Smend, R.

Das Problem der Institutionen und der Staat

1969

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Rudolf Smend

Das Problem der Institutionen und der Staat

Staat als Beruf

 

Den mir aufgegebenen Weg von der Institution zum Staat habe ich gemeint, nicht gehen zu sollen. Noch scheint mir das Wesen der Institution in dem hier vorausgesetzten Sinne allzu problematisch, um es als gesichert vorauszusetzen und von ihm ausgehen zu können. Es steht kein geschlossener Kreis der Institutionen in diesem Sinne fest, ja wahrscheinlich müssen wir diesen Kreis sogar grundsätzlich offenlassen, und damit fehlt die Möglichkeit, von einem solchen Kreise die Merkmale der Institution zu abstrahieren. Wohl mit Recht hat die Tagung vom Januar 1955 darauf verzichtet, eine Tafel der Institutionen festzustellen, so sehr biblische, Luthersche und sonstige Vorbilder dazu anregen mochten, oder gar eine Rangordnung unter ihnen1. Damit würde man in die Gefahr ontologischer Spekulationen geraten, und diesen Weg sollten wir gerade grundsätzlich vermeiden. Vielmehr ist der Anfang bewußt an einer Institution, an der Ehe, gemacht worden, und zwar mit einer Beantwortung theologischer Fragen, die ihr hauptsächlicher Autor, H. Dombois, selbst als eine „phänomenologisch anmutende Sicht” bezeichnet hat2. Etwas anderes kann ich auch für den Staat nicht liefern — nur daß ich dabei von dem Anspruch auch theologisch verwertbarer Aussagen von vornherein absehen möchte. Ich kann nur an einigen Seiten des Staatsproblems zu zeigen versuchen, in welchem Sinne der heutigen Staatstheorie das Problem des Staats nach meiner Meinung gestellt ist, und zwar in erster Linie als Jurist, das heißt mit der Frage, von welcher staatstheoretischen Sicht her unser heutiges positives Staatsrecht allein verständlich wird. Ich versuche dabei in mancher Hinsicht entsprechen vorzugehen wie H. Dombois bezüglich der Ehe, in mancher Hinsicht anders3.


1 Recht und Institution, hrsg. von H. Dombois, 1956, S. 65 ff., auch 25 ff. (E. Wolf).
2 A.a.O., S. 62.
3 Gegen die Anlehnung des hier eingeleiteten Institutionendenkens an die französische Theorie habe ich dieselben Bedenken wie U. Scheuner (vgl. ➝

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Allerdings ist die Aufgabe schwieriger als dort. Gegenüber der Ehe und ihrer verhältnismäßig starken Eindeutigkeit und darum auch verhältnismäßig großen rechtsgeschichtlichen Kontinuität ist der Staat der Proteus unter den Institutionen. Ich brauch nur daran zu erinnern, wie entschieden hier in Hemer Trillhaas und Klügel vor der Ineinssetzung reformatorischen Obrigkeits- und heutigen Staatsdenkens gewarnt haben4. Ebenso liegt das Problem des Rechts, wenigstens was seine Materie angeht, für die Theologie einfacher als das Staatsproblem, schon wegen der Nähe des Rechtsbegriffs zum kategorialen der Norm. Ja, man kann mit Recht zweifeln, ob unser heutiger Staatsbegriff, der so ja erst neuzeitlicher Herkunft ist, den ganzen Bereich decken kann, mit dem wir es hier zu tun haben5. Immerhin hat es ein politisches Gemeinwesen, das sich selbstherrlich in seinem Raum konstituierte und gegen andere Gemeinwesen gleicher Art absetzte, immer gegeben, als Form und Raum politischer Existenz. Und in diesem allgemeinsten Sinne mag hier also von Staat die Rede sein.

Die heutige deutsche Staatstheorie begegnet dem Staatsproblem in einer bestimmten theoretischen Lage und angesichts einer bestimmten an sie gerichteten sachlichen Fragestellung. Von beiden habe ich vorweg einiges zu sagen.

Geläufig und viel erörtert ist ihre theoretische Lage. Man kann die dahin beziehen, daß es ihr bisher nicht endgültig gelungen ist, aus den Sackgassen der Aufklärung zurückzufinden. Einmal insofern, als sie die aufklärerische Zerstörung der sachgemäßen Sicht der Einordnung des Menschen in die Gemeinschaft, vor allem den Staat, durch die Objektivierung des Gemeinwesens einer-, des Menschen anderseits gegeneinander noch nicht überwunden hat. Dem ethischen Idealismus ist die Rückbildung nicht gelungen. In dieser Linie vor allem wird das liegen, was ich heute sagen möchte. Die zweite noch nicht verlassene


➝ Recht und Institution, S. 52 f.). Die stoffliche Beziehung einerseits (auf die Staatsrechtsprechung bei Hauriou, auf die Arbeits- und Sozialgesetzgebung und schließlich auf die sozialen Enzykliken der Päpste bei R.G. Renard), die aristotelisch-thomistische Theorie andererseits (besonders entschieden bei Renard im Fortschritt von seiner Théorie de l’Institution von 1930 zu seiner Philosophie de l’Institution von 1939 — trotz des von dieser in Anspruch genommenen „Dynamismus”, p. 314 und öfter) lassen nur entfernte Anregungen von dorther zu.
4 Macht und Recht, Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, hrsg. von H. Dombois und E. Wilkens, 1956, S. 26 ff., 50 f., 198, Ziff. 10.
5 Dombois, Macht und Recht, S. 99.

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Sackgasse ist die der Isolierung der politischen Welt und des Staates gegenüber den letzten Ordnungen und Zusammenhängen, einer Isolierung, die endgültig wieder aufzuheben dem objektiven Idealismus nicht gelungen ist. Hier vor allem liegt wohl die theologische Seite der heutigen Aufgabe.

Mehr praktisch gegeben als theoretisch anerkannt ist die heutige sachliche Frage an die Staatstheorie. Ich begründe sie zunächst geschichtlich.

Die Weltgeschichte des Staatsproblems verläuft, soviel ich sehe, in drei Stufen, deren Abfolge darum nicht ganz leicht zu übersehen ist, weil sie sich nicht einfach ablösen, sondern sich zum Teil jahrhunderte-, ja jahrtausendelang zugleich überlagern.

Die erste Stufe ist die der unbezweifelten und unkritisierten sächlichen Gegebenheit des politischen Gemeinwesens, die vom Denken hingenommen wird. Das Denken mag sich dabei platonisch oder aristotelisch oder thomistisch oder machiavellistisch verhalten, als echte Theorie, als Empirie, allenfalls auch als Technik oder Klugheitslehre oder auch als Ethik: immer ist und bleibt es im Rahmen einer politischen Ontologie, einer Hinnahme feststehender Gegebenheiten — mag dies Denken dem Staat den Rang des übergreifenden Rahmens aller Kultur und insbesondere der Ethik zuweisen, wie in der griechischen Klassik, oder ihn niedriger einschätzen, wie bei den Kirchenvätern und Scholastikern bis hin zu Machiavelli.

Längst vor der Moderne hat aber, konkurrierend mit jener Sicht, eine andere begonnen, die noch lange mit der überkommenen Ontologie zusammengeht, aber immer mehr zur Hauptfrage wird, nämlich die der Kritik. Diese Kritik setzt einen Standort dem Staat gegenüber voraus: so hat ihn die alttestamentliche Prophetie, so das Neue Testament (der Staat wird nicht einfach als Tatsache hingenommen, sondern er bedarf der Legitimierung, er ist zugelassen — das liegt doch wohl schon im Wort Exousia, und jedenfalls erscheint er Römer 13 als göttliche Taxis, wie der Zinsgroschen als Zugeständnis Gottes an den Kaiser). Damit ist zugleich die grundsätzliche Frage nach Sinn und Aufgabe des Staats und die grundsätzliche Kritik an ihm gegeben: seit dem Christentum ist Staatstheorie im letzten Grunde nicht mehr konstatierendes, sondern rechtfertigendes und kritisierendes Denken. Und zwar ist dies Denken gegenüber einem in der Hauptsache noch traditionalen Staat, den es hinnehmen muß und höchstens noch rationalisieren kann, praktisch auf Grenzziehung beschränkt: christliche,

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aufklärerische, liberale Staatstheorie sind praktisch sämtlich Fragen nach den Grenzen des Staats.

Erst als die traditionalen Gegebenheiten mehr oder weniger aufgelöst sind, wird aus einer negativen Theorie der Grenzen endgültig und notwendig eine positive Theorie der staatlichen Aufgaben. Das ist das, was Rousseau, Hegel, Marx gemeinsam ist, was dann aber auch die Gegenwehr gegen sie im Grunde übernehmen muß, selbst bei Carl Ludwig von Haller, geschweige denn bei Stahl und Treitschke. Aus der Kritik wird die Verteidigung des Staats zur eigentlichen Aufgabe der Theorie, vollends seit seiner radikalen Krise, seiner praktischen und sittlichen Infragestellung im 20. Jahrhundert. Die beiden früheren Fragen nach seinem Wesen und seinen Grenzen sind abgelöst durch die dritte, die apologetische Frage nach seinen Aufgaben, die ihn rechtfertigen, durch den Versuch der Antwort auf das Ohne-mich der Gegenwart. Nur scheinbar stehen in den Verfassungen die Grundrechte noch voran, nur scheinbar nimmt das Bonner Grundgesetz nur beiläufig und unwillkürlich in dem Satz über die Kriegsdienstverweigerung von der neuen Lage der radikalen Infragestellung des Staats überhaupt Kenntnis. Das wahre Problem des Staats und seiner Theorie liegt nicht mehr in seinen Grenzen und in der Kritik an ihm, sondern in seiner Neubegründung in der Leere zwischen den Schutthaufen des Zweiten Weltkrieges.

Ich versuche die Art, wie m.E. heutige Staatslehre die staatlichen Probleme sehen sollte, deutlich zu machen an drei sich dafür besonders darbietenden Fragen, die hergebrachte, konventionelle Lehrstücke der Staatslehre sind: der der sogenannten Staatszwecke und damit der Souveränität, der der persönlichen Einordnung in den Staat (bei der wohl vor allem sich die Parallelen zum Eheproblem ergeben) und der von Organisation und Herrschaft im Staat. Alle übrigen, vorweg die von Recht und Macht und andere mehr, darf ich hier auf sich beruhen lassen.

Die Lehre von den Staatszwecken hat eine Periode der modernen Staatsgeschichte begleitet, die Dombois als die des finalen Staats bezeichnet hat6. Diese mit dem rationalen Absolutismus einsetzende Stufe löst den traditionalen Staat ab, sie ersetzt ihn durch ein Gefüge rationaler Immanenz oder mißversteht ihn doch wenigstens als ein solches, sie meint, jedenfalls in ihrem reinen Typus, darin zugleich


6 Macht und Recht, S. 126 ff.

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seine einzige und volle Rechtfertigung zu finden, und sie steht heute, angesichts einer nie geahnten Fülle seiner Leistungen in Daseinsvorsorge, Wohlfahrt und Dirigismus jeder Art, trotzdem und vielleicht deswegen, an einem Ende, an dem sie nicht weiter weiß7. Sie hat auf ihrem Wege höchste Verfeinerungen und weltgeschichtliche Vertiefungen erlebt: ich brauche nur an die Domboissche Reihe der vernünftigen Zweckverwirklichungen, der sittlichen Zweckverwirklichung und der gesellschaftlich-geschichtlichen Zweckverwirklichung in Ehedenken und Ehepraxis von Aufklärung, Idealismus und Marxismus zu erinnern8 — diese Reihe läßt sich in der Geschichte von Staatsdenken und Staatspraxis des rationalen Staatstypus ganz entsprechend verfolgen. Man hat mit Recht gesagt, daß der Staat schließlich nicht instrumental versagt habe, aber um so mehr vor dem Herzen der Menschen, seit er entgöttert sei, seit die Menschen weder zu einer heilsgeschichtlichen noch zu einer weltgeschichtlichen Entwicklung mehr Vertrauen haben9 — eben vermöge seiner Finalisierung, Instrumentalisierung und damit seiner völligen Substanzentleerung. Seine einseitige, ja ausschließliche Arbeits- und Leistungsethik hat ihm dasselbe Schicksal bereitet wir dem so vortrefflichen und so verzweifelt ratlosen Arbeits- und Leistungsmenschen unserer Tage.

Der Fehler solchen Zweckdenkens liegt auf der Hand. Es entspricht schon nicht der handgreiflichen politischen Wirklichkeit: das politische Leben dienst nicht nur sozusagen den Leistungs-, sondern auch den politischen Lebenswerten — es ringt um Lebensmöglichkeit und Leben des Staats überhaupt und um sein rechtes, gesundes Leben, etwa als nationaler, als Rechtsstaat, als sozialer Staat. Es geht im Staat nicht nur um sein Werk, sondern vor allem auch um sein Wesen, seins und das aller, die an ihm Anteil haben. Und theoretisch gewendet: er ist nicht ein Instrument, das zu Zwecken verwendet würde — das ist ein falscher Ontologismus und zugleich ein falsches Kausalitätsdenken —, sondern er ist in seinem Wesen identisch mit seiner Sinnverwirklichung — er gestaltet und realisiert in seinem Tun zugleich sich selbst und alle zu ihm Gehörenden, nicht nur in seiner ausdrücklichen Selbstgestaltung, etwa in seiner Verfassungs- oder seiner Machtpolitik, sondern in seiner Tätigkeit, seinem Leben überhaupt. Es mag dahingestellt sein, ob das politische Leben in der Demokratie so ausschließlich in


7 A.a.O., S. 124.
8 Familienrechtsreform (1955), S. 85, 138.
9 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes, 1935, S. 140 f.

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dem ständigen Prozeß der Auseinandersetzung zwischen den politischen Mächten gefunden und die Gewinnung sachlicher Ergebnisse sozusagen nur als ein mittelbares Produkt der Demokratie verstanden werden darf, wie Schumpeter es tut10. Aber man versteht dieses Leben richtig nur als eine Lebenstotalität, in der alle einzelnen Zielsetzungen und Zweckverfolgungen dialektisch zusammengeordnet sind11, eingehend in die große Dialektik des politischen Lebensprozesses. Man versteht es aber richtig auch nur als ein aufgegebenes, das heißt als einen Beruf. Diese umfassende Sinngebung für das politische Leben als einen Beruf, des Volkes in seinem Staat und jedes einzelnen in ihm, ist es, was die politische Gegenwart verloren hat und was sie, auch außerhalb aller bewußten Ohne-mich-Haltung, leidenschaftlich und verzweifelt vermißt.

Von dieser Lebenstotalität her wird auch die Einordnung des Einzelnen in das Ganze erst verständlich. Er gehört nicht deshalb dazu, weil er zu ihm in einer räumlichen Beziehung steht und daher etwa seiner Macht unterworfen ist, also vermöge einer mehr oder weniger mechanischen oder seelischen Kausalität, zu der allenfalls die Wirkung ihm eingeborener Triebkräfte hinzuträte — auch nicht vermöge der bloßen Normativität des staatlichen Rechtes, das ihn zum Staatsangehörigen, zum Untertan und Bürger macht, also vermöge einer rechtlichen Mitgliedstellung in der Staatskörperschaft — endlich nicht vermöge vernünftiger, finaler Überlegung, Zweckverfolgung und Entscheidung. Vielmehr ist es soziale, politische Lebensgesetzlichkeit und Normiertheit zugleich, die ihn in Anspruch nimmt und in deren dialektisches Gefüge er sich, in Freiheit und Notwendigkeit, einordnet. Ich habe früher zu zeigen versucht, wie alle scheinbar nur zwecktechnischen Einrichtungen im Staat zugleich auch den Sinn haben, diese lebendige Einordnung in den politischen Lebensvorgang anzuregen und zu gewährleisten: am deutlichsten in den politischen Lebensvorgängen der Verfassung: Wahlen, parlamentarische Verhandlungen, aber auch in den Vorgängen der Herrschaft und der aktiven und passiven Beteiligung daran, und vielen anderen — aber auch in den integrierenden Persönlichkeiten des politischen Lebens: Führern und Monarchen, Abgeordneten und politischen Funktionären, ja auch den Beamten — und nicht zuletzt durch die Sachgehalte des politischen Lebens, Leistungen und Ziele, im Bereich der sachlichen Leistungen und der politischen


10 Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946, S. 427 ff.
11 Dombois, Strukturelle Staatslehre (1952), S. 50 ff.

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Lebenswerte — alles eingeordnet in eine höchst verwickelte dialektische Totalität12. Daß dies Ganze leidlich funktioniert, beruht nicht auf einer prästabilierten Harmonie, nicht auf einem soziologischen Gesetz, wie zum Beispiel dem angeblichen des wesensmäßigen Gefälles allen menschlichen Streits zur Entscheidung und zum Frieden — so sehr die Ordnung dieses Lebens die menschliche Naturausstattung zu benutzen und ihr entgegenzukommen weiß und gezwungen ist, sondern darauf, daß es Erfüllung von Aufgegebenem, Erfüllung eines Berufes ist, dessen Anerkennung sich immer wieder irgendwie durchsetzt. So wird der Einzelne aufgerufen, seine Kräfte und Neigungen auch im politischen Ganzen spielen zu lassen, sich für seine Ziele und Zwecke einzusetzen, so wird er zugleich dem Ganzen eingeordnet, in Gewährung und Begrenzung seiner politischen Freiheit, und so wird das Ganze vom Leben der Einzelnen getragen, an einseitiger, tyrannischer Machtübung verhindert, aber anderseits von regellosem Kampf und Aufruhr bewahrt. Hier leigen m.E. wesentliche Gesichtspunkte für die Fragen der Theorie der Institutionen — ich habe darauf zurückzukommen.

Besonders nachdrücklich muß heute Staatstheorie der überkommenen Lehre von der Verfassung, der Organisation des Staates, absagen.

Der Positivismus der jüngsten Vergangenheit verstand die Verfassung entweder juristisch, im Sinne einer Vereinsverfassung, das heißt als die Normierung von Vereins- oder Staatszweck, Vereins- oder Staatsmitgliedschaft, und vor allem als die Ordnung der Organe, der Willensbildung des Staats, der Herstellung seiner Handlungsfähigkeit durch alle Stufen seiner Organisation hindurch. Oder es verstand sie, wie Max Weber in soziologischer Wendung, instrumental, als technisches Mittel, als mechanistisch objektivierte Apparatur für bestimmte Zwecke. Daß beide Denkweisen kein Verstehen im eigentlichen Sinne sind, brauche ich nicht zu begründen. Heutige Verfassungstheorie wird demgegenüber vor allem zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben.

Einmal den, daß die Verfassung Ordnung und Anregung eines


12 Mit dem Gesagten steht nicht in Widerspruch, daß „die Massenparteien die einzige Möglichkeit sind, das Volk politisch zu aktivieren” (H. Freyer, Freiheit und Courage in der modernen Arbeitswelt. Vortrag 15. 9. 1956 vor dem deutschen Historikertag in Ulm. Hier herangezogen nach Frkf. Allg. Ztg. vom 3. 10. 1956). Ohne sie geht es nicht, aber neben ihnen sind alle jene Faktoren wirksam geblieben, allerdings auf Grund von Verfassungstexten, deren Begriffswelt der Vergangenheit angehört.

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politischen Lebensprozesses sein will, der als solcher Selbstzweck ist mit allen seinen wesensmäßigen Eigentümlichkeiten, zum Beispiel seinen Spannungen, vermöge deren H. Dombois ihr geradezu als den Sexus der Nationen bezeichnet hat13, also das, was ich mit dem Stichwort „Integration” zu bezeichnen versucht habe. Die Anordnungen der Verfassung, ihre Ämtereinsetzungen, Zwecksetzungen, Ordnung staatlicher Lebensvorgänge verschiedenster Art sollen nicht nur gültige Rechtsakte im weitesten Sinne von Staats wegen juristisch möglich machen, auch nicht nur bestimmte einzelne sachliche Zweckverwirklichungen faktisch anbahnen, sondern sie sollen das politische Leben als solches, als Selbstzweck, anregen und in die hier vorgesehenen Bahnen leiten. Gewiß darf daneben der rein juristische wie der auf Einzelzwecke gerichtete praktische Sinn der Verfassung nicht vernachlässigt werden, wie es etwa in Joseph Schumpeters angedeuteter Sicht moderner Demokratie geschieht. Aber als Ordnung menschlichen Lebens verstanden wird Verfassung nur eben von diesem Leben als solchem her.

Die gefährliche Verarmung des positivistischen und formalistischen Verfassungsdenkens wird in anderer Hinsicht deutlich, wenn man es mit seiner Vorstufe vergleicht. Das ältere Verfassungsdenken ist nicht formaljuristisch oder mechanistisch. Es ist Ämterlehre mit dem ganzen inneren Recht, mit dem Mommsens Römisches Staatsrecht oder der Codex Juris Canonici Ämterrecht zum Inhalt haben, und nicht formales Organ- und Funktionsrecht, worin heutige Lehrbücher den Inhalt des Staatsrechtes finden wollen. Formalistische Verfassungslehre denkt in formalen und quantitativ bemessenen Kompetenzen, Ämterlehre denkt in qualitativ bestimmten Aufgaben und Zuordnungen. Nur ein Ämterrecht kann autoritas und potestas wirklich unterscheiden, nur ein Ämterrecht hat den von Leonhard Goppelt14 mit großem Recht geforderten Raum für die Würde des Gehorchens und die Verantwortlichkeit des Gebietens, vor allem eben für die jeweils besondere Qualität des Gebietens, für Herrschaft und das Herrschaftliche, auch in der Demokratie15, also für das andere, neben dem politischen Lebensprozeß als solchem Wesentliche am Staat, das durch Ordnung erfaßt werden kann.

Eine verstehende Lehre vom Staat wird etwa so entwickelt werden


13 Strukturelle Staatslehre, S. 21.
14 Macht und Recht, S. 17, Anm. 11.
15 Dombois, Familienrechtsreform, S. 82, Quatember 1953/54, S. 210 ff.; Trillhaas, Macht und Recht, S. 31 f.

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müssen, wie ich es versucht habe, an diesen Beispielen anzudeuten. Trotzdem dies eine Sicht ganz vom Humanum her ist, wird sie doch auch etwa zu denselben Kriterien führen, wie sie H. Dombois für die Ehe als Institution entwickelt hat16: unverfügbar und bedingungsfeindlich, undefinierbar und nicht im Sinne einer Ordnungslehre objektivierbar, von existentieller Notwendigkeit, das heißt, das Leben der Menschen in seiner Breite umfassend, statusbegründend, und zwar durch einen Akt, der allerdings beim Staat nicht der einer formellen, rechtsgeschäftlichen Bejahung ist, sondern der einer tatsächlich jedenfalls sich immerfort erneuernden Einordnung (wie übrigens wohl in jeder Gemeinschaft, also auch in der Ehe). Und jedenfalls liegt auch der Staat nicht in jenem Bereich des Habens, Verfügens, Veranstaltens, in den ihn das mechanische und auch das formaljuristische Denken verlegt, sondern in dem einer uns umgreifenden Vorgegebenheit. Wie die Ehe, so mag man auch von ihm sagen, daß es sich in ihm um eine Gemeinschaftsbeziehung von höchster Existentialität handele17. Aber das entscheidende Vergleichsmoment scheint mir das zu sein, daß es sich beide Male um vorgegebene, unverfügbare Berufe handelt. Ich darf das, trotz aller dagegen schon geltend gemachten Bedenken, des näheren ausführen.

Mit allen echten Berufen (ich verwende hier den alltäglichen Sprachgebrauch, ohne Rücksicht auf den neutestamentlichen und reformatorischen Sprachgebrauch und Begriff) teilen Ehe und Staat, daß es bei ihnen nicht nur um Leistungs-, sondern auch um Lebenswerte, um Werk und um Wesen geht, bei Ehe und Staat noch mehr als bei den übrigen Berufen um ein Wirken und Leben von unabdingbarer Notwendigkeit, bei ihnen mit der Eigentümlichkeit, daß dieser Beruf zugleich ein Beruf der einzelnen Beteiligten und ihrer Gemeinschaft als solcher ist: das Ehepaar, das von ihm gegründete Haus hat einen unabdingbaren Beruf, wie der Staat den seinigen18.

Vom Berufsbegriff her wird auch deutlicher, wo im Staat die Entsprechung zum Eintrittsakt in die Ehe, zur Eheschließung, liegt. Ich habe Bedenken, sie in rechtsgeschichtlichen Rudimenten, Erbhuldigung der Untertanen und dergleichen, zu suchen. Andererseits ist die Frage nicht mit der Tatsache unserer in aller Regel passiven, unfreiwilligen Staatsangehörigkeit kraft Geburt abzutun. Dabei handelt es sich doch


16 Familienrechtsreform, S. 132 ff.; auch Strukturelle Staatslehre, S. 19 ff.
17 Dombois, a.a.O., S. 137.
18 Zum Berufsproblem allenfalls Plessner, S. 142 ff.

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wohl in erster Linie um eine Abgrenzung der personalen Macht- und Schutz- und Haftungsbereiche der Staaten gegeneinander, auch natürlich um die positive Zuständigkeitsbegründung von Polizei- und Steuer- und Aushebungs- und anderen Behörden. Aber darin erschöpft sich die Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft nicht. Das wird deutlich an ihrem in der Vergangenheit viel persönlicheren Charakter, im Bürgertum wie in der Über- und Untereinanderordnung der herrschaftlichen Ordnungen der Vergangenheit, und an der tiefen Nötigung, gegenüber der Entpersönlichung dieser Verhältnisse durch Absolutismus und Revolution im konstitutionellen Aktivbürgertum des 19. Jahrhunderts, ein neues Verhältnis solcher Art wiederzugewinnen.

Damit ist gegeben, daß die eigentliche Inanspruchnahme des Menschen durch den Staat nicht durch den gesetzmäßigen Befehl oder Verwaltungsakt, Steuerbescheid oder Polizeiverfügung oder Gestellungsbefehl sein kann — da handelt es sich nur um die kleinen technischen Scheidemünzen des staatlichen Geschäftsverkehrs —, sondern die durch einen echten Ruf, nicht an die im Geleise einer technischen Ordnung sozusagen mechanisch gehorchende, sondern an die freie, sich sittlich entscheidende Persönlichkeit. Schon der naive Sprachgebrauch zeigt das: wir empfinden die Anfangsworte der schweizerischen Nationalhymne: „Rufst du, mein Vaterland”, als angemessenen Ausdruck dieser Lage, dagegen das nationalsozialistische: „Führer befiehl, wir folgen dir”, in seiner kommissigen Knechtseligkeit als unsittliche Entwertung unserer staatlichen Einordnung.

Freilich entsteht im Staat ein Konflikt, wenn der Ruf nicht gehört wird — und zwar ein andersartiger, als wenn auf einen Steuerbescheid hin nicht gezahlt wird —; zumeist wird der Staat dann vorgehen, „als ob” er gehört wäre — er kann aber auch darauf besondere Rücksicht nehmen, und hier liegt die eine Sinnkomponente unseres Kriegsdienstverweigerungsrechts. (Im Vorbeigehen brauche ich nur zu erinnern an das Problem der ererbten Konfessionszugehörigkeit und der unfreiwilligen Volkskirchenmitgliedschaft, wo das Mißverhältnis dieser Rechtslagen zu dem eigentlichen Ruf an den Getauften besonders deutlich ist.)

In diesem Angesprochenwerden, aus letzten Bestimmtheiten, in unabdingbare, unverfügbare Gemeinschaftsformen hinein, und in der Antwort darauf — so verschieden der Ruf einerseits ergeht und die Antwort andererseits gegeben wird: in diesem Berufenwerden zu einem tiefstbegründeten Beruf und in seinem Ergreifen liegt m.E. das

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Vergleichbare zwischen Staat und Ehe19. Beide nehmen in einzigartiger Weise in Verantwortung.

Ich darf den Berufsgedanken als ein Stück deutscher Verfassungsgeschichte und geschichtlicher Wirklichkeit mit einigen Belegen durch das 19. und 20. Jahrhundert verfolge.

Man hat die konstitutionellen Verfassungen neuerdings in ihrem Grundrechtsteil als die spießbürgerliche Distanzierung einer Ohne-mich-Gesinnung vom Staat verstanden oder besser denunziert. In Wirklichkeit sind die Grundrechte, bei aller notgedrungenen Sicherung gegen vergangene Polizeiwillkür, gerade als die positive Berufsausstattung des freien Mannes für sein öffentliches Wirken gemeint, des stolzen Bürgers, nicht des kümmerlichen Bourgeois20. Wir sollten uns hier das politische Bild unserer Großväter und Urgroßväter nicht so karikieren lassen. Als die geistesgeschichtliche Grundlage unseres Parlamentarismus, unseres Parlamentswesens überhaupt ist uns der Aberglaube einiger Doktrinäre vorgeführt worden, daß die öffentliche und freie Verhandlung ein selbsttätiger Apparat automatischer Wahrheitsfindung sei21 — als ob unsere Großväter und Urgroßväter solche Narren gewesen seien —, und das angesichts leidenschaftlichen Berufsbewußtsein im politischen Kampf, das gerade für die klassischen Perioden deutscher Parlamentsgeschichte im 19. Jahrhundert so bezeichnend ist. Darum war es unrichtig, wenn Bismarck am 17. Mai 1847 im Vereinigten Landtag jeden inneren Zusammenhang zwischen der Volkserhebung von 1813 und der späteren Verfassungsbewegung bestritt: jene war eine Art aktiver politischer Berufsergreifung, in deren Linie dann das Streben nach weiterem Raum für das so einmal begonnene politische Berufs- und Berufungsbewußtsein liegen mußte. Ein so intimer Kenner der inneren deutschen Geschichte wie der Bundespräsident führt auf solches im Ehrenamt betätigtes Berufsbewußtsein geradezu die Entstehung der deutschen Parteien und Verbände zurück, eine Grundlage, die dann freilich durch ein andersartiges Funktionärstum verdrängt wurde: „Demokratie ruht, um lebendig zu sein,


19 Ich möchte daher auch bei der Ehe den Akt der Annahme nicht so ausschließlich betonen, wie es in den bisherigen Erörterungen geschehen ist, vgl. etwa Recht und Institution, S. 56, 72 III 5 b.
20 Smend, Bürger und Bourgeois. Berliner akademische Rede zum 18. 1. 1933, auch in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 309 ff.
21 C. Schmitt, Geistesgeschichtliche Grundlagen des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, S. 50.

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auf dem Ehrenamt”22 — also nicht auf der Auswirkung freiheitlichen Beliebens ohne Bindung, sondern auf als Berufspflicht verstandenem Dienst. Große Tatsachen der deutschen Geschichte sind ohne dies nicht verständlich: das Zusammenfinden zwischen durch den Dienstgedanken geprägter preußisch-norddeutscher und süddeutsch-demokratischer Art in der gemeinsamen Bindung an das Bismarckreich oder das Zusammenfinden von Monarchie und konstitutionellen Faktoren, das Carl Schmitt nur als unechten, dilatorischen Kompromiß würdigen kann23 und das doch ebenso echt war wie das endgültige Zusammenfinden der Krone und ihres göttlichen und des Parlaments und seines menschlichen Rechts in der englischen glorreichen Revolution (Macaulay).

Das 20. Jahrhundert hat sich vom Verfassungsschema des 19. nicht genügend gelöst, um diesem stillen Hauptgedanken staatlicher Ordnung zu deutlicherer Formulierung und bewußter Anerkennung zu verhelfen. Es hat seiner Durchsetzung auch neue schwere Hindernisse gebracht: die fortschreitende Unzugänglichkeit der politischen Welt für das persönliche Miterleben und damit zugleich für die Verfassung als Raum politischer Berufspflicht24 — so die fortschreitende Unmöglichkeit des seelischen Selbsterlebnisses des Krieges (erkennbar am Absterben des Soldatenliedes)25 und der Erfassung des politischen Nachkriegsberufs, der der Nation noch dazu nach 1918 ausdrücklich abgesprochen war26, das Auf und Ab der Schicksale der Staatsformen, und das alles nach einer unzulänglichen Schule bürgerlicher Freiheit im Bismarckreich mit seinem Vorzug militärischer, bürokratischer und industriellen Tugenden27. Ungünstig für den echten Gedanken öffentlichen Berufs hat auch die deutsche Übersteigerung und Verzerrung des Dienstgedankens gewirkt: beruhend auf geschichtlich begründeter Autoritätsgläubigkeit und Unterwerfungs- und Gehorsamsfreudigkeit28, auf unwillkürlichem Ausgleichsstreben zu deutscher Eigenbrötlerei und traditionslosem Individualismus29, aber auch zum Fehlen der hilfreichen „Mechanik sozialer Formen”30, die der Vorzug der


22 Th. Heuss, Würdigungen, S. 129, 130.
23 Hugo Preuss, 1930, S. 7.
24 E. Wolf, Schule und Nation, Bd. I, 1 (1956), S. 3 f. — H. Freyer, a.a.O.
25 Th. Heuss, Würdigungen, S. 38 f.
26 Plessner, S. 18.
27 Plessner, S. 30.
28 Plessner, S. 137 f.
29 A.a.O., S. 67.
30 E.R. Curtius, Marcel Proust, 1955, S. 91.

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angelsächsischen und vor allem der romanischen Länder sind, ein Übermaß an Unterwerfungsneigung, das in Reaktion auf entbehrte Inanspruchnahme in der liberalen Welt, wie Dombois es ausgedrückt hat31, bei dann sich bietender Gelegenheit geradezu zu Orgien der Hingabe und des Opfers bereit war, um sich schließlich unheilvoll zu überschlagen in der Verknechtung des Dritten Reichs. Aber gerade in diesem zum Bewußtwerden zwingenden Wechsel der Lagen ist auch fruchtbare und grundlegende Besinnung erwachsen. Sogar im Faschismus selbst: es war doch eine ernste Frage an unsere Staats- und Verfassungsethik, wenn hier den Prinzipien von 1789, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die gegensätzlichen der Verantwortlichkeit, der Hierarchie und der Disziplin entgegengestellt wurden: statt einer für selbstverständlich gehaltenen und darum als leer erscheinenden Freiheit die Verantwortlichkeit, die konkrete Aufgaben stellt und damit einen positiven Lebensinhalt gewährt — statt einer ebenso für selbstverständlich gehaltenen und darum ebenfalls als abstrakt und leer erscheinenden Gleichheit die konkrete Einordnung in die Hierarchie und damit ebenfalls eine sachliche, positive Lebenserfüllung — und endlich statt der leeren Sentimentalität der Brüderlichkeit die wirkliche Zusammenordnung durch Disziplin32. Ich brauche nur an Friedrich Gogartens Schriften aus jener Zeit zu erinnern oder an die grundsätzliche und klare, in den Wirren der Zeit zu rasch vergessene Herausstellung des Berufsgedankens in der lutherischen Sozialethik durch Ernst Wolf in dem ersten der deutschen ökumenischen Vorbereitungsbände für Oxford von 193233. So hat das Dritte Reich die Frage praktisch brennend gemacht: für viele ernsthafte und redliche Mitläufer, andererseits und vor allem aber in allem, was mit dem 20. Juli zusammenhängt oder durch ihn repräsentiert wird — und 1945 hätte zu einer wirksameren Entfaltung des Problems werden können, wenn nicht töricht bevormundende Umerziehung und alle Heillosigkeit der Entnazifizierung die Lage verfälscht und verdorben hätten. Immerhin fordern Ohne-mich-Bewegung, Kriegsdienstverweigerung und


31 Macht und Recht, S. 128.
32 Vgl. zum Beispiel G. Leibholz, Probleme des faschistischen Verfassungsrechts, 1928, S. 56, Anm. 81.
33 Kirche, Bekenntnis und Sozialethos, Genf 1934, S. 66, 69, 71, 73 f., 76. — Vom innerweltlichen Standpunkt wäre zu erinnern an Ernst Forsthoffs Untersuchung über die Tugend im Staat: Tymbos für Wilhelm Ahlmann, 1951, S. 80 ff.

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allgemeines politisches Malaise zu fortdauernder ernster Besinnung darüber heraus, auch abgesehen davon, daß die Fragen des 20. Juli unter uns noch immer nicht zu Ende gebracht sind. An diesen Fragen wird die Richtigkeit der Trillhaasschen These augenscheinlich, daß unsere Frage nicht die des Gehorsams des Untertanen, sondern die der Verantwortlichkeit und der Mitverantwortlichkeit „für das Zustandekommen des Staates und des staatlichen Lebens” ist34, also der tätigen politischen Berufserfüllung.

Nur im Vorbeigehen habe ich das Problem des Berufs des Staats selbst, oder besser des Volks in seinem Staat, zu berühren. Nicht unter dem Gesichtspunkt, ob man in einem strengen Sinne, ob man in einem entsprechenden Sinne, wie beim Einzelnen, auch hier von einem solchen Beruf sprechen darf. An der damit bezeichneten Tatsache ist kein Zweifel. Es ist in aller Regel ein bestimmtes Geschichtsbild, das als Leitlinie des politischen Handelns verstanden wird, mag man es Staatsidee oder Mythos, Schicksalbild oder Legende nennen. Bei den westlichen Nationen hat es orientierende geschichtliche Gestalt gewonnen in den mehr oder weniger revolutionären Vorgängen, auf denen ihre heutige Ordnung beruht, und wird es in einem noch von dorther getragenen Aufklärungsoptimismus verstanden — da liegt der tiefere Grund und die besondere Färbung der Inanspruchnahme bestimmter Pflichten und Verantwortungen, die diese Mächte sich, ihrer Ehre, ihrer Geschichte schuldig seien, etwa in Regierungskundgebungen, besonders häufig und uns oft fremdartig vor der französischen Kammer. Von den Mächten des Ostens wird das entsprechende geschichtliche Berufsbild mit den geistesgeschichtlich soviel jüngeren Begründungen des Marxismus und Leninismus ergriffen — auch hier mit überwältigender Mächtigkeit. Das deutsche Volk hat ein solches Berufsbild allenfalls mit der Vollendung eines kleindeutschen Nationalstaates ergriffen, mit der Kaiserkrone von 1871 als im Grunde einzigem vollgültigen Symbol — dann ist aus diesem so leidenschaftlich angestrebten und nur so kurz bewahrten Beruf der der Liquidation der Vergangenheit geworden, und seit 1945 kann es nicht einmal mehr in der Gemeinsamkeit dieser Liquidation seine Geschichte fortsetzen. Die Lähmungen im praktischen politischen Berufsbewußtsein der Deutschen haben bis 1918 mehr auf der Obrigkeitsstaatlichkeit seiner Überlieferungen beruht, seitdem mehr auf dem Zweifel an einer sinnvollen Aufgabe, an irgend etwas wie


34 Macht und Recht, S. 27, Ziff. 2.

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einer geschichtlichen Sendung. Aber auch die Theorie hing damit zusammen: die eigentümliche Statik des formalistischen juristischen Positivismus, der vom Staat als Höchstes auszusagen wußte, daß er eine juristische Person sei, ebenso aber auch die in ihrer Bedeutung überschätzte Überhöhung dieser These in Gierkes eigentümlicher Mythologie von den realen Verbandspersönlichkeiten und ebenso das kausal-mechanische Denken der Soziologie, nicht zuletzt Max Webers: sie alle sind auf dem Boden einer im wesentlichen noch obrigkeitsstaatlich geprägten Welt gewachsen. Und wenn das deutsche Staatsdenken trotz mancher Infragestellung dieser überkommenen Denkweise und mancher hoffnungsvollen Ansätze diese Stufe im Grunde noch immer nicht überwunden hat, so doch wohl zum Teil wenigstens deshalb, weil ihm der Auftrieb der fordernden Dynamik eines verpflichtenden Geschichtsbildes fehlt.

H. Dombois hat bezweifelt, daß ethische Begriff in die Theorie der sozialen Erscheinungen hineingehörten35. Ich meine allerdings, daß die beiden von mir herausgestellten Dinge, die Dialektik des Lebensprozesses in den großen Lebensgemeinschaften, vor allem im Staat, und die Erfassung der Beteiligung daran als Beruf und Berufsaufgabe, Voraussetzungen eines fruchtbaren Verständnisses jedenfalls des Staates sind.

Ich kann hier die Fruchtbarkeit, ja die Notwendigkeit solchen Denkens für Staatsrecht und Staatstheorie nicht näher begründen. Ich darf sie nur mit einigen Beispielen belegen. Ohne einen sinngebenden Berufsgedanken steht am Ende der politischen Instanzenreihe immer die normativ indifferente Dezision Carl Schmitts, daß heißt die reine, maßstablose Faktizität. Ohne einen solchen Gedanken ist kein begründeter Souveränitätsbegriff zu gewinnen, dessen heutigen Fehlen sich auch praktisch empfindlich macht: noch immer begnügt man sich mit formalistischen Begriffen, der höchstinstanzlichen juristischen Person, der Trägerschaft des legitimen Monopols physischer Gewalt und dergleichen, um damit schließlich bei einem anarchischen, skeptischen, allenfalls vitalistischen Dezisionismus zu enden36. Ohne einen solchen Gedanken führt die unbegrenzte Freiheit der parlamentarischen Sphäre der Verfassung zu dem Ungedanken, daß die Repräsentativorgane tun dürfen und können, was sie wollen, und daß man von da


35 Familienrechtsreform, S. 86.
36 W. Hennis, Das Problem der Souveränität, Diss. jur., Göttingen 1951, S. 46 f.

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aus auf eine entsprechende sinnlose Freiheit des repräsentierten Volkes selbst schließt. Demgegenüber war es eine dringende Richtigstellung, wenn von verschiedenen Ausgangspunkten aus de Quervain37 und Dombois38 darauf bestanden, auch die Repräsentativorgane als Amtsträger in Anspruch zu nehmen. Dazu bedarf es aber des normativen Berufsgedankens als Voraussetzung.

Damit sind zugleich die negativen Orientierungen solchen Denkens an ihm gegenüberstehenden Grenzfällen gegeben.

Einmal an dem der starren Objektivierungen: in den Faktizitäten etwa eines positivistischen Dezisionismus oder anderen faktischen Instanzen, der Rasse, irgendwelcher naturalistischer, ökonomischer, geschichtlicher Gesetzlichkeiten und etwaiger Tyrannei in ihrem Namen — ja auch am starren Ontologismus der Ordnungen. Vielleicht ist die Sorge nicht unbegründet, daß hinter diesen Objektivitäten geradezu polytheistische Mächte lauern und gesucht werden.

Sodann an dem anderen Grenzfall des Subjektivismus und gar der pneumatischen Anarchie. Selbstmächtigkeit ist so gefährlich wie institutionelle Entmächtigung — so hat Dombois es kurz ausgedrückt39 —, gefährlich ist die ethisierende Auflösung der Institutionen40 — wir erinnern uns, daß sogar eine solide Staatsethik wie die der Stahlischen Rechtsphilosophie, indem sie von der Verfassung einen möglichst großen Reichtum an sittlichen Chancen forderte, mit diesem konservativen Verfassungsprogramm in eine bedenkliche Nähe zu beinahe romantisierender Ethik im Sinne des ethischen Idealismus geraten ist.

Mit beiden Grenzfällen ist die Versuchung gegeben, in Ehe und Staat eine Art Omnibus zu sehen, in dem man einsteigt zu einer Fahrt ins Blaue unbegrenzter objektiver oder subjektiver Möglichkeiten. Beide sind, soviel ich sehe, nicht ohne eine gewisse polytheistische Note.

Gerade zwischen diesen Grenzfällen liegt vielleicht — ich darf das mit stärkstem Vorbehalt sagen — am wahrscheinlichsten eine echte Anknüpfungsmöglichkeit für ein positives christliches Gespräch mit dem Osten. Es wäre wohl der Mühe wert, die Amsterdamer Verhandlungen unter diesem Gesichtspunkt noch einmal durchzuprüfen.


37 Ethik, II, 1, 1945, S. 267 f.,. vielleicht nicht ohne Anregung aus dem schweizerischen Staatsrecht.
38 Familienrechtsreform, S. 82.
39 A.a.O., S. 83.
40 Dombois, ebd. S. 86.

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Ich darf abschließend von meiner vorgetragenen Denkweise nur noch dreierlei zu sagen:

1. Sie ist für mich Verständnisvoraussetzung für das Phänomen Staat. Insofern bleibt sie in den Grenzen einer Phänomenologie des Staats. Es mag sein, daß ihr anthropologischer Einschlag noch stärker im Sinne der Aufhellung des existentiellen Charakters des Staats entwickelt werden müßte.

2. Sie ist sich, wie jede vernünftige Lehre von irgendeinem Rechtsinstitut, ihrer praktischen Folgen bewußt — und, wie sie meint, damit ihrer Notwendigkeit:
a) sie will den Staat sichern, gegen Ohne-mich-Skepsis und sonstige Bestreitung;
b) sie will insbesondere seine spezifische Aufgabe gegen Entstellungen sichern (gegen Utilisarierung, Bürokratisierung, u.a.m.);
c) sie will seine Einheitsaufgabe gegen Pluralismus sichern;
d) sie will seine Grenzen gegen den Totalitarismus sichern;
e) sie will seine Unabhängigkeit gegen grenzüberschreitende Klerikalisierung sichern.

3. Sie will dabei in der Immanenz ihrer Fragestellung bleiben. Insofern ist es ihr eine Frage, ob sie der Institutionentheorie so weit entgegenkommt, wie diese annimmt, oder etwa der Bonhoefferschen Lehre von den Mandaten oder seiner Lehre von echter Weltlichkeit, hier von echtem Staatsein des Staats, zu der die Herrschaft Christi befreit41. Ich möchte es wünschen, daß sie sich hier wenigstens irgendwie als nützlich herausstellte.


41 Ethik, 1949, S. 256d.