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Ueber die Begriffe: sichtbare und unsichtbare Kirche

 

Die praktisch-kirchlichen Bewegungen der letzten zehn Jahre haben der Theologie eine Menge in den Begriff von der Kirche einschlagender Fragen gestellt, deren Lösung freilich die Parteiführer im Sturme erobern zu können meinten, die aber ihre zureichende Beantwortung nur durch eine von unmittelbar drängenden praktischen Zwecken unbeirrte Forschung erwarten dürfen. Den Kern aller derartigen Probleme bildet aber die Distinction der Unsichtbarkeit und der Sichtbarkeit der Kirche. Der herkömmliche Gebrauch dieser theologischen Unterscheidung ist zwar von der Voraussetzung begleitet, daß der Sinn derselben unzweifelhaft feststehe, und die Schwierigkeit sucht man deßhalb gewöhnlich nur in der Frage, ob die bezeichnete Unterscheidung mit Recht oder mit Unrecht gemacht werde. Jedoch wird eine genaue Analyse der Aussagen der Reformatoren uns veranlassen, schon den herkömmlichen Sinn der Unterscheidung in Zweifel zu ziehen, und wir hoffen von da aus den richtigen Standpunkt zur Beurtheilung des Rechtes derselben zu gewinnen. Die neuere theologische Literatur, welche, so weit sie sich auf das bezeichnete Thema einläßt, reichlichen Stoff zur Polemik darbieten würde, haben wir nicht vor zu berücksichtigen; nur auf die neueste Bearbeitung des Gegenstandes durch Münchmeyer (das Dogma von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche, 1854) werden wir zu  dem Zwecke eingehen, um unsere eigenen Aufstellungen auch antithetisch zu erläutern.

Der Erste, bei welchem man dem Gebrauch der Distinction begegnet, ist Zwingli. In der an Franz I. von Frankreich gerichteten Expositio christianae fidei erklärt er, daß die Eine allgemeine Kirche, welche Gegenstand des Glaubens ist, entweder sichtbar oder unsichtbar sei. In der

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Erläuterung dieser Prädicate verliert er aber die Identität des vorausgesetzten logischen Subjects, der Einen allgemeinen Kirche. Die Kirche, welche unsichtbar ist, soll als die Gesammtheit aller wirklich Glaubenden oder Erwählten gedacht werden, der das Prädicat der Unsichtbarkeit in dem Sinne zukommt, daß es nur dem göttlichen, nicht aber dem menschlichen Urtheile unterliegt, wer im Einzelnen wirklich gläubig und erwählt ist. Die Kirche, welche sichtbar ist, besteht hingegen aus Allen, welche sich zu Christus bekennen, mögen dieselben den innern Glauben haben oder nicht. Da nun vorauszusetzen ist, daß alle wirkliche Gläubige auch ihren Glauben an Christus bekennen, so folgt, daß die Mitglieder der unsichtbaren Kirche als engerer Kreis in dem Umfang der sichtbaren Kirche zu denken sind. In etwas verschiedener Wendung hat Zwingli diese Gedanken auch in der wenig ältern an Karl V. gerichteten Fidei ratio entwickelt. Hier wird deutlicher als in der andern Schrift die Gesammtheit der Erwählten als die Kirche ohne Flecken und Runzel gesetzt, deren Mitglieder nur Gott bekannt sind, in welche sich aber jeder Erwählte einzurechnen hat. Jedoch fehlt für diesen Gedanken der Ausdruck der unsichtbaren Kirche. Von der Gesammtheit der Erwählten unterscheidet er nun die ecclesia sensibilis, die Gesammtheit der Bekenner, in welcher aber neben den Erwählten auch Verworfene sich befinden, und welche nur nach dem trüglichen menschlichen Urtheile als die erwählte Gemeinde prädicirt wird. Glaubensgegenstand ist nun aber nicht nur die Eine Gemeinde der Erwählten, welche nicht irren kann, sondern auch die Gemeinde der Bekenner, sofern sie das richtige Bekenntniß festhält. Also auch nach dieser Darstellung hat sich für Zwingli aus den verschiedenen Rücksichten, nach denen er die Eine allgemeine Kirche deutet, der Gedanke von zwei Kirchen als zwei concentrischen Kreisen ergeben.

An diese Bestimmungen Zwinglis heften sich aber sogleich manche Bedenken, die in der Polemik gegen den Begriff der unsichtbaren Kirche immer wiederkehren, ohne deren Aufstellung jedoch die Meinung des Reformators nicht in das richtige Licht tritt. Also zunächst steht fest, daß er zwei Kirchen denkt, und zwar beide vom theologisch-dogmatischen Standpunkte aus, da beide für ihn Glaubensgegenstände sind. Ferner denkt er gar kein anderes Verhältniß zwischen beiden, als daß die sichtbare Kirche die unsichtbare örtlich in sich schließt; an eine innere Nothwendigkeit gegenseitiger Beziehung beider wird nicht gedacht. Weiterhin mangelt demjenigen, was er unsichtbare Kirche nennt, ein wesentliches Merkmal der Kirche, die bewußte Verbindung ihrer einzelnen Glieder zu einem gemeinsamen Zwecke. Die Erwählten sind nur Gott bekannt, die Einzelnen unter denselben wissen zwar jeder um seine Erwählung, aber nie der Eine

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um die des Andern. Die Erwählten können also als solche nicht in ein Verhältniß gegenseitiger Dienstleistung und Gemeinschaft treten; sie sind Punkte, die zwar alle durch Radien mit dem Mittelpunkte in Verbindung stehen, aber die Kreislinie, welche sie unter sich verbinden müßte, ist nicht gezogen. Wenn wir also das Verhältniß beider Kirchen mit zwei concentrischen Kreisen verglichen haben, so zeigt sich, daß diese Vergleichung nur mit der bestimmten Beschränkung zureichend ist, daß der innere Kreis eigentlich kein Kreis ist. Endlich aber verwickelt sich der Begriff der unsichtbaren Kirche noch in folgende Schwierigkeit. Zwingli bezeichnet zwar in beiden Schriften als die Kirche diejenigen, welche wirklich glauben und denselben göttlichen Geist haben. Daneben aber, offenbar in der Absicht, dasselbe zu sagen, bezeichnet er die unsichtbare Kirche als die Gesammtheit der Erwählten. Mit dem Erwähltsein aber fällt, wie Zwingli selbst erinnert, das wirkliche Gläubigsein keineswegs zusammen. Die Erwählung umfaßt die in der Zukunft Glaubenden auf gleichem Fuße, wie die gegenwärtig Glaubenden und die zur Vollendung gekommenen Glieder der triumphirenden Kirche. Wenn also die unsichtbare Kirche gleich der Gesammtheit der Erwählten gesetzt wird, und wenn nicht dabei die Vorsicht getroffen ist, ihren Begriff auf die wirklich zum Glauben gekommenen gegenwärtig lebenden Erwählten zu beschränken, so muß man bei den Begriff von der unsichtbaren Kirche von der fortschreitenden Verwirklichung der Erwählung absehen und dieselbe bloß als das Object des ewigen Gnadenwillens Gottes denken. In diesem Falle würde man auch nicht das Recht haben, dem Begriff der unsichtbaren Kirche die göttliche Idee von der Kirche zu substituiren. Denn in dieser würden doch die Mittel der Gemeinschaft der Erwählten in der Welt gesetzt sein müssen; dieselben sind aber durch den Gedanken der unsichtbaren Kirche ausgeschlossen. Aber Zwingli hat es eben nicht zu der Klarheit darüber gebracht, ob die unsichtbare Kirche als Wirklichkeit oder bloß als Object des ewigen göttlichen Willens zu denken sei, da er sie bald als die Gesammtheit der wirklich Gläubigen, bald als die der Erwählten bezeichnet.

Daß Zwingli seine Aufstellungen über den Begriff von der Kirche in bewußtem Widerspruch gegen die römisch-katholische Lehre gemacht hat, kann keinem Zweifel unterliegen. Wir bezweifeln aber, daß er seine Lehre aus seiner reformatorischen Stellung heraus ursprünglich producirt hat. Denn sein Grundgedanke, daß die Kirche die Gesammtheit der Erwählten sei, findet sich schon bei Johannes Hus. Da nun Zwingli in manchen theologischen Punkten vielmehr den Abschluß der mittelalterlichen Oppositionstheologie, als den Anfang einer neuen Reihe bildet, so können wir es nicht umgehen, die verwandten Erklärungen von Hus über den Begriff

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von der Kirche zu vergleichen, die auch an den Sprachgebrauch von Zwingli in der Fidei ratio anstreifen. In seinem Tractatus de ecclesia vom Jahre 1413 (Historia et monumenta Ioh. Hus atque Hieronymi Pragensis. 1717. Vol. I. p. 243 seqq.) geht Hus darauf aus, den Begriff von der Kirche aufzustellen, welcher aus dem Glauben gewonnen wird, oder die Kirche so zu definiren, wie sie als Glaubensartikel zu fassen ist. In diesem Sinne gilt ihm die Kirche als die Gesammtheit der Prädestinirten, der gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen. Die Einheit der Kirche beruht auf der Einheit der göttlichen Prädestination; für die Gegenwart aber beruht sie auch auf der Einheit des Glaubens, der Kräfte und auf der Einheit der Liebe. So gedacht entspricht die Kirche vom Bilde des Leibes Christi. Wie aber in dem menschlichen Leibe Manches ist, was nicht Theil desselben ist, wie Schleim, Speichel, Schmutz und Harn, so sind Manche in der Kirche, welche nicht zur Kirche gehören, welche vielmehr, als von Gott Verworfene, Glieder des Teufels sind. Beide Klassen im Einzelnen zu unterscheiden, ist nicht möglich. Aber wenn auch nach diesem Maaßstabe die Gesammtheit der Prädestinirten unbekannt bleibt, wenn auch der Charakter der Erwählung im Einzelnen nicht mit sinnlicher Gewißheit (non sensibiliter) anzuschauen ist, so wird dadurch der Glaube an die Kirche nicht beeinträchtigt. Wenn man demnach den Namen Kirche nicht immer streng auf die Prädestinirten anwendet, sondern auch auf die Gesammtheit der Prädestinirten und der Reprobirten, welche nach Maßgabe der zeitlichen vorübergehenden Gerechtigkeit in der Gnade sind, so ergibt sich hieraus ein Unterschied der Standpunkte, von welchen aus die Sache aufgefaßt wird. In jenem Sinne, vom Standpunkte des Glaubens aus, wird die Kirche als Gesammtheit der Prädestinirten vere et reputative aufgefaßt; in diesem Sinne nuncupative, indem multi secundum famam seculi vocantur ecclesiae capita vel membra, licet secundum dei praescientiam sunt membra diaboli, quae ad tempus credunt et post recedunt, vel etiam nunc et semper sunt infideles (l.c. p. 255).

Die Berührung dieser Gedanken mit denen Zwinglis wird einleuchten; aber eine genauere Betrachtung wird lehren, daß die Bedenken, welche gegen Zwinglis Aufstellungen zu erheben waren, Hus nicht treffen. Hus rechnet deutlich zu der Kirche, an die er glauben lehrt, alle, auch die noch nicht in das Leben und in den Glaubensstand getretenen, Prädestinirten. Hienach also ist der theologische Gedanke von der Kirche in den Gedanken von der göttlichen Prädestination eingeschlossen, und die Kirche ist noch nicht als eine Wirklichkeit außerhalb des verborgenen göttlichen Willens gesetzt. Aber hiebei läßt es Hus nicht bewenden. Er

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denkt die Gemeinde der Prädestinirten auch als Wirklichkeit, sofern in praesenti etiam eius unitas consistit in unitate fidei et virtutum et in unitate caritatis (p. 246.). Und im Hinblick auf diese Verwirklichung der Erwählung bestimmt sich der Erwählungsrathschluß zur göttlichen Idee von der Kirche, da nullus locus vel electio humana facit membrum universalis ecclesiae, sed praedestinatio divina respectu cuiuscunque, qui perseveranter Christum sequitur in caritate (p. 248). Denn daß der göttliche Rathschluß der Erwählung zur Seligkeit dem einzelnen Erwählten diese Bedingung, die Ausdauer in der Liebe und in der Nachfolge Christi, setzt, ergibt für Gott selbst die Idee der Kirche, als der Form der Verwirklichung der Erwählung auf der Erde. Indem also der Glaube und das an ihn gebundene, d.h. das theologische Denken die Kirche als die Gesammtheit der Erwählten auffaßt, welche gegenwärtig durch die Einheit des Glaubens, der Taufe, des Geistes, der Liebe verwirklicht wird, so wird dieser Gedanke als nothwendig erwiesen durch die Zurückführung auf die göttliche Idee von der Kirche, welche, indem sie alle Prädestinirten umfaßt, dem Gedanken von der gegenwärtig verwirklichten Kirche den Zusammenhang mit ihrem Grunde und ihrem Ziele sichert.

Sofern nun die Kirche als gegenwärtig wirklich gedacht wird, ist sie an sich erscheinend. Die zu ihr gehörenden Erwählten sind durch das Bekenntniß des Glaubens, durch die Taufe, durch die Uebung der Liebe mit einander verbunden, und ihre Gemeinschaft fällt deßhalb unter die Wahrnehmung. Unbekannt und der sinnlichen Wahrnehmung entzogen bleibt nur, welches einzelne Kirchenmitglied wirklich prädestinirt ist, da an jenen Aeußerungen der Gemeinde der Erwählten auch solche Menschen theilnehmen, welche Heuchler oder welche ohne die Gabe der Ausdauer nur der zeitlichen Gerechtigkeit theilhaftig sind, welche also nicht Erwählte, sondern eigentlich Glieder des Teufels sind. Hus construirt also gar nicht eine Kirche, welche an sich unsichtbar wäre, sondern die von ihm gedachte an sich sichtbare Kirche ist von ihm nur insofern als unbekannt gedacht, als man den Charakter der Prädestination am Einzelnen sensibiliter beobachten und beurtheilen will. Aber für den Glauben ist dies gar kein Bedürfniß und kein gültiger Maaßstab. Nulla enim confusio est in ecclesia militante ex hoc, quod sine revelatione non cognoscimus distincte membra mystici corporis Christi iam viantis (p. 254). Daß nun an den Lebensäußerungen der Erwählten gegenwärtig auch Solche theilnehmen, welche eigentlich die ecclesia diaboli sind, ist eine Erfahrung, die dem Gläubigen, abgesehen von dem Urtheile seines Glaubens über die Kirche, feststeht. Aber dadurch wird der

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theologische Begriff von der Einen Kirche gar nicht gestört. Denn wenn auch das Urtheil der Welt, welches sich nur nach den äußeren Merkmalen richtet, die falschen Christen mit den Erwählten ohne Unterschied zusammenrechnet, so gilt dies für Hus nur als nuncupative Bezeichnung der Kirche, als ein ungläubiger und untheologischer Begriff derselben; der wahre reputative, d.h. theologische Begriff von der Kirche, der auf den Gedanken der Prädestination gegründet ist, muß von diesen nur scheinbaren, weil nicht ausdauernden Gliedern der Kirche abstrahiren, um den allein wahren Bestand derselben aufzufassen.

Wenn Herr Münchmeyer darin Recht hat, daß die sichtbare Kirche die Gesammtheit der Berufenen mit Einschluß der Heuchler und bloßen Namenchristen, und die unsichtbare Kirche allein die Gesammtheit der Auserwählten, welche wahrhaft in der Heiligung stehen, bedeutet (a.a.O. S. 1), so hat er sehr Unrecht, wenn er bei Hus die vollständig ausgebildete Lehre von einer sichtbaren und unsichtbaren Kirche, wenn auch ohne diesen Namen, findet (S. 17). Er hat freilich seine Kenntniß des Tractats von Hus nur aus den Excerpten in Gieselers Kirchengeschichte (II, 4. S. 407 ff.) geschöpft; wir können aber nicht umhin, dieser Thatsache gegenüber zu bemerken, daß der theologischen Wissenschaft auch von praktischen Geistlichen nur durch Quellenstudium zweckmäßig gedient werden kann. Münchmeyers Definition kann sich allerdings auf Zwingli stützen, Hus hingegen kann nicht in den Verdacht kommen, daß er zwei dem Umfange und Inhalte nach verschiedene, wenn auch concentrische Kreise als unsichtbare und sichtbare Kirche theologisch construirt habe. Denn die Vorstellung von der Kirche als Gemeinschaft Erwählter und Nichterwählter scheidet er ja als weltliche, also untheologische Meinung aus. Und wenn in seinem theologischen Begriff von der Einen Kirche das Doppelte enthalten ist, welches wir als die ewige göttliche Idee von der Kirche als der Gesammtheit aller Prädestinirten und als die jeweilig gegenwärtige Wirklichkeit der Kirche unterscheiden, aber auch nothwendig wieder zusammengefaßt haben, so entspricht doch dieser Unterschied durchaus nicht der angeführten Distinction von unsichtbarer und sichtbarer Kirche. Aber auch Zwinglis sehr wenig vollständige Aeußerungen verfolgen doch bis zu einem gewissen Grade die von Hus eingeschlagene und der gewöhnlichen Auffassung der Sache zuwiderlaufende Bahn. Er legt zwar der von ihm als Kirche gedachten Gemeinschaft der wirklich gläubigen Erwählten an sich keine äußeren Merkmale bei, in denen sie nothwendig erschiene, aber er erklärt sie doch auch nur wie Hus in dem Sinne für unsichtbar, als man die einzelnen Prädestinirten als solche nicht mit menschlichen Augen zu unterscheiden vermag. Die Unsichtbarkeit der wahren

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Kirche gilt also auch ihm nur als relativ, in Beziehung auf einen falschen, menschlichen, d.h. ungläubigen Maaßstab der Beurtheilung. Andererseits läßt er die von ihm so genannte sichtbare Kirche, welche Gute und Böse umfaßt, als Kirche nur gelten nach dem Urtheile der Menschen. Wenn er nur dieser menschliche Vorstellung ihre theologische Gültigkeit, wie es geschehen mußte, bestritten hätte, so war er auf dem richtigen Wege. Sein Fehler bestand darin, daß ere die Kirche auch nach dieser bloß menschlichen, ungläubigen Vorstellung, in welcher nicht von den in ihr enthaltenen reprobi abstrahirt wurde, als Gegenstand des Glaubens anerkannte, und deßhalb kam er, ohne es zu wollen, zu der Distinction von zwei Kirchen.

Hus hat seine Lehre von der Kirche noch nicht so weit entwickelt, um die Auctorität des Papstes definitiv abzuschütteln, denn er läßt die sogenannte römische Kirche als den vorzüglichsten, von Gott besonders geliebten Theil der Gesammtkirche gelten, dem man Gehorsam schulde, wenn nur Papst und Cardinäle das Gesetz Christi befolgten (S. 257. 258. 284). Zwingli hingegen hat seinen Begriff von der Kirche mit der hergebrachten katholischen Ansicht gar nicht ausdrücklich auseinandergesetzt. Wenn nun in der Distinction zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche ein werthvolles Resultat der reformatorischen Gedankenbildung gefunden werden muß, so werden die dahin gehenden Aufstellungen und Erörterungen Luthers und Melanchthons um so wichtiger sein, als sie durch bestimmte polemische Gesichtspunkte gegen die römisch-katholische Ansicht von der Kirche geleitet sind. Nur unter Vergleichung der entgegengesetzten Meinung kann man Luthers wiederholt ausgesprochenen Satz verstehen, daß die Kirche, als die Gemeinschaft der im Glauben Geheiligten, Gegenstand des Glaubens, daß die deßhalb aber nach Hebr. 11, 1. unsichtbar sei 1). Wer wie Herr Münchmeyer (von S. 25. an), ohne die gegensätzliche Beziehung dieses Urtheils sich zu vergegenwärtigen, sein Referat über Luthers Lehre mit dem Satze eröffnet: „Die Kirche κατ᾽ ἐξοχὴν ist bei Luther fast immer die sogenannte unsichtbare Kirche, die Gemeinde der wahrhaft Gläubigen”, kann nicht umhin, ein falsches Bild von Luthers Ansichten zu entwerfen. Denn was hilft es, wenn derselbe weiterhin (S. 34.) Luthers Beläge für den Satz beibringt: „Die wahre Kirche, wiewohl unsichtbar, hat aber ihre gewissen Kennzeichen, daraus ihr


1) Vom Papstthum in Rom wider Aug. Alveld (1520); L.W. (Walch) XVIII, 1222. Antwort auf das Buch Bock Emsers (1521); XVIII, 1654. Ausführliche Erklärung des Galaterbriefs (1535); VIII, 2745. Auslegung des 45. Psalms (1537); V, 540.

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Vorhandensein sicher mag geschlossen werden”! Entweder ist hiemit Luther eines Widerspruchs geziehen, oder der Lutheraner versteht sich sehr wenig auf die Kunst, dogmatische Ansichten zu analysiren und aus ihrem Principe zu reproduciren.

Der Gesichtspunkt, nach welchem Luther die Kirche, wie sie Gegenstand des Glaubens und demnach der theologischen Erkenntniß ist, in bestimmten Merkmalen als erkennbar, also als erscheinend oder (welchen Ausdruck er zwar nicht direct braucht) sichtbar, und doch wieder als unsichtbar setzt, ist aus seiner frühesten zusammenhängenden Behandlung der Lehre in der Schrift vom Papstthum gegen Aug. Alveld vollkommen ersichtlich. Dieser Gegner Luthers hatte außer anderen Gründen für die Nothwendigkeit des Papstthums behauptet, daß jede Gemeinde auf Erden ein leibliches Haupt haben müsse. Indem er also die christliche Gemeinde jeder andern weltlichen gleichgestellt wissen will, findet es Luther nicht wenig lächerlich, „daß man die Vernunft von zeitlicher Dinge Brauch geschöpfet will anziehen und dem göttlichen Gesetz gleich machen; denn was weltliche Ordnung und Vernunft weiset, ist gar weit unter dem göttlichen Gesetz.” Dieser, wir wollen zunächst sagen, ungläubigen Beurtheilung gegenüber dringt Luther auf einen gläubigen Begriff von der Kirche. Sie ist in diesem Sinne „die Gemeinde oder Versammlung aller deren, die im rechten Glauben, Liebe und Hoffnung leben, also daß der Christenheit Wesen, Leben und Natur sei nicht eine leibliche Versammlung, sondern eine Versammlung der Herzen in Einem Glauben. Also ob sie schon sind leiblich getheilet tausend Meilen, heißen sie doch eine Versammlung im Geist, dieweil ein jeglicher prediget, glaubet, hoffet, liebet und lebet, wie der andere. Das heißet nun eigentlich eine geistliche Einigkeit, — welche allein genug ist zu machen eine Christenheit, ohne welche keine Einigkeit, es sei der Stätte, Zeit, Person, Werk oder was es sein mag, eine Christenheit machet” (XVIII, 1208). „Klar ist, daß die heilige Kirche nicht an Rom gebunden, sondern so weit die Welt ist, in einem Glauben versammelt ist, geistlich und nicht leiblich. Denn was man glaubet, das ist nicht leiblich noch sichtiglich. Die äußerliche römische Kirche sehen wir Alle; darum mag sie nicht sein die rechte Kirche, die geglaubet wird, welche ist eine Gemeine und Sammlung der Heiligen im Glauben; aber niemand siehet, wer heilig oder gläubig sei. Die Zeichen, dabei man äußerlich merken kann, wo dieselbe Kirche in der Welt ist, sind die Taufe, Sacrament und das Evangelium, und nicht Rom, dieser oder der Ort. Denn wo die Taufe und das Evangelium ist, da soll Niemand zweifeln, es seien Heilige da. Rom aber oder päpstliche Gewalt ist nicht ein Zeichen der Christenheit;

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denn dieselbe Gewalt macht keinen Christen, wie die Taufe und das Evangelium thut; darum gehöret sie auch nicht zu der rechten Christenheit und ist eine menschliche Ordnung” (a.a.O. S. 1221. 1222). Außer dieser ursprünglichen und ausschließlich schriftmäßigen Auffassung der Kirche als Gemeinde der Heiligen erkennt Luther an, daß allerdings der Brauch überhand genommen habe, auch das System der durch besondere Cultusverrichtungen und Jurisdiction ausgezeichneten hierarchischen Personen Kirche zu nenne, jedoch „nicht zu kleiner Verführung und Irrthum vieler Seelen”, und ohne daß ein Buchstabe in der Schrift bezeuge, daß sie von Gott geordnet sei. Diese zwei Kirchen will er nun mit unterschiedlichen Namen nennen. „Die erste, die natürlich, gründlich, wesentlich und wahrhaftig ist, wollen wir heißen eine geistliche, innerliche Christenheit. Die andere, die gemacht und äußerlich ist, wollen wir heißen eine leibliche, äußerliche Christenheit; nicht daß wir sie von einander scheiden wollen, sondern zugleich, als wenn ich von einem Menschen rede und ihn nach der Seele einen geistlichen, nach dem Leibe einen leiblichen Menschen nenne” (a.a.O. S. 1215).

In diesen Sätzen sind alle diejenigen Beziehungen ausgesprochen, auf die es ankommt. Man würde aber Luthers Meinung sehr falsch verstehen, wenn man seinen Unterschied von innerlicher und äußerlicher Christenheit in den Unterschied zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche umzusetzen sich erlaubte und Luthers Ansicht auf die von Zwingli reduciren wollte. Denn nicht bloß der „äußerlichen Christenheit” kommt das Prädicat der Sichtbarkeit zu, sondern auch der von Luther so genannten geistlichen und innerlichen. Diese Gemeinde der Heiligen, das Object des Glaubens und der theologischen Erkenntniß, hat an ihren Kennzeichen eine wesentliche und nothwendige Erscheinung. Denn das Evangelium und die Sacramente, an welchen man das Dasein der im theologisch-dogmatischen Sinne allein so zu nennenden Kirche wahrnimmt, sind die geordneten Organe der heiligenden Wirksamkeit Gottes auf die Menschen und die Mittel des Verkehres unter den geheiligten Personen selbst. Sie verbinden nicht nur den einzelnen Gläubigen mit Christus und Gott, sondern auch, „dieweil ein jeglicher prediget wie der andere”, die Gläubigen unter einander; und daher begründen diese Factoren die Gemeinschaft der Gläubigen ebenso, wie sie dieselbe zur Erscheinung bringen. Also nach Maßgabe dieser Merkmale der Kirche, die wir im Unterschiede von anderen als die dogmatischen zu bezeichnen haben, ist die Kirche, wie sie Gegenstand des Glaubens und der im engsten Sinne theologischen Erkenntniß ist, an sich sichtbar, nämlich für den Glauben und die im Glauben wurzelnde Erkenntniß. Die Kirche im

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theologisch-dogmatischen Sinne ist also nicht an sich unsichtbar, und wenn Luther dies behauptete, so würde er einen Widerspruch begehen. Aber er spricht die Unsichtbarkeit der von ihm theologisch gedachten Kirche auch nur in zwei besonderen Beziehungen aus.

Zunächst, wenn Luther seinem Gegner entgegensetzt, daß die Kirche als Gegenstand des Glaubens nicht eine leibliche, also im gewöhnlichsten Sinne sichtbare Versammlung sei, so schließt er damit den Gedanken Alvelds aus, daß die Kirche nach den wesentlichen Merkmalen weltlicher Gemeinschaften zu beurtheilen, daß ihr Bestand und Wesen für den gewöhnlichen ungläubigen Verstand erkennbar sei. Die politische Entwickelung der Kirche bis auf die Reformation hin, welche das religiöse Leben immer strenger an die Kirchenordnung gebunden hatte, welche die christlichsten Bewegungen nicht gelten ließ, wenn sie sich nicht dem Bestande der ceremoniellen und hierarchischen Gesetzgebung unterordneten, hatte nur einen politisch-juristischen Begriff von der Kirche hervorgebracht. Demgemäß wurde von den Gegnern Luthers die Auctorität des Papstes als das wesentliche Merkmal der Kirche, und die Unterwerfung unter jene als die Bedingung der Zugehörigkeit zur Kirche aufgestellt. Jenes Merkmal aber und die übrigen damit zusammenhängenden Merkmale der politischen Ordnung der Kirche sind nun der Art, daß es gar keiner religiösen Bestimmtheit, gar keines Glaubens bedarf, um die Kirche in ihnen wahrzunehmen. Ferner der politische Gehorsam gegen die Hierarchie und die daran geknüpfte volle Mitgliedschaft der Kirche kann ohne alle Sinnesänderung und religiöse Gesinnung stattfinden. Wenn also Luther diesem politisch-juristischen Maßstabe gegenüber geltend machte, daß die Kirche Gegenstand des Glaubens und deßhalb nicht sichtbar sei, so ergibt sich, daß er die Unsichtbarkeit der Kirche nicht an sich und absolut, sondern relativ und nur im Vergleich mit einem unangemessenen Standpunkt behauptete, daß er also damit keine dogmatische, sondern eine apologetische und polemische Aussage that. Für den Glauben und im theologisch-dogmatischen Sinne ist die Gemeinschaft der Heiligen an sich erscheinend durch Evangelium und Sacramente. Dagegen, wenn man, wie nach der römisch-katholischen Ansicht, die Kirche nur nach politisch-juristischen Merkmalen messen will, so bleibt das wahre Wesen der Kirche und der Werth ihrer wirklichen Merkmale verborgen. Denn, wie Luther sagt, weltliche Vernunft ist gar weit unter dem göttlichen Gesetzte, oder, wie wir es formuliren müssen, politisch-juristische Begriffe sind für einen Gegenstand des Glaubens unzureichend, und zu dessen wissenschaftlicher Gestaltung sind nur theologische Begriffe anwendbar.

Außerdem tritt in der Schrift Luthers, die uns beschäftigt, noch ein

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Gesichtspunkt auf, unter welchem die Gemeinde der Heiligen, trotz ihrer nothwendigen Erscheinung für den Glauben, als unsichtbar bezeichnet wird. „Niemand siehet, wer heilig oder gläubig sei” (a.a.O. S. 1222). Dieser Ausspruch hat zunächst ebenfalls sein Maaß an den Abstraction von der gemeinen empirischen Ansicht von der Kirche, die man durch die Bildung der gläubigen Vorstellung und des dogmatischen Begriffs von derselben hinter sich läßt. In der Gemeinschaft, welche nach Maßgabe ihrer socialen und politischen Merkmale, nach Geltung des Bekenntnisses, nach Herrschaft einer bestimmten Cultussitte, in Hinsicht einer gesetzmäßigen Verfassung der Wahrnehmung eines Jeden sich als die Kirche darstellt, unterscheidet das sittliche Urtheil leicht Solche, welche mit der religiösen Gesinnung Ernst zu machen; und Solche, welche entweder ganz gleichgültig gegen dieselbe zu sein oder sie zu erheucheln scheinen. Die gläubige Vorstellung und die dogmatische Erkenntniß von der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen müssen aber von solchen Personen abstrahiren, welche, wenn auch dem politischen Verbande der Kirche angehörig, doch als offene oder versteckte Ungläubige anzusehen sind. „Viele sind unter den Christen in der leiblichen Versammlung und Einigkeit, die doch mit Sünden sich aus der innerlichen geistlichen Einigkeit ausschließen” (a.a.O. S. 1210). An dieser zur Vollziehung des Begriffs von der Gemeinde der Heiligen nothwendigen Abstraction ist zu erkennen, daß der Umfang des dogmatischen und des politisch-juristischen Begriffs von der Kirche sich eben so wenig decken, wie ihre Merkmale. Aber dies ist nicht so zu verstehen, daß der dogmatische Gedanke zwei dem Umfange und den Merkmalen nach verschiedene Kirchen setzt, wie es von Zwingli geschehen ist. Denn der politische Begriff von der Kirche ist eben kein dogmatisch-theologischer. Nun ist es aber ferner nicht möglich, mit Beziehung auf die einzelnen dem politischen Verbande der Kirche angehörigen Personen zu entscheiden, wer in den Umfang der Gemeinde der Heiligen einzurechnen ist, und danach ist auch das Streben unberechtigt, in donatistischer Weise den politischen Verband der Kirche in der Wirklichkeit auf den Bestand der dogmatisch gedachten Gemeinde der Heiligen zu reduciren. Denn wenn der Einzelne nach einem empirisch-gesetzlichen Maße auf seine Heiligkeit angesehen werden sollte, so würde das Vorhandensein einer Gemeinde der Heiligen überhaupt in Frage zu stellen sein. Nur für den Glauben und nach Maaßgabe der Bedeckung der an den Gläubigen haftenden Unvollkommenheit durch die Gerechtigkeit Christi ist eine Gemeinde der Heiligen in den bestimmten Merkmalen vorhanden; für einen so übergläubigen oder falschgläubigen donatistischen Maaßstab aber ist sie unerkennbar oder gar nicht vorhanden. „Ich glaube eine heilige

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christliche Kirche, ist nichts Anderes, als sagten wir: Wir glauben, daß in der Kirche gar keine Sünde noch Tod sei. Denn die, so an Christum glauben, sind nicht Sünder noch des Todes schuldig, sondern sind schlechts heilig, gerecht, Herren über die Sünde und Tod, die da in Ewigkeit werden leben. Aber solches siehet und erkennet allein der Glaube. Wo du aber deine Vernunft allhier Raths fragen und nach deinen Augen richten willst, wirst du gar viel anders reden. Denn du siehest auch an den Gottseligen noch viel und mancherlei, das dich ärgert, nämlich, daß sie bisweilen fallen, sündigen, schwach werden im Glauben, zornig, und mit andern bösen Lüsten beladen sind. Darum, höre ich wohl, ist die Kirche nicht heilig? Nicht also, das folget nicht daraus. Wo ich meine eigene oder meines Nächsten Person anschauen will, so ist’s wohl wahr, daß sie nimmermehr wird heilig sein; wo ich aber Christum ansehe, welcher die Kirche mit seinem theuern Blut Gott dem Vater versöhnet und sie von Sünden gereinigt hat, so ist sie allerdings ganz und gar heilig” (Ausführl. Erklärung des Galaterbriefes, VIII, 2185). Der logische Fehler des hierin zurückgewiesenen Maaßstabes liegt aber darin, daß das Ganze als Summe der Glieder, die Heiligkeit der Kirche nur als Resultat einer vorgeblichen Heiligkeit der einzelnen Kirchengenossen gedacht werden soll. aber wie in der Wirklichkeit das Ganze immer Grund des Einzelnen ist, so genügt Luther dem Gedanken der Heiligkeit der Kirche und der an sie gebundenen Heiligkeit ihrer Glieder, indem er in den wesentlichen Merkmalen der Kirche den Grund ihrer Heiligkeit und damit der Heiligkeit ihrer Genossen nachweist. Wenn also das Prädicat der Unsichtbarkeit mit der Qualität der Kirche als Gegenstand des Glaubens im Gegensatz gegen die donatistische Tendenz verbunden ist, so erscheint dasselbe auch in dieser Beziehung nur als apologetische Aussage über die dem dogmatischen Begriffe nach an sich sichtbare Kirche 1).

Der dogmatische Begriff Luthers von der Kirche als der in Evangelium und Sacramenten für den Glauben erkennbaren Gemeinde der Heiligen schließt also sowohl die katholische Ansicht aus, welche den


1) Noch in einer Beziehung sprechen Luther und Melanchthon von der Verborgenheit und relativen Unsichtbarkeit der Kirche, nämlich sofern sie nicht in äußere Herrlichkeit auftritt, sondern mit Verachtung, Schmach und Leiden bedeckt ist (vgl. die Beläge bei Heppe, Dogmatik des deutschen Protestantismus, 3. Th. S. 295). Diese Betrachtung, welche dem katholischen Postulate der äußern felicitas der Kirche entgegengesetzt ist, ist also auch nur apologetischer Natur, sie greift aber nicht wesentlich in den Verlauf des theologischen Begriffs von der Kirche ein, weil auch die katholische Ansicht, der sie widerspricht, nicht von hervorragender theologischer Wichtigkeit ist.

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Begriff von der Kirche nach den politischen Merkmalen derselben bestimmt, als auch die donatistische Ansicht, welche die Heiligkeit der Kirche als Resultat der empirisch-gesetzlichen Sündlosigkeit der Einzelnen fassen will. Um den von Luther aufgestellten Begriff von der Kirche zu vollziehen, muß man von den zum politischen Verbande der Kirche ebenfalls gehörigen falschen Christen und von der den wirklichen Gläubigen noch anhaftenden Sündhaftigkeit abstrahiren, aber zugleich sich dessen enthalten, den Begriff von der Gesammtheit auf eine empirische Beurtheilung der Einzelnen zu begründen. Diese doppelte Antithese des evangelischen Begriffs von der Kirche bedingt gleichmäßig das apologetisch-polemische Prädicat der Unsichtbarkeit derselben. Aber Luther setzt seinen Begriff von der Kirche doch noch in ein positives Verhältniß zu den Merkmalen, unter welchen sie von katholischer Seite aufgefaßt wird, und dies geschieht so, daß dadurch der Widerspruch gegen die donatistische Tendenz erweitert und verschärft wird. Wir haben aus der Schrift vom Papstthum gegen Alveld die Aeußerung angeführt (XVIII, 1215), daß die geistliche, innerliche Christenheit, d.h. die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen nach ihren dogmatischen Merkmalen, und die leibliche, äußerliche Christenheit, d.h. die Kirche als politische Gemeinschaft, nicht von einander geschieden werden sollen, sondern daß sie sich wie Seele und Leib zu einander verhalten. Es ist für die Bedeutung dieses Gedankens gleichgültig, daß Luther im Jahre 1520 noch die politischen Formen des Katholicismus für die „äußerliche Christenheit” gelten ließ, da die von ihm festgehaltene Nothwendigkeit des geistlichen Amtes im richtigen Sinne nichts Anderes ist, als die Anerkennung politischer Formen für die christliche Kirche. Obgleich natürlich die Kirche, sofern sie in politischen Formen existirt, nicht Gegenstand des Glaubens ist, so ist die Anerkennung der Nothwendigkeit politischer Formen der Kirche durch Luther und die Reformatoren überhaupt als ein sittliches Bedürfnis und als ein unumgängliches Mittel für den Bestand der Gemeinde der Heiligen zu verstehen. Wir werden noch darauf zurückkommen, wie weit die Theorie der Reformatoren in dieser Hinsicht entwickelt worden ist. Aber vor der Hand ist darauf hinzuweisen, wie sehr das Interesse Luthers an der Festhaltung und Neubildung politischer Merkmale für den Bestand der Kirche dazu gedient hat, seine Reformation und seinen Begriff von der Kirche gegen die donatistischen Tendenzen der Wiedertäufer zu sichern. In jenem ethisch politischen Sinne meint er die Kirche, indem er in den „Anmerkungen über den Evangelisten Matthäus” (1538) sich so ausspricht: „Wenn wir kein Unkraut leiden wollten, so würde auch keine Kirche sein. Denn weil die Kirche ohne Unkraut nicht sein kann, so würde, wenn

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man das Unkraut ausraufen wollte, es eben so viel sein, als wenn man die Kirche ausrotten wollte. — Und die Schwärmer, die kein Unkraut unter sich haben wollen, richten so viel damit aus, daß kein Weizen bei ihnen ist; das ist, indem sie pur lauterer Weizen und eine reine Kirche sein wollen, so machen sie mit ihrer allzu großen Heiligkeit, daß sie gar keine Kirche, sondern eine pur lautere Secte des Teufels sind. Denn die Hoffärtigen und die von eitler Einbildung der Heiligkeit aufgeblasen sind, sind nichts weniger als die Kirche, als die von sich bekennet, daß sie eine Sünderin sei, und die das untergemischte Unkraut, das ist die Ketzer, Sünder, Gottlosen, duldet” (VII, 304). Luther bekennt sich zu dem, was er hier als Kirche bezeichnet, keineswegs im katholischen Sinne, da die Kirche, sofern sie das Unkraut umfaßt, nicht Gegenstand des Glaubens für ihn ist; allein er erklärt doch in Uebereinstimmung mit den von jeher geltenden kirchlichen Grundsätzen die Kirche als politische Gemeinschaft für einen Gegenstand praktischen Interesses und sittlicher Verpflichtung. Durch diesen sittlichen Gesichtspunkt vollendet er seine Antithese gegen die donatistisch gesinnten Wiedertäufer. Mit diesen hat er ja den Grundsatz gemein, daß die Kirche, wie sie Gegenstand des Glaubens ist, als Gemeinschaft nur von Heiligen, und nicht von Heiligen und Unheiligen zu denken sei. Aber sie waren im Widerspruch darüber, unter welchen Bedingungen die Gemeinschaft der Heiligen wirklich existire. Luther begründet dieselbe principiell, indem er als genügende Merkmale die in göttlicher Kraft wirkenden Factoren Wort Gottes und Sacramente aufstellt; die Wiedertäufer dagegen knüpften die Heiligkeit der Kirche an die empirische Constatirung der einzelnen Heiligen, deren Summe die Kirche sein soll. Indem nun Luther hiegegen einwandte, daß die Gemeinschaft der Heiligen als Gegenstand des Glaubens nicht empirisch nachgewiesen werden dürfe, also für ein donatistisch bewaffnetes Auge unsichtbar sei, hielt er sich auf der Linie der Vertheidigung seines Begriffs. In der angeführten Erklärung aber begibt er sich zum Angriff und zur positiven Widerlegung der entgegengesetzten Tendenz. Diese Widerlegung aber stützt sich auf die sittliche Nothwendigkeit der politischen Gemeinschaft der Kirche in ihrem Unterschiede von dem durch die dogmatischen Merkmale derselben umschriebenen Begriff. Er weist von hier aus nach, daß nur durch die Erhaltung der Kirche als politischer Gemeinschaft dieselbe auch als Gegenstand des Glaubens festgehalten werden könne, während hingegen das Bestreben der Wiedertäufer, die Gemeinschaft der Heiligen durch Aufhebung der politischen Bedingungen der Kirche unmittelbar empirisch zu verwirklichen, die Wirklichkeit der Kirche auch in ihrem höchsten dogmatischen Sinne vernichte.

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Dieselbe Tendenz, in welcher Luther die Kirche als Gegenstand des Glaubens der katholischen Definition derselben nach politischen Merkmalen entgegensetzte, leitet auch die Darstellungen des Gegenstandes durch Melanchthon in der Apologie der augsburgischen Confession (Libri symb. eccl. evang. ed. Hase, p. 144-151) und in der zweiten Ausarbeitung der Loci theologici, von 1535-1543 (Corp. Reformatorum, XXI. p. 505 seqq.). Indem Melanchthon den richtigen Begriff von der Kirche aufzustellen unternimmt, muthet er uns zu, gerade wie Luther, die wesentliche Gleichstellung der Kirche mit politischen Gemeinschaften aufzugeben. Ecclesia non est tantum societas externarum rerum ac rituum, sicut aliae politiae, sed principaliter est societas fidei et spiritus sancti in cordibus, quae tamen habet externas notas, ut agnosci possit, videlicet puram evangelii doctrinam et administrationem sacramentorum consentaneam evangelio Christi (Apol. p. 144). Für die in diesem Satze gegebene positive Definition von Kirche stützt sich Melanchthon wie Luther auf die Aussage des Symbolums, daß die Eine allgemeine Kirche die Gemeinschaft der Heiligen sei. In dieser Qualität ist die Kirche nicht ein erträumtes Ideal, wie die Republik Platons, sondern existirt wirklich, und zwar durch die göttliche Kraft der Factoren, Evangelium und Sacramente, an denen ihr Dasein zugleich äußerlich erkennbar ist. Ihr Bestand ist nicht an bestimmte Orte, an ein bestimmtes Volk und übereinstimmende äußere Ceremonien gebunden, sondern sie ist allgemein, sofern sie die durch die ganze Welt zerstreuten, aber durch das gleiche Verhältniß zu Christus verbundenen Gläubigen und Heiligen umfaßt. Die Kirche in diesem Sinne irrt nicht, sondern ist Säule der Wahrheit, weil sie nach innerer Nothwendigkeit das Verhältniß zu Christus, dem Grunde des Heiles, festhält. Wenn hingegen die Kirche principiell nach politischen Merkmalen aufgefaßt werden sollte, so könnte sie nicht als Gemeinschaft der Heiligen gedacht werden, denn unter diesem Gesichtspunkt umfaßt die Kirche außer den Heiligen auch die Bösen und die Heuchler, wie die Gemeinde des alten Bundes. Aber diese ist nicht das Muster der Kirche Christi, sondern nur ihr schattenhaftes Vorbild. Die Bösen sind nicht als Glieder der Kirche zu denken, wenn dieselbe principaliter, d.h. dogmatisch als Gegenstand des Glaubens definiert werden soll, sondern sie sind Glieder des Teufels. Als solche haben sie zu den eigentliche constitutiven Merkmalen der Kirche nur ein äußerliches Verhältniß. Da aber die Kirche im eigentlichen Sinne, ecclesia proprie dicta (Apol. p. 150. Corp. Ref. XXI. p. 506), keine Gemeinschaft äußerlicher Verhältnisse, d.h. keine Rechtsgemeinschaft ist, so können sie in den dogmatischen Gedanken von der Kirche nicht

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eingeschlossen werden. Sofern sie nach dem gewöhnlichen Gebrauch zur Kirche gerechnet werden, ist diese nur large dicta (Apol. p. 146), aber als solche nicht als Gegenstand des Glaubens und der theologisch-dogmatischen Erkenntniß bestimmt.

Auf diesem Punkt nun ist Melanchthon einigermaßen ins Schwanken gerathen, weil er schon in der Apologie nicht den vollkommenen Ausdruck des Unterschieds der dogmatischen und der politischen Merkmale, der dogmatischen und der politischen Auffassung der Kirche aufgestellt hatte. Aber das innere Maß des Gedankens ist in der Apologie richtig und für unser Verständnis klar. Indem er sagt, daß die Kirche nicht allein Gemeinschaft äußerlicher, d.h. rechtlicher Verhältnisse sei, gibt er zu, daß sie außer ihrem Charakter als Gemeinschaft des Glaubens auch als Rechtsgemeinschaft existire und anzuerkennen sei. Er hat freilich die Nothwendigkeit dieser Qualität der Kirche nicht aus ihrer eigentlichen Natur abgeleitet, aber dem donatistischen Streben der Wiedertäufer gegenüber behauptet er wie Luther die sittliche Nothwendigkeit der durch den Unterschied des geistlichen Amts bezeichneten politischen Existenz der Kirche (Corp. Ref. XXI. p. 509). Indem er nun in der Apologie die unter den dogmatischen Merkmalen aufgefaßte Kirche der Auffassung derselben unter den politischen Merkmalen als ecclesia proprie dicta — large dicta entgegensetzte, wahrte er den Gedanken der wirklichen Einheit im Vergleich mit der doppelten Art ihrer Betrachtung und den verschiedenen Sphären ihrer Merkmale. In den Loci von 1535 hingegen drückt er den eben bezeichneten relativen Gegensatz in dem objectiven Unterschied von duo corpora ecclesiae aus, so daß er die Rechtsgemeinschaft zu der auch die Heuchler gehören, als ecclesia hypocritica, die Glaubensgemeinschaft als ecclesia vera bezeichnet (a.a.O. S. 507). Der Ausdruck erinnert an Luthers Unterscheidung der innerlichen und der äußerlichen Christenheit, ist aber zuverlässig nur Beweis eines gewissen Ungeschickes in der Terminologie, nicht aber einer eigentlich verkehrten Gedankenbildung.

Melanchthon stimmt also nach den besprochenen Documenten in den wesentlichen positiven Punkten der Lehre von der Kirche mit Luther überein. Beiden gilt die Kirche, sofern sie Gegenstand des Glaubens ist, als die Gemeinschaft der Heiligen, welche durch die göttliche Kraft des Evangeliums und der Sacramente fortdauernd hervorgebracht und zugleich an diesen Factoren als sichtbaren Merkmalen durch den Glauben erkannt wird. Die Kirche hat aber auch politische Merkmale, namentlich an der Ordnung des Gegensatzes von ministri und Gemeinde, und hierin eine dem Staate vergleichbare Existenz als Rechtsgemeinschaft; und nach Maßgabe der Geltung von Evangelium und Sacramenten als Rechtsbasis

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nehmen an der Kirche auch Teufelskinder Antheil. Sofern aber die Kirche in der letztern Qualität aufzufassen ist, hat sie zwar sittliche Nothwendigkeit für den Gläubigen, ist aber nicht Gegenstand des Glaubens und deßhalb auch nicht der theologisch-dogmatischen Erkenntniß. In der Darstellung der Sache durch die beiden Reformatoren begegnet uns aber ein Unterschied formeller Art. Luther prädicirt von der ecclesia proprie dicta direct die Unsichtbarkeit, Melanchthon indirect nur die Sichtbarkeit. Das bedeutet aber keinen Widerspruch zwischen beiden, sondern nur dies, daß Luther den evangelisch-theologischen Begriff von der Kirche als Apologet und Polemiker, Melanchthon denselben trotz des polemischen Anlasses nur als Dogmatiker darstellt. Im dogmatischen Gedanken, der nothwendig aus der gläubigen Anschauung zu entwickeln ist, kann nur die Sichtbarkeit der durch Evangelium und Sacramente begründeten Gemeinde der Heiligen aufgefaßt werden. Dagegen in der doppelten Apologie Luthers für den richtigen theologischen Begriff von der Kirche gegen den ungläubigen und gegen den falschgläubigen Standpunkt mußte die Unsichtbarkeit oder Unerkennbarkeit der an sich sichtbaren Gemeinschaft der Heiligen behauptet werden.

Eine ganz verschiedene Darstellung des Begriffs von der Kirche begegnet uns nun aber in der letzten Gestalt der Loci Melanchthons von 1543 (Corp. Ref. XXI. p. 825 seqq. cf. Enarratio epistolae Pauli ad Rom. 1556. Corp. Ref. XV. p. 975). Hier ist zu den Merkmalen der Kirche außer dem Evangelium und den Sacramenten auch das ministerium evangelii gerechnet. Hier ist die Grunddefinition der Kirche als communio sanctorum verlassen und der Bestand der Kirche bezeichnet als Gemeinschaft der vocati, welche sich zu dem unverfälschten Evangelium bekennen (amplectentes evangelium Christi sine corruptelis), unter denen aber viele nicht Wiedergeborene oder nicht Heilige sind, welche jedoch in der reinen Lehre mit den Erwählten übereinstimmen. Es wird auf das schärfste betont, daß die Kirche in diesem Sinne sichtbar sei, und der katholische Einwand wird abgelehnt, daß die Kirche, weil sie nicht an die bischöfliche Succession gebunden sei, dadurch unsichtbar und unfindbar werde. Es wird vielmehr Allen zur Pflicht gemacht, sich der durch jene Merkmale bezeichneten wahren, d.h. der evangelischen Kirche anzuschließen, in welcher freilich mancher Mangel an Sitte und Zucht wahrzunehmen sei, in welcher aber articuli fidei recte docentur et non defenduntur idola. Wie soll nun diese Darstellung mit der Lehre der Apologie gereimt werden? Kann der directe Widerspruch übersehen werden, daß nach den früheren Bestimmungen in den Gedanken von der Kirche nur die Heiligen eingeschlossen werden sollen, und jetzt auch multi non renati,

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sed de vera doctrina consentientes — habentes delicta contra conscientiam? Fallen diese nicht unter den Begriff der hypocritae, welche die Apologie aus der ecclesia proprie dicta ausschließt? Ist nicht ferner die Gleichstellung des ministerium verbi, das wir auch im richtigen evangelischen Sinne bisher als ein politisches Merkmal der Kirche betrachten mußten, mit Evangelium und Sacramenten, ein Schritt zu der katholischen Vermischung der politischen und dogmatischen Merkmale der Kirche, gegen welche die Apologie sich richtet? In dieser Beziehung war freilich Luther gewissermaßen vorangegangen. In der Schrift „von Conciliis und Kirchen” (1539) zählt er sieben Merkmale der Kirche auf (Walch XVI, 2785 ff.). Es sind das Wort Gottes, die Taufe, das richtig verwaltete Abendmahl, der Gebrauch der Schlüssel, die Berufung der Kirchendiener, das Gebet, das Erdulden des Kreuzes. Aber Luther hebt doch das Wort Gottes, welches seinem Begriffe nach auch die Sacramente und die Absolution umfaßt, so sehr als das Hauptstück und Hauptheiligthum hervor, daß er sich von den ursprünglichen Grundsätzen durchaus nicht entfernt. Melanchthon hingegen, indem er den Abstand des Werthes des kirchlichen Amtes von dem Worte Gottes und den Sacramenten nicht hervorhebt, scheint in einem bedenklichen Rückschritte zum katholischen Standpunkte hin begriffen zu sein. Herr Münchmeyer nennt dies eine Umbiegung des Kirchenbegriffs nach der Seite des Realismus hin (S. 55.) und verräth dadurch nicht gerade viel Geschick, Melanchthons spätere Ansicht im Verhältniß zu der ursprünglichen richtig zu beurtheilen. Denn allerdings ist Luthers und Melanchthons ursprüngliche Lehre von der Kirche, Gott sei Dank, idealistisch, aber eben so realistisch, denn der Glaube, auf dessen Anschauung allein dogmatische Wahrheiten zurückzuführen sind, erkennt an der Verkündigung des göttlichen Gnadenwortes und der Verwaltung der Sacramente das nicht erträumte, sondern wirkliche Bestehen von Gemeinschaft der Heiligen. Um den falschen Spiritualismus auszuschließen, bedarf es keines andern dogmatischen Begriffs von der Kirche als jenes bezeichneten. Ferner haben Luther und Melanchthon von Anfang an die Nothwendigkeit des kirchlichen Amtes ausgesprochen, und wenn dies realistisch ist, so brauchte Melanchthon nicht erst später in den Realismus einzulenken. Wenn aber Melanchthon dies politische Merkmal der Kirche den einzig berechtigten dogmatischen Merkmalen gleichgestellt hat, so muß er die Kirche unter einen andern Gesichtspunkt gestellt haben, als den dogmatischen.

Und so ist es auch. Der die früheren Darstellungen leitende Gedanke, daß die Kirche Gegenstand des Glaubens sei und als solcher definirt werden müsse, ist in den Loci von 1543 weggefallen, und anstatt

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dessen wird die Kirche als Gegenstand empirisch-praktischen, d.h. sittlichen Verhaltens dargestellt, indem die errones, qui vagantur et ad nullam se ecclesiam adiungunt, aufgefordert werden, sich der am richtigsten constituirten, der evangelischen Particularkirche anzuschließen. Hierin erscheint ein Umschwung des Interesses bei der Darstellung der Lehre von der Kirche, aber wenn wir die Beziehungen dieser spätern von denen der frühern Lehre zu unterscheiden gelernt haben, so verschwindet für uns der Schein des Widerspruchs zwischen den Aussprüchen Melanchthons. Aber Melanchthon selbst wird sich dieses Verhältnisses seiner verschiedenen Deductionen des Begriffs der Kirche kaum bewußt gewesen sein. Wir wollen aber die Gründe dieser wahrscheinlichen Thatsache erst später nachzuweisen unternehmen. Vor der Hand ist nur festzuhalten, daß der dogmatische Begriff Melanchthons von der Kirche nur nach den früheren Darstellungen zu beurtheilen ist.

Und nach Maaßgabe derselben erscheint es gar nicht so auffallend, daß Melanchthon in der letzten Gestalt der Loci mit der Betonung der Sichtbarkeit der Kirche einen sehr starken Protest gegen den Gedanken der unsichtbaren Kirche erhebt. Nec aliam fingamus ecclesiam invisibilem et mutam hominum in hac vita tamen viventium, sed oculi et mens coetum vocatorum, i.e. profitentium evangelium dei intueantur (Corp. Ref. XXI. p. 825). Mit diesen Worten, in welchen Melanchthon übrigens keiner seiner früheren dogmatischen Aufstellungen widerspricht, ist der apologetisch-polemische Gebrauch des Ausdrucks bei Luther unmöglich gemeint, sondern eine dogmatische Ansicht, der die Kirche als ein Verein ohne Merkmale, ohne Mittel des Verkehres ihrer Glieder unter einander und ohne Mittel der Fortpflanzung gilt. Eine solche Ansicht setzt wohl Melanchthon bei jenen Vaganten voraus, die, unter den religiösen Kämpfen jener Zeit an allen positiven Kirchengestalten irre geworden und gegen alle gleichgültig, ihr persönliches Christenthum doch zu einem Gedanken von der Kirche in Beziehung setzten mußten. Es ist höchst wahrscheinlich, daß Melanchthon hiemit Sebastian Frank und Caspar Schwenkfeld im Sinne hat. Denn ein von ihm verfaßtes und von Anderen unterzeichnetes Warnungsschreiben gegen beide Männer vom Jahre 1540 (Corp. Ref. III. p. 983) rechtfertigt die Nothwendigkeit des evangelischen Predigtamtes und des Anschlusses an die evangelische Kirche, als Christi einzige Braut, in ähnlichen Wendungen, wie sie in den Loci von 1543 und der Enarratio zum Römerbrief von 1556 vorkommen. Allein wir können nicht umhin zu vermuthen, daß jener Ausfall auf den Begriff der unsichtbaren Kirche auch Zwingli gilt. Denn nur bei Zwingli finden wir die unumwundene Auffassung jener ecclesia invisibilis et

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muta, der aller erkennbaren Merkmale entbehrenden Gesammtheit der Erwählten. Ueberdies polemisirt Melanchthon im Zusammenhang mit jenem Urtheil dagegen, daß Männer wie Aristides, Sokrates, Plato und Aehnliche Glieder der Kirche gewesen sein sollen, es ist aber hiemit auch nur auf Zwingli abgesehen (Expositio christ. fidei ap. Niemeyer, Collect. Conf. p. 61). Wir müssen dieser Verurtheilung des dogmatischen Gedankens der ecclesia invisibilis durch Melanchthon, welche mit seinem und Luthers Begriff von den wesentlichen Merkmalen der Kirche in vollem Einklang steht, ein sehr bedeutendes Gewicht zur Orientirung über die uns beschäftigende Lehre beilegen. Vorläufig wollen wir nur die Folgerung daraus ziehen, daß ein Lutheraner den Sinn der Symbole seiner Kirche und deren ursprüngliche Lehrtradition völlig verkennt, wenn er sich ein „Dogma” von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche vorspiegelt; denn diese Auffassung kann sich vielmehr nur an Zwingli und, wie wir sehen werden, an Calvin anlehnen.

Denn in verschiedener Weise haben Zwingli und Luther die von Hus begonnene Entwickelung der Lehre von der Kirche verfolgt. Zwingli ist in die Definition der Kirche als der Gesammtheit der Prädestinirten eingetreten, er ist aber hinter der Genauigkeit dieser Begriffsbestimmung bei Hus zurückgeblieben, indem er unentschieden läßt, ob er die Kirche in jenem Sinne bloß als göttliche Idee oder als irgendwie wahrnehmbare Wirklichkeit denkt. Luther dagegen, der den Hintergrund der Prädestinationslehre für den Begriff von der Kirche aufgibt, hat die von Hus vorgezeichnete Dialektik des theologischen Begriffs von der Kirche vollendet. Diese Vollendung aber finden wir darin, daß er die dem Glauben sichtbare Gemeinde der Heiligen an den objectiven Merkmalen, Evangelium und Sacramenten, erkennen lehrt, anstatt der subjectiven und deßhalb doch immer relativen Thätigkeiten der Kirchengenossen, Glaube und Liebe.

Wir haben dessen kein Hehl, daß wir in Hinsicht unseres Themas für die Auffassung Luthers und die frühere Darstellung Melanchthons gegen Zwingli Partei nehmen, und wir glauben ferner die Bedeutung der spätern Lehre Melanchthons richtig zu verstehen und nach diesem Verständnis vertreten zu können. Wenn nun aber weiterhin gezeigt werden wird, wo sich die gangbare, auch von Münchmeyer vorausgesetzte, aber von Luthers Meinung so abweichende Deutung des Lehrpunktes in die lutherische Dogmatik eingeschlichen hat, so finden wir bei dem nächsten  Theologen, zu welchem sich unsere Untersuchung wendet, bei Calvin, eine entschiedene Tendenz auf den Sinn der Distinction, wie er gewöhnlich gefaßt wird. Die Darstellung der Lehre von der Kirche in der Institutio

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christianae religionis ist freilich der Form und der Stellung nach in der Ausgabe von 1559 eine andere, als in der ersten von 1536; aber der Typus ist in beiden Gestalten derselbe, nämlich eine Zusammensetzung des dogmatischen Begriffs Zwinglis von der unsichtbaren Kirche und des spätern ethischen Begriffs Melanchthons von der sichtbaren Kirche, die jedoch ausläuft in den dogmatischen Begriff Luthers und Melanchthons von der sichtbaren Kirche. Wir meinen nicht, daß Calvin jene ethische Betrachtung von Melanchthon entlehnt hat, bei dem wir sie erst im Jahre 1540 nachgewiesen haben, vielmehr könnte wohl umgekehrt Melanchthon seine Richtung auf den ethischen Begriff der Kirche von Calvin empfangen haben. Aber Melanchthon ist leicht zu verstehen, indem er mit seinem Begriff von der sichtbaren Kirche die zwinglische Fassung der unsichtbaren Kirche ausschließt; Calvin’s Darstellung, indem sie jene drei Elemente zusammenfaßt, bietet dem ersten Anblick ein Hin- und Herwogen verschiedenartiger und nicht widerspruchsloser Gedanken dar, das man nur vermittelst der Unterscheidung der bezeichneten Gesichtspunkte feststellen und richtig beurtheilen kann.

Calvin beginnt seine Darstellung der Lehre von der Kirche (Lib. IV. cap. 1) mit der Nachweisung ihrer sittlichen Nothwendigkeit für die Gläubigen in Betracht der Trägheit ihres Willens und der Schwachheit ihres Geistes, die ihnen, so lange sie leben und das Ziel des Glaubens noch nicht erreicht haben, mütterliche Fürsorge und Leitung zum Bedürfnis macht. In diesem Sinne, also als eine Macht, die dem einzelnen als mangelhaft gedachten Gläubigen gegenübersteht und die Unterwerfung desselben unter ihre Auctorität erheischt, ist die Kirche durch das Amt der Hirten und Lehrer, durch die Sacramente und durch das Wort Gottes bezeichnet, welches wohl unter dem modus, quo ad deum accederemus, zu verstehen ist (§ 1). Diese ausdrücklich mit dem Prädicat der Sichtbarkeit bezeichnete Kirche wird ferner als Gegenstand des im Symbolum ausgesprochenen Glaubens ausgegeben. Aber, heißt es, die Formel des Glaubensbekenntnisses bezieht sich nicht allein auf die sichtbare Kirche, sondern auch auf alle von Gott Erwählten, mit Einschluß der verstorbenen. Deßhalb ist auch das Wort „glauben” gesetzt, weil oft kein Unterschied zwischen den Kindern Gottes und den Unheiligen wahrgenommen werden kann, und weil nur Gott die Seinigen kennt. Demgemäß kommt es darauf an, diese später (§ 7) unsichtbar genannte Kirche so zu glauben, daß man sich selbst in sie einzurechnen berechtigt ist (§ 2), da mit ihr die persönliche Gewißheit der Erwählung, des Verhältnisses zu Christus, des bleibenden Besitzes der Wahrheit und der Erfüllung der Verheißungen verbunden ist. Dagegen kommt es für die

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Angehörigkeit zur Kirche in diesem Sinne nicht darauf an, daß man sie mit Augen sehe und mit Händen betaste; und der Glaube an diese Gemeinde der Erwählten erfordert nicht, daß man ein Urtheil darüber bilde, wer erwählt und wer verworfen ist. Sie ist auch unter dem Prädicate sanctorum communicatio gemeint, sofern die Heiligen nach demjenigen Gesetze in die Gemeinschaft Christi aufgenommen werden, daß sie die von Gott geschenkten Gaben gegenseitig austauschen (§ 3). Demnächst aber wendet sich Calvin wieder zur sichtbaren Kirche, auf die sich ja das Glaubensbekenntniß aliquatenus bezieht (§ 3 zu Anf.), deren mütterliche Leitung er für nothwendig zum Heil erklärt, sofern außer ihrem Schooße keine Sündenvergebung zu hoffen ist (§ 4), und deren Bedeutung er auf den Dienst des göttlichen Wortes so begründet, daß dessen Verachtung zum Verderben gereichen soll (§ 5. 6). Die durch das Amt des göttlichen Wortes und die Ausübung der Sacramente bezeichnete sichtbare Kirche, welche sich in dem gemeinsamen Bekenntniß zu Gott und Christus darstellt, umfaßt aber außer den lebenden Erwählten auch viele Heuchler und Sünder, welche, obgleich sie nur den Titel und äußern Schein von Christen tragen, doch geduldet werden müssen. Und dies ist nicht bloß der Fall, weil sie nicht überwiesen werden können, oder weil die Strenge der Disciplin nicht vorhanden ist (§ 7), sondern auch weil der jeweilige Sünden- oder Gnadenstand nicht immer der göttlichen Prädestination entspricht. Wenn nun also ein Urtheil des Glaubens nicht möglich ist, welche Genossen der sichtbaren Kirche wirklich Gottes Kinder sind, so hat Gott ein Urtheil der Liebe an die Hand gegeben, demgemäß wir pro ecclesiae membris agnoscamus, qui et fidei confessione et vitae exemplo et sacramentorum participatione eundem nobiscum deum ac Christum profitentur (§ 8). Wir können nicht umhin, diesen Satz so zu verstehen, daß er sich auf ein Wahrscheinlichkeitsurtheil über die Glieder der unsichtbaren Kirche, die in den sichtbaren leben, bezieht. Denn im Verfolg der Darstellung (§ 9) unterscheidet Calvin das Privaturtheil über die Würdigkeit der Einzelnen von dem öffentlichen Urtheil der Kirche. Dem letztern gemäß können die Heuchler nicht immer ausgeschlossen werden und müssen auch von den Einzelnen als Brüder behandelt und als Gläubige angesehen werden, aber es wird dabei dem Privaturtheil das Recht vorbehalten, die Unwürdigkeit der falschen Genossen der Kirche sich klar zu machen, also auch umgekehrt sich über die eigentlichen Christen zu entscheiden.

Wir wollen diese bedenkliche Bevollmächtigung des Privaturtheils über den Gnadenstand der Einzelnen, das nach Calvins eigenem Zugeständnisse unsicher genug ist und aus einem Urtheil der Liebe in ein

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Urtheil der Lieblosigkeit umzuschlagen Gefahr läuft, nicht weiter verfolgen. Aber was unser Thema angeht, müssen wir an diesem Punkte constatiren, in welchen Widerspruch sich Calvin durch jenen Ausspruch und andere, die folgen, verwickelt. Zuerst hat er mit Zwingli die Gemeinde der Erwählten als die an sich unsichtbare Kirche construirt, deren Glieder nur Gott kennt, ohne deren Bestand als erkennbar für die Menschen zu bezeichnen. Dagegen in dem zuletzt angeführten Satze stellt er Merkmale auf, an denen das Liebesurtheil sogar die einzelnen Erwählten wenigstens mit Wahrscheinlichkeit erkennen soll. Aber während diese an sich sehr bedenkliche Anweisung durch die Provocation auf das Urtheil der Liebe den Boden der dogmatichen Erkenntniß verläßt, tritt er mit den folgenden Worten durchaus in die Spuren des dogmatischen Gedankens Luthers und Melanchthons von der Kirche. Ubicunque dei verbum sincere praedicari atque audiri, ubi sacramenta ex Christi instituto administrari videmus, illic aliquam esse dei ecclesiam nullo modo ambigendum est (§ 9). Symbole ecclesiae dignoscendae verbi praedicationem sacramentorumque observationem posuimus. Nam haec nusquam esse possunt, quin fructificent et dei benedictione prosperentur (§ 10). Die Unsichtbarkeit komm also der Kirche in ihrem wahren Sinne und Bestande nicht zu; im Vergleich damit ist vielmehr der Gebrauch jenes Prädicats nur Schutz des Glaubensartikels gegen den Standpunkt, auf welchem man die Kirche „mit Augen sehen und mit Händen betasten” will (§ 3). Aber der Widerspruch des zwinglischen und der lutherschen Gedankens bleibt bestehen; Calvin hat nur beide neben einander gestellt, ohne ihren Widerspruch zu bemerken und ohne ihn zu lösen.

Mit einem Widerspruch ist aber auch seine Darstellung der von ihm so genannten sichtbaren Kirche behaftet. Alles, was die sittliche Nothwendigkeit derselben betrifft, demgemäß wir sie observare eiusque communionem colere iubemur (§ 7), ist in Ordnung. Aber daß er die Gemeinschaft von wahren und falschen Christen, quae respectu hominum ecclesiae dicitur (§ 7), zweimal (§ 2. 3) als Gegenstand des Glaubens anerkennt, ist derselbe Fehler, den auch Zwingli begangen hat. Denn dem Glauben gehört nur die ideale Betrachtung der Wirklichkeit. Die gläubige Selbstbetrachtung vollzieht sich in dem Urtheil, daß der Mensch (der sich empirisch als Sünder weiß) durch den Gehorsam Christi gerechtfertigt ist, und demnach hat es die dogmatische Erkenntniß mit dem Gläubigen nur zu thun, sofern derselbe gerechtfertigt und durch den Geist geheiligt ist. Nur der theologisch-ethische Betrachtung unterliegt die Thatsache, daß auch der Gläubige noch mit Sünde behaftet ist,

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und daß seine Heiligkeit im Werden ist. So kommt auch die Kirche als Gegenstand des Glaubens und der dogmatischen Erkenntniß nur in ihrer idealen Wirklichkeit in Betracht, und nur solche Glieder können an ihr gedacht werden, welche durch den Geist geheiligt sind, und nur, sofern sie dies sind. Die theologische Ethik aber betrachtet die Kirche, wie sie sich empirisch als eine Mischung von relativ Heiligen und Unheiligen darbietet, welche gebunden ist durch die auf beide nothwendig bezogene Pädagogik der christlich-sittlichen Gemeinschaft, unter welcher Jeder seine Heiligung zu erstreben hat.

Für den evangelischen Begriff von der Kirche kommt es nämlich auf nichts mehr an, als auf die richtige Unterscheidung und richtige Aufeinanderbeziehung der dogmatichen, der ethischen, der politischen Merkmale der Kirche. Eine Reihe von Fragen, die in dies Gebiet einschlagen und welche weder von der alten theologischen Schule, noch, so viel ich sehe, von den neueren genügend gelöst sind, werden nur auf der bezeichneten Basis ihre Erledigung finden, namentlich die Frage nach der Bedeutung des kirchlichen Amtes. Die Theologie der Reformatoren hat, wie unsere Untersuchung beiläufig ergeben hat, jene dreifachen Attribute der Kirche zu würdigen verstanden, aber die Aufmerksamkeit auf die einzelnen derselben ist nicht die gleiche gewesen, und deßhalb ist das Verhältniß der Attribute unter einander nicht in volles Licht getreten. Während in der katholischen Auffassung der Merkmale der Kirche die Bedeutung aller anderen auf den Umfang der politischen Merkmale reducirt wird, ist im Gegensatz hiezu das ursprüngliche und durchaus erfolgreiche Bestreben der Reformatoren darauf gerichtet, den dogmatischen Merkmalen, in denen die Kirche specifisch als Gemeinschaft der Heiligen gedacht werden kann, ihre Selbständigkeit zu sichern. Der Glaube erkennt die Wirklichkeit von Gemeinschaft der Heiligen, wenn dieselbe auch noch so klein an Zahl sein sollte, an der Verkündigung des Evangeliums und an der stiftungsgemäßen Verwaltung der Sacramente; diese sind aber zuverlässige Merkmale, weil sie zugleich die Träger der specifischen heiligenden Wirksamkeit Gottes sind. Das Evangelium ist aber nichts weniger als ein System von Glaubenslehren, sondern der in Christus offenbare Gnadenwille Gottes, oder, um es mit Luther auszudrücken, die Stimme des Hirten, die da sagt: „Gott hat der Welt seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben” (Kirchenpostille, Evang. am Pfingstdienstage; XI, 1511). Diese Verheißung der Sündenvergebung ist aber auch der Inhalt der Sacramente. Indeß mit diesen dogmatischen Merkmalen der Kirche ist es nicht so gemeint, als ob dieselbe nur in

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ihnen sich verwirkliche. Jene Factoren der göttlichen Wirksamkeit begründen und bilden Gemeinde der Heiligen der geschichtlichen Erfahrung gemäß nur so, daß sie wenigstens die sittliche Gemeinschaft der Familie, weiterhin die des Volkes sich aneignen und durchdringen. Hiemit wird die Kirche eine Art sittlicher Gemeinschaft, gleichartig mit der Familie, was von Luther und Calvin in dem Prädicate der Mütterlichkeit der Kirche anerkannt ist, auch vergleichbar einer Schulgemeinschaft, was Melanchthon im Gegensatz gegen die katholische Auffassung der Kirche als Staat zugesteht (Corp. Ref. XXI. p. 835). Das Werden der Kirche als sittlicher Gemeinschaft ist nothwendiges Mittel für ihre Grund- und Zweckbestimmung als Gemeinschaft der Heiligen, und in dieser Hinsicht haben wir die dahin gerichteten Erörterungen Melanchthons und Calvins nur vollständig zu billigen. Aber was wir an ihnen auszusetzen haben, ist, daß beide Reformatoren sich nicht bewußt sind, in dieser Darstellung nicht den Boden der dogmatischen Betrachtung, sondern den der ethischen zu behaupten. Weder hat Melanchthon, indem er in der letzten Gestalt der Loci die Kirche ausschließlich zum Gegenstande ethischer Begriffsbestimmung macht, das Verhältniß derselben zu seiner Lehre in der Apologie durchschaut, noch ist Calvin in seiner hin- und herschwankenden Darstellung sich bewußt, wo er aus der dogmatischen Behandlung des Begriffs in die ethische übergeht und umgekehrt. Die Formen, in denen nun jede sittliche Gemeinschaft existirt, und die Merkmale, an denen sie erkannt wird, sind Ueberlieferung und Sitte; die der Kirche als sittlicher Gemeinschaft die Ueberlieferung des Bekenntnisses und die Cultussitte. Das Wort Gottes kann nicht angeeignet werden, ohne verstanden zu werden; die menschliche Form seines Verständnisses ist das mehr oder weniger theologisch gestaltete gemeinsame Glaubensbekenntniß. Deshalb tritt in den hieher gehörigen Erörterungen sowohl Melanchthons als Calvins ganz unwillkürlich, aber ganz nothwendig die Rücksicht darauf ein, daß die articuli fidei recte docentur, oder daß sententia valet congruens cum verbo dei et confessione piorum (Corp. Ref. XXI. p. 825. 836), und daß die Kirche unum se deum et Christum colere profitetur (Calv. Inst. IV, 1, 7). Eben so ist die Vollziehung der Sacramente durch einen bestimmten Umfang und gewisse Ordnung der Cultussitte bedingt, auf welche freilich jene Darstellungen der beiden Reformatoren nicht eingehen, welche jedoch anerkannt ist, indem in der augsburgischen Confession Art. VII. nur die Uebereinstimmung der traditiones humanae seu ritus et ceremoniae ab hominibus institutae für überflüssig erklärt wird. Erst auf dem Gebiete dieser Betrachtung erhebt sich die Frage nach der Möglichkeit und dem Rechte verschiedener Confessionsgemeinschaften,

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die wir allerdings in weniger engen Grenzen beantworten müssen, als welche die Reformatoren durch ihren Gegensatz von vera und falsa ecclesia bezeichnet haben. Die Kirche als sittliche Gemeinschaft ist nicht Gegenstand des Glaubens, aber Gegenstand der praktischen Verpflichtung. Sie wird deßhalb nicht nach ihrem idealen Sein, wie es in den dogmatischen Merkmalen geschieht, sondern nach ihrem empirischen Werden aufgefaßt. Dieser Auffassung ist es aber gemäß, daß ihre Mitglieder nicht nach ihrer idealen Bestimmtheit als Geheiligte, sondern unter dem Gesichtspunkt der mannichfaltigen, wenn auch im Einzelnen nicht sicher abgrenzbaren, Abstufung ihrer religiösen und sittlichen Entwickelung in Betracht kommen, welche Jedem die Unterwerfung unter die pädagogische Macht der Gesammtheit auferlegt. Endlich aber dient als nothwendiges Mittel zur Existenz der Kirche als sittlicher Gemeinschaft unter den Merkmalen von Ueberlieferung und Sitte, und zur Vollziehung ihres höchsten Zweckes durch Fortpflanzung des Wortes Gottes und Verwaltung der Sacramente die Unterscheidung des Beamtenstandes der ministri verbi divini von den übrigen Bekennern. Das ministerium verbi bildet das rechtliche-politische Merkmal der Kirche. Denn abgesehen von der Familie, in welcher der Vater der natürliche Träger der Auctorität ist, vollzieht sich jede sittliche Gemeinschaft nur durch die rechtliche Entgegensetzung von Leitern und Geleiteten. Die pastores et doctores sind also zunächst Träger des Gesammtbekenntnisses und Wahrer der Cultussitte gegenüber der Gemeinde; da aber diese Factoren doch nur als Mittel für die Anwendung des Evangeliums und die Verwaltung der Sacramente zum Zweck der Verwirklichung von Gemeinde der Heiligen dienen, so sind auch diese Potenzen gemäß der Ordnung, die ebne so göttliche wie menschlich ist, an das geistliche Amt der im Sinne der sittlichen Gemeinschaft zu denkenden Kirche gebunden. Durch den Bestand des geistlichen Amtes tritt nun aber die sittliche Gemeinschaft der werdenden Kirche auch unter den Gesichtspunkt einer Rechtsgemeinschaft; Bekenntniß und Sitte erscheinen hienach auch als Rechtsordnungen, und auf dieser Basis gehören, wie die Erfahrung zugestehen muß, auch multi impii et hypocritae zur Kirche, die wenn wir diese Qualität als definitive irgendwie, auch nur hypothetisch, auf Einzelne beziehen dürfen, weder in den ethischen, noch in den dogmatischen Begriff von der Kirche eingeschlossen werden können. Wir haben mit dieser kurzen Uebersicht der verschiedenen Attribute der Kirche nur Grundlinien zur Ordnung der Lehre von der Kirche andeuten wollen, hinter deren vollständiger Auffassung die reformatorische Theologie zurückgeblieben ist, deren folgerechte Ausführung uns jedoch als ein dringendes Bedürfnis für die Verständigung über eine Menge kirchlicher Probleme

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erscheint. Unsere nächste Aufgabe gestattet uns nicht, diesen Gegenstand zu erschöpfen; aber um über die abweichenden Bestimmungen der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit der Kirche zu entscheiden, werden jene Umrisse genügen.

Die Kirche ist Gegenstand des Glaubens und der auf dem Glauben fußenden dogmatischen Erkenntniß nur als die Gemeinschaft der Heiligen, welche begründet und verbunden ist durch die göttlichen Factoren des Evangeliums und der Sacramente, und an diesen ihre nothwendigen Merkmale hat, in denen sie in die Erscheinung tritt. Sie ist also wahrnehmbar oder sichtbar für die Art von Erfahrung, auf die sie ihrer Natur nach allein rechnen kann, nämlich für den specifischen Glauben. Mit diesen Gedanken Luthers und Melanchthons, denen auch Calvin unwillkürlich zustimmt, entscheiden wir uns gegen die von Zwingli und Calvin absichtlich vertretene Ansicht, daß die Kirche als die an sich unsichtbare Gemeinde der von Gott zur Seligkeit Erwählten dogmatisch zu definiren sei. Denn die Erwählung vollzieht sich in Wirklichkeit auch nach der Lehre Calvins nur durch diese Factoren; und wenn Zwingli dieselben nicht als nothwendig in Anschlag bringt, um auch Heiden als Erwählte gelten zu lassen, und um auch die noch der Zukunft angehörenden Erwählten in die Kirche einrechnen zu können, so übersieht er theils die geschichtliche Bedingtheit des göttlichen Rathschlusses der Erwählung, theils verwechselt er die Kirche mit der göttlichen Idee vom Reiche Gottes. Aber wenn die Dogmatik die Kirche als sichtbar setzten muß, so hat die Apologetik und Polemik das Recht, diese sichtbare Kirche als unsichtbar zu prädiciren, wo die Tendenz sich kundgibt, die Kirche wesentlich und vorzugsweise nach politischen Merkmalen zu definiren, und wo ein donatistisches Streben die empirische Unterscheidung der eigentlichen Christen von den Namenchristen unternehmen will. Das Bedürfniß dieser apologetischen und polemischen Rechtfertigung des evangelisch-dogmatischen Begriffs von der Kirche ist in unserer Zeit nicht weniger dringend als zur Zeit der Reformation. Denn jene falschen Maaßstäbe werden heutzutage innerhalb der evangelischen Christenheit selbst oft genug angewendet,  der politische von den juristischen Theologen und manchen theologisirenden Juristen, der donatistische nicht nur von der offen hervortretenden Separatisten, sondern auch von Wortführern des Pietismus, welche keineswegs principiell unkirchlich gesinnt sind, denen aber der bei ihnen gewöhnliche Mangel theologischer Bildung die Consequenz ihrer angewöhnten Classificirung von Angefaßten, Erweckten und Gläubigen oder wahren Christen verbirgt. Der Verwirrung gegenüber, welche von diesen beiden Seiten her in der evangelischen Kirche angerichtet wird, ist die richtige

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Behauptung der Unsichtbarkeit der Kirche eine unveräußerliche Frucht evangelisch-theologischer Erkenntniß und ein Schutz des kirchlichen Protestantismus, den man nicht aufgeben darf.

In demselben Sinne, in welchem der Evangelische die Eine Kirche glaubt, ist sie auch der letzte Gegenstand seines praktischen Strebens. Das Mittel dazu aber ist die Theilnahme an den Functionen der Kirche, in welchen dieselbe sich als sittliche Gemeinschaft vollzieht und darstellt. In diesem Sinne haben Melanchthon und Calvin die Kirche sichtbar genannt. Und durch die Merkmale von Bekenntnißüberlieferung und Cultussitte wird die Kirche freilich wahrnehmbar auch einer Beurtheilung, die nicht im eigentlichen und vollen Sinne gläubig zu sein braucht. Es giebt freilich heutzutage Menschen von einem so forcirten Radicalismus, daß sie die Kirche nur als eine Anstalt des Staates zur Verdummung und Corrumpirung seiner Angehörigen zu deuten wissen, denen nicht einmal die sittliche und Culturbedeutung der Kirche, geschweige ihr specifisch religiöser Grund und Zweck zum Verständniß kommt. Aber wenn wir von dieser Verkehrtheit des sittlichen Urtheils absehen, für welche die Kirche auch in ihren ethischen Merkmalen unsichtbar ist, so gehört kein specifischer Glaube dazu, um die Kirch in diesem Sinne zu würdigen. Aber Zwingli und Calvin haben deßhalb auch Unrecht, wenn sie die Kirche auch unter diesen secundären Merkmalen als Gegenstand des eigentlichen Heilsglaubens bezeichnen. Calvin getraut sich freilich nur zu behaupten, daß das Glaubensbekenntniß die Kirche in diesem Sinne aliquatenus meine; und wirklich muß man das sittliche Vertrauen auf das Mittel der Heilsverwirklichung unter den Menschen von der religiösen Gewißheit des Zieles derselben zu unterscheiden verstehen. Um so mehr muß dies der Fall sein, wenn Melanchthon und Calvin in die Kirche als sittliche Gemeinschaft nicht mit Unrecht die Existenz des geistlichen Amtes als nothwendiges Mittel einschließen. In Wirklichkeit existirt die Kirche unter den Merkmalen des Bekenntnisses und der Cultussitte nur, indem zugleich der Unterschied der Beamten gegen die Gemeinde gesetzt ist, und die Rechtsordnung erhebt sich in der Kirche aus sittlicher Nothwendigkeit. Aber wenn der Glaube, der sich auf die so constituirte Kirche richtet, der specifische Heilsglaube sein sollte, so würde die unevangelische Folgerung kaum zu umgehen sein, daß der Heilsglaube sein nächstes Object an der amtlichen Auctorität des Beamtenstandes fände, während er sich doch nur auf das von demselben verkündigte Evangelium richten kann, und durch dieses auf den Zweck jeder Kirchenordnung, auf die Gemeinde der Heiligen, hingewiesen wird. Deßhalb hat Melanchthon mit richtigem Tacte unterlassen, die Kirche im ethischen Sinne als Gegenstand

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des im Symbolum gemeinten Glaubens darzustellen. Wenn nun aber die Kirche schon unter den dogmatischen Merkmalen auf das positive Prädicat der Sichtbarkeit Anspruch hat, so erweist es sich, daß nicht erst die ethischen und politischen Merkmale jenes Prädicat der Kirche begründen, wie es von Zwingli, dann aber auch von Calvin und Melanchthon dargestellt wird. Ueberhaupt sind diese Ausdrücke so relativ und formalistisch, daß sie eigentlich reale Erkenntniß gar nicht ausdrücken, und deßhalb haben sie nicht wenig dazu beigetragen, das Problem, das sie bezeichnen, in Unklarheit zu setzen. Wir glauben, einen directern Ausdruck des gemeinten Gedankens in der Unterscheidung der Kirche als Gegenstand der dogmatischen und der ethisch-politischen Betrachtung gefunden zu haben, welchen die Kirche als wirkliche Einheit, aber unter verschieden abgestuften Merkmalen gegenübersteht.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß der Dogmatiker, der seine Loci theologici zur Einleitung in das Concordienbuch geschriebne hat, und dessen lutherischen Orthodoxie scheinbar über jeden Zweifel erhaben ist, Leonhard Hutter, die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche so vollzieht, daß er mit den Worten der Apologie der augsburgischen Confession vielmehr die Meinung Zwinglis als die Luthers und Melanchthons ausdrückt: Si externam societatem signorum ac rituum ecclesiae  respicias, ecclesia militans dicitur esse visibilis et omnes eos complectitur, qui versantur in coetu vocatorum, sive sint pii sive impii, sive electi sive reprobi. Si vero ecclesiam consideres, quatenus est societas fidei et spiritus sancti in cordibus fidelium habitantis, eatenus certe dicitur invisibilis et electorum propria (Loc. XVII, 10). In diesem Satze ist die Existenz der unsichtbaren Kirche als Gemeinde der Erwählten und Heiligen abgesehen von den bekannten, von Luther bezeichneten Merkmalen und im Widerspruch mit Melanchthons ausdrücklichem Proteste im dogmatischen Sinne ausgesprochen, also Zwinglis Meinung aufgenommen oder gar überboten. Denn Zwingli sagt die Unsichtbarkeit doch immer nur aus mit Rücksicht auf die Unfähigkeit der Menschen, einen Erwählten direct zu erkennen, Hutter begründet das Prädicat auf die objective Art der gemeinten Gemeinschaft, ohne sich als Lutheraner darüber Rechenschaft abzulegen, daß die Gemeinschaft im Glauben und im heiligen Geist abgesehen von Evangelium und Sacramenten gar nicht denkbar ist. Hiebei sind nun auch die Dogmatiker, Lutheraner wie Reformirte, stehen geblieben, deren dialektische Specialisirung der Unterscheidung nichts zur Sache thut; und deßhalb dürfen wir uns der Darstellung und Beurtheilung des weitern Verlaufs der Lehre billig entschlagen. Allerdings klingt z.B. bei Gerhard

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die apologetische Tendenz des Begriffs der Unsichtbarkeit der Kirche an, aber dieser Gedanke Luthers kommt wegen der von vornherein als dogmatisch fixirten Bedeutung des Prädicats nicht zu eigentlicher Entwickelung.

So steckt auf diesem Punkte der Dogmatik der „Kirche der reinen Lehre” ein sehr heterogenes zwinglisches Lehrelement. Deßhalb wundern wir uns keineswegs, daß eine Zahl lutherischer Theologen der Gegenwart, und unter ihnen auch Münchmeyer, in einer offenen Reaction gegen diese Lehre begriffen sind. Der lutherische Instinct, der sie dabei leitet, hat unsere volle Anerkennung, denn die Distinction, gegen welche man sich sträubt, ist, wie wir nachgewiesen haben, der Gedanke Zwinglis und Calvins. Aber, um von Anderen abzusehen, bei Herrn Münchmeyer vermissen wir doch den echt lutherischen Instinct, der ihm das Verständniß der eigentlichen und, wie wir gezeigt haben, in sich klaren und widerspruchslosen Ansicht Luthers vermittelt hätte. Sein Lutherthum hat ihn nicht davor geschützt, Luthers Lehre durch die zwinglische Brille anzusehen und in dieser Färbung freilich zu verwerfen. Und dasjenige, was er nun im Widerspruch mit der gewöhnlichen Unterscheidung aufstellt, kann unsern Beifall nicht finden, da wir keine Veranlassung wahrnehmen, von Luthers und Melanchthons Lehre abzuweichen. Er resumirt seine Meinung in folgenden Sätzen (S. 175): Die Eine Kirche, welche ist der Leib des Herrn, besteht aus zweierlei Gliedern, lebendigen und  relativ oder ganz todten, welche beide bis zum Tage des Gerichtes wirkliche Glieder sind. Diese Eine Kirche in ihrem Bestande auf Erden ist sichtbar und erkennbar, sofern man alle ihre Glieder sehen und von Jedem erkennen kann, ob er zu ihr gehört, nämlich an der Taufe, sofern man auch die einzelnen Particularkirchen, welche die Eine Kirche ausmachen, sehen und von jeder erkennen kann, ob und wie weit sie wirklich zu ihr gehört, nämlich an den notae, reiner Predigt des Evangeliums und Darreichung der Sacramente laut des Evangeliums. Diese Eine Kirche hat auch in ihrem irdischen Bestande ihr Unsichtbares, sofern dies Prädicat auf ihr Haupt, Christus, und auf die Inwohnung des heiligen Geistes anzuwenden ist; aber darum kann die Kirche selbst nicht unsichtbar heißen. Es kommt Herrn Münchmeyer darauf an, daß der Gegensatz der pii und der impii et hypocritae für die Bildung des Begriffs von der Kirche außer Gebrauch gesetzt werde, und er ist der Meinung, daß dieser Gegensatz durch die Taufe neutralisirt werde, da auch die impii et hypocritae von Christus durch die Taufe in ein reales Heiligungsverhältniß gesetzt seien, dessen Unfruchtbarkeit vor dem letzten Gerichte nicht behauptet werden dürfe.

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Wir wollen unerörtert lassen, daß Münchmeyer die Taufe in einer Weise dem Worte Gottes entgegensetzt (S. 123), die gegen die Symbole der lutherischen Kirche verstößt. Aber seine Behauptung ist, wenn sie dogmatisch sein soll, in dem Grundbegriff gar nicht von der Lehre Luthers und Melanchthons verschieden; oder wenn sie von derselben abweichen soll, ist sie keine dogmatische Lehre, sondern eine ethische Betrachtung über die Kirche, die jedoch auch nichts wesentlich Neues enthält. In ersterer Beziehung verhält sich die Sache so: Die gewöhnliche Erfahrung bietet uns den Anblick entgegengesetzter sittlicher Richtungen unter den Menschen, auch unter denen, die den Christennamen führen. Die Reformatoren fanden nun als gangbare katholische Ansicht vor, daß sie, welche als pii und impii von der gewöhnlichen Meinung unterschieden werden, wegen ihres rechtlichen Verhältnisses zu den Auctoritäten und Normen der Kirche in der begrifflichen Auffassung derselben gleichgestellt wurden. Indem nun die Reformatoren jene Unterscheidung der zwei Klassen im Allgemeinen gelten ließen, natürlich ohne über die Angehörigkeit der Einzelnen zur einen oder andern entscheiden zu wollen, behaupteten sie, daß man in der richtigen Auffassung der Kirche von den impii, aber auch von der Sündhaftigkeit der pii abstrahiren müsse; denn die Kirche sei nur als Gemeinde der Heiligen dogmatisch denkbar. Wenn sich nun Herr Münchmeyer schmeichelt, daß er, indem er die impii et hypocritae zur Kirche rechnet, weil sie getauft und der Bekehrung nicht absolut verschlossen sind, — einen andern Begriff von der Kirche aufgestellt habe, als die Reformatoren, so irrt er sich. Indem er nämlich die impii et hypocritae als Getaufte für die Kirche in Anschlag bringt, so betrachtet er sie eben als Geheiligte und abstrahirt davon, daß sie gottlos und heuchlerisch sind. Er denkt also die Kirche nicht als Gemeinschaft von Heiligen und Unheiligen, sondern nur als Gemeinschaft von Heiligen. Seine Abweichung von den Reformatoren besteht nur darin, daß er quantitativ mehr Glieder zur Kirche rechnet, als Jene. Aber der Grund dieser Abweichung ist nur das iudicium caritatis, wie es Calvin nennt, die Rücksicht auf die Bekehrbarkeit derer, die vor der Hand gleichgültig oder widersetzlich gegen Christus sind (S. 117 f.). Jedoch mit dieser Betrachtung ist Münchmeyer in die ethische Auffassung der Kirche eingetreten, nämlich sofern dieselbe als sittliche Gemeinschaft wird. Aber daß man in dieser Sphäre sich zu hüten hat, die Unterscheidung von Guten und Bösen in concreto zu vollziehen, daß man also alle Getauften, die nicht excommunicirt sind, als Christen gelten läßt und behandelt, dies haben auch schon Luther, Melanchthon und Calvin ausgesprochen und begründet. Herr Münchmeyer kann also in dieser Hinsicht nur den

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Anspruch machen, daß er im Urtheil über die empirische Angehörigkeit zur Kirche weitherziger als Calvin ist. Denn dessen iudicium caritatis richtet sich danach, daß diejenigen Einzelnen eigentlich zur Kirche gehören, die durch Bekenntniß des Glaubens, Theilnahme an den Sacramenten und Beispiel des Lebens sich zu Christus halten (Instit. IV, 1, 8), und er gestattet ein Privaturtheil darüber, daß bestimmte Einzelne nicht eigentlich Glieder der Kirche seien (§ 9). Hierin liegt, wie schon bemerkt worden ist, ein Abbiegen zu dem donatistischen Grundsatz, wenn auch in der zahmen Gestalt des Pietismus, vor. Im Gegensatz hierzu müssen wir Herrn Münchmeyer bezeugen, daß die von ihm aufgestellte Norm, alle Getauften und die auf Abwegen begriffenen mit um so ausdrücklicherer Liebe zur Kirche zu rechnen, im wahrhaft kirchlichen Geiste gedacht ist. Aber auch nur für die Kirche als sittliche Gemeinschaft kann die Anschauung vom Zusammensein lebendiger und  relativ todter Glieder Christi gelten. Wenn es jedoch berechtigt ist, ex hypothesi bei Getauften völligen geistlichen Tod anzunehmen, so kann auch das sittliche Urtheil denselben nur ein äußerliches Rechtsverhältniß zur Kirche zugestehen.