Knoll, E.

Gnade und Recht

Genre: Tijdschriftartikel

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Gnade und Recht

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Von Dr. Ernst Knoll, Berlin.

 

„Gnade” ist ein Begriff, der sowohl im Rechtswesen wie auch in der Theologie von großer Bedeutung ist. Handelt es sich dabei nun um dasselbe oder wenigstens eine ähnliche Fragestellung oder wird in den beiden Gebieten mit denselben Worten etwas Wesensanderes bezeichnet? Geh man von der herrschenden, ja für frühere Zeiten allein herrschenden Auffassung vom Wesen der Gnade im Rechtsaufbau aus, so müßte man wohl zu dem Ergebnis kommen, daß es sich in beiden Fällen um Begriffe handelt, die nur gewisse äußere Berührungspunkte aufweisen, dem Wesen nach nichts miteinander zu tun haben, ja, daß das Hineintragen rechtlicher Auffassungen über Gnade usw. die theologische Betrachtung nur verflachen könnte.

Die folgenden Ausführungen weichen zum Teil von der früher herrschenden Meinung über das rechtliche Wesen der Gnade ab; man wird aus ihnen ersehen können, daß der Versuch, die Fragestellung hier zu vertiefen, zu Gedankengängen führt, die manchen theologischen Fragestellungen wesensverwandt sind.

Unter Gnade versteht der Rechtswahrer — von feineren Unterschieden der Begriffsbestimmung kann für die Zwecke dieses Abhandlung Abstand genommen werden — den Erlaß oder die Milderung einer formal zu Recht bestehenden Strafe. Die sprachlichen Zusammenhänge zeigen uns, daß als Hintergrund des Gnadenerweises ein Herabneigen aus wohlwollender Gesinnung zu denken ist. Immer wird dabei auch die Gnade als eine freie Handlung angesehen, auf deren Gewährung ein Anspruch nicht besteht. Grenzbegriffe seien nur kurz erwähnt. Unter Rehabilitation versteht man einen Gnadenerweis, der nicht nur die Strafe als solche, sondern auch ihre mittelbaren Folgen (z.B. hinsichtlich der Ehrenrechte, des Amtsverlustes usw.) beseitigt; unter Amnestie einen Gnadenerweis, der — gewöhnlich anläßlich eines bestimmten feierlichen Ereignisses — ganzen Gruppen von Verbrechen (abgegrenzt nach Art der Straftat oder nach Höhe der Strafe) Straferlaß oder -milderung gewährt, wobei also die besondere Berücksichtigung des einzelnen Falles zurücktritt, unter Abolition endlich die Niederschlagung des Strafverfahrens vor der


1) Diese Ausführungen geben im wesentlichen einen Vortrag wieder, der bei einer im Rahmen der Luther-Gesellschaft gehaltenen Aussprache von Theologen und Rechtswahrern (vgl. Kirchenrechtsarchiv Bd. 1 S. 292 — Die Schriftleitung —) gehalten wurde. Auf Nachweise aus dem Schrifttum ist im allgemeinen verzichtet. Mit der amtlichen Stellung des Verfassers hat der Aufsatz nichts zu tun.

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Entscheidung, die es also nicht bis zum Urteil kommen läßt und damit vor dem Makel der Bestrafung und der Peinlichkeiten des Strafverfahrens schützt, dem Unschuldigen aber auch zugleich die Möglichkeit der Freisprechung nimmt. Von der eigentlichen Gnade im engeren Sinne und ihren eben erwähnten drei Ausweitungen mehr oder weniger entfernt gibt es eine ganze Anzahl von Maßnahmen, die ihr in der einen oder anderen Richtung ähneln, z.B. Verzicht auf Strafantrag, Verzicht auf Strafverfolgung, Aussetzung der Vollstreckung, aber auch Privilegien, Steuererlaß, die sogenannten Kannleistungen usw. Auf die Einzelheiten braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Es genügt im allgemeinen, von der Gnade in dem engeren zunächst gekennzeichneten Sinne auszugehen.

In alten Zeiten war die Einrichtung der Gnade eine Selbstverständlichkeit. Die harte Unvollkommenheit und Förmlichkeit des Rechts und des Strafverfahrens benötigten auf jeden Fall die Einrichtung der Gnade, schon zum Ausgleich von Recht und Gerechtigkeit. Aber mit der Möglichkeit der Durchbrechung strengen Rechts war auch ihr Mißbrauch gegeben, die Gefährdung gerade auch gerechten Rechts durch Anwendung der Gnade. Darum finden wir in der Zeit der Aufklärung auch eine besondere Abneigung gegen die Zulassung von Gnade. Sie will sich durchaus nicht in ein logisches, klares Rechtssystem einordnen lassen. Große Denker, wie Kant, Humboldt, Montesquieu und Beccaria sprachen sich scharf gegen sie aus; in der französischen Revolution versuchte man zunächst ihre Abschaffung. Spätere Zeiten ziehen zwar diese radikalen Folgerungen nicht, unterscheiden sich aber in der inneren Grundeinstellung nicht wesentlich. Auch ihnen ist die Gnade etwas grundsätzlich Unerwünschtes und politisch und rechtspolitisch Bedenkliches. Sie wird nur zugelassen in der Erkenntnis, daß Recht und Rechtsverfahren — zum mindesten zur Zeit noch — so unvollkommen sind, daß auf die Möglichkeit nicht verzichtet werden kann, durch einen außerordentlichen Behelf im Einzelfalle einmal dem wahren Rechte gegenüber dem formalen Rechtsstande zum Siege zu verhelfen. Als Wunschbild steht aber immer dahinter, daß man das Recht selbst durch nachgiebige Gestaltung, namentlich z.B. der Strafrahmen, geringe Mindeststrafen, keine absoluten Strafen, Schuld- und Strafaufhebungsgründe, mildernde Umstände usw. und durch Verbesserung des Strafverfahrens, Sicherung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung, freie Beweiswürdigung, Rechtsmittel, Wiederaufnahme usw. so entwickeln könne, daß für die Einrichtung der Gnade im allgemeinen keine Notwendigkeit bestehe, ihre Ausübung zum mindesten aber in einer Weise geregelt, beschränkt und beaufsichtigt werde, die einen Mißbrauch dieser Einrichtung nach Möglichkeit ausschließe. Man möchte sie also möglichst weitgehend entbehrlich machen, sie als Dienerin in das Rechtssystem einordnen und damit selbst rationalisieren; denn ganz kann man sie auf die Dauer doch nicht entbehren, weil auch bei verbesserter Gesetzgebung immer Fälle bleiben werden, in denen schließlich eine rechtskräftige Strafentscheidung sich als dem wahren Rechte zuwiderlaufend erweist. Es handelt sich dabei namentlich um folgende Fälle:

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1. Das Urteil kann von vornherein falsch sein, auch bei vorzüglichem Verfahren und besten Richtern; denn infolge nachträglicher Erkenntnis kann sich der Tatbestand später ganz anders darstellen, als wie er der Entscheidung zugrunde lag.

2. Es können aber auch nachträglich Umstände eintreten, die zum mindesten hinsichtlich des Strafmaßes eine andere Beurteilung erfordern, z.B. ein nachträgliches Verhalten des Verurteilten, das eine mildere Betrachtung angebracht erscheinen läßt.

3. Auch das richtig angewandte Gesetz kann, namentlich, soweit es sich um absolute Strafen handelt, für den Einzelfall zu hart sein. Die Begnadigung kann dann entweder, wenn man die Härte im allgemeinen grundsätzlich für berechtigt hält, die im Einzelfall ausnahmsweise notwendige Ergänzung bieten; sie kann aber auch Schrittmacher neuen Rechtes sein, indem sie das als zu hart erkannte, aber noch nicht geänderte Gesetz in seinen Auswirkungen abmildert. — Wie somit die Begnadigung, einer Änderung der rechtlichen und sittlichen Anschauungen Rechnung tragend, zum Vorläufer kommenden Rechtes werden kann, hat sie eine besondere Bedeutung auch bei Änderung der politischen Verhältnisse. Zeiten grundsätzlichen politischen Umbruchs sind strafrechtlich überhaupt nicht restlos zu erfassen, da das Strafrecht nun einmal einen festen Tatbestand rechtlicher, sittlicher und politischer Bewertung voraussetzt, also seinem Wesen nach statisch ist, während Umbruchszeiten Zeiten sich wandelnder Wertung, sich verschiebender Machtverhältnisse und damit grundsätzlich dynamisch sind. Darum hat eine politische Handlung, die innerhalb einer solchen Umbruchszeit geschieht, ein ganz verschiedenes Gesicht, je nachdem, ob sie von der Zeit vor oder nach Vollendung des Umbruchs betrachtet wird. Was vom Standpunkte des alten, vielleicht schon zugrunde gehenden, aber formell noch geltenden Rechtes eine gewaltsame Auflehnung gegen das Recht, ein Verstoß gegen die noch geltenden sittlichen und rechtlichen Wertungen ist, bedeutet später vom Standpunkte des neuen Rechts aus gesehen, eine Vorbereitungshandlung im Sinne und zur Erkämpfung des neuen Rechtszustandes, eine Durchsetzung neuer sittlicher Anschauungen gegenüber den absterbenden Wertungen einer vergangenen Zeit. Darum muß notwendig nach jeden Umbruch staatlicher Machtverhältnisse die Begnadigung (gewöhnlich in Form der Amnestie) einsetzen, um die frühere Straftat nachträglich unter die Beurteilung des neuen Rechtes zu stellen, dem die Tat dienen sollte, und das sie auch mit herbeiführen half. In solchem Falle wird zwar die Gnade aus politischen Beweggründen ausgeübt und dient damit auch der Politik, bleibt aber auch hier ihren Wesen nach Durchsetzung der Gerechtigkeit, des richtigen Rechtes gegenüber dem formell rechtskräftigen, aber inhaltlich mit den maßgebenden Wertungen nicht mehr übereinstimmenden Spruch. Insofern gehört dieser Akt der Begnadigung in die Reihe der anderen Gnadenakte zur Verwirklichung richtigen Rechtes und unterscheidet sich von der später zu erwähnenden Ausübung der Gnade für politische Zwecke.

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Nach Ansicht der früher herrschenden Meinung müßte sich der legitime Gebrauch der Gnade auf diese Gruppen von Fällen beschränken, die Gnade also gewissermaßen lediglich ein letztes unformales Rechtsmittel zur Herbeiführung richtigen Rechtes sein, ihren Platz demnach auf der Ebene „Recht und Gerechtigkeit” finden.

Eine genauere Prüfung zeigt aber, daß diese Einordnung der Gnade in das Rechtssystem nicht restlos gelingen will.

1. Bezeichnend ist schon die Schwierigkeit, die sich dem Rechtsdenken der vergangenen Zeit in den Weg stellte, wenn es die Ausübung der Gnade einordnen wollte in eine der drei Gruppen der Staatstätigkeit, die nach damals herrschender Meinung alles Staatshandeln erschöpfte, nämlich Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Rechtslehrer und Gesetzgebung haben eine Unterordnung unter jede der drei Gruppen versucht, ohne daß ein befriedigendes Ergebnis erzielt worden wäre.

a) In der Zeit der unbeschränkten Monarchie lag es nahe, den Akt der Gnade unter den Begriff der Gesetzgebung einzuordnen. So wie der Herrscher unbeschränkt allgemeine und besondere Gesetze geben, wie er jederzeit die von ihm erlassenen Gesetze ganz oder zum Teil ändern konnte, so konnte er auch das Gesetz insoweit abändern, als er ihm die Auswirkungen für einen bestimmten Tatbestand versagte. Diese Lehre war schon für die monarchische Zeit kaum haltbar, da die Spannung zwischen dem Wesen des Gesetzes, das immer mehr oder weniger auf Allgemeingeltung zielt, und dem so sehr auf die Besonderheiten eines Einzelfalles abgestellten Gnadenakte zu stark war. Ein Beispiel aus der näheren Begründung dieser Lehre möge die ganze Künstlichkeit dieser Gedankengänge zeigen. Wenn bei einem Verbrechen, das mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren bestraft werden kann, der Täter zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist, der Herrscher aber ihn zu 6 Jahren Zuchthaus begnadigen möchte, so würde von der Gesetzestheorie dieser Akt dahin erläutert werden, daß der Herrscher zunächst das Gesetz für diesen einen besonderen Fall dahin abändert, daß die Höchststrafe in diesem Fall 9 Jahre beträgt, um dann, wie der Richter, von den 15 Jahren ⅔ = 10 Jahre, nunmehr von diesen 9 Jahren ⅔ = 6 Jahre festzusetzen. — Eine wichtige Stütze verlor die Gesetzestheorie, seitem die Gesetze nicht mehr allein Sache des Herrschers waren. Immerhin kann man in der Praxis verfolgen, wie diese Lehre auch später noch eine gewisse Berücksichtigung gefunden hat insofern, als in den verschiedenen Verfassungen die Ausübung des Gnadenrechts an die Zustimmung des Parlaments, wenn auch gewöhnlich nur bei bestimmten Fällen, z.B. bei Amnestien oder bei Ministerbegnadigung, geknüpft wurde.

b) Da durch die Begnadigung im Ergebnis die Wirkungen eines Richterspruchs aufgehoben werden, glaubte eine andere Lehre in der Begnadigung einen richterlichen Akt sehen zu sollen, der dem Herrscher als oberstem Richter zustehe und ihm als letzter Rest seines obersten Richtertums geblieben sei, auch nachdem im übrigen die Rechtsprechung auf unabhängige Gerichte übergegangen sei. Schon dieser

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Zusatz zeigt die Schwäche dieser Lehre. Sie trifft aber auch sonst nicht zu. Das Wesen des Richters ist, daß er an das Gesetz gebunden ist. Die Gnade als Ausübung der Gerichtsbarkeit könnte somit bei folgerichtiger Anwendung dieser Lehre nur in den Fällen eingreifen, in denen das geltende Recht falsch angewendet worden ist; in allen anderen Fällen handelt es sich jedoch nicht um Richterspruch, sondern um einen Akt, der außerhalb der an die Gesetze gebundenen erkennenden Tätigkeit liegt. Die Auffassung der Gnade als Richterspruch würde auch die Frage aufwerfen, inwieweit die Abänderung des Richterspruchs zuungunsten des Täters geschehen könne. Endlich läßt sich die Lehre aber auch mit der Tatsache nicht vereinen, daß nach der unbestrittenen allgemeinen Meinung durch den Gnadenakt nicht das Urteil als solches, sondern nur seine Auswirkungen, und zwar grundsätzlich nicht einmal alle Auswirkungen, sondern nur die unmittelbaren Strafauswirkungen aufgehoben werden.

Ihre praktische Auswirkung hat diese Lehre gehabt in Vorschlägen und Versuchen, die Begnadigung an die Gerichtshöfe zu übertragen (Jhering, Französische Revolution), oder den Herrscher bei Ausübung der Gnade an den Antrag oder die Zustimmung eines Gerichtshofes zu binden. Auch an die Einrichtung des „Gnadenrichters” sei hier erinnert. Die Versuche, die Gnade zu rationalisieren und ihr Wesen sich darin erschöpfen zu lassen, daß sie ein Instrument zur Herbeiführung rechten Rechtes sei, werden immer dahin drängen, die Begnadigung aus der Hand des Herrschers in die des Richters zu überführen.

c) Nachdem die Gesetzes- und Rechtsprechungslehre an ihren inneren Widersprüchen gescheitert waren, schien der Lehre von der Dreiteilung der Staatsgewalt nur übrig zu bleiben, in der Begnadigung eine Handlung der Verwaltung zu sehen. Aber auch dieser Gedankengang mußte an seiner Undurchführbarkeit scheitern. Denn die Verwaltung im Rechtsstaat hat sich im Rahmen des Gesetzes zu halten. Sie ist an die Rechtsprechung gebunden und nicht berechtigt, Richtersprüche aufzuheben. Außerdem müßte, wenn die Begnadigung ein Verwaltungsakt ist, die Frage der Anfechtung im Verwaltungsrechtswege, die Frage der ministeriellen Mitzeichnung und der Verantwortlichkeit vor der Volksvertretung aufgeworfen werden.

Eine Auswirkung solcher Gedankengänge kann man in einer Verfassung finden, in der die Begnadigung an die Zustimmung des Justizministers gebunden ist.

Gerade die Begnadigung zeigt einerseits, daß die Lehre von der Dreiteilung der Staatsgewalt deren Wesen nicht erschöpfen kann, daß aber anderseits auch die Gnade selbst auf einer anderen Ebene zu suchen ist als auf der sonstigen Ebene rechtlichen Geschehens wie Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Die frühere Rechtslehre versuchte sich dann aus diesen Schwierigkeiten herauszuhelfen, indem sie unter stillschweigender Aufgabe der Dreiteilungslehre die Begnadigung für einen Regierungsakt, einen Ausfluß der Souveränität erklärte. Das kann eine Redensart aus Verlegenheit sein, es

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kann aber auch schon einen kleinen Hinweis auf das wahre Wesen der Gnade geben.

2. Wenn Gnade nur ein Mittel zur Durchsetzung richtigen Rechtes ist, warum wird sie im allgemeinen auf die Verbesserung der Lage des Täters beschränkt? Die Logik würde es dann erfordern, daß ebenso gut im Wege eines Souveränitätsaktes der zu Unrecht Freigesprochene oder zu mild Bestrafte doch noch der Bestrafung zugeführt oder strenger bestraft würde. Die frühere Zeit behalf sich hier mit ihrer Einstellung, die grundsätzlich den Angeklagten gegenüber dem Staate begünstigte, indem sie aus Gründen der angeblichen Rechtssicherheit ihm gewissermaßen wohlerworbene Rechte im Strafverfahren zubilligte. Diese Einstellung ist jetzt grundsätzlich erschüttert. Ich erinnere nur daran, daß der Verurteilte, der allein ein Rechtsmittel einlegt, es erleben kann, daß das Berufungsurteil eine Verschärfung zu seinen ungunsten bringt (reformatio in peius), daß unser Recht die Verurteilung im Wege der Analogie eingeführt hat und auch Bestrafung auf Grund von Gesetzen, die erst nach der Tat erlassen sind, kennt (Beschränkung des Grundsatzes: nulla poena sine lege). Ein Begnadigungsrecht, das seinem Wesen nach nur Rechtsbehelf für richtiges Recht wäre, bedürfte unter diesen Umständen einer neuen Begründung, wenn es sich auf die Günstigerstellung des Täters beschränkt.

3. Schwer zu vereinbaren mit der Auffassung der Gnade als eines außerordentlichen Rechtsbehelfs zur Herstellung richtigeren Rechtes ist auch der unbestrittene Grundsatz, daß Gnade ein Akt der Freiheit ist, auf den ein Anspruch nicht besteht.

4. Kurz erwähnt sei nur, daß der Umfang der Auswirkung der Begnadigung immer zweifelhaft und vom Standpunkt der früher herrschenden Lehre aus kaum zu begründen ist. Es seien neben der eigentlichen Strafe nur kurz erwähnt:
a) die Nebenstrafen (Amtsverlust, Amtsunwürdigkeit, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte),
b) die Auswirkung des Urteils, namentlich bei Meineidsverfahren, auf die Glaubwürdigkeit, sei es in Form des Verlustes der Eidesfähigkeit, sei es in seiner einfachen tatsächlichen Auswirkung auf den Glauben, den man diesem Manne nach den gerichtlichen Feststellungen seiner Eidespflichtverletzung noch schenken kann,
c) Wirkt sich die Verurteilung, deren Folgen durch Begnadigung aufgehoben sind, bei einer späteren Tat strafverschärfend aus insofern, als diese rechtlich als Tat im Rückfall anzusehen ist oder wenigstens die in dem früheren Urteil festgestellte Tat zur verschärften Beurteilung der neuen Tat herangezogen wird?
d) Wie wirkt sich die Begnadigung aus auf die Verpflichtung zur Zahlung von Gerichtskosten, Buße, Schadenersatz?

5. Kann die Begnadigung gegen den Willen des Verurteilten erfolgen? Die Frage hat nicht nur theoretische Bedeutung. Gerade

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wenn man in der Bestrafung einen Akt der Wiedereinordnung des Täters in die Volksgemeinschaft sieht, erhebt sich auch die Frage, ob man ihm nicht einen Anspruch auf die Strafe zuerkennen muß. Namentlich aber ist die Frage von Bedeutung bei der Abolition, weil hier dem Begnadigten die Möglichkeit genommen wird, seine Unschuld zu beweisen.

6. Wie weit kann eine Begnadigung aus politischen Gründen stattfinden? Damit sollen nicht die oben erwähnten Fälle gemeint sein, in denen die Begnadigung anläßlich eines politischen Umschwungs richtiges Recht im Einzelfalle schafft, auch nicht die Fälle offenbaren Mißbrauchs dieser Einrichtung für politische Zwecke, sondern etwa folgende drei Gruppen:
a) Begnadigung als Mittel der Erziehung (bedingte Begnadigung, bedingte Strafaussetzung),
b) Begnadigung zwecks politischer Befriedigung bei Abschluß innerpolitischen Streitigkeiten, Bürgerkriege usw.,
c) namentlich: Amnestien anläßlich von glücklichen Ereignissen. Gerade diese Amnestien haben der Rechtslehre immer besondere Schwierigkeiten gemacht. Sie ließen sich vom Gesichtspunkte der höheren Gerechtigkeit des Einzelfalles aus kaum recht begründen. Denn die Tatsache allein, daß infolge menschlicher Unvollkommenheit die Möglichkeit unrichtiger Urteile bestehe, dürfte kein genügender Grund für die Einführung einer Amnestie anläßlich eines glücklichen Ereignisses sein.1)

Alle diese Schwierigkeiten, die hier nur angedeutet werden konnten, zeigen das eine klar, daß das Wesen der Gnade nie voll erfaßt werden kann, wenn man es nur auf der Ebene von Recht und Gerechtigkeit und Rechtsprechung sucht. Dann zeigt sich der Grundfehler, der Versuch der Vernünftelung von etwas, was mit menschlicher Vernunft nicht restlos erschöpft werden kann.

Dabei wäre es natürlich ein Fehler, wollte man verkennen, eine wie starke Berührung zwischen Recht, wahrem richtigen Recht, und Gnade besteht. Praktisch wird, namentlich in der Gegenwart, wohl in der überwiegenden Zahl der Fälle die Begnadigung tatsächlich dem Ziel der Schaffung richtigen, den Besonderheiten des einzelnen Falles angepaßten Rechts dienen und eine Begnadigung, die als dem richtigen Rechte zuwiderlaufend empfunden werden müßte, wird wohl fast immer als ein nicht rechter Gebrauch dieser Möglichkeit betrachtet werden müssen. Das liegt aber nicht daran, daß die Gnade lediglich


1) Vgl. Stammler: Die Lehre von dem richtigen Rechte. S. 141: „Hier ist es das Bekenntnis, daß alles Suchen und Streben nach dem Richtigen doch immer nur ein Versuch sein mag, dessen Gelingen in menschlich Erreichbarem liegt. Es ist die Nachgabe, daß auch das beste Wollen und die größte Kraft des Menschen beim Ringen nach dem Rechten versagen kann: Auch bei dem Bemühen, richtiges Recht zu finden und zu bewähren. Wenn wir aber von dem Gedanken des Menschenwerkes und seiner unvermeidlichen Unvollkommenheit nicht loskommen, so muß es begreiflich sein, der nachlassenden Gnade Spielraum zu gewähren.”

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ein dienendes Glied im Gebiete des Rechtswesens ist und ihr Wesen sich in der Durchsetzung richtigen Rechtes gegenüber unvollkommenem Rechte erschöpft, sondern daß Gerechtigkeit wie Gnade letzten Endes in einer ganz anderen, menschlicher Vernünftelei nicht voll zugänglichen Ebene wurzeln, und daß der Ursprung aus einem gemeinsamen Wurzelboden die Ursache für die spätere grundsätzliche Gleichrichtung ist. Das Wesen der Gnade läßt sich nicht erschöpfend in menschliche Regeln fassen. Sie ist aber dennoch nicht Willkür, sondern Ausfluß einer Ordnung, aber einer höheren Ordnung.

An dieser Stelle muß der Wissenschaftler, der Rechtswahrer, verstummen. Was aber mit keiner menschlichen Wissenschaft logisch-rational dargelegt werden kann, läßt uns doch der echte Dichter mit dem tieferen Ahnungsvermögen, im Bilde schauen. Ich möchte hier hinweisen auf den „Prinz von Homburg”, wo Kleist im 5. Akt mit wunderbarer Beredsamkeit von den verschiedensten Seiten alles anführen läßt, was an Rechts- und Gefühlsgründen für eine Begnadigung des Prinzen spricht, ja fast ein Recht darauf ihm zu geben scheint. Aber alle Ansprüche auf Gnade, alle Versuche, sie als das bessere Recht gegenüber dem Spruche des Kriegsgerichts zu fordern, scheitern an der festen, überlegenen Haltung des Kurfürsten. Die Bittsteller wissen nicht, daß der Kurfürst selbst die Entscheidung unter diesem Gesichtspunkt dem Prinzen in die Hand gelegt hat: „Meint Ihr, ein Unrecht sei Euch widerfahren, so bitt’ ich, sagt’s mir mit zwei Worten — und gleich den Degen schick ich Euch zurück” — und daß er dadurch den Prinzen, der sich zeitweilig selbst verloren hatte, wieder zu sich und zu der Erkenntnis gebracht hat, daß ihm rechtes Recht geschieht; nun kann den Prinzen weder die drängende Überredung der geliebten Prinzessin, noch die Todesfurcht, die ihn noch kurz vorher einfach überwältigt hatte, daran hindern, das erkannte Rechte auszusprechen und zu tun. Nun erst, da Gnade nicht als besseres Recht gefordert, da der Verdammungsspruch von dem Verurteilten selbst als recht empfunden und aufrichtig bejaht wird — nun erst ist wirklich Platz für echte Gnade, die ihm dann auch in schönster Form gewährt und — dennoch nicht als Gegensatz zum rechten Rechte empfunden wird. Hier zeigt sich im Bilde am klarsten das Wesen der Gnade im rechtlichen, zugleich aber auch ihre Wesensverwandtschaft zur Gnade im religiösen Sinne. Als ein weiterer tiefschauender Dichter darf aber auch Shakespeare hier nicht fehlen. In Portia’s berühmter Gnadenrede („Kaufmann von Venedig”, 4. Akt, 1. Szene) betont sie die irdische Macht als „Attribut” der ehrfurchtfordernden Majestät des Herrschers, hebt aber dann deutlich davon die Gnade ab, als in einer höheren Region urständend (It droppeth as the gentle rain from heaven upon the place beneath), als Tat der Freiheit (The quality of mercy is not strain’d), als ein Handeln Gottes auf Erden:

But mercy is above this sceptred sway,
It is enthroned in the hearts of kings;
It is an attribute to God himself,
And earthly power doth then show likest God’s
When mercy seasons justice.

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Erwähnt sei auch noch sein Drama Measure for Measure, das ganz von dem Gedanken „Gnade und Recht” durchzogen ist und aus ihm erst seinen tieferen Sinn erhält (vgl. dazu die eingehenden treffenden Ausführungen von Wilh. Grewe in seinem Buche „Gnade und Recht” 1936).

Diese metaphysische Verwurzelung der Gnade ergibt sich auch klar bei einem kurzen geschichtlichen Überblick. Gnade in unserem Sinne tauch wohl zum ersten Male klar auf in der Zeit des Hellenismus und des Spätrömertums. Hier ist sie ein Ausfluß des Gottherrschertums, das selbst Gott auf Erden zu sein wähnte. Diese Entwicklung findet ihre Fortsetzung im mittelalterlichen Gottesgnadentum des Herrschers, der nicht aus eigener vermeintlicher göttlicher Macht wirkt, sondern sich berufen fühlt, als ihr Diener ihre Werke auf Erden zu tun. In dem Maße wie das weltliche Herrschertum an überweltlicher Substanz verliert, schwindet auch die selbstverständliche Gegründetheit der Gnade (man denke an die Lehre der Scholastiker von der gratia cooperans; die Scholastik versucht die irdische Gnade zu rationalisieren, indem sie eine „justa causa” dafür verlangt). Mit der grundsätzlichen Anzweifelung des Herrschertums geht die radikale Verneinung der Gnade einher. Und je mehr der Staat der Neuzeit weltanschauungsleer wird, um so mehr beschränkt sich die Gnade nach Lehre und tatsächlicher Übung auf rein innerweltlich verständliche Aufgaben und Zielsetzungen: die Ergänzung des Rechts durch die Billigkeit — bis sie schließlich im Weltanschauungsverfall selbst zum Gegenstand bedenklichen Mißbrauchs, zum Bestandteil der Rechtsauflösung wird. Es ist auch bezeichnend, daß erst in neuester Zeit, in der man wieder Sinn für die Notwendigkeit weltanschaulicher Erfüllung und Zielsetzung der im Staate erfaßten Volksgemeinschaft bekommt, die ersten Anfänge für ein neues Verständnis des Wesens der Gnade zu finden sind.1)

Freilich: Die Rechnung geht niemals einfach auf. Ohne Gnade käme eine Staatsgemeinschaft nicht aus, wie eine menschliche Gesellschaft nicht ohne Opfer, eine Gemeinschaft nicht ohne Liebe. Aber diese Gnade, die rein rational nicht völlig durchleuchtet und geregelt werden kann, die ihre innere Ordnung und Richtung aus überweltlichen Regionen holt, wird — und darin liegt der entscheidend bleibende Unterschied zur göttlichen Gnade — von Menschen verwaltet. In dieser Spannung zwischen der überweltlichen Verwurzelung und der diesseitigen Handhabung der Gnade liegt auch die Unmöglichkeit, sie letztlich erschöpfend rational zu erklären und zu regeln. Aus ihr ergibt sich aber auch, daß sie — übrigens ebenso wie die Setzung von verbindlichem Recht — in ihrem höchsten Sinne um so eher erfült werden kann, je mehr der zu ihrer Handhabung Berufene sich selbst eingeordnet weiß in eine höhere Ordnung und aus dieser Einordnung heraus handelt.


1) Vgl. das erwähnte Buch von Grewe, das dem Verfasser nach Abfassung des Vortrags bekannt wurde und — mit eingehender wissenschaftlicher Begründung — in der Grundhaltung manche Ähnlichkeit zeigt.