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Vorwort.

Die reformierte Kirchenverfassung ist bisher von der Wissenschaft ziemlich stiefmütterlich behandelt worden. Das Interesse hat sich, wenigstens in Deutschland, fast ausschliesslich der Verfassung der lutherischen Kirche zugewandt; ihr sind zahlreiche Untersuchungen gewidmet worden, während es über die reformierte Kirchenverfassung, deren Geltungsgebiet doch viel grösser ist, keine Monographie gibt, die auf wissenschaftliche Bedeutung Anspruch erheben könnte.

Das solid gearbeitete und heute noch brauchbare Werk von G.V. Lechler, Geschichte der Presbyterial- und Synodalverfassung seit der Reformation (1854), ist, wie sein Titel zeigt, eine geschichtliche, keine systematische Darstellung, beschränkt sich auch nicht auf die reformierte Kirche.

In seinem Buche über „die lutherische Kirche und die Union” hat Stahl in mehreren Kapiteln den Unterschied der lutherischen und der reformierten Kirchenverfassung erörtert, aber mehr theologisch dogmatisierender als historisch forschender Jurist, hat er trotz mancher treffender Bemerkungen im Einzelnen doch im Grossen und Ganzen von der reformierten Verfassung nur ein Zerrbild geliefert.

Viel tiefer als Stahl ist Rudolf Sohm in ihr eigentümliches Wesen eingedrungen; der Abschnitt, der er in seinem Kirchenrecht (Band I S. 634-657) der reformierten Kirchenverfassung gewidmet hat, ist unstreitig das Beste, was über diesen Gegenstand geschrieben worden ist; insbesondere nimmt die Darstellung den einzig richtigen Ausgangspunkt, indem sie mit einer Untersuchung des reformierten Kirchenbegriffs beginnt. Doch ist das, was hier geboten wird, nur eine kurze, im allgemeinen Zügen gehaltene geistvolle Skizze, was sich daraus erklärt, dass das Interesse auch dieses Gelehrten sich in der Hauptsache auf die lutherische Kirchenverfassung konzentriert und der reformierten sich nur nebenbei zuwendet.

So darf man, ohne dem was andere hier schon geleistet, zu nahe zu treten, wohl sagen, dass auf diesem Gebiete noch vieles, um nicht zu sagen, alles zu thun ist. Wir haben hier eine terra incognita vor uns, die für die Wissenschaft erst erobert werden muss. Das mag meiner Arbeit zur Rechtfertigung, aber auch zur Entschuldigung dienen. Die erste monographische Behandlung eines Gegenstandes vermag nicht

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gleich alles zu leisten. Aber ein Anfang musste gemacht werden, eine alte Schuld der Wissenschaft abzutragen.

Im Folgenden gebe ich nicht einer Darstellung des ganzen Systems der reformierten Kirchenverfassung. Was mir vorschwebte, das was, für die reformierte Kirche etwa dasselbe zu unternehmen, was für die lutherische Stahl in seiner Schrift über „die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten” oder mit grösserer Objektivität Otto Mejer in seinen „Grundlagen des lutherischen Kirchenregiments” geleistet hat: die Grundsätze der reformierten Kirchenverfassung vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus darzulegen. Dass dies nicht möglich war ohne eine fortlaufende Vergleichung mit den Grundsätzen der lutherischen Verfassung, versteht sich dabei von selbst.

Wenn Stahl im Vorwort zur ersten Auflage der eben angeführten Schrift darüber klagt, dass zu einer Darstellung der reformierten Kirchenverfassung hier zu Lande selbst das nötige Material fehle, so habe ich das auch erfahren. Wenn es mir gelungen ist, dieses Hindernis zu überwinden und meine Darstellung auf ein umfassendes Quellenmaterial zu gründen, so habe ich dies vor allem dem günstigen Umstande zuzuschreiben, dass ich bei meiner Arbeit von allen Seiten auf das liebenswürdigste unterstützt worden bin. Insbesondere habe ich die ausserordentliche Liberalität zu rühmen, mit der ich von der Schweiz aus durch die Staatskanzleien der Kantone und von Nordamerika aus durch eine Reihe von Gelehrten mit reformierten Kirchenordnungen versehen worden bin. Es ist mir eine angenehme Pflicht, auch an dieser Stelle allen denen, die mich durch Zusendung von Quellenmaterial oder Erteilung von Auskunft bei meiner Arbeit gefördert haben, meinen aufrichtigen Dank auszusprechen.

Dass trotz alledem besonders im ersten Teile meiner Darstellung, dem kurzen Abriss einer Geschichte der Quellen und Literatur der reformierten Verfassungslehre, manches zu berichtigen, vieles zu ergänzen sein wird, bin ich mir selbst wohl bewusst und werde jede Mitteilung, die mir in dieser Richtung von berufener Seite zukommt dankbar aufnehmen.

Es bleibt mir nur noch übrig zu bemerken, dass ich für die Darstellung der reformierten Grundsätze über Staat und Kirche meinen in der Historischen Vierteljahrsschrift von 1898 S. 370 ff. veröffentlichen Aufsatz über „Staat und Kirche nach lutherischer, reformierter, moderner Anschauung” mit einigen Änderungen zu Grunde gelegt habe.

Leipzig, den 1. März 1899.

Karl Rieker.