Dombois, H.

Historisch-kritische Theologie, Recht und Kirchenrecht

Genre: Literatuur

1962

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Historisch-kritische Theologie, Recht und Kirchenrecht

 

I.

Daß die evangelische Theologie rechtsfremd ist, ist eine so objektive und erweisliche Tatsache, daß sie nicht auf Höflichkeit gegen die andere Fakultät verschwiegen zu werden braucht. Sie ist um so bemerkenswerter, als ja jede der großen Konfessionen in ihrer Theologie auch eine spezifische Rechtslehre ausgebildet, sehr bestimmte Grundentscheidungen auf diesem Gebiet vollzogen hat. Der Trieb, in der heutigen Zeit des Umbruchs diese Fragen neu anzufassen, ist jedoch im ganzen gesehen recht gering. Die Bemühungen einer kleinen Zahl namhafter Theologen, im Zusammenwirken mit Juristen neue Wege der Rechtstheologie zu gehen, werden dadurch in eine beinahe spezialistische Arbeitsstellung gedrängt. Wäre ein starkes und genuines Interesse vorhanden, so würden sich trotz vielfacher Überlastung die fehlenden Kräfte finden. So wie heute viele ernsthafte philosophische Bemühungen gern und leicht durch den Ideologieverdacht diskriminiert werden, steht nach wie vor alles Juristische unter einem kurzschlüssigen Gesetzesverdacht. Die unglückliche Assoziation Recht — juristisches Gesetz — theologisches Gesetz steht wie eine Barriere vor einer freien Begegnung. Verfolgt man diese Haltung in ihren vielfältigen Äußerungen, so stößt man auf ein tiefes Trauma, auf welches gedankliche Reflexion und wissenschaftliche Bemühung ernstlich einzuwirken kaum Aussicht haben. Diese Haltung wird nur noch unterstrichen durch die Bereitwilligkeit, mit der die Bedeutung und Würde des Rechts im weltlichen Bereich gepriesen und anerkannt wird. Dahinter steht regelmäßig ein positivistisch-technischer Rechtsbegriff, und die um so bestimmtere Überzeugung, daß das Recht

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mit dem opus proprium der Theologie nun gerade nichts zu tun habe. Der nützliche Hausknecht gehört nicht zu Familie und stört das Gespräch. Indessen ist dies ein Teil eines gefährlichen Wirklichkeitsverlustes. In der angeblich weltoffenen Moderne hat sich diese Hemmung, verglichen mit früheren Zeiten, eher verstärkt als abgeschwächt. Die Reformation stand alledem wesentlich unbefangener gegenüber, obwohl doch gerade sie sich im Kampfe mit dem großen Rechtssystem der römischen Kirche bildete. Die durch diese Losreißung erlittene Verletzung aber ist nicht abgeheilt, sondern hat sich zunehmend verstärkt.

Trotzdem stellt sich dieser Verfremdungstatbestand in einer paradoxen Form dar. Noch größer als Rechtsscheu und Gesetzesverdacht ist die unbefangene Bereitschaft zu weitreichenden juristischen Urteilen und Aussagen. In den vielen Fällen, in denen die Theologie in ihrem eigenen Felde auf Rechtsbegriffe trifft, werden Darstellungen und Begriffsbestimmungen gegeben, die dem juristische Gehalt nicht gerecht werden. Derselbe positivistische Rechtsbegriff, der das Recht seiner existentiellen Bedeutung beraubt, dient dazu, es als beliebig handhabbar zu betrachten. Sehr offen und mit einiger Schärfe hat neuerdings Erik Wolf in seinem Kirchenrechtslehrbuch die Weigerung der Theologen gekennzeichnet, den Stand der Rechtstheorie zur Kenntnis zu nehmen. Im extremen Fall wird einerseits die ausschließliche Zuständigkeit der Juristen für die Rechtsfragen anerkannt, andererseits aber zugleich werden den Juristen unter bestimmten theologischen Gesichtspunkten Rechtstheorien entgegengehalten, die einer vergangenen, obsoleten Rechtsanschauung angehören.

Dieses äußere Paradox löst sich jedoch auf, wenn man auf den gemeinsamen tieferen Grund jener Haltungen zurückgeht. Unter der stillschweigenden Voraussetzung eines nichtexistentiellen Rechtsbegriffs kann man sich konsequent weigern sich auf die phänomenale Rechtswirklichkeit einzulassen. Es werden die sozialen Kategorien des Rechts nicht zur Kenntnis genommen. So fällt schließlich doch der Theologie wieder die Bestimmung dessen zu, was Recht heißen kann.

Eine Milderung dieses Mißverständnisses könnte die heute entstandene Bereitschaft zu soziologischer Betrachtung bewirken. Der Historismus hat die unableitbare Individualität geschichtlicher Erscheinungen verstehen gelehrt, aber freilich im gleichen Zuge die Bedeutung dieser historischen Kontingenz durch den Entwicklungsgedanken relativiert. Im ganzen hat sich dieser — schon durch die Entstehung einer Dogmengeschichte vorbereitete — Historismus im Bereich der Ideengeschichte

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bewegt. Die Berührung mit der Soziologie könnt die Theologie veranlassen, sich in höherem Maße der Realgeschichte, den konkreten verbindlichen Lebensformen zu stellen. Die immer noch höchst wirksame Vorstellung, es seien diese konkreten Bildungen jeweils die — immer nur gebrochene und deshalb erst recht sekundäre — Verwirklichung wechselnder ideeller Konzeptionen (z.B. des „Kirchenbegriffs”), wäre zu einer Wechselbezüglichkeit zu berichtigen. Die Realgeschichte unterliegt einer, wenn auch nur relativen, Eigengesetzlichkeit und stellt die Begriffsbildung auf ernste Bewährungsproben. Würde dies erkannt, so müßte auch dem Recht eine andere Bedeutung eingeräumt werden. Dazu aber wäre, eben von der Soziologie her, eine Belebung des vielfach außer Funktion gesetzten Verständnis für soziale Strukturen und Prozesse erforderlich.

In Wahrheit haben jedoch von jeher im Zentrum der Schriftauslegung und des theologischen Denkens Rechtsbegriffe gestanden — und müssen es auch, wenn man de Schrifttheologie nicht preisgibt. Eine dramatische Zuspitzung erfährt dieser Sachverhalt im Bereich der heutigen historisch-kritischen Theologie, die in Gestalt der Bultmannschule in so großem Umfang die Diskussion beherrscht. Daher das Thema dieser Arbeit, die sich dabei auf zwei markante Vertreter, Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann, beschränken will.

 

II.

Direkte Äußerungen zu unserem Thema finden sich freilich bei beiden Autoren nur verhältnismäßig wenige — und gerade diese lassen sich als solche extrapolieren, welche für die Schule nicht eigentlich charakteristisch sind. Bultmann stimmt in der „Theologie des NT” S. 443 f. ausdrücklich Rudolf Sohms Kritik zu, sofern das Recht in der Kirche aus einem regulierenden zu einem konstituierenden werde. Freilich hebt er hervor, daß gerade das Wort des Charismatikers als autoritatives Wort Ordnung und Tradition schaffe. Die Überwindung der falschen Antithese von Geist und Ordnung zeichnet sich ab, die allmählich Gemeingut der Exegese geworden ist, freilich ohne sehr bedeutenden praktischen Ertrag. Eine Reflexion auf den hier verwendeten Rechtsbegriff findet jedoch nicht statt. Daß auch einer solchen Abweisung und Begrenzung ebenso wie einer positiveren Einordnung ein der Klärung bedürftiger Rechtsbegriff zugrunde liegt, wird nicht erwogen. So bleibt es trotz der

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Bereinigung jener falschen Entgegensetzungen bei einem positivistischen Rechtsbegriff. Das Recht erscheint als ein addendum oder ein sekundäres Produkt. Mit der Gegenüberstellung von konstitutivem und regulativem Kirchenrecht aber enthält diese Anschauung einen immanenten Selbstwiderspruch. Was regulativ einer kritischen Begrenzung und Ordnung unterworfen werden kann, muß der rechtlichen Beurteilbarkeit zugänglich sein und deshalb auch konstitutive Rechtselemente oder -aspekte enthalten. Jene Gegenüberstellung hat in einem anderen, sekundären Zusammenhange, dem der Lehre von modus und usus des Kirchenrechts seine Berechtigung. Hier gibt es durchaus jene Unterscheidung. So wird das Recht zur Teilnahme am Abendmahl konstitutiv durch die Taufe begründet, kann aber bei den als Kind Getauften regulativ von der admissio, etwa in Verbindung mit der Konfirmation abhängig gemacht werden. Das ständige Quid-pro-quo zwischen Begründung und Gebrauch des Kirchenrechts, und die Neigung zum Übergang auf die letztere Ebene ist für die Kirchenrechtsdebatte in hohem Maße charakteristisch. Man fühlt sich unwillkürlich an den kantischen Übergang von der theoretischen auf die praktische Vernunft erinnert.

Ohne formellen Widerspruch gegen Bultmann äußert sich Ernst Käsemann sehr viel schärfer zur Sache, wenn er sagt:

„Es ist einer der folgenschwersten Irrtümer des Liberalismus, daß er Geist und Recht voneinander schied. Da Paulus beide zueinander zuordnet, mußte von da aus die ganze paulinische Theologie modifiziert werden” 1.

Der Satz steht in einer Auslegung von 1. Kor. 5, welche uns später noch beschäftigen wird. Bultmann teilt seine Anschauung mit einem gemäßigten Liberalismus, welcher sich der radikalen Fragestellungen Sohms entschlagen hat, deshalb aber die Dinge auch nicht mehr bis zum Letzten austrägt. Daß jedoch „Sätze heiligen Rechts” sich im NT finden, ist heute, wie H. v. Campenhausen feststellen kann, Gemeingut der Auslegung, wobei wiederum die Frage ist, wieweit die dadurch bedingte Revision der Anschauungen von der paulinischen Theologie auch vollzogen worden ist 2. Gerade die generellen und ausdrücklichen Aussagen sind also nicht Spezifica dieser Schule. Die Heideggersche Existenzphilosophie, welche diese Schule verwendet, hat auch gewisse


1 Sätze heiligen Rechts im NT, New Testament Studies, Bd. I, 1954/55, S. 248 ff., 253.
2 H. v. Campenhausen und H. Bornkamm, Bindung und Freiheit in der Ordnung der Kirche, 1959.

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rechtsphilosophische Partien und Aspekte, die jedoch nicht eben stark ausgeprägt sind. Von diesen kommt jedenfalls bei Bultmann nichts zur aufweisbaren Wirkung.

Rechtsbegriffe finden sich natürlich an den verschiedensten Stellen des Bultmannschen Werks wie in jeder Theologie. In dem umfassenden Wurf der Theologie des NT treten sie verständlicherweise in gedrängter Häufung bei der Theologie des Paulus hervor. Der Schwerpunkt der Bultmannschen Theologie liegt freilich im Johannes-Evangelium. Dort schlägt sein Herz. Bleiben wir zunächst bei Paulus. In der Auslegung des Begriffs der Gerechtigkeit Gottes ist ihm besonders wichtig die Verbindung der forensischen Dimension mit der eschatologischen (274). Der auch juristische Sinn des Begriffs werde deutlich durch die Parallelität des Begriffs hyothesia, der ebenso zugleich ein eschatologischer sei. Er vermerkt, daß der letztere freilich nicht aus dem Prozeßrecht stamme. Eine eigentliche juristische Interpretation, bis auf gelegentliche Aussagen, etwa daß an einer Stelle martyria Anklage bedeute (Zeugnis wider jemand), fehlt. Erst recht fehlt jede Reflexion auf den verwendeten Rechtsbegriff. Insbesondere impliziert der Begriff „forensisch” bestimmte Strukturen, von denen nicht einfach abgesehen werden kann.

Hier vermag unsere Erwägung die Darlegung Bultmanns zu ergänzen. Der Prozeß selbst ist ja gerade als Streitverhältnis ein Rechtsverhältnis. Das Prozeßrechtsverhältnis als formelles ist mit dem Inhalt, dem Streitgegenstand nicht identisch. Der formal gemeinsame juristische Charakter von forensischer Gerechtigkeit als Urteilsspruch und Entscheidung und der Kindesannahme verdeckt die Tatsache, daß ein formelles und ein materielles Rechtsverhältnis nicht einfach zur Deckung zu bringen sind. Das wird auch nicht geändert durch die Tatsache, daß in beiden Begriffen das Problem des Verhältnisses von rechtlicher Präsenz und Eschatologie gegeben ist. Ist die Entscheidung strafrechtlicher Freispruch, in welche Existenz tritt dann der Freigesprochene, wenn nicht in eine durchhaltende, im Prozeß nur angefochtene Rechtsgenossenschaft? Wird das Kindschaftsverhältnis als streitbefangen dargestellt, so kann es im Urteil zwar zugesprochen werden, hat dann aber wenigstens in der Angefochtenheit des Streites bestanden. Die Versetzung in ein radikal neues Gottesverhältnis kann durch den formellen Charakter der Entscheidung nicht ausgedrückt werden, sondern nur durch Beziehung eines materiellen Verhältnisses wie eben der Kindschaft. Solange der rechtliche Ausdruck, wie es hier ja geschieht, und in der Sprache der Bibel begründet

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liegt, als angemessene und nicht vermeidbare Form festgehalten wird, ist diese Konsequenz unausweichlich 3.

Die Unausgetragenheit zwischen formeller, forensischer Rechtfertigung 4 und einer materiellen Beschreibung des neuen Gottesverhältnisses ist freilich keine Eigenheit Bultmanns. Sie ist in der reformatorischen Theologie seit Anbeginn vorhanden. Die bedeutsame Verschärfung und Präzisierung des Problems wird freilich durch Bultmann vollzogen, aber eigentlich erst in der Theologie des Johannes-Evangeliums. Dort treffen wir ein überragendes Interesse an dem zentralen Rechtsbegriff des Prozesses. Er kommt an einem Dutzend Stellen vor, jedoch regelmäßig im laufenden Text und nicht als eigentliche Thematik. Andererseits gibt er eine sehr ausführliche und eindrucksvolle Auslegung des Prozesses Jesu. Wiederum findet sich jedoch eine Interpretation des Prozeßbegriffes. Das ist auffällig. Die eingangs erläuterte


3 Daneben stellt sich die Frage, zwischen welchen Parteien denn überhaupt dieser Prozeß geführt wird. Ist es der Prozeß Gottes mit der Welt, so ist es ein kosmisches Drama, ein Agon, in dem der Mensch zwar inbegriffen, aber auf alle Fälle nicht die Hauptpartei ist. Der Mensch stände allenfalls etwa im Prozeßverhältnis der (notwendigen) Streitgenossenschaft mit der Welt, sofern er sich nicht auf die Seite Gottes stellt, sein Zeuge wird. Das wäre im Vorstellungsbereich des archaischen Prozesses durchaus sinnvoll, da dessen Zeugenbegriff ja den Charakter des Beitritts und der Gewährleistung enthält.
4 Hier muß angemerkt werden, daß der traditionelle Begriff einer „forensischen Rechtfertigungslehre” auf seine juristische Denkelemente betrachtet problematisch ist. Der Begriff der Rechtfertigung kommt in der Rechtssprache des Prozesses gemeinhin nicht vor. Der Angeklagte oder Beklagte wird durch das Urteil des Richters nicht „gerechtfertigt”. Er wird freigesprochen oder die (Zivil-)Klage gegen ihn abgewiesen. Das Urteil hat also nur absolutorischen Charakter. Es schließt aber, und zwar gerade um so stärker, je schwerwiegender die Klageforderung war, die Bestätigung des Rechtsstandes mit ein, in dem der Betreffende als Rechtsgenosse oder auch nur fremder Gewaltunterworfener vor Gericht gestanden hat. Sowohl ein Kapitalverbrechen wie die Überschuldung stellt diesen Stand in Frage. Aber bis zum Urteil ist dieser Status in der Schwebe, begrifflich nicht aufgehoben. Und der Richter, der Gerichtsbarkeit beansprucht, ist auch dem Rechtsfremdling dadurch gerechtes Urteil schuldig. soll daher die Rechtfertigungslehre die gnadenweise Zusprechung einer radikal neuen Existenz ausdrücken, so überschreitet dies den absolutorischen und konfirmatorischen Charakter des freisprechenden Urteils. Es bedarf hierzu institutionaler Rechtsbegriffe (Verleihung eines neuen Standes).
Trotzdem läßt sich die alttestamentliche gemeinschaftsrechtliche Gerechtsprechung mit dem allgemeinen forensischen Vorgang übereinbringen. Es müßte freilich das zugrunde liegende angefochtene, aber nicht radikal aufgehobene Bundesverhältnis klarer herausgehoben werden, als dies gemeinhin geschieht. Gerechtsprechung ist dann wesentlich Bestätigung des Bundesverhältnisses an Hand des Freispruchs vom konkreten Vorwurf. Soll aber in diesem Geschehen eine radikale Neusetzung impliziert werde, so müßte der Gegensatz zwischen Bestätigung und Neusetzung dialektisch, etwa im Sinne von „Institution und Ereignis” (Leuba) überhöht werden. Dadurch wird freilich der Formalismus und Aktualismus der Entscheidung begriffliche ausgeschlossen. Der forensische Rechtsgedanke trägt das aber nicht mehr. Der Vorgang tritt dann juristisch, wie schon gesagt, in Restitution und (Neu-)Institution mehraktig auseinander.

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Weigerung der Theologen, sich auf vorgegebene Strukturen, sei es auch nur als Erkenntnismittel einzulassen, reicht zur Erklärung dieses Desinteresse nicht aus. Dem Juristen ist gegenwärtig, daß es sich beim Prozeß um eine der geistig bedeutsamsten und zugleich schwierigsten Erscheinungen des Rechts handelt, während der Nichtjurist ihn oft als ein technisches Instrumentarium zur Ermittlung der vorausliegenden Rechtswahrheit mißversteht. Der Jurist kennt die Fülle der Probleme, die der Prozeß enthält: Individualisierung des Anspruchs, Formen der Beweisführung, Struktur des Urteils, Wesen der Rechtskraft. Auf alle Fälle ist der Prozeß eine mehraktige, zielgerichtete Handlungsfolge. Von diesem Gesamtgeschehen, welches zugleich in nicht weniger bedeutenden religionsgeschichtlichen Zusammenhängen steht, interessiert Bultmann nur ein einziges Moment als theologisch relevant: die Entscheidung, die „Krisis”, das „Krima”. Seine Theologie des Johannes-Evangeliums ist eine Zusammenziehung, Konzentration, um nicht zu sagen Reduktion, auf einen Entscheidungsdualismus 5. So erklärt sich äußerlich einleuchtend die Begrenzung des Interesses am Prozeß auf das Moment der Entscheidung. Aber eben damit entsteht die Frage, ob diese Beschränkung so möglich ist, und was sie etwa bedeuten würde.

Der Prozeß hat — kurz im Schema gesprochen — vier Stadien: Klage (Konstituierung des Streitverhältnisses), Gerichtsrede und Beweisführung, Urteil mit Rechtskraft, Vollstreckung. Offenkundig ist die Folge nicht veränderbar. Der Stellenwert der einzelnen Momente ist jedoch nicht einfach invariant, und ihre Form ist bis zu einem gewissen Grade geschichtlich wandelbar. Auf alle Fälle wird aber das Urteil (in der Rechtssprache „Erkenntnis” genannt) nicht um seiner selbst willen, sondern um der an ihm hängenden Rechtsfolgen willen gesucht. Das Urteil ist also nur ein Durchgangspunkt, ein diakritischer Punkt, und andererseits die Basis für einen neuen, unanfechtbaren Rechtsstand, welcher nunmehr, sogar abgelöst von seinen nicht mehr diskutablen Grundlagen, für sich besteht. Rein deklaratorische Urteile gibt es nicht. Jedes Urteil enthält ein konstitutives Element. Ein Ausspielen der deklaratorischen gegen die konstitutive Seite ist gerade deswegen verfehlt, weil beide im Urteil verschieden stark ausgeprägt vorkommen. Der Spruch wandelt immer den erhobenen Anspruch und gibt ihm eine neue Grundlage durch die Autorität des Richters 6.


5 So in RGG3 III, 848.
6 Solche Erwägungen sind wichtig über Bultmann hinaus im Verhältnis zu analogen Fragestellungen in der evangelischen Theologie. Eine Reduktion des Prozesses auf die ➝

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Nun zeigt jedoch der Abschnitt zwischen Klage und Urteil eine beträchtliche Variationsbreite, welche hier bedeutsam sein kann. Der ältere Prozeß wird unter Bindung an formelle Beweisregeln in der Hauptsache mit Akten der Gewährleistung, dem Eintreten von Gewährsmännern als Zeugen für Person und Sache der Partei geführt, was einen gewissen Anteil rationaler Argumentation nicht ausschließt. Reicht aber diese Beweisführung zur Urteilsfindung nicht aus, so kann sie in einer Art Umschlag eine negative Bedeutung erlangen. Sie führt dann auf eine Entscheidung zu, die die sonst dem Urteil zugrunde liegenden Gründe prinzipiell transzendiert. So in den verschiedenen Formen des Gottesurteils, im modernen Prozeß noch im bedingten Endurteil auf Leistung eines (zugeschobenen oder auferlegten) Eides. Die Beweisführung hat gerade im letzteren Falle wesentlich die Bedeutung, auf die entscheidende Alternative und ihre ausschließliche Relevant hinzuführen. Sie hat also die Funktion, andere Entscheidungsmöglichkeiten und ihre eigene Entscheidungsrelevanz gerade auszuschließen. Der moderne Prozeß entgeht dieser Lage im Strafprozeß durch den Grundsatz „in dubio pro reo”, im Zivilprozeß durch ein scharfsinniges System von Beweislastregeln. Er weicht damit der Entscheidung aus, welche der archaische Prozeß noch unbedingt erfordert. Es ist dies einer der vielfachen Hinweise darauf, daß das archaisch-personale und nicht das funktionale Denken existentiale Probleme noch rein zur Darstellung bringt. Dies läßt sich z.B. an dem Prozeßdrama des „Kaufmanns von Venedig” zeigen, für den das Ineinander zweier verschiedener Epochen des Rechtsdenkens besonders wichtig ist, deren Bedeutsamkeit gerade in der Grenzsituation des geschichtlichen Übergangs hervortritt.

In dem Prozeß, der auf ein Gottesurteil oder verwandte Formen zuführt, kann also von der Beweisführung, die sonst die positive Voraussetzung des Urteils ist, bis zu einem gewissen Grade abgesehen werden. Hier kann also der Prozeß — so scheint es — auf die Entscheidung reduziert werden. Tatsächlich stimmen jedoch archaischer und rationaler Prozeß darin überein, daß sie nicht um des Urteils, sondern um der Urteilswirkungen willen geführt werden.

Nun haben sich aber im 20. Jahrhundert Formen des Rechtsdenkens ausgebildet, welche eine noch weitergehende Reduktion des Prozeßbegriffs erlauben. Es sind Formen des sogen. juristischen Dezisionismus. Vielleicht sind sie nirgends in voller dogmatischer Reinheit ausgebildet,


➝ Entscheidung kann jedenfalls nicht mit dem exklusiv deklaratorischen Charakter des Urteils begründet werden.

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regelmäßig mit anderen Gedankenelementen, aber auch traditionalen Resten vermischt. Trotzdem sind wesentliche Erscheinungen der Gegenwart ohne die Denkstruktur des Dezisionismus nicht verständlich. Diese Struktur kommt vor in Verbindung mit dem „konkreten Ordnungsdenken” im Nationalsozialismus, in der „sozialistischen Gesetzlichkeit”, welche im Zusammenhang mit dem ökonomisch-dialektischen Prozeß im Sinne der marxistischen Theorie gesehen werden muß, und gerade von daher das politische Strafurteil einschließt und trägt. Aber eine radikal funktionalisierte und technisierte Rechtsanschauung treibt in einem Gefälle auf den Dezisionismus zu.

Gerade die Entwertung traditioneller Sinngehalte nötigt, eine neue Sinneinheit der Entscheidungen zu suchen.

Bis zur Ausbildung dieser Anschauungen liegen die Bedingungen der Möglichkeit des gerichtlichen Urteils in drei Momenten: in der Essenz der Partei, d.h. ihrem Vorhandensein als rechtsfähiger Rechtsgenosse, in der Tradition, d.h. der Summe der vorgegebenen, auch als bloße Fakten durch Rechtsvermutungen geschützten Rechtsstände, und der Vernunft, d.h. dem Inbegriff der anerkannten folgerichtig aufgebauten, stringenten Verhaltensregeln, seien sei in „Treu und Glauben” mehr allgemeiner, in Usancen u. dgl. mehr positiver Natur. Im Prozeß, der nicht durch die Weisheit des Richters, sondern durch Gottesurteil entschieden wird, scheiden Tradition und Vernunft in diesem Sinne aus. Auch von der Essenz der Partei kann abgesehen werden, weil im Gottesurteil entweder der Frevler entlarvt wird und dann dem Tode verfällt, oder aber der Anrufende in seinem Rechte bestätigt und erneuert wird. Die Frage der Essenz kann daher in suspenso bleiben.

Jene neueren Rechtsanschauungen ähneln nun dem archaischen Prozeß insofern, als sie diese negativen Relevanzurteile in fast der gleichen Form ins Spiel bringen (während die positiven Formen des archaischen wir des rationalen Prozesses für sie ganz ausscheiden). Denn für sie sind sowohl die Besitzstände wie die Vernunftregeln (und damit die ganze hochentwickelte Kunst und Erfahrung der Jurisprudenz) aus geschichtsphilosophisch-ideologischen, rassische oder klassenmäßigen Gründen negativ qualifiziert. Aber im Gegensatz zu der bis dahin nur noetischen Unerkennbarkeit der Urteilsgründe sind beide jetzt prinzipiell entwertet. Eben dadurch verändert sich auch die Position der Partei, des Rechtsuchenden, des Angeklagten. Würde dieser Recht suchen, um von neuem im früheren Sinne einen Rechtsbesitz zu erhalten und zu befestigen, um die alten Verhaltensregeln wieder in Kraft zu setzen, so

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würde er eben dadurch erweisen, daß ihm das zusprechende Urteil nicht zukommt, welches aus Gründen erwächst, welche jene Begründungen radikal transzendieren. Anders gesagt: wer bürgerlichen Rechtsschutz vor autoritären Gerichten sucht, bekommt ihn nicht nur nicht, sondern verdient ihn schon deswegen nicht, weil er es tut. Die biologische oder ökonomische Prädestination ist belanglos gegenüber der Frage, ob der Betreffende im entsprechenden Sinne handelt, sein kämpferisches Bewußtsein entfaltet und bewährt. Würde jetzt der Spruch des Richters wiederum Rechtskraft in den früheren Sinne von Tradition und Vernunft erzeugen, so gäbe er das dynamisch-revolutionäre Moment auf, welches für ihn selbst konstituierend ist. Der revolutionäre, radikal erneuernde Einbruch in eine verderbte Welt wäre geleugnet und verraten. Dieser Richter kann so nur sich selbst, aber keinem der ihm Unterworfenen treu sein. Das praktische Interesse, so zu verfahren, ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Es bleiben immer Bereiche, in denen sich Reservate alter Sachlichkeit erhalten. Ein Existenzrecht haben sie nicht. Die Entwicklung des sowjetrussischen Eigentumsrecht und Strafrechts liegt in dieser Linie: sie zeigen eine völlige Manipulierbarkeit, so daß im Hin und Her verschiedener Zwecksetzungen von einer eigentlichen Entwicklung nicht die Rede sein kann. Es handelt sich um eine radikale Entgeschichtlichung; Selbstbindung und Kontinuität sind aufgehoben.

Zwischen beiden Systemen bestanden noch sehr wesentliche Unterschiede. Eine von der Biologie ausgehende Lehre kann sich von der „Essenz” nicht vollständig ablösen, ist auch nicht imstande, sich zu voller Rationalität auszubilden. Im Gegensatz zum streng prädestinatarischen Charakter des dialektischen Materialismus enthält sie sozusagen genuine „pelagianische” Elemente. Diese verschiedenen Ausformungen, die mit einem Element spezifischer Inkonsequenz durchgesetzt werden, interessieren hier im einzelnen nicht weiter. Wichtiger ist die Frage, wie sich in einem solchen Rechtssystem der ihm zugehörige Mensch verhält und versteht. Ein solches System kann als radikal heteronome Ordnung bis an gewisse praktische Grenzen so durchgeführt werden, daß jedenfalls gegenteilige Rechtsanschauungen keinen Platz finden, mag das System sonst noch so viele Lücken haben. Die Frage nach dem möglichen Selbstverständnis des Menschen in ihm und ihm gegenüber ist damit nicht beantwortet. Ist ihm aus den angeführten Gründen verwehrt, im früheren Sinne eine Rechtskraft der Entscheidung zu seinen Gunsten zu suchen, so kann er diesem Widerspruch nur dadurch entgehen, daß

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er in einem dialektischen Umschlag die Entscheidung des Richters übernimmt und zu seiner eigenen macht, sie in ihrem dynamisch-revolutionären Sinn bejaht. Die Frage ihrer Verfehlbarkeit, des Irrtums des Richters darf dann nicht aufgeworfen werden, muß prinzipiell ausgeschaltet werden. Diese Infallibilitätsvorstellung ist schon im Nationalsozialismus wenigstens für Hitler, weniger für die Partei, entwickelt worden und war in sich folgerichtig, wenn auch jenes „pelagianische” Element dem entgegensteht. Im politischen Prozeß der kommunistischen Staaten wird das gleiche in der Bereitschaft Angeklagter sichtbar, auch eindeutige Fehl- und Willkürurteile als durch die immanente Folgerichtigkeit des revolutionären Prozesses gerechtfertigt anzusehen und deshalb zu übernehmen. Die Erzwingung der Übernahme durch Gehirnwäschen und Ähnliches hat die phänomenologische Bedeutung, daß hier eine Differenz öffentlich nicht hervortreten darf.

Im Akt dieser Entscheidungsübernahme verbinden sich Gemeinschaftsmystik und die konsequentesten Formen einer Identitätsphilosophie zu einer nicht zufälligen Einheit. Durch ihre Breite wird diese Haltung sehr verschiedenen Menschen und Lebenslagen zugänglich. Man stimmt dem zu, daß der Mensch und jedes mögliche Geschehen in einen, womöglich „wissenschaftlich” erkennbaren Gesamtzusammenhang verrechnet werden können und schon vorweg verrechnet sind, einschließlich der dynamischen Wandlung des Systems selbst, welches sich im Geschehen selbst auslegt. Was hier nur gezeigt werden kann, ist die Anwendung dieses „Dezisionismus” auf die konkrete Struktur des Prozesses als zentrales Rechtsgeschehen, auf das Gebiet, an dem der Begriff der Entscheidung seinen eigentlichen Ort hat, seine markanteste Ausprägung erfährt. Mit Recht sagt Graf Krockow in seiner Arbeit über die „Entscheidung”, daß der Dezisionismus das sog. „konkrete Ordnungsdenken” sprengt (S. 103). Ich enthalte mich hier bewußt einer philosophischen Kritik der bei Jünger, Carl Schmitt, Heidegger auftretenden Denkstrukturen im Problembereich der „Entscheidung” und beschränke mich auf das aus der Struktur juristischer Aussagen Erhebbare. Dadurch ergibt sich auch eine etwas andere Sicht und Terminologie als bei Graf Krockow.

 

III.

Läßt sich also eine Prozeßstruktur finden, in der der Prozeß auf den Akt der Entscheidung — als zu übernehmende — reduziert wird, so

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zeigt sich als ein entscheidender Unterschied das Verhältnis zur Zeit. Der Prozeß bis dahin hat eine zeitliche Erstreckung in der Mehraktigkeit und zielt auf einen dauernden Rechtsstatus. Der dezisionistische Prozeß ist von reiner Präsenz. In einem präsentischen Entscheidungsdualismus fallen daher der Akt der Entscheidung und der Gegenstand der Entscheidung so ineinander, daß sie nicht mehr voneinander abgehoben werden können. Der bisherige Prozeß dagegen hatte einen Gegenstand: Die Gerichtsversammlung wurde durch den Prozeßgegenstand, um den man sich versammelte, selbst zum „Ding”. Trotz dieser Synonymität von Vorgang und Gegenstand waren sie unterscheidbar.

Wenn Bultmann das Programm existentialer Interpretation aufstellt und selbst zu erfüllen versucht, so liegt darin zweierlei: sozusagen ein Formalprinzip und der Entwurf einer eigenen Anwendung dieses Prinzips. Sein Verdienst liegt darin, einen theologischen Vorgang ins Bewußtsein erhoben zu haben, der in der Auslegungsgeschichte immer wieder vollzogen worden ist, aber weder durch die traditionellen exegetischen Vorstellungen noch durch die Begriffe Bekenntnis, Lehre, dogma zulänglich bezeichnet werden konnte. Der Grund dafür, daß dieser Vorgang früher nicht in den Blick gekommen ist, liegt unter anderem darin, daß man sich an materielle Rechtsbegriffe hielt und sich nicht an formellen Vorgängen des Prozeßrechtes, wie sie durch den Begriff der Entscheidung herausgestellt werden, orientierte. Seit die Entscheidung mit ihrem Gegenstand ineinsfällt, ist die Rückprüfung geboten, wie diese am formalen Vorgang haftende Anschauung entstehen konnte.

Nun versteht Bultmann das Johannes-Evangelium dahin, daß es an die Stelle eines kosmologischen Dualismus einen Entscheidungsdualismus setze — es gehe allein um die immer erneut und ausschließlich durch das Verkündigungswort provozierte Entscheidung. Im theologischen Entscheidungsdualismus wird die Eschatologie radikal präsent (so radikal, daß Wingren von einer Vollendung des im römischen System nur Versuchten sprechen kann — D. Methodenfrage der Theologie S. 65).

Dennoch stellt sich auf für Bultmann die Frage nach der Lebensform, in der sich die neue Existenz dann ausprägt. „So bleiben die Glaubenden in ihm, was nicht eine mystische Einigung mit ihm bedeutet, sondern die Treue zu seinem Wort bzw. das Umfangensein von seinem Wort” (Bultmann) 7. „Der Glaubende bleibt auf Erden immer unterwegs,


7 RGG3 III, 848.

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und in der konkreten Lebensführung vollzieht sich die ,entweltlichte’, die ,eschatologische’ Existenz”. Die letztere Formulierung versucht den Entscheidungscharakter festzuhalten, während die vorangehende die Verlegenheit deutlich macht. Der Formalismus der Entscheidung, in welchem Entscheidungsakt und Entscheidungsinhalt zusammenfallen, kann nicht voll durchgehalten werden. Der Sachverhalt faltet sich in die ethische Struktur der Treue zum Wort — was ohne einen materialen Inhalt („lehret sie halten alle meine Gebote”) nicht möglich ist — und eine Verhältnisbeschreibung in Seinsbegriffen „Umfangensein vom Wort” auseinander. Um dem Gedanken des esse cum Christo im Sinne einer personalen Kommunikation zu entgehen, die als mystisch gedeutet und ausgeschlossen wird, wird die Person Christi durch das „Wort” ersetzt. Der Jurist als solcher kann hierzu nur Stellung nehmen, insofern er die rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Anschauung zu erhellen vermag, welche dem theologischen Denken hier unbewußt zugrunde liegen.

Es ist dazu nötig, die durchgängig rechtlichen Interpretationsformen des biblischen Kerygmas, des durch den Glauben begründeten neuen Gottesverhältnisses wenigstens in einer kurzen Skizze zu verfolgen.

Diese Interpretation geschieht im NT selbst in den Rechtsbildern des Verlöbnisses, der Kindschaft und der Erbeinsetzung. In allen drie Fällen sind es personenrechtliche Rechtsverhältnisse von unmittelbarer präsentischer Gültigkeit. Sie begründen statusrechtliche Zugehörigkeiten, sind aber sämtlich von grundsätzlicher Unvollendetheit, die auf eine zukünftige Erfüllung hinweist. Die altindogermanische, aber auch die orientalische Kauf- oder Dotalehe begründet im Verlöbnis durch Erwerb und Hingabe des Preises bzw. durch Mitgift bereits die volle Zugehörigkeit der Frau zum Manne, die jedoch durch Heimführung und Vermählung gleichwohl erst noch zu perfizieren ist 8. Nicht minder sind Kindschaft und Erbeinsetzung, Erbrecht präsentische Anwartschaftsrechte, verstanden als unvollkommene Rechte zur Sache. Sämtlich beruhen diese Rechte auf freier Wahl und grundloser Zuwendung. Das Verlöbnis ist nicht der leicht lösliche Vorvertrag auf zukünftige Eheschließung, wie ihn das spätere römische Recht ausgebildet und die Kanonistik in den Begriff der sponsalia de futuro umgebildet hat. Im Gegenteil enthält dieses Rechtsverhältnis die volle, mächtige Spannung


8 S. Koschaker, Rechtsformen der Eheschließung bei den Indogermanen. Dt. Landesreferate z. II. Internat. Kongr. f. Rechtsvergleichung, den Haag 1937. — Sonderh. d. 11. Jgg. et. Zf. ausl. u. internat. Privatrecht, S. 77 ff.

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zwischen präsentischer Zugehörigkeit und zukünftiger Erfüllung. Da dies jedermann verständlich war, bedurfte es keiner Brautmystik.

In der biblischen Rechtswelt, die Olof Linton am Ende seines Buches über die Erforschung der Urkirche 9 gekennzeichnet hat, gilt noch die von Max Weber in der Rechtssoziologie gezeichnete Form des personenrechtlichen Kontraktes, durch den man „jemand jemandes” wird, nicht aber ihm ein bestimmtes Verhalten verspricht. In diesem Verhältnis gegenwärtiger Zugehörigkeit und Erwartung der Zukunft und Wiederkehr des Herrn hat sich die Christenheit verstanden, und das Gleichnis Matth. 9, 14 ff. rechnet mit einem Bräutigam, der fortgeht und wiederkommt, d.h. seine Braut heimführt.

Die personenrechtliche Vergemeinschaftung, die wir in Braut, Kindschaft, Erbeinsetzung sahen, wandelt sich jedoch in der Linie der Vertragsfrage (eperotema), schon im 1. Petrusbrief, über die bei Plinius berichteten Vorstellungen zu den Vertragsgedanken bei Tertullian. Es ist ein Vertrag unter Ungleichen, ein pactum supra partes, in welchem die persona potentior der anderen im Kontrakt ihre lex auferlegt, aber ihr die zukünftige Gabe des Heils verspricht, wodurch zugleich der Glaubens- und Lebensgehorsam zum vertraglichen debitum wird. Dieser Übergang vom Personenrecht mit seinem relationalen Gehalt auf die (einseitige oder zweiseitige) Vertragszusage hat die folgenreiche Bedeutung, daß Rechtsverhältnis und Inhalt nicht mehr zusammenfallen, sondern daß das Rechtsverhältnis einen „Gegenstand” bekommt. Das Schuldrecht impliziert den Begriff der Vertragsfreiheit: das heißt aber rechtlich, daß der Handlungsinhalt zur Verfügung steht, anthropologisch, daß der Rechtsvorgang selbst nicht mehr existenzbestimmend ist, wie dies im Statuskontrakt der fall ist, wo man auch heute noch etwa durch die Eheschließung Mann oder Frau jemandes, also einer konkreten Person, wird. Im Schuldrecht ist das Subjekt als rechtliche und ethische Person aus dem Rechtsverhältnis ausgeklammert, es wird vorausgesetzt und nicht tangiert. Die Brücke liegt darin, daß das Evangelium aus seiner — von Linton wenigstens im Umriß richtig gezeichneten — Rechtswelt personaler Zuordnungen in die verkehrsrechtliche Zivilisation des römischen Imperiums eintrat und entsprechenden Uminterpretationen ausgesetzt wurde. Das gleiche hat sich noch einmal in dem sozialgeschichtlichen Umbruch vollzogen, der etwa im 13. Jahrhundert seinen Kulminationspunkt besitzt. In dieser Zeit sind vorzugsweise die


9 Olof Linton, D. Problem der Urkirche in der neueren Forschung, Uppsala 1932 (Frankfurt M. o.J. Neudruck), insbes. S. 189.

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Dinge entstanden, an denen sich die Reformation entzündet hat. Auch der Rechtsbegriff des Angeldes verändert sich: ist es ursprünglich der erste Teil der Leistung, mit der schon der Anfang der Erfüllung gemacht, und das ganze personale Verhältnis begründet wird, so wird es jetzt zum bloßen Zeichen und Beweismittel für ein außerhalb seiner selbst liegendes Verpflichtungsgeschäft.

Die Reformation hat nun mit Recht die Zweiseitigkeit dieses Vertragsgedankens zugunsten einer radikal einseitigen Zusage Gottes an den Menschen ausgeschieden, nicht ohne einige Mißverständnisse des in der Vertragsterminologie Gemeinten. Dabei hat sie die schuldrechtliche Rechtsstruktur beibehalten, ist aber zu den personalen Relationen statusrechtlicher Art darum nicht zurückgekehrt. Der sozialgeschichtliche irreführende Begriff „Personalismus” verdeckt das völlig. Jetzt ist es nicht mehr die präsentische Anteilgabe, sondern die rein verbale Zusage und Verheißung zukünftigen Heils! Im Glauben hat der Mensch nur das Wort, aber freilich damit einen Partner, dem zu mißtrauen Schimpf und Untreue ist, so wie sich der königliche Kaufmann entrüstet, daß er für das Darlehen einen Schuldschein anstellen soll, sein bloßes Wort nicht mehr genügt.

Die biblischen und die reformatorischen Rechtsinterpretationen stimmen darin überein, daß sie die zeitliche Spannung von Gegenwart und zukünftiger Erfüllung enthalten. Ein linear-futurisches Mißverständnis der Eschatologie ist damit ermöglicht, aber nicht principiell gegeben. Beide Begrifflichkeiten unterscheiden sich jedoch grundlegend in der Struktur. Mit dem Übergang auf die schuldrechtliche Struktur verbaler Zusage, welche den älteren Rechten fremd und unvollziehbar ist, ist eine Formalisierung des Inhalts gegeben, der im Vertragsgeschehen nicht mehr adäquat ausdrückbar ist. Dem geht schon in der Hochscholastik die Formalisierung des Gnadenbegriffs voraus, welcher von seinem konkreten Gemeinschaftscharakter abgelöst wird.

Der Übergang aus der personenrechtlichen in die schuldrechtliche Struktur, sei es des Vertrages, sei es der einseitigen verbalen Zusage, hat eine spezifische Spaltungswirkung: das Verhältnis wird zugleich im Sinne der Verfügbarkeit vergegenständlicht, wie eben deshalb wegen der Inadäquatheit für die Bezeichnung eines existentiellen Verhältnisses zugleich entgegenständlicht. Aber das gesuchte personenrechtliche Verhältnis kann nicht mehr gefunden, verstanden, ausgedrückt werden.

Bis in die Reformation hinein interpretiert die Christenheit das Gottesverhältnis aber immer als ein materiellrechtliches Verhältnis,

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unbeschadet aller Verschiedenheiten. Die als einseitige Heilszusage festgehaltene schuldrechtliche Struktur entfaltet aber jetzt ihre formalisierende Tendenz. Die Spannung zwischen innerweltlicher Gegenwärtigkeit des Glaubens und der Zukünftigkeit der Erfüllung der Heilszusage wird, etwa im reformatorischen Kirchenlied, deutlich bezeugt. Daneben aber tritt erstmalig ein formelles Rechtsverhältnis, das Prozeßverhältnis mit dem freisprechenden Urteil in der sog. forensischen Rechtfertigungslehre hervor, und gewinnt nach Luther dominierende Bedeutung.

Bultmann löst nun das freilich ungeklärte Verhältnis zwischen materialer Heilszusage und forensischer Rechtfertigung auf und radikalisiert die letztere. Denn der Entscheidungsdualismus verträgt sich vermöge seiner radikalen Präsenz nicht mit jenen biblischen Anwartschaften und dem ihnen zugrunde liegenden Heilsverständnis.

Seine Exegese beruht so auf der kirchlich-dogmatischen Tradition einerseits, der rechtsgeschichtlichen Situation andererseits, die sich nicht erst heute miteinander verzahnen. Wie die großen Exegeten des 19. Jahrhunderts die Urkirche als bürgerlichen Verein konstruierten, so finden ihre gleichrangigen Erben heute Rechtsanschauungen ihrer Zeit in der Schrift wieder. Ohne die Ausbildung eines juristischen Dezisionismus ist Bultmann so wenig denkbar, wie die Schleiermacher-Hatch-Harnacksche Deutung der Urkirche als Gemeinschaft und Verein ohne das bürgerliche Rechtsdenken des 19. Jahrhunderts. Der Dezisionismus hat zur Voraussetzung wie zur Folge die umfassende Verwerfung von Essenz, Tradition und Vernunft im obigen Sinne. Das heißt für Kirche und Theologie: ein Anbruch neuer Schöpfung in der Zeit, eine „heilsgeschichtliche” Kontinuität und Tradition ist in der vom Dezisionismus geprägten Begrifflichkeit nicht mehr auszusagen, und die Möglichkeit legitimer dogmatischer Aussage ist verlorengegangen.

Mit dem Übergang in das Prozesrechtsverhältnis, dem Ineinsfallen von Entscheidung und Entscheidungsinhalt aber wird letztlich die Differenz zwischen Richter und Gerichteten, zwischen den in der juridischen Begrifflichkeit im N.T. vorgestellten Rechtsrollen in Frage gestellt. Damit wäre zugleich die unumkehrbare Vorgängigkeit im Christusgeschehen — das Biblische „eph’ hapax” — gegenüber dem praesentischen Gerichtsgeschehen in der Entscheidung des Glaubens bzw. Unglaubens nicht mehr zum Ausdruck zu bringen, so daß das in der römischen Meßtheologie auftretende Problem der Wiederholung auch hier in neuer Weise sich stellt.

Es ist freilich nicht zu bestreiten, daß eine solche Denkform höchst

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zeitgemäß ist. Die existentiale Interpretation verbraucht gewissermaßen die Formen des Rechtsdenkens: Personenrecht, Sachenrecht und Schuldrecht und endet beim Prozeß, von dem sie, freilich in einem radikal anderen Sinne, ausgegangen ist. Denn der transitorische Dualismus des NT, der in den Entscheidungsdualismus umgeformt worden ist, ist ein mehraktiger Rechtsvorgang, der auf ein eschatologisches Ziel zuführt.

Der Theologe, der das Recht in der Kirche auf regulative Funktionen beschränken will und sich dem Gehalt der ihn selbst faszinierenden Rechtsbegriffe nicht stellt, steht damit vor der ironischen Tatsache, daß die von ihm geforderte existentiale Interpretation mit Rechtsbegriffen, ja der Rechtsgeschichte überhaupt, konstitutiv verknüpft ist. Auch in der existentialen Interpretation begreift der Mensch das ihm von Gott geschenkte Recht in Gegenwart und Zukunft — in rechtlichen Begriffen. Wie könnte es auch anders? Kein Bild und Abbild hat die gleiche Verbindlichkeit und Unmittelbarkeit des Lebensbezugs.

Die Interpretation in materialen Rechtsverhältnissen vermag die eschatologische Erfüllung von Anwartschaft oder Zusage klarer auszudrücken als der Entscheidungsgedanke. Wenn die Interpretation mehr sein soll als eine sozialgeschichtliche Reflexwirkung, so muß sie eine bestimmte Bodenfreiheit erweisen. Nur soweit kann der Jurist argumentieren. Das übrige kommt dem systematischen Theologen zu.

 

IV.

Von der Kritik des Entscheidungsbegriffs fällt auch ein Licht auf die rechtlichen Aussagen in den Schriften Ernst Käsemanns. Daß er im Zuge des Generationsgefälles offener für Rechtsphänomene ist als Bultmann, wurde schon deutlich, ist aber auch nicht entscheidend. Wir finden solche Hinweise etwa in seinem Aufsatz über die paulinische Abendmahlstheologie.

In besonderem Maße werden Rechtsfragen bei ihm thematisch in der schon genannten Studie über Sätze Heiligen Rechts bei Paulus. Sie bezieht sich auf 1. Kor. 5, die Verurteilung des Blutschänders. Es geht nicht primär um Rechtfertigung, sondern um Kirchenrecht. Freilich rückt hier beides mit vollem Recht sachlich und strukturell nahe aneinander. Zum Verständnis müssen hier in Kürze einige Stellen aus der Studie wiedergeben werden.

„Wenn man das im 1. Kor. 5 zweifellos begegnende Recht bestimmen will, muß man in anderen Kategorien als denen des Sakral- und Disziplinarrechts denken, genauer in denen,

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die uns religionsgeschichtlich aus der Sphäre des Ordals vertraut sind. Es geht um ein Gottesrecht, in welchem Gott selber der Handelnde bleibt, und das, sofern Gott es durch Charismatiker verkünden und vollziehen läßt, auch charismatisches Recht genannt werden mag. Das für die Urchristenheit Charakteristische aber ist die Bezogenheit auf das jüngste Gericht, also seine eschatologische Orientierung.”

„Die Proklamation des Gesetzes, nach welchem Gott an seinem Tage handeln wird, bedeutet für sie, daß sie sich dereinst nicht entschuldigen können. Sie sind fortan mit ihrer Schuld behaftet. Die Verkündigung des Gerichts ist darum mehr als eine Androhung. In ihr vollzieht sich bereits ein Gerichtetwerden. Das Wort des Charismatikers ... nimmt den Urteilsspruch des letzten Richters vorweg. Der Zusammenhang beweist jedoch, daß das eigenartig dialektisch geschieht. Denn es wird ja eben nicht das Tribunal des jüngsten Tages auf Erden inszeniert und Gottes eigenes Handeln überflüssig gemacht. Der Prophet gibt einzig die Sicht auf dieses Tribunal frei und stellt den Schuldigen damit in die Entscheidung und vor die Möglichkeit, dem ewigen Gericht zu entrinnen. Wer sich jetzt richten läßt, wird dem Gericht nicht endgültig verfallen.”

„Seine Dekrete sind sakrosankt und können nicht problematisiert werden. Aber nur die verstehende Liebe erfüllt sie wirklich. Die Liebe ist hier also nicht Ersatz des Rechtes, sondern seine Radikalisierung.”

Es ist nur zweifelhaft, ob der Verweis auf die eschatologische Dimension des Vorganges genügt, um seine Singularität zu gewährleisten. Die Überprüfung der religions- und rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge und Parallelen ist erforderlich.

Der Gedanke selbst ist klar. Der Apostel verhängt in einem prophetischen Spruch um der Reinheit der Gemeinde willen die Exkommunikation. Sie ist von der Gemeinde durch Akklamation zu bestätigen. Diese würde sich selbst verurteilen, wenn sie nicht akklamierte, die Entscheidung übernähme. Die Entscheidung kann nicht erwogen, ermäßigt, problematisiert werden. Das ist gewiß charismatisches, pneumatisches Recht. Freilich enthält es für den Rechtshistoriker nichts Ungewöhnliches und Besonderes. Das Interesse an diesem scharf belichteten, ja beinahe überbelichteten Tatbestand liegt offenkundig im Vorverständnis der Existenzphilosophie. Diesem pneumatischen Recht wird nun — im Zusammenhang mit der Parusieverzögerung — ein Kirchenrecht, aufgebaut auf Prinzipien der Ordnung und Tradition gegenübergestellt. Freilich stehen sich jetzt nicht mehr rechtsfreie Urkirche und Rechtskirche der Folgezeit gegenüber, sondern pneumatisches und Recht der Ordnungsprinzipien. Aber das Abfallschema tritt in veränderter Form und Periodisierung wieder auf.

Die Kritik des Entscheidungsbegriffs führt jedoch auch hier weiter. Es ist wesentlich, daß die hier hervorgehobene und besonders entschieden ausgelegte Stelle sich um eine Exkommunikation dreht. Der Entscheidungsbegriff wird wirksam nur in der Negation und kann es

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nur. Daß in der Auswahl der zur Mission Berufenen eine prophetische Entscheidung nicht gegen, sondern für jemand erfolgt, die ebenso akklamiert wird, begegnet nicht dem gleichen Interesse. Gerade Sohm, dessen kritische und zu Unrecht meist allein erörterte Generalthese selbst Bultmann nicht anzunehmen vermag, hat in der Darstellung des Sakramentsrechts die Belege dafür in überwältigender Fülle erbracht. Daß dieses pneumatische Recht dabei schrittweise formalisiert worden ist, ist unbestritten. Aber es hält, wie Sohm am allerwenigsten verkennt und ausdrücklich sagt, zunächst die ursprüngliche Konzeption fest. Der enttäuschende Ruck der Parusieverzögerung scheidet also zur Erklärung aus. Aber es geht im Grunde nicht um eine mehr oder minder zutreffende Darstellung der Perioden und Entwicklungen. Die Exegese von 1. Kor. 5 ist vielmehr bedeutsam als ein klassisches, unwillkürliches Selbstzeugnis für die materiell negative Festlegung des Entscheidungsbegriffs. Bei der Wahlakklamation dagegen wird zugesprochen und der Erwählte dan ordiniert und entsandt.

An der (positiven) Rechtskraft dieser Entscheidung ist der Dezisionismus nicht interessiert und kann es nach seinen Voraussetzungen auch nicht sein.

Für diese pneumatische Entscheidung ist jedoch charakteristisch, daß es bei dem Akt der Akklamation und Anerkennung des prophetischen Urteils nicht bleibt. Wiewohl die Beteiligten hier der im prophetischen Wort sichtbar werdenden göttlichen Erwählung folgen (dieser Gehorsam ist ihre grundsätzliche Intention), wird für den so Geistbegabten dennoch der Geist erbeten und ihm zur Geistverleihung, zur Vollmacht die Hände aufgelegt. So unabdingbar die Entscheidung hier als Selbstverurteilung zum Gehorsam ist, so trägt sie doch nicht allein als deklaratorische die Bevollmächtigung und Aussendung. Es erfolgt gleichwohl in einem besonderen Akt eine Bevollmächtigung und Einsetzung. Strukturen solcher Mehraktigkeit sind in den letzten Jahren in den Forschungen der Familienrechtskommission der EKD und der Institutionenkommission der Ev. Studiengemeinschaft als institutionelle erörtert worden. Von beiden Akten kann nur der erstere die Entscheidungsstruktur des streitigen Prozesses in sich aufnehmen. Der zweite Akt ist mehr als Publikation oder Vollstreckung der im Entscheidungsakt gewirkten Rechtskraft. Sohm hat diese paradoxe Zuordnung mit dem Schriftwort verständlich zu machen versucht „wer da hat, dem wird gegeben”, d.h. obwohl er hat, wird dennoch gegeben, erbeten und verliehen. Das Dilemma, daß die Entscheidung entweder im geschlossenen Zirkel

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in sich verläuft, d.h. durch Deklaration nur offenbar macht, was vorliegt, oder im kausativen Sinne Rechtskraft wirkt, wird durch das spezifisch pneumatische Handeln überwunden und ausgeschlossen. Die Isolierung jedes der beiden Akte hebt diesen pneumatischen Charakter auf. Es ist ersichtlich, daß der negativ festgelegte pneumatische Dezisionismus Käsemanns in einer ganz anderen Tradition steht. Nur der negative Akt (gegen den Blutschänder und gegen die Entscheidenden selbst als Selbstverurteilung zum Gehorsam) hat so rechtliche Struktur. Das positive zuordnende, instituierende Handeln bleibt außerrechtlich. Die falsche Scheidung von konstitutivem und regulativem Recht, oder auch von Innen und Außen tritt wieder hervor. Aber in Wahrheit hat selbst ein so kritischer Akt — die Exkommunikation — in viel zu hohem Maße integrierende Bedeutung, als daß diese Scheidung durchzuhalten wäre.

Käsemanns Exegese hat ihr Verdienst und ihre Anziehungskraft durch die Offenheit und Konsequenz, mit der sie neue Perspektiven erschließt und weiterverfolgt. So ist sie auch vorbehaltlos bereit, Texte mit rechtlichem Inhalt als solche zu diagnostizieren. Sie ist nicht blind gegen solche Dinge und verschmäht auch die kleinen Künste mancher Ausleger, solchen oft unbequemen Tatbeständen zu entgehen. Ein Interesse an einer eigentlichen Entfaltung solcher Erscheinungen finden wir aber doch nur in dem vorgeführten Beispiel des 1. Korintherbriefes. Der dezisionistische Typus dieser Auslegung ist für den Juristen evident. Hier steht die Schulde in der Formgeschichte ihres eigenen Prinzips.

Er scheint für unsere Zeit charakteristisch, daß sie den schwierigen Übergang in eine neue Bewußtseinsstufe vollzieht. Über die inhaltlichen Aussagen hinaus gewinnen wir in neuer Weise Einsicht in soziale und Denkstrukturen. Es werden Vorgänge sehr verschiedener Art verständlich, ideologische Strukturen wie institutionelle. Jene Schule steht hier eigentümlich vor wie jenseits des Übergangs. Sie ist methodologisch neu und doch zugleich inhaltlich in traditioneller Weise auf (negative) Objektivationen ausgerichtet. Beides verschlingt sich und diese Verbindung kann mit immanenten Mitteln nicht aufgelöst werden. Auch eine so echte Radikalität und ein großer Einsatz geistiger Mittel hat nicht zum Aufbrechen des eigenen Zirkels geführt. Das ist ein Zeichen, wie tief die Vorentscheidungen liegen, deren Auswirkungen eingangs geschildert wurden.

Es ist zur Vermeidung von Mißverständnissen vielleicht geboten ausdrücklich zu sagen, was dem Juristen einigermaßen selbstverständlich ist. Es ist der Dezisionismus zwar eine zeitgemäße, aber weder umfassende

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noch zwangsläufige Form des juristischen Denkens. Er ist sogar eine enge Sackgasse. Die Vielfalt der modernen Rechtswirklichkeit ist gerade da, wo sie noch nicht durchschaut und systematisch bewältigt ist, viel zu groß, um in einem Monismus der Entscheidung aufgefangen werden zu können. Man kan von einer „Geburt des Rechts aus dem Geiste des Prozesses” sprechen. Der Dezisionismus jedoch bringt per definitionem nichts zur Welt, und wenn er es tut, hört er auf Dezisionismus zu sein. Wohl aber nötigen die dezisionistischen Elemente des modernen Rechtsdenkens dazu, das Verhältnis von Prozeß und materiellem Recht neu zu durchdenken.


Hesse, K. e.a. (1962)

  • II.2. Historisch-kritische Theologie, Recht und Kirchenrecht (Dombois)