III. Kritik und Zukunft des Sozialismus

Bemerkungen zu der gleichnamigen Schrift von S. Stojanović

 

Die Erhellung der Gründe, aus denen der Marxismus in seiner historischen Verwirklichung Herrschaftsformen hervorgebracht hat, die nicht zu Unrecht mit dem schon etwas abgegriffenen Worte vom totalen Staat bezeichnet werden können, die Entstehung eines marxistischen Etatismus ist sowohl eine theoretische wie politische und zugleich moralische Notwendigkeit. Es liegt nahe, daß gerade die Jugoslawen ihre Blockfreiheit dazu ausnutzen, um diesem Problem nachzugehen. Das mit Recht viel beachtete Werk von Svetozar Stojanović14 ist ganz dieser Frage gewidmet. Es ist nicht meiner Absicht, hier eine Rezension dieser Schrift einzufügen. Ich benutze sie vielmehr lediglich als Anregung, um die hier schon früher gestellte Frage noch von anderen Seiten anzugehen.

Stojanović stellt eingangs fest, daß der Marxismus bisher keine Soziologie des Marxismus geliefert habe:

„Über die Ursachen der Krise des Marxismus ist viel geschrieben

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worden. Eine vollständige Erklärung müßte sicher komplex sein. In dieser Hinsicht kann die Analyse der sozialen Mitte des Marxismus viel aufdecken. Die marxistisch orientierte Soziologie schuldet uns aber noch die Sozioanalyse des Marxismus.”15

Fraglich bleibt jedoch, ob der Marxismus eine solche Soziologie seiner selbst überhaupt liefern kann. Der dialektische Materialismus beansprucht, die strengen Determinanten der ökonomischen Entwicklung mit solcher Bestimmtheit auszulegen, daß eine Ausscheidung von Rückständen wie von Vorgriffen möglich ist. Die Erhebung eines solchen determinierten Prozesses in das Bewußtsein versetzt zugleich gewissermaßen eben diesen Vorgang in das Reich der Freiheit, weil auf diese Weise der Mensch innerhalb dieser Determinanten imstande ist, sich geschichtlich sinnvoll zu verhalten. Soziologie dagegen ist die Aufdeckung von Gesetzlichkeiten, die nicht notwendig, aber doch typisch jenseits des Bewußtseins der Handelnden liegen. Es fragt sich daher, ob marxistische Soziologie nicht immer nur Fehlentwicklungen ihrer eigenen Gestaltungen oder die gesetzmäßigen Bedingungen außermarxistischen Bildungen zu fassen imstande ist, ihr Proprium aber von der Betrachtung ausschließen muß. Dogmatische und analytische Betrachtung würden in eins fallen. Bei der Beschränkung auf jene Außenphänomene würde voraussichtlich das Vorwissen, um nicht zu sagen das Vorurteil die Erhebung der Tatbestände überdecken, so daß diese nicht zur unverzerrten Entfaltung und Darstellung kommen können.

Stojanović ist, wie andere Bearbeiter der gleichen Frage, zunächst der Versuchung erlegen, alles von ihm Abgelehnte als nichtmarxistisch abzuurteilen:

„Das ist nicht mehr, wie man sehr häufig hört, ein mehr oder weniger degenerierter Marxismus, sondern eine andere Theorie, die sich nur der gleichen Phraseologie bedient. Mit Hilfe entsprechender Modifizierungen ist der Marxismus hier in eine etatistische Ideologie verwandelt, obgleich er als eine der radikalsten antietatistischen Konzeptionen geboren wurde. In diesem Prozeß werden einstige revolutionäre Ziele zur Basis ,falschen Bewußtseins’. Der Fetischismus revolutionärer Ziele

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besteht in der Überzeugung, die proklamierten Ziele der Revolution verliehen der sozialen (etatistischen) Realität einen sozialistischen Charakter, den diese Realität keineswegs besitzt, obwohl sie sich ständig auf diese Ziele beruft.”16

Dies ist die Denkfigur der geschichtlichen Pseudomorphose, welche vor allem Spengler vielfach benutzt und beinahe zu Tode geritten hat. Wie ein unbekannter Himmelskörper erscheint ein ebenso unbekanntes Subjekt, welches die geschichtliche Stelle der marxistischen Bewegung einnimmt, indem es Antriebe, Ideologie, Legitimationen und Zielsetzungen adaptiert, gleichwohl aber immer ein anderes bleibt.

Hier wird also zunächst das soziologiefremde antiinstitutionelle Vorurteil zur Deutung benutzt, obwohl die Institutionalisierung aus den Sachzwängen übernommener Verantwortung in Politik und Wirtschaft erwuchs. Er selbst sucht dann später im Zusammenhang mit dem jugoslawischen Selbstverwaltungsgedanken verzweifelt zwischen Etatismus und Syndikalismus institutionalisierbare Modelle. An dieser Stelle hat sich Stojanović aus der Sackgasse dieser Pseudomorphosentheorie dann stillschweigend herausgelöst, um näher an die Sachverhalte heranzukommen. Er stellt zunächst die Frage, ob dieser etatistische Marxismus noch dialektisch im Sinne von Marx und Hegel sei. Er zitiert hier ein sehr markantes Wort von Marx:

„In ihrer rationellen Gestalt ist sie (die Dialektik) dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.”17

Was hier erhalten ist, ist in der Tat die Hegelsche Synthesis. Der volle Gehalt des aufzuhebenden Positiven wird durch die Negation hindurch in den Zukunftszustand überführt. Von einer solchen Dialektik ist freilich in der Tat nichts übriggeblieben. Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, weil sehr klar gesagt werden kann, worin jenes „positive Verständnis” bestanden haben müßte.

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Stojanović spricht an anderer Stelle davon, daß es keinerlei konkrete Vorstellung gebe, in welcher Weise denn der Staat absterbe, wie er aufgehoben und was an seine Stelle treten soll. In der Tat ist hier ein völliges Vakuum eingetreten.

„Wir müssen zugeben, daß es keine ausgearbeitete Theorie vom Absterben des Staates gibt. Eine Metapher kann die ungeheuere theoretische Leere nicht lange verdecken. Außerdem wird in manchen Schriften und zuweilen auch in der Praxis das Absterben des Staates mit Desorganisation gleichgesetzt.”18

Unter jenem müßte, wenn nicht überhaupt der Gesamtertrag der politischen Kultur der Menschheit, mindestens das Ergebnis der Entwicklung verstanden werden, durch die der moderne Staat in den letzten drei Jahrhunderten entstanden ist. Der moderne Staat bildete sich, weil sowohl die feudale wie die ständische Ordnung außerstande war, die anstehenden sozialen Aufgaben zu lösen. Er wurde weder vom feudalen Adel noch vom Patriziat oder zünftigen Bürgertum getragen. Er entstand vielmehr durch lange planmäßige Zusammenarbeit des absolut werdenden Fürstentums mit einer neuen Schicht des akademisch geschulten Bürgertums, das sich ihm als diszipliniertes Beamtentums zur Verfügung stellte. Die rationelle Gestaltung der res publica bildete ein Geflecht von Steuerpolitik, Militärpolitik, Gesundheitswesen, Schulwesen, planmäßiger Entfaltung der Wirtschaftskräfte und des Verkehrs. Der Inbegriff dieser öffentliche Dienste ist zur unabdingbaren Voraussetzung der Existenz der modernen Völker geworden, ja geradezu zu ihrer transzendentalen Bedingung, weil sowohl die Entstehung wie die Erhaltung der modernen Bevölkerungsmassen von seinen planmäßigen Funktionen abhängt. Diese unvermeidlich mit bürokratischer Organisation verbundene soziale Form ist längst in die objektiven Bedingungen der geschichtlichen Existenz übergegangen. Diese planmäßigen Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten aber ist mit der Vorstellung von Gesellschaft unvereinbar,

„die sich nach Marx aus den Assoziationen der freien Produzenten zusammensetzt, die bewußt nach einem gemeinsamen und rationellen Plan arbeiten. In ihr entwickelt die Arbeiterklasse ihre Selbstverwaltung und fördert gleichzeitig eine

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Hochblüte der allgemeinen und integralen gesellschaftlichen Selbstverwaltung.”19

Dem Ausfall jeder Reflexion auf diesen Tatbestand entspricht auch das konkrete Verhalten des Marxismus gegenüber der Bürokratie. Havemann berichtet, daß Lenin nach der Revolution sich ärgerlich über die Indolenz und Unfähigkeit der russischen Staatsbürokratie geäußert habe. Hätte es in Rußland eine gebildete, disziplinierte und leistungsfähige Bürokratie wie die französische oder preußische gegeben oder geben können, so wäre diese Klage gegenstandslos gewesen. Über das Problem der Bürokratie sagt dies naturgemäß gar nichts aus. Da die Rückverweisung auf die Struktur der Produktion und das Eigentum an den Produktionsmitteln für dieses Problem überhaupt nichts austrug, entstand jenes schon verzeichnete Vakuum. Auch kann die lebensnotwendige Leistung einer solchen Staatsorganisation, die einen bestimmten Standard an Bildung und Sachkenntnis erfordert, durch Selbstverwaltung mit ihrem begrenzten Partikularismus und vermöge der entscheidenden Unterbietung der Planmäßigkeit und Effektivität nicht ersetzt werden. Revolutionäre haben selten die volle Tragweite der Verantwortung ins Auge gefaßt, welche sie nach der Revolution würden übernehmen müssen. Aber noch niemals ist — ausgehend von konkreten Interessen und Anliegen! — zugleich der Inbegriff aller konkreten Notwendigkeiten in einem solchem Maße doktrinär außer Acht gelassen worden. Den gleichen Gedanken kann man an der Entwicklung der bürgerlichen Freiheitsrechte durchführen. So sagt Stojanović:

„Liberalismus ist um so mehr zu einem schmutzigen Wort geworden, je weniger Sozialismus es nach der Revolution gab. Der Sozialismus kann indes einzig von einer objektiven und ehrlichen, niemals aber von einer nihilistischen Einschätzung der bourgeoisen Demokratie Nutzen haben. Die Begründer des Marxismus haben die unvergänglichen Verdienste der Bürgerklasse um Freiheit und Demokratisierung hervorgehoben, obwohl sie gleichzeitig deren schärfste Kritiker waren. Die bürgerliche Demokratie hat sich nach Marx und Engels weiter entwickelt. Die Stalinisten verachten jedoch die Errungenschaften dieser Demokratie und negieren de facto auch die Anstrengungen

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der Arbeiterbewegung, die in den bürgerlichen Parlamentarismus eingebaut sind. Außerdem gefährdet die Verachtung der bürgerlichen Demokratie ernsthaft die Entwicklung der sozialistischen Demokratie, da sich diese nur durch Aufhebung im Hegelschen Sinne, nicht aber einfach durch Verwerfung der bürgerlichen Demokratie weiterentwickeln kann.”20

Dies ist nicht nur eine pragmatisch, sondern eine prinzipielle Forderung: mit Recht weist Stojanović auf die Preisgabe der „Aufhebung” und damit der Dialektik selbst hin.

Dem entspricht die parallele Tatsache, daß wiederum nach dem kritischen Zeugnis des Verfassers ebensowenig eine Vorstellung darüber bestand, in welcher Form die Verantwortung für die anfallende ungeheure Masse an Produktionsmittel übernommen werden könnte, die nach Aufhebung des Privateigentums sozusagen auf der Straße lag.

„Dabei muß man im Gedächtnis behalten, daß die Idee von der sozialistischen Selbstverwaltung in der Marxschen Analyse der Pariser Kommune und in Lenins ,Staat und Revolution’ nur entworfen war. Am wenigsten deutlich war, wie die sozialistische Wirtschaft in der Praxis aussehen sollte. Auch dieser Umstand hat denn in großem Maße zum Sieg der etatistischen Stömung beigetragen.”21

Der Verfasser definiert den Marxismus zu Recht als eine antietatistische Bewegung. Dies ist kein Privileg und keine Erfindung des Marxismus. Der moderne Staat hat sich mit geschichtlicher Notwendigkeit durchgesetzt. Aber er ist doch immer nur eine dominante Erscheinung geblieben, der ein permanenter Widerspruch rezessiv gegenüberstand. Die Träger dieses Widerspruchs waren die verschiedensten Schichten, vom Feudalismus über den Altliberalismus bürgerlichen Gemeinsinns bis zu syndikalistischen und anarchistischen Tendenzen auf dem linken Flügel. Keine dieser Bewegungen hat mehr vermocht, sich in schlüssiger Gestaltung durchzusetzen. Sie haben aber verhindert, daß der moderne Staat zu völliger Anerkennung und Verwirklichung gekommen ist. So war es faktisch und psychologisch keine integrale, sondern immer eine in etwa gebrochene Größe.

Die Aufhebung im strengen dialektischen Sinne hätte nun

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bedingt, daß ein bedeutendes Maß an Organisationsformen, Erfahrungen und Staatspraxis als sinnvoll und lebensnotwendig in die neue Form übernommen worden wäre. Von ganz anderen theoretischen Voraussetzungen und unter ganz anderen Intentionen wäre ein solcher dialektischer Marxismus zu einer Politik gekommen, die dem äußeren Bilde nach eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen Formen des Revisionismus aufwies. Er hätte vor allem einer durchgreifenden Zerstörung der politischen und Rechtskultur absagen müssen.

Daß der Marxismus diese Dialektik preisgegeben und sich völlig anders verhalten hat, ist nicht zufällig. An die Stelle der Hegelschen Dialektik der Synthesis, eines subtilen und vor allem schwer zu realisierenden Programms, trat eine andere Dialektik, die Gegenüberstellung von Alt und Neu, Schwarz und Weiß. Auch Stojanović verzeichnet diesen Gegensatz zweier Konzeptionen, wenn er sagt:

„Marxens Spannung zwischen der Dialektik und der Neigung zur Verabsolutierung des Kommunismus läßt sich aus Faktoren 1. theoretischer Art, 2. sozial-politischer Art und 3. psychologischer Art erklären.”22

Aber er verwechselt Struktur und Ergebnis. Das Ergebnis der Dialektik Alt-Neu ist das, was er Verabsolutierung nennt. Diese zweite Form von Dialektik mußte übernommen werden, um die Radikalität des Antriebs zur Veränderung, um den Abstoßungseffekt immer neu zu erzeugen, mindestens zu erhalten. Dieses einfache, leicht primitivierbare Schema von Alt und Neu, ist nun mit einer Reihe von schweren Hypotheken belastet:
1. Das ganze Denken wird eindimensional und undifferenziert.
2. Das unvermeidliche moralische Element kommt an einen falschen Ort und macht das Urteil über Geschichte zum ethischen Verdikt. Nachdem das Geschichtsbewußtsein der Menschheit allmählich gelernt hat, frühere Zeiten nach ihrem immanenten Sinn zu verstehen, setzen hier absolute Geschichtsurteile ein.
3. Dieses Schema wird manipulierbar. Obwohl es im Ganzen feststeht, ist im Einzelnen fraglich, was unter das „schwarze” Alte subsumiert wird. In kindlicher Weise muß alles längst Bekannte als eigene Errungenschaft gefeiert werden. Die Urteile

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werden willkürlich; die Expansionspolitik mittelalterlicher Herrscher kann als feudalistische verdammt, aber auch als Vermehrung des sozialistischen Landes patriotisch verherrlicht werden. Erkenntnisse und Erfindungen können als bürgerlich disqualifiziert und dann wieder als fruchtbar hervorgeholt werden, wie z.B. neuerdings die Kybernetik.
4. Schließlich aber führt dieser Schematismus, wie die Meeresbrandung Massen von Sand, eine unendliche Menge von schlichter Dummheit mit sich. Je weniger jemand von Dingen, Menschen und Verhältnisse der Geschichte wirklich weiß, um so entschiedener und linientreuer kann er das außerhalb des Systems liegende aburteilen und verdammen.

Von allen diesen widerwärtigen Beschwernissen können sich freilich kultivierte Gelehrte in der Emigration leicht frei machen (wenn sie diese Haltung nicht lediglich sublimieren). Im Gefüge des Systems aber treten sie mit Zwangsläufigkeit auf.

Die eingangs genannte Dialektik der Aufhebung ist das Ergebnis einer subtilen philosophischen Geschichtsspekulation. Die eindeutige Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß dagegen hat gerade vermöge ihrer problemlosen Unbedingtheit die Merkmale natürlicher Religion an sich — eben darum mit ungleich größerer sozialer Bindungswirkung. Aber es ist ein eigener Typus und keineswegs primär eine Primitivierung, die höhere Anforderungen herabmindert. Diese Umsetzung in die zweite Form der Dialektik wäre freilich nicht möglich gewesen, wenn nicht im Hintergrunde ein Zielbegriff gestanden hätte, der alles dies abdeckte und auffing. Es ist der Begriff der Gesellschaft. Unter der Voraussetzung, daß die Aufhebung der Privateigentum die entscheidenden Voraussetzungen der Herrschaftsbildung grundsätzlich beseitigen würde, sollte dann die sich selbst harmonisch organisierende Gesellschaft an die Stelle aller jener abqualifizierten Organisationsformen treten.

„Die positive Aufhebung des Privateigentums als die Aneignung des menschlichen Lebens ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d.h. gesellschaftliches Dasein. (9)

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,Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften.’ (10)
,Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt — die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft —, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein.’”23

Das Zaubermittel, das prinzipiell und virtuell alle Kräfte entbinden soll, ist die Aufhebung des Privateigentums. Deshalb konnte die Reflexion auf die notwendigen Organisationsformen in Staat und Ökonomie beiseitegelassen werden. Was auf der einen Seite als ein abenteuerlicher Aberglaube an die Tragfähigkeit philosophischer Spekulation und Begriffsbildung erscheint, zeigt sich auf der anderen als mystischer Glaube an die Gesellschaft, die alles in allem zu sein vermag, alle Gegensätze überwindet und ausschließt. Jede Konkretion, die dann wieder Gegensätze einschließt oder neu begründet, fällt aus diesem Inbegriff wieder heraus.24

Stojanović denkt zu wenig dialektisch, um sich die Frage zu stellen, ob nicht gerade der radikale Anti-Etatismus durch die Verdrängung der Notwendigkeiten in einen ebenso radikalen Etatismus umschlagen muß. Dialektik ist ihm nicht die Einsicht in eine vielfach sich äußernde Strukturform des Geistes, sondern mehr eine Art Arkanum der sozialistischen Bewegung. Hier wirkt sich verhängnisvoll aus, daß die Gewaltsamkeit des Hegelschen Denkens aus der gebrochenen historischen Größe des modernen Staates, aus einer Zahl mit vielen Stellen und unendlichen Perioden hinter dem Komma denkerisch eine ganze Zahl gemacht hat, mit der dann glatt weitergerechnet werden kann. Ebenso glatt und ausschließlich, ungebrochen und integral und insofern nicht nur religiös, sondern auch doktrinär philosophisch, ist der Gesellschaftsbegriff, der keine andere Bildung, vollends keine Pluralität sozialer Formen in wirklicher Differenzierung zuläßt. Die Differenz und der Zusammenhang dieser beiden dialektischen

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Formen ist also zum Verständnis der Entwicklung unentbehrlich.

Die konkrete Folge ist nun freilich gewesen, daß das historische Vakuum, das die mystische Theorie hinterläßt, ausgefüllt werden muß. Auf den Ossa der Ökonomie muß der Pelion einer neuen Staatsbürokratie getürmt werden — eine Summe konkreter Aufgaben, wie sie sich noch kein Staatswesen der uns bekannten Geschichte mutwillig aufgebürdet hat. Damit aber nicht diese künstlich aufgehäuften Massen, eigenen Gesetzen folgend, auseinanderfallen, mußte nun vollends eine politische Bürokratie mit unbedingter Autorität darübergestülpt werden, eine Konsequenz, die in jenem Geschichtsbegriff erst recht nicht enthalten war. Erneut zeigte sich hier zugleich der unsoziologische Charakter einer soziologisch argumentierenden Bewegung, die das prinzipielle Verhältnis von Minderheit und Mehrheit nicht einmal als Thema aufzunehmen, geschweige denn in seinem ganzen Umfang als Problem zu verstehen imstande gewesen ist. Die politische Bürokratie der Staatspartei mußte sich dann vollends durch eine Bürokratisierung des Kulturbereichs absichern, weil die Entstehung politisch relevanter, eine Pluralität erzeugender geistiger Bewegungen die existenznotwendige Einheit des Gesamtsystems von innen heraus immer erneut in Frage stellen würde.

Es ist an dieser Stelle nicht nötig, die besonderen Lösungsversuche zu erörtern, die im Gegensatz dazu die Jugoslawen unternommen haben. Aber für unser Problem bedeutsam ist doch die Aporie, die auch in den ehrlichen und selbstkritischen Äußerungen des Verfassers hervortritt. Er verwirft aufgrund der stalinistischen Erfahrungen und verwandter Erscheinungen im eigenen Lande den Zentralismus auf allen, insbesondere auch dem ökonomischen Gebiet. Ebenso wenig verkennt er, daß die Übergabe der Produktionsmittel an die Selbstsucht der zufälligen Belegschaften mit Sozialismus nichts zu tun hat. Er führt das Beispiel eines kapitalintensiven Betriebes an, wo das besonders unangemessen sei. Aber bei einem arbeitsintensiven Betrieb wäre es prinzipiell nicht anders. So würde die gemeinte Selbstverwaltung im sozialistischen Sinne mit den konkret möglichen

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Formen allenfalls dort am ehesten zur Deckung kommen, wo Betriebe mit begrenztem Umfang, sozusagen industrieller Mittelstand, in Frage stehen. Die Unschlüssigkeit dieses Gedankens liegt auf der Hand. In dieser Verlegenheit weicht er unwillkürlich in andere Dimensionen aus mit der Klage, daß Sozialismus nicht verwirklicht werden könne, wo „Gemeinschaft” fehlt. Er räumt selbst ein, daß ein definierbares Kriterium für die Unterscheidung zwischen sozialistischer und partikularer selbstsüchtiger Selbstverwaltung nicht formuliert werden könne.

„Doch wo ist hier die Grenze zwischen der egoistischen Selbstverwirklichung und der Vergesellschaftung, welche die Individualität nicht auslöscht? Wo hört die freie Entwicklung jedes einzelnen als ,Bedingung der Entwicklung für alle’ auf, und wo beginnt die Entwicklung des einzelnen, die die Freiheit der übrigen bedroht? Wie soll man ein Prinzip formulieren, auf dessen Basis wir die Verpflichtungen des freien einzelnen der Gesellschaft gegenüber und die Gesellschaftlichkeit unterscheiden, welche die persönliche Freiheit gefährdet?”
„Die Selbstverwaltung ist nicht nur durch den Etatismus, sondern auch durch das utopische Bild von der menschlichen Natur gefährdet, das einen zu der naiven Erwartung verführt, die selbstverwalteten Gruppen produzierten schon jetzt rationell, ohne von der Konkurrenz bedroht zu sein. Im System ohne Wettbewerb zerbricht die Solidarität an ihrem Gegenteil — dem Parasitismus.
Bisher hat man jedoch weder theoretisch noch praktisch das Wirtschaftsmodell gefunden, das Selbstverwaltung, Markt und Planung vereinigte.”25

So wird der Sozialismus real gerade dort, wo er in die Innerlichkeit der Gesinnung jenseits jeder einsichtigen Struktur verwiesen wird. Was soll man sich unter einem Spitzensatz wie dem folgenden konkret anders vorstellen, als eine Art Quadratur des Zirkels?:

„Das System der integralen gesellschaftlichen Selbstverwaltung kann für die Verwirklichung des Ideals der demokratisch-sozialistischen Persönlichkeit der einzige adäquate Rahmen sein.”26

Die Entstehung jener besonderen Staatsform, die in der Mehrzahl

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der sozialistischen Staaten (vor allem aber in der führenden UdSSR) Wirklichkeit geworden sind, erklärt sich also schlüssig aus dem Zusammenhang zweier verschiedener Formen von Dialektik, aus dem Übergang aus der Hegel-Marxschen philosophischen in die marxistisch-leninistische religiöse Dialektik. Die bleibende Verzahnung beider Anschauungsweisen ist dabei wesentlich.

Zugleich werden die Bedingungen der Hierarchie-Bildung von einer neuen Seite einsichtig. Stojanović bestätigt die Phänomene der Hierarchie-Bildung an zahlreichen Stellen27 in wesentlicher Übereinstimmung mit dem hier Vorgetragenen, freilich ohne eine soziologische Theoriebildung. Einerseits entsteht sie aus dem geschichtsphilosophischen Kampfmotiv, welches ein absolutes Menschheitsziel gegen verderbte Feindmächte historisch durchsetzen muß. Die intellektuell unredliche Aufrechterhaltung des Kampfmotivs erklärt sich zugleich daraus, daß die irreale Vorstellung von Gesellschaft ein Vakuum erzeugt, welches mit wirksamen Organisationsformen ausgefüllt werden muß. Um überhaupt politisch existieren zu können, müssen effektive Formen politischer Leitung mit allen Konsequenzen auch bürokratischer Administration aufrechterhalten werden. Gerade das ideologisch durch den Gesellschaftsbegriff erzeugte Vakuum aber verhindert es, unter Benutzung der historisch-politische Kultur, den Staat in dem möglich gewordenen Maße verfassungsmäßig und rechtsstaatlich zu begrenzen. Dieser vom System-Zwang der Kampfideologie zu unterscheidende Zwang zur Aufrechterhaltung eines effektiven Systems ist naturgemäß um so größer, desto größer die politische Masse des fraglichen Gemeinwesens ist. Aus diesem Grunde muß gerade die UdSSR mit einer gewissen Folgerichtigkeit ein hierarchisch-autoritäres System aufrechterhalten, während hier und da im Windschatten der großen politischen Auseinandersetzungen gewisse Lockerungen möglich sind. Andererseits darf kein effektives Modell entstehen, welches dem vorbildhaft gegenübertreten könnte. Freilich wären auch die tschechoslowakischen Reformer sehr bald vor die gleichen Aporien gekommen, die sich theoretisch und praktisch in Jugoslawien gezeigt haben.

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Philosophische und religiöse, qualitative und quantitative Momente sind hier also nebeneinander zu beobachten und zu beachten, wobei erkennbar auch die Quantität Qualität umschlagend hervorbringt. Damit kann ich den Gedankengang in Kap. II wieder aufnehmen.