebende „Kardinalfrage der Quantenmechanik”, ob es sich bei der prinzipiellen Unbestimmbarkeit der komplementären Zustandsgrößen „nur um eine Schwierigkeit unserer Kenntnisnahme oder des Begriffs der objektiven Natur selbst" handle, mit anderen Worten, „ob man voraussetzen dürfe, daß die uns jeweils unbekannt bleibenden Bestimmungsstücke an sich existieren und nur verborgen sind, oder ob man das nicht voraussetzen dürfe”, wird heute im Sinne der zweiten Annahme entschieden86.

Das bedeutet: der Eingriff in das Geschehen, den jeder Beobachtungsakt darstellt, beeinflußt nicht nur die Beobachtbarkeit als solche, sondern schafft (bzw. zerstört) vielmehr die Bedingungen, unter denen die eine oder andere Zustandsgröße des jeweils beobachteten „Objekts” überhaupt einen bestimmten Wert haben kann87. Der Gegenstand der Erkenntnis wird zwar durch den Erkenntnisakt nicht hervorgebracht, aber er „existiert” gleichsam nur nach Maßgabe der Beziehung zwischen dem „Subjekt der Erkenntnis” und seinem Gegenüber.

Mit den vorangehenden, eine bestimmte Umorientierung des Erkenntnisproblems nur eben andeutenden Exkursen sollte sichtbar gemacht werden, daß sowohl das u.a. bei Coing anzutreffende Verständnis des „Personwertes” im Sinne einer allgemeingültig bestehenden Qualität des Menschen, wie auch eine Verwendung des Autonomiebegriffs, bei der nunmehr die funktionelle Seite der Vernunft als das angeblich konstante Element angesehen und damit die Bezogenheit des Subjekts auf das „Objekt” (auf sein jeweiliges Gegenüber) gleichsam unterbewertet wird, Anschauungsweisen repräsentieren, die hinter dem sich abzeichnenden Wandel des Erkenntnisproblems im Bereich von „Metaphysik und Ethik” zurückbleiben. Die hier versuchte Vertiefung der gegen die Auffassung Coings bestehenden Bedenken war aber darüberhinaus von der Überzeugung geleitet, daß das Naturrechtsdenken als ein auf beweisbare Allgemeingültigkeit rechtlicher Inhalte gerichtetes Denken — wenn überhaupt — von der Wurzel des ihm zugrunde liegenden Erkenntnissystems her destruiert werden sollte. Denn erst, wenn das Grundschema, in dem sich Naturrecht und Rechtspositivismus antinomisch gegenüberstehen, verlassen ist (und in dieses Denkschema gehört eben sowohl die Lehre von absoluten Wertwesenheiten als auch diejenige, die ein Naturrecht im eigentlichen Sinne ablehnt, aber an dem Autonomiegedanken als einem letzten absoluten Inhalt der Ethik und des Rechts festhalten zu können meint, wie endlich jeder andere sich mehr oder weniger als formal verstehende Apriorismus), kann gezeigt werden, warum eine

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Widerlegung des Naturrechts nicht mit einer Preisgabe der Wahrheitsfrage — und zwar an den Relativismus — gleichzusetzen ist88.

 

Aber nicht nur der Begriff des Personwertes oder der Personwürde in der ihm von Coing beigemessenen Bedeutung eines objektiven und darum allgemeingültigen „Ergänzungswertes" sozialer Gerechtigkeit muß in Frage gestellt werden; auch die Art und Weise, in der Coing den Persongedanken für das Gerechtigkeitsproblem direkt verwenden zu können glaubt, ist in den verschiedensten Hinsichten angreifbar.

Wird mit der Personhaftigkeit oder der Personwürde des Menschen sinnvollerweise seine Möglichkeit zu freier Selbstgestaltung bezeichnet, so handelt es sich bei dem hier gemeinten Begriff der Freiheit um ein abstraktes Können, um die prinzipielle Möglichkeit einer Freiheit zu etwas, und zwar zur Selbstbindung, zur Wahl. Bei der rechtlichen Freiheit hingegen geht es um ein konkretes Dürfen, um eine gewisse Freiheit von etwas, und zwar vom äußeren Eingriff. Bei der rechtlichen Freiheit haben wir es also mit den Grenzen des rechtlich Erlaubten zu tun, mit der Gewährung eines Spielraums, den die Rechtsordnung sowohl selbst beachten wie nach außen hin schützen muß. „Dasjenige, dessen Freiheit hier sichergestellt wird, ist weder der Wille noch eine hinter ihm stehende Entscheidungsinstanz in der Person, sondern ihre äußere Aktivität, ihre Lebensbreite”89.

Zwar stehen das Können und das Dürfen in einem wechselseitigen Sinnzusammenhang; um aber über die rechtliche Freiheit etwas aussagen zu können, bedarf es einer konkreten Bestimmung, wo und in welchem Umfang die verschiedenen empirischen Eigenschaften und Bedürfnisse des Menschen von der Zwangsordnung des Rechts jeweils freibleiben, bzw. ihre Betätigung gegen Eingriffe geschützt werden müssen. Also nur von der Ebene des in einer bestimmten geschichtlichen Situation stehenden Menschen aus läßt sich rechtliche Freiheit bestimmen, und zwar mit eben der Bedingtheit, die den jeweiligen „Notwendigkeiten” unserer endlichen Existenz eignet. Es ist darum um nichts weniger erforderlich, in sinnvollen Grenzen etwa die Gewährleistung wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher, künstlerischer oder religiöser Freiheit zu verlangen. Aber die betreffenden „Grundrechte” können eben nicht in einer inhaltlich allgemeinverbindlichen Weise aus dem Persongedanken gefolgert werden. Sie tragen ihm nur umgekehrt durch die konkrete Bestimmung einer Sphäre des Erlaubten Rechnung, ohne die freie Entscheidung zwar möglich, aber bei legitimer Verhaltensabsicht gegenstandslos wäre. Diese Sphäre des Erlaubten ist positiver Art und gegenüber der Freiheit der Entscheidung völlig indifferent90.

Die Ansprüche auf materielle Lebenssicherung, insbesondere auf „Zuerkennung und Schutz von privatem Eigentum und auf Sicherung eines gewissen tatsächlichen Mindesteinkommens”, „fließen”

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gleichfalls nicht — wie Coing meint — unmittelbar aus der Anerkennung des Menschen als Person. Denn bei diesen Forderungen geht es um Sicherung einer gewissen Handlungsfreiheit91, ohne die Willensentscheidungen nicht zur Ausführung gelangen können. Ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein kann zwar auf die Willensentscheidung zurückwirken, z.B. da man sich im Regelfall nicht zu etwas entschließen wird, was bei vernünftiger Einschätzung der vorhandenen Kräfte undurchführbar ist. Aber deshalb bleibt doch die Möglichkeit der Willensentscheidung und die Möglichkeit ihrer Realisierung zweierlei. Es ergibt sich also: auch das nach der jeweiligen sozialen Lage mögliche und nach den verschiedenen Eigenschaften und Belangen der Menschen zuträgliche oder notwendige Maß an Handlungsfreiheit muß — freilich immer unter relativer Beachtung des Gleichheitsprinzips — konkret bestimmt werden; gegenüber der dem Personbegriff zugrundeliegenden Freiheit ist sie nicht anders als die rechtliche Freiheit indifferent92.

Was endlich den Hinweis Coings auf das aus dem Persongedanken zu folgernde Willensprinzip im Strafrecht betrifft93, so ist zu sagen, daß es sich hierbei nur um eine tautologische Aussage handelt. Denn den Menschen als Person ansprechen heißt eben nichts anderes, als ihn auf die Möglichkeit seines sich frei bestimmenden sittlichen Willens und nicht auf sein empirisches Sein hin (als kausalen Faktor im Naturgeschehen) ansprechen. Die eigentliche Schwierigkeit des strafrechtlichen Problems beginnt indessen da, wo nach den näheren Inhalten des Willensprinzips gefragt wird. Denn dann gilt es die Grenzen abzustecken, innerhalb deren der empirische Mensch im Umkreis der kausalen Verflechtung seines Seins für ein von der Rechtsordnung mißbilligtes Verhalten und dessen Folgen noch bzw. nicht mehr verantwortlich zu machen ist94.

Aber hiermit ist der oben gemachte Einwand, daß die materialen Prinzipien rechtlicher Verantwortlichkeit des Menschen nicht ohne weiteres aus dem Persongedanken abgeleitet werden können, noch nicht ausreichend begründet. Der tiefere Grund hierfür liegt vielmehr in der Tatsache, daß der empirische Mensch in seinen Entscheidungen und Verhaltensweisen durch die äußeren und inneren Gegebenheiten seines Daseins determiniert ist und insofern tatsächlich weder „äußere” noch „innere oder psychologische Freiheit” besitzt95. Er hat als Person eben nur die prinzipielle Möglichkeit, sich von den jeweiligen Umständen seiner Lage im Sinne eines Sich-entscheiden-Könnens zu distanzieren. Diese prinzipielle Möglichkeit des Menschen als Person, die durch ihn stets neu realisiert werden muß, ist indessen etwas ganz anderes als die reale physische oder psychische Freiheit des empirischen Menschen, die es in Wahrheit nicht gibt. Determination und Personfreiheit schließen einander nicht aus, sondern setzen — gleichsam auf verschiedenen Ebenen liegend — umgekehrt in gewissem Sinne einander voraus, was bei Kant mit der Formel „Kausalität durch Freiheit” zum Ausdruck gebracht wird.

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Aus diesen Feststellungen folgt für die rechtliche Beurteilung menschlicher Willensäußerungen die Notwendigkeit, die Grenzen der „Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens”96 und der „Zurechenbarkeit”97 zu bestimmen. Mangelnde Zumutbarkeit und Zurechenbarkeit in der hier gemeinten, spezifischen Bedeutung schließen rechtliche, nicht aber sittliche Schuld aus, sofern man dem Bereich des Sittlichen nicht seine wesentlichen Dimensionen nimmt. Andererseits aber ist es auch notwendig, die Grenzen in entgegengesetzter Richtung festzulegen: es muß gesagt werden, wann ein konkreter Mensch trotz seiner nicht vorhandenen äußeren und psychologischen Freiheit gleichwohl auf Grund seiner Bestimmung zu sittlicher Freiheit als Person verantwortlich zu machen ist, wenn anders nicht jeder Wille „entschuldigt" und damit das Strafrecht illusorisch gemacht oder auf den reinen Sicherungsgedanken abgedrängt werden soll98. Die materialen Prinzipien strafrechtlicher Verantwortlichkeit müssen also aussagen, in welchem Umfang eine Rechtsordnung den empirischen Menschen in seiner Bedingtheit, aber in Anbetracht seiner Unbedingtheit als Person richten darf und soll99.

Die Frage strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist jedoch ein Thema für sich. Hier kam es lediglich auf den Nachweis an, daß auch in diesem Problembereich keine unbedingten Rechtsinhalte aus dem sogenannten „Personwert” gefolgert werden können, ohne daß zugleich die geschichtlich bedingte Existenz des Menschen ins Auge gefaßt würde.

 

VI.

Neben dem „Personwert” des Menschen weist Coing ferner auf sogenannte „institutionsbegründende Werte menschlicher Verbände" hin, die gleichfalls als „Ergänzungswerte” der sozialen Gerechtigkeit unbedingte Geltung haben sollen.

Coing führt dazu aus, daß die verschiedenen Werte vitaler und geistiger Art, denen ein Verband zu dienen bestimmt sei, sich in der Struktur des Verbandes jeweils notwendig auspräge. Die Werte verliehen den Verbänden als deren jeweilige „Grundidee” eine bestimmte Eigengesetzlichkeit und damit „den Charakter einer Institution”100. Während nun aber die Berücksichtigung der Personwürde des Einzelmenschen ihren rechtlichen Ausdruck in der Zuerkennung bestimmter Grundrechte finde, müsse die Berücksichtigung der institutionsbegründenden Werte darin bestehen, „daß die Rechtsordnung der Eigengesetzlichkeit des betreffenden Verbandes gerecht werde, den Verband seinem Wesen gemäß ordne”101.

Auf die hiermit aufgeworfenen Einzelfragen soll nicht eingegangen werden. Es könnte unschwer nachgewiesen werden, daß die Ausführungen Coings in bezug auf das, was er die „Eigengesetzlichkeit der Verbände” nennt, nicht über reine Zweckmäßigkeitserwägungen hinausgelangen, die auf den für die verschiedenen Verbandsarten jeweils in Betracht gezogenen Wertaxiomen aufgebaut werden. Die betreffenden Ausführungen weisen aber zugleich nochmals auf

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die bisher noch nicht generell beantwortete Frage hin, ob und gegebenenfalls in welchem Sinne denn die Annahme einer unbedingten Geltung der uns als Phänomen gegebenen Werte berechtigt ist. Mit der Beantwortung dieser Frage aber steht und fällt die Naturrechtsbehauptung Coings, sowie jede andere, die sich auf eine phänomenologisch begründete Ontologie der Werte beruft.

 

VII.

Hierzu sei zunächst die Stellungnahme Coings zur Frage der „historischen Relativität der Rechtsordnungen” wiedergegeben102: „Die Anschauungen, aus denen der Gesetzgeber die Maßstäbe seiner Entscheidung entnimmt, wandeln sich, sowohl die allgemeinen religiösen und sittlichen Auffassungen wie das Rechtsbewußtsein selbst, das in ihnen gründet”103. „Es entsteht die Frage, wie damit die absolute Geltung und die Eindeutigkeit sittlicher Werte vereinbar ist . . . Die Lösung liegt darin, daß wir das Reich der sittlichen Werte erst nach und nach und noch niemals vollkommen entdeckt haben . . . Aber es ist weder so, daß diese Werte vorher nicht existiert hätten, noch daß sie dem Menschen unzugänglich gewesen wären104: niemals hätte sonst ihre Enthüllung lebendigen Widerhall in den Herzen der Menschen finden können105. Mit den sittlichen Werten verhält es sich nicht anders als mit den Gesetzen der Natur: auch sie sind unabhängig von dem sie auffassenden Subjekt, auch sie sind erst langsam von Menschen entdeckt worden . . . An dieser Entwicklung der positiven menschlichen Moral in ihrem Verhältnis zur Welt der sittlichen Werte nimmt auch das Rechtsbewußtsein teil.”

Dem wäre zunächst entgegenzuhalten: selbst wenn unterstellt wird, daß das absolute Sein der uns jeweils als „unreduzierbare Grundphänomene” gegebenen Werte nachgewiesen werden könnte, so würde doch die Feststellung, daß wir immer nur einen mehr oder weniger großen Ausschnitt aus dem absoluten „Reich sittlicher Werte” zu erkennen vermögen, unser Wissen um eben diesen Teilausschnitt selbst relativieren. Denn es ist ja — wie schon oben gesagt wurde — auf Grund der Verwobenheit aller Werte nicht möglich, über einen einzelnen Wert etwas Endgültiges auszusagen, wenn nicht seine Stellung im Gesamtsystem der Werte bekannt ist. Der Hinweis, daß etwa die Entdeckung des Gravitationsgesetzes ja auch nur einen Ausschnitt aus der Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens vermittelt, dieser Umstand aber der streng objektiven und insofern absoluten Geltung dieses Gesetzes keinen Eintrag tue, trifft den systematischen Sinn des Einwandes nicht: wir können bestimmte Sachverhalte der anschaulichen Gegenstände erfassen und unsere dahingehenden Bemühungen sind durchaus sinnvoll. Die Leistungen der naturwissenschaftlich-technischen Forschung beruhen darauf. Wir sind auch darauf angewiesen, den Gehalt der uns gegebenen Werte auszumachen — und zwar im Rahmen der Wertschau, die uns jeweils zuteil ist. Um aber den Zustand eines anschaulichen

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Gegenstandes vollständig bestimmen zu können und um den absoluten Gehalt eines Wertes aufweisen zu können, müßten uns alle möglichen Aspekte des betreffenden Gegenstandes bzw. alle möglichen Wertrelationen bekannt sein. Eben dies ist aber — soweit es die Werte betrifft — nach Coings eigener Aussage nicht möglich. Tatsächlich kennt auch der Physiker niemals den Gesamtzustand eines Gegenstandes106; aber die Annahme der klassischen Physik, daß es sich bei unserem Wissen von den anschaulichen Gegenständen zwar um Teilwissen, aber doch um „objektives” Wissen handle, erweist sich in bestimmten Grenzen gleichwohl als tragfähige Arbeitshypothese und darüberhinaus als eine methodisch notwendige Voraussetzung, sofern und solange es bei der Erforschung der anschaulichen Welt um die Kenntnisnahme und Beherrschung der Gegenstände in bestimmten Beziehungen, oder mit anderen Worten um reproduzierbare Erfahrung einzelner physikalischer Zustände geht.

Bei unserer Frage nach den sittlichen Werten hingegen geht es erkenntnismäßig um mehr: das Problem der sittlichen Werte fängt überhaupt erst da an, wo nicht mehr nach ihrer Mittelhaftigkeit, ihrem Wertvollsein für etwas, sondern nach ihrem unbedingten oder „kategorischen” Gebotensein gefragt wird. Das ist die unverlierbare Einsicht Kants. Hinsichtlich der anschaulichen Gegenstände wird also die „Wahrheitsfrage” als die Frage nach ihrer unbedingten Wirklichkeit im allgemeinen nicht ausdrücklich gestellt. Sofern sie aber gestellt wird, erweist sich — wie weiter oben angedeutet wurde — die Überzeugung, daß die Gegenstände unserer Erkenntnis von der Art unserer Wahrnehmung unabhängig und in diesem Sinne ein „objektives” oder „absolutes” Sein hätten, zumindest als voreilig, wenn nicht als irrig. Mit der Frage nach den sittlichen Werten ist jedoch untrennbar die Wahrheitsfrage verbunden als die Frage nach ihrer Geltung — zwar für den konkreten Menschen, aber im Hinblick auf seine Unbedingtheit als Person107.

Indem aber angenommen wird, daß die Frage nach der unbedingten Geltung unserer Werterkenntnis sinnvoll ist, darf bezweifelt werden, ob sie — ungeachtet der Tatsache, daß sie niemals erschöpfend sein kann — Erkenntnis von einem objektiv Vorhandenen ist und als solche streng allgemeingültige und notwendige oder „übersubjektive und überzeitliche" Werturteile ermöglicht, auf denen sich eine absolute Rechtsethik in dem von Coing gemeinten Sinne aufbauen ließe.

Wenn Coing zum Erweis der Tatsache, daß die „Enge unseres Wertbewußtseins” (N. Hartmann) der objektiven Geltung der von uns bereits entdeckten Werte nicht im Wege stehe, auf die schrittweise Entdeckung der Naturgesetze hinweist, so ist dazu zu sagen, daß hier zunächst die Vergleichbarkeit der sittlichen Werte mit den sogenannten Naturgesetzen zu erweisen wäre. Folgt man der oben angedeuteten Wendung des modernen physikalischen Weltbildes,

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so entfällt für einen solchen Vergleich bereits das von Coing gemeinte tertium comparationis, nämlich die Möglichkeit, von einem absoluten oder objektiven Sein der Naturvorgänge zu sprechen. Coing zeigt mit diesem Vergleich lediglich, daß er sich den von der klassischen Physik in dieser Frage eingenommenen Standpunkt zu eigen macht, ohne sich auf einen tiefergehenden Erweis seiner Grenzen sowie seiner Angemessenheit für das Wertproblem eingelassen zu haben. So tritt die unserem natürlichen Bewußtsein sowie allem naturwissenschaftlichen Denken eigene Haltung des praktischen Realismus bei ihm in der dogmatisch gesteigerten Form des prinzipiellen Realismus auf. Denn er ist — wie schon mehrfach gesagt wurde — überzeugt, daß es die Welt der Werte „an sich” gebe, d.h. daß sie unabhängig vom Bewußtseinsakt ein reales oder ideales Sein hätten, und folgert daraus, daß, sofern uns die Werte erscheinen, sie uns auch mit allen „an sich” zukommenden Eigenschaften gegeben werden und dementsprechend „jede echte” Werterkenntnis — zu der freilich nicht jeder fähig sei — vom Subjekt der Erkenntnis unabhängig sein müsse.

Die bei Coing anzutreffende Verkürzung des erkenntnistheoretischen Problems beruht darauf, daß er von der Feststellung der Phänomenalität der Werte unter Berufung auf Scheler und Hartmann unmittelbar zur Behauptung ihrer Absolutheit übergeht. Hierauf wurde eingangs schon hingewiesen. Hartmann geht indessen bei seiner ausführlichen Argumentation in zwei Etappen vor. Von der Phänomenalität der Werte aus gelangt er zunächst zu der Feststellung ihrer apriorischen Geltung. Hierbei geht es vorerst nur um den — gegen Kant geführten — Nachweis, daß es materiale Apriori gebe, d.h. Inhalte, die gleichwohl nicht empirisch seien. Erst im Anschluß hieran behandelt er die Frage nach dem realen oder idealen Ansichsein der Werte und der Möglichkeit absoluter Werterkenntnis. Auch hier wird diese Frage nach den von Hartmann unterschiedenen Problemstufen getrennt zu prüfen sein.

 

Von den beiden Möglichkeiten der Aufweisung eines Apriori — der phänomenologischen und der transzendentalen — läßt man mit Kant im allgemeinen nur die letztere als eine echte Aufweisung gelten. Sie besteht darin, daß man von zugestandener Sacherfahrung ausgehend deren notwendige Voraussetzungen logisch untersucht. Die auf diesem Wege gewonnenen Erkenntnisse gelten als die notwendigen Bedingungen empirischer Erkenntnis „a priori”, d.h. vor aller Erfahrung und sollen demgemäß aus der Erfahrung nicht kritisierbar sein. Denn es geht bei ihnen um diejenigen Elemente unserer Erkenntnis, die eben nicht aus den Gegenständen der Erfahrung, sondern aus unserem eigenen Erkenntnisvermögen stammen108. Ob die Lehre von den theoretischen Erkenntnissen a priori in dem von Kant behaupteten Umfang — oder genauer in der von ihm gemeinten strengen Geltung — heute noch aufrechterhalten

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werden kann, ist hier nicht zu untersuchen109. Hier gilt es zunächst nur festzustellen, daß auf dem von ihm gewiesenen transzendentalen Wege — jedenfalls für die von ihm untersuchte Art von Erfahrungen — streng allgemeingültige, aber rein „formale”, d.h. von allen empirischen Inhalten unabhängige Prinzipien gewonnen werden. Sie werden als Funktionen des intelligiblen und in dieser Hinsicht „spontanen" Subjekts der Erkenntnis verstanden. Das durch die Begriffspaare a priori — a posteriori, formal-material gekennzeichnete Schema der Kantischen Philosophie läßt jedoch eine gewisse Enge der Problemstellung erkennen, die sich insbesondere im Bereich der Ethik alsbald bemerkbar machte. Es wurde oben gezeigt, daß die — von Kant als erschöpfend gedachte — Alternative von empirischem Wertrelativismus einerseits und transzendentalem Apriorismus andererseits bei ihm selbst die Überzeugung hatte entstehen lassen, die Inhalte des Sittlichen könnten oder müßten aus dem formalen Prinzip des vernünftigen Willens gewonnen werden. Da er auf Grund der Gesamtdisposition seiner Philosophie der Meinung war, alle Willensmaterie stamme aus der empirischen (sensiblen) Außenwelt und ermangele daher der Allgemeinheit und Notwendigkeit, konnte er folgerichtig als Sitten-„gesetz” nur das formale Prinzip der praktischen Vernunft selbst und als inhaltliche Sätze der Ethik nur das, was er aus eben diesem formalen Prinzip mit logischer Allgemeinverbindlichkeit folgern zu können glaubte, gelten lassen. In welcher Weise er dabei gleichsam über das Ziel hinaus geschossen ist, soll hier nicht erneut dargelegt werden110.

 

Es ist das Verdienst der neueren, phänomenologisch vorgehenden ethischen Forschung, insbesondere das Verdienst M. Schelers und N. Hartmanns, die philosophische Fragestellung aus der Enge der Kantischen Alternative herausgeführt zu haben, und zwar durch den Hinweis, daß es „unreduzierbare”, d.h. in diesem Zusammenhang aus der sinnlichen Außenwelt nicht ableitbare Grundphänomene des sittlichen Bewußtseins gebe, die als solche das „primäre Faktum” der praktischen Vernunft seien111. Hier wird also das sittliche Bewußtsein selbst, genauer das „primäre Wissen um Gut und Böse oder um Wert und Unwert” als ein unmittelbar gegebenes „Tatsachenmaterial” der Ethik angesprochen, das — wenn auch „auf einer anderen Wirklichkeitsebene” vorfindbar — neben dem anschaulichen Tatsachenmaterial der empirischen Welt eine selbständige Bedeutung habe. Es wird dabei nicht verkannt, daß uns auch die anschaulichen Dinge nicht unmittelbar, sondern nur als Erscheinungen gegeben sind. Aber ein grundlegender Unterschied bestehe insofern, als die dinglichen Phänomene nur Gegenstand von Erfahrung seien, während das primäre Wertbewußtsein als das primäre ethische Phänomen zwar auch „real und erfahrbar”, aber dennoch ein apriorisches Element sittlicher Erfahrung und darum

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„in seinem Wesen nicht empirisch” sei. In diesem Sinne könne man von einem „apriorischen Faktum” der Ethik sprechen112.

Zum Verständnis dieser Aussage gilt es die von Hartmann beschriebene Lage der ethischen Prinzipienforschung näher ins Auge zu fassen: während die theoretische Vernunft ein anschauliches Tatsachengebiet vorfinde, an dem sie kritisierbare, d.h. auf ihren notwendigen Prinzipiengehalt hin untersuchbare Erfahrung zu machen vermöge, bestehe im Bereich der praktischen Vernunft die grundsätzliche Schwierigkeit, daß man bei der ethischen Erfahrung — und solche gebe es so gut wie theoretische — jedenfalls aus ihr selbst nicht wissen könne, ob in den jeweils untersuchten Verhaltensweisen des Menschen die gesuchten ethischen Prinzipien überhaupt mitgegeben oder mitverwirklicht seien. Anders ausgedrückt: ethische Erfahrung sei nur möglich, wenn man bereits ein Wissen um Gut und Böse oder um Wert und Unwert als materialen Maßstab dafür, ob das Erfahrene Wertvolles oder Wertwidriges ist, schon an den Gegenstand der Erfahrung herantrage113.

Kehren wir die bisher verfolgte Fragestellung um und formulieren die Einsicht in die oben beschriebene Aporie der ethischen Prinzipienforschung als einen Aussagesatz — von dem wir dann im weiteren auszugehen hätten, so müssen wir nunmehr sagen: die notwendige Bedingung der Möglichkeit ethischer Erfahrung ist ein primäres oder unreduzierbares und in diesem Sinne unbedingtes Wertbewußtsein. Die in ihm wirksamen Werte gehen der jeweiligen Erfahrung notwendig voraus und gelten insofern a priori. Wenn es also ein primäres Wertbewußtsein tatsächlich gibt — und es ist nicht sichtbar, wie etwa das, was wir gemeinhin mit „Gewissen” bezeichnen, als ein Faktum menschlichen Seins bestritten werden könnte114 — so sind uns seine konkreten Inhalte jeweils als ein apriorisches Phänomen gegeben. Im Sinne dieser Feststellung schließt die Phänomenalität der Werte ihre Apriorität nicht aus, sondern ein. Wir stehen damit vor der Erkenntnis, daß der praktischen Vernunft konkrete und gleichwohl apriorische Inhalte gegeben sind115.

Diese Feststellung ist weniger irritierend, wenn man bedenkt, daß die „formalen” Prinzipien der theoretischen Vernunft um nichts weniger als die primären Inhalte der praktischen Vernunft Erfahrung bedingende Elemente unseres Erkenntnisvermögens und insofern „apriorische Fakten” sind. Die apriorische Erkenntnis der theoretischen Vernunft gilt jedoch a priori in bezug auf die Erfahrung der anschaulichen Welt selbst; die primären Inhalte der praktischen Vernunft hingegen sind Apriori hinsichtlich ethischer Erfahrung, d.i. aber hinsichtlich einer Erfahrung in oder an der anschaulichen Welt, die in bezug auf sittliche Gehalte selbst wertindifferent ist. Von ihr aus kann also unmittelbar gar nicht auf apriorische Gegebenheiten der praktischen Vernunft reflektiert werden116. Die Aufweisung eines (materialen) Apriori ethischer Erfahrung kann

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vielmehr allein auf der oben gewonnenen Einsicht beruhen, daß bestimmte, unreduzierbare Bewußtseinsinhalte die notwendige Voraussetzung ethischer Erfahrung sind. Damit ist nun aber noch nicht erwiesen, daß die betreffenden apriorischen Inhalte notwendiger Bestandteil jeder möglichen ethischen Erfahrung sind. Es ist lediglich erwiesen, daß wir jeweils bestimmte Wertvorstellungen unausweichlich haben und daß sie genetisch jeweils das Prius bestimmter anderer Wertvorstellungen sind. Unsere apriorische Werterkenntnis hat also nicht logische, sondern nur faktische Notwendigkeit117.

Hier wird der Relationskarakter unserer Erkenntnis sichtbar: nach der jeweiligen konkreten Struktur unseres Bewußtseins sind uns andere Fakten gegeben, die in unsere Erfahrung als apriorisches Element eingehen. Andererseits aber ist die Erfahrung selbst die konkrete Begegnung, in der uns neue Inhalte gegeben werden. Genauer noch müssen wir sagen: der Begriff des Apriori selbst bekommt einen Relationscharakter, insofern als praktische Erkenntnisse niemals schlechthin, sondern gegebenenfalls nur in bezug auf bestimmte Erfahrungen a priori gelten. Darüber hinaus setzt sich apriorische Werterkenntnis in aposteriorische Erkenntnis um, indem nachträglich durch die Erfahrung erklärt und begründet wird, was zunächst als apriorische Erkenntnis vorausgesetzt worden war, und umgekehrt bilden sich anhand von Erfahrung neue Erkenntnisse, die hinsichtlich weiterer Erfahrung den Rang eines Apriori gewinnen. Die aus dem Gegenstand der Erkenntnis einerseits und aus dem erkennenden Bewußtsein andererseits stammenden Elemente unserer Erfahrung können somit nur konkret, nicht prinzipiell unterschieden werden, da unsere Erkenntnis den Zirkel a priori — a posteriori durchläuft in stufenhaft fortschreitendem Wechsel von der „Subjekt”- zur „Objekt”-seite und umgekehrt.

Hiermit ist aber die bedeutsame Einsicht gewonnen, daß ebensowenig, wie auf der „Objekt”-seite ein streng objektiv Vorhandenes oder ein Ansichseiendes angenommen werden kann, auf der „Subjekt”-seite ein streng Apriorisches nachzuweisen ist, das als Bestandteil jeder möglichen, auf ihr Objekt bezogenen Erfahrung ein absolutes Erkenntniselement darstellen würde. Auch hier ist kein „fester Punkt” zu gewinnen, wie Kant noch gemeint hat. Es ergibt sich also, daß die Erkenntnisaufgabe gleichsam in der Erhellung einer Wechselbeziehung zwischen unserem erkennenden Bewußtsein und seinem Gegenüber besteht, wobei jedoch für uns die Endpunkte oder Pole des Subjekt-Objekt-Zusammenhangs (die möglicherweise in eines verschlungen sind?) als solche ungreifbar oder unverfügbar bleiben.

 

Kehren wir noch einmal zu der Feststellung zurück, daß wir es bei der apriorischen Werterkenntnis nicht mit logischer, sondern nur mit faktischer Notwendigkeit zu tun haben, so wäre das hiermit gewonnene Ergebnis auf Grund der früher gemachten

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Ausführungen zum kategorischen Imperativ dahingehend zu präzisieren: der kategorische Imperativ als die jeweils von allen empirischen Inhalten abgezogene Form des sittlichen Willens ist — so müssen wir nunmehr sagen — nicht das Apriori der praktischen Vernunft, auf Grund dessen absolute sittliche Urteile möglich wären, sondern er ist vielmehr das begriffliche Kriterium jeweils a priori gültiger Werterkenntnis. So wie nach Kant Allgemeinheit und Notwendigkeit die begrifflichen Kriterien jeweiliger theoretischer Erkenntnis a priori sind, so ist das kategorische Gebotensein das begriffliche Kriterium praktischer Erkenntnis a priori.

Zusammenfassend ist also zu sagen: Konkrete Wertvorstellungen gelten hinsichtlich unserer ethischen Erfahrung a priori, da oder besser insofern sie uns kategorisch geboten sind. Mit anderen Worten: in dem kategorisichen Gebotensein sittlicher Inhalte finden wir den begrifflichen Ausdruck für diejenige Weise ihres Gegebenseins, auf Grund deren wir ihrer Geltung in concreto gewiß sind118. In diesem präzisen Sinne kann von einer unbedingten Geltung der uns als Phänomen gegebenen Werte gesprochen werden. Im folgenden muß jedoch — um dem systematischen Vorgehen Hartmanns zu folgen — anhand der von ihm in’s Feld geführten Argumente weiterhin geprüft werden, ob wir darüberhinaus eine absolute, d.h. eine vom Subjekt der Erkenntnis unabhängige Geltung der Werte annehmen dürfen, wenngleich mit dem oben Gesagten bereits eine Antwort auf diese Frage sichtbar gemacht wurde.

Hartmann kennzeichnet die fragliche Problemstufe so: „Sich der Wertschau als einer originären und objektiven zu versichern, ihr einen Rechtsanspruch auf echte Evidenz abzugewinnen, das ist hier erst die Aufgabe, vor der wir stehen. Sie ist mit dem Erweis der bloßen Apriorität nicht gelöst”119. Denn bei dem Nachweis der apriorischen Geltung der Werte ging es ja zunächst nur um die Feststellung, daß die Tatsache nichtempirischer Bewußtseinsinhalte die Vorbedingung ethischer Erfahrung sei. Bei der Frage nach der Absolutheit der Werte handelt es sich hingegen um die Werte als Gegenstand ethischer Erkenntnis. Es ist also zu beachten, daß hier die Fragestellung von der „Subjekt”- auf die „Objekt”-seite überwechselt — ein Umstand, auf dessen erkenntnistheoretischen Sinn oben schon hingewiesen wurde.

Hartmann teilt — wie der eben mitgeteilte, programmatische Satz deutlich erkennen läßt — mit fast aller Wissenschaft und Philosophie die Überzeugung, daß die Legitimation unserer Erkenntnis auf ihrer Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand als einem streng objektiv Vorhandenen beruhe. Denn nur, wenn es einen Sinn habe zu sagen, daß etwas unabhängig von den Bedingungen unserer Wahrnehmung so ist, wie wir es wissen, gebe es wahre Erkenntnis, die als solche von jeder Art Voreingenommenheit unterscheidbar sei120. Ebenso wie die Bedeutung des theoretischen Apriori als Erkenntniselement hinfällig

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werde, wo ihm die objektive Gültigkeit fehle121, müsse auch im Bereich der praktischen Vernunft geklärt werden, ob die in vielerlei Gestalt anzutreffende menschliche Voreingenommenheit, die durchaus den Charakter und die Wirksamkeit eines praktischen Apriori annehmen könne (Hartman spricht hier von „subjektiver Apriorität”)122, von „echter” apriorischer Werterkenntnis unterschieden werden könne. Ob und wie diese Unterscheidung möglich sei, könne aber „eben nicht mehr eine Frage der Apriorität als solcher sein, sondern nur eine Frage der Seinsweise oder der Modalität der Werte, sowie zugleich eine Frage ihrer Erkennbarkeit”123.

 

Das umfangreiche Beweismaterial, auf Grund dessen Hartmann das objektive Vorhandensein oder Ansichsein der Werte und dementsprechend unsere apriorische Werterkenntnis als eine vom Subjekt der Erkenntnis unabhängige und absolute darzulegen sucht, kann hier nicht im einzelnen behandelt werden. Es sollen vielmehr nur die einzelnen Gruppen seiner Argumentation auf ihre Reichweite hin untersucht werden.

Im Vordergrund stehen die Hinweise auf eine Fülle von Phänomenen des Wertens und der Stellungnahme wie z.B. die Phänomene der Nachfolge und der ethischen Idealbildung, ferner die Phänomene der Zurechnung, der Verantwortung und des Schuldbewußtseins sowie das Phänomen des Gewissens und das des moralischen Werturteils überhaupt124. Sie alle lassen, wie Hartmann sagt, „ein Herantragen von Maßstäben an reales Verhalten”125 erkennen, wobei die betreffenden Maßstäbe eben die außerhalb unseres Bewußtseins bestehenden Werte seien. Zwar könne es „Wertvolles oder Wertwidriges nur da geben, wo personale Wesen in Aktrelation zueinander stehen”. Aber die Werte selbst seien weder in der Relation enthalten, noch etwa aus ihr ableitbar; „sie treten hinzu — aus anderem Ursprung — als Maßstäbe, als Novum”126. In diesem Sinne sei festzustellen, daß nicht das Wertbewußtsein die Werte, sondern umgekehrt das „von allem Erdenken unabhängige Wesen der Werte” das Wertbewußtsein bestimme127.

Sofern hiermit nur gesagt werden soll, daß die Wertphänomene nicht bloßer „Schein”, sondern Erscheinungen von etwas, von einem Erscheinenden sind, so wird damit lediglich eine dem prinzipiellen Realismus im oben definierten Sinn entgegengesetzte Übertreibung abgewehrt, die den grundsätzlich zulässigen relativen Zweifel darüber, daß uns die Erscheinungen hinsichtlich der Existenz wie der Qualität der erscheinenden Gegenstände auch täuschen können, zu einem absoluten Zweifel steigert und dementsprechend behauptet, alle Erscheinung sei Schein, oder mit anderen Worten, es seien uns nur „Erscheinungen an sich” oder „Wertvorstellungen an sich” gegeben, nicht aber die Wahrnehmung von etwas, in unserem Falle von Werten128. Wird die Abweisung dieser subjektivistischen Übertreibung129 auf die positive Aussage beschränkt, daß unseren

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Wahrnehmungen ein Wahrgenommenes entspricht, von dem man auch unabhängig von seinem jeweiligen Wahrgenommensein unbedenklich reden kann, so würde von dem zur Kennzeichnung dieser Sachlage verwendeten Ausdruck „Ansichsein” nur ein relativer und durchaus berechtigter Gebrauch gemacht sein130.

In dieser Einschränkung lassen sich jedoch die Aussagen Hartmanns nicht interpretieren. Seiner unmißverständlich zum Ausdruck gebrachten Überzeugung, daß die Werte ein Ansichsein im Sinne von absolutem Sein hätten, ist jedoch entgegenzuhalten, daß ein Ansichsein der Dinge oder Werte im strengen Sine und damit zugleich auch die Erkennbarkeit dieses ihres angeblich absoluten Seins nicht erwiesen werden kann: Ansichseiendes ist uns nicht gegeben und somit als solches auch nicht zugänglich; nur auf die Weise des Gegebenseins von Dingen oder Werten, also auf deren Erscheinung, nicht aber auf ihr Ansichsein können sich positive Aussagen über das jeweils Wahrgenommene beziehen131. Hartmann sagt selbst, daß es keine Phänomene gebe, an denen das Bestehen sowie die Qualitäten metaphysischer Gegenstände ohne weiteres sichtbar werden könnten132. Wird diese Einsicht streng genommen, so fällt auch die Behauptung der objektiven Existenz oder des Ansichseins der Werte unter das seit Kant unbestrittene Verbot positiver Aussagen über das „Ding-an-sich”.

Im weiteren versucht Hartmann nachzuweisen, daß eine in verschiedener Hinsicht bestehende „Relativität der Werte auf das Subjekt” gleichwohl ihre Absolutheit nicht in Frage stelle133. Hartmann unterscheidet hierzu: 1. „die Relativität auf das Subjekt des anderen” (gemeint ist die Tatsache, daß sich jeder sittliche Personwert als ein Gut erweise für denjenigen, an dem er geübt werde), 2. die Relativität auf die Person eines anderen (im Sinne der Feststellung, daß sittliches Verhalten immer auf die Person eines anderen als das Objekt des sittlichen Verhaltens gerichtet sei) und 3. „die Relativität auf die Person als Wertträger” (Werte bestimmter Art seien jeweils bezogen auf eine bestimmte Art von Wertträger als das Subjekt des sittlichen Verhaltens)134.

Während die unter 1. bezeichnete „Relativität” überhaupt nur den das sittliche Verhalten jeweils „begleitenden" Güterwert betreffe, sei mit den unter 2. und 3. aufgeführten Typen von Relativität zwar etwas über die sittlichen Werte selbst, aber nur etwas über ihre „innere relationale Wesenstruktur” ausgesagt. Denn die Tatsache, daß sittliche Werte nur da in Erscheinung treten könnten, wo personale Wesen in Aktrelation zueinander stehen, sei lediglich der Ausdruck einer in diesem Sinne bestehenden inneren Beschaffenheit der Werte selbst. Ihre Subjekt-Bezogenheit in der „aktualen Sphäre” (oder — wie er auch sagt — die relationale Struktur der „Wertmaterie”) lasse aber die Selbständigkeit des „Wertcharakters” (das ist der an der Wertmaterie sichtbare Wert selbst) völlig unberührt: Bestehen und Qualität des Wertcharakters seien vom

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„Subjekt der Wertung” unabhängig. Die fragliche Beschaffenheit der Werte sei vielmehr umgekehrt der Grund und die Voraussetzung dafür, daß sie im Verhalten der Menschen zueinander „auftreten" und somit wahrgenommen und erkannt werden können. Mit der Feststellung also, daß nicht die Seinsweise der Werte selbst (das Bestehen des Wertcharakters), sondern nur die Art ihres Auftretens von der unter 2. und 3. bezeichneten „Relativität” betroffen werde, hiermit ihre Relativität aber auch „erschöpft” sei, sieht Hartmann seine Grundthese bestätigt, daß die Werte vom Bewußtseinakt unabhängig und in diesem Sinne absolut seien135.

Es ist deutlich, daß Hartmann mit seinen Ausführungen nur eben das beweist, was er vorher in anderer Weise vorausgesetzt hat. Denn die seiner Untersuchung zugrunde gelegte Unterscheidung von „Wertmaterie” und „Wertcharakter” ist ja nichts anderes als die in ihrer Berechtigung ja doch gerade erst zu erweisende Unterscheidung von Werterscheinung und Wert an sich. Wenn er also sagt, daß die sich zeigende relationale Struktur der Werte nur die Wertmaterie, d.h. die Art ihres Gegebenseins betreffe und ihr Ansichsein unberührt lasse, so interpretiert er damit lediglich seine immer wieder zum Ausdruck gebrachte Grundüberzeugung, daß man von den Werten auch unabhängig von ihrem Gegebensein sinnvoll reden könne — und weiterhin, daß sich jede echte Werterkenntnis auf das streng gemeinte Ansichsein der Werte beziehe und eben darum den Anspruch objektiver und allgemeinverbindlicher Gültigkeit erheben dürfe136.

In welchem Sinne ein relativer Gebrauch des Ausdrucks „Ansichsein” berechtigt ist, nämlich als Negation der subjektivistischen These, daß die Ding- oder Werterkenntnis in wörtlichem Sinne „gegenstandslos” und nur eine Funktion unseres Bewußtseins sei, wurde oben schon gesagt. Hartmann hingegen, der den Begriff des Gegenstandes naiver verwendet, als wir es nach der derzeitigen Lage des Erkenntnisproblems noch tun dürfen, bewegt sich dementsprechend mit seiner Argumentation ganz im Rahmen der alternativen Fragestellung, ob man annehmen dürfe, daß die Gegenstände der Erkenntnis ein absolutes Sein haben und als solche erkannt werden können, oder ob man zugestehen müsse, daß sie vom Bewußtseinsakt abhängig und in diesem Sinne nur relativ sind — mit allen Konsequenzen, die dieses Zugeständnis mit sich bringe.

Hartmann ist nun zwar der Meinung, daß diese Alternative streng gelte, nicht aber, daß sie in einem strengen und endgültigen Sinne entschieden werden könne. Es handle sich hier vielmehr um eine menschliche Entscheidung, „die durch philisophisches Denken nicht erzwungen werden könne”. Denn von allen metaphysischen Gegenständen (also auch vom Ansichsein der Werte)137 gelte der Satz: „sie sind im strengen Sinne weder beweisbar noch widerlegbar”138. Hartmann gesteht damit ausdrücklich zu, daß man für das Ansichsein

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von Dingen oder Werten nicht argumentieren kann. Wenn er sich gleichwohl für die erste Alternative entscheidet, weil er die andere zwar nicht für indiskutabel, aber für falsch hält, so beruft er sich dabei auf die Fülle des von ihm zusammengetragenen, hier nur eben angedeuteten Beweismaterials, dem er immerhin den Rang von Indizien139 zuschreibt. Darüber hinaus macht er eine Umkehr der Beweislast geltend: „Wer ideales Ansichsein in Zweifel zieht, muß auch reales in Zweifel ziehen. Die universale Skepsis, zu der das führt, ist zwar niemals ganz zu entwurzeln. Aber sie bleibt in der Luft schweben, sie ist die gewagteste aller Hypothesen. Und da sie der natürlichen Auffassung widerstreitet, so ist sie es, die ihr Recht erst zu beweisen hätte”140.

Es darf hier dahingestellt bleiben, wie die Beweislastfrage und das Gewicht der einzelnen Indizien zu beurteilen ist. Es gilt vielmehr festzustellen, daß Hartmann, indem er sich zur 1. Alternative und damit zum Standpunkt eines prinzipiellen Realismus141 bekennt, eine Glaubensentscheidung vollzieht, — sofern man diesen Ausdruck in einer noch ganz unpräzisierten, das „Fürwahrhalten” unbewiesener oder unbeweisbarer Sachverhalte mitumfassenden Bedeutung verwendet. Hartmanns „Glaube” an das Bestehen eines Reichs absoluter sittlicher Werte ist ausdrücklicher Art. Denn er zweifelt sehr wohl daran, ob die Frage nach dem objektiven Vorhandensein und der Erkennbarkeit metaphysischer Gegenstände mit Ja oder mit Nein zu beantworten ist, und weiß um die prinzipielle Unmöglichkeit einer streng beweisbaren Lösung dieser Frage. Hierin unterscheidet sich seine Lehre sehr wesentlich von dem naiven Realismus der thomistischen Lehre (und in gewissem Sinne auch von Brunner), die — heute gleichsam an Kant vorbei — die Realität absoluten Seins grundsätzlich für beweisbar hält.

Auch von Hartmann wird jedoch nicht bezweifelt, daß der zur Entscheidung gestellten Alternative eine sinnvolle, d.h. eine dem Gewißheitsproblem angemessene Fragestellung zugrunde liegt. Mit anderen Worten: es bleibt lediglich offen, ob das unserem Bewußtsein Gegebene grundsätzlich als „Erscheinung” oder aber grundsätzlich als „Schein” zu beurteilen ist, nicht hingegen, ob die Voraussetzung beider Auffassungen, nämlich die Vorstellung eines in sich selbst ruhenden Seins von „Subjekt” und „Objekt” der Wirklichkeit gerecht wird, oder ob nicht vielmehr alles Sein und damit auch der Erkenntnisvorgang selbst als Existenz im Sinne eines sich wechselseitig begründenden Gegenüberseins verstanden werden muß. Diesem Verständnis gegenüber würde sich aber — wie schon verschiedentlich angedeutet wurde — der Austrag des Gegensatzes von Absolutem und Relativem, von Metaphysik und totaler Skepsis (die als Preisgabe der Wahrheitsfrage oder als Behauptung einer „totalen Entscheidungssituation" auftritt) und damit schließlich auch der innerste Gegensatz von Naturrechtsdenken und rechtspositivistischem Denken als ein Scheinproblem erweisen.

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Jedenfalls aber ist negativ zu sagen, daß sich aus der gemeinsamen Wurzel der von Hartmann herausgestellten Alternativen das gemeinsame Dilemma ergibt, zwischen zwei prinzipiell unbeweisbaren Hypothesen wählen zu müssen, von denen die eine die Möglichkeit des absoluten Zweifels leugnen zu können meint, die andere ihn aber für vollziehbar hält. Wenn Hartmann also — und mit ihm alle, die in irgendeiner Weise an seiner Grundüberzeugung teilnehmen — eben nur durch ein Bekenntnis zur erstgenannten Hypothese den das Erkenntnisproblem ad adsurdum führenden Konsequenzen des Relativismus zu entgehen meinen, so überschätzen sie den Abstand beider Standpunkte: während die Vertreter des einen meinen, daß man jeweils positiv entscheiden müsse, was allgemein gelten soll, entscheiden sich die des anderen, an die Möglichkeit streng allgemeinverbindlicher („echter”) Erkenntnis zu glauben.

Aber dieses „Glauben” ist in Wahrheit ein Surrogat, eben nur ein Fürwahrhalten von Unbeweisbarem und insofern eine irrationale Aushilfe, von der ausdrücklich oder unausdrücklich da Gebrauch gemacht wird, wo sich der Anspruch wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis (deren Legitimation ja gerade in ihrer strengen Objektivität bestehen soll) nicht eigentlich in Anbetracht der Endlosigkeit des noch nicht Erforschten, sondern in seinem innersten Kern, d.h. als Behauptung der Möglichkeit absoluter, in sich selbst ruhender Gewißheit als unerfüllbar oder mehr noch als irreal erweist. Die in dieser Aushilfe liegende Inkonsequenz ist evident.

 

VIII.

Der in aller Wahrheitsbehauptung enthaltene subjektive Kern ist jedoch in diesem rein negativen Verständnis eine Folge der tiefen Entwertung und Sinnentstellung, denen ein immer ausschließlicher im Gegensatz zum „Wissen” verstandenes „Glauben” verfallen mußte. Es ist in dieser Hinsicht für unser unter dem Zeichen profaner Wissenschaft lebendes Zeitalter kennzeichnend, wenn es — sehr handgreiflich vor die Frage nach dem Grund menschlicher Existenz gestellt — ganz entsprechend der oben bezeichneten Alternative einerseits zu totaler Skepsis, andererseits zur Verabsolutierung von Weltanschauungen neigt und, wenn überhaupt, erst jenseits der Möglichkeiten rationaler Einsicht nach deren theologischer Rechtfertigung fragt; gleichsam als könne oder müsse von daher dann ausschließlich die abstrakte Frage entschieden werden, ob Leben und damit auch das Nachdenken über die Wahrheit sinnlos oder nicht sinnlos sei, ob unsere Vernunfterkenntnis „auch” sub specie aeternitatis irgend eine Gültigkeit habe oder nicht.

So sagt etwa auch Coing, daß erst im Anschluß an die von der Rechtsphilosophie zu lösende Frage nach dem naturrechtlichen Inhalt der Gerechtigkeit die Frage nach der „metaphysischen und religiösen Bedeutung” der jeweils erkannten Naturrechtssätze zu stellen sei. Ob man annehmen dürfe, daß der in diesen Sätzen zum

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Ausdruck kommenden Gerechtigkeit irgendein Wert oder Platz vor der göttlichen Gerechtigkeit zugewiesen sei und ob es angesichts „der doch überall triumphierenden Ungerechtigkeit und Gewalt” überhaupt einen Sinn habe, nach menschlicher Gerechtigkeit zu suchen, stelle sich als eine an die Theologie zu richtende und nur von ihr zu beantwortende Frage dar, die durch die Feststellung eines „wissenschaftlich aufweisbaren Naturrechts” nicht überflüssig werde, sondern „durchaus offen bleibe”142. Zu dieser Frage — so ergänzt Coing vorsorglich — könne indessen von der juristischen Problematik her schon soviel gesagt werden, daß den Naturrechtssätzen nur ein vorläufiger Sinn zukomme: Als Ausdruck menschlicher Gerechtigkeit seien sie offensichtlich doch nur „ein winziges Licht in der Nacht der Ungerechtigkeit”, das nur „einen kleinen Bereich” erhelle143. Darum habe das Naturrecht „nur eine begrenzte, nicht eine schlechthin absolute und metaphysische Bedeutung”. Das Naturrecht sei damit jedoch „nicht relativiert (in dem Sinne, daß Rechtsfragen eine Angelegenheit subjektiven Meinens oder persönlichen Bekennens seien); es sei nur eingegrenzt hinsichtlich seiner metaphysischen Bedeutung”144.

Es ist ersichtlich, daß hier die Trennung philosophischer und theologischer Fragestellung in's Absurde führt: nachdem man zunächst ausdrücklich oder unausdrücklich glaubte annehmen zu dürfen, daß alle Erscheinung nicht Schein sei, sondern vielmehr über das Ansichsein von Dingen und Werten unbedingt gültige Auskunft gebe, holt man dann den versäumten Zweifel um so gründlicher nach und zweifelt nunmehr daran, ob die ganze geschaffene Welt mitsamt der Existenz des Menschen und seiner Gerechtigkeit „vor dem Sein Gottes und dessen Gerechtigkeit” (die wiederum als ein Ansichseiendes, als ein von der geschaffenen Welt unabhängig Bestehendes gedacht werden) irgendeine Geltung haben könne.

Aber entweder empfängt unsere Vernunft ihren Rang aus sich selbst, weil sie aus eigener Vollkommenheit und Notwendigkeit (in einem mehr oder weniger weiten Umkreis) zutreffende Erkenntnis des Seins zu gewinnen vermag. Dann aber hat jede nachträgliche religiöse oder theologische Rechtfertigung solcher Erkenntnis etwas Aufgesetztes und Unverbindliches. Sie ist dann genau das, was man mit dem Ausdruck der Desinteressiertheit zutreffend eine Privatangelegenheit nennt. Oder aber die Annahme eigenständiger Vernunfterkenntnis ist unbegründet. Dann gilt es zu fragen, was und warum wir „glauben”, wenn wir eine Erkenntnis als „wahr” gelten lassen, und ob wir es mit Recht tun. Dann liegt die Glaubensfrage nicht außerhalb des philosophischen Erkenntnisproblems, sondern innerhalb desselben.

Mit anderen Worten: der Sinn der mit allem philosophischen Denken geübten „Kunst des Zweifels” würde darin bestehen, daß sie aufdeckt, was jeweils unausdrücklich vorausgesetzt oder für

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wahr gehalten wird. Damit entsteht aber jeweils zugleich die Aufgabe einer bewußten Entscheidung darüber, wie wir uns der als gültig vorausgesetzten, dem weiteren Zweifel aber grundsätzlich offenbleibenden Erkenntnis gegenüber verhalten sollen, ob wir das Wagnis des Zutrauens und damit das Wagnis eigener Bindung in concreto eingehen dürfen oder nicht. Das Geschäft des Denkens und die religiöse Frage nach der sogenannten „Sinnerfülltheit” des uns jeweils als Evidenz Gegebenen sind in der Wurzel nicht zu trennen, weil einerseits — wie schon oben gesagt wurde — kein Argument als solches den weiteren Zweifel ausschließt (so daß es ohne Zutrauen zur Evidenz überhaupt keine tragfähige Erkenntnis gäbe), uns andererseits aber der Grund der Möglichkeit solchen Zutrauens, wenn überhaupt, nur im konkreten Erkennen selbst und nicht außerhalb desselben begegnet.