1. Rechtsgeschichtliche Bemerkungen zum Kirchenrecht

Emil Brunner hat in seiner Schrift „Das Mißverständnis der Kirche” ausgesprochen, daß die Theologen zu wenig vom Recht und die Juristen zu wenig von der Theologie verstünden. Dieser Satz ist evident richtig. Aber er deckt nicht die eigentlichen Schwierigkeiten auf. Es müssen im Kirchenrecht immer die Theologen juristische, die Juristen theologische Urteile abgeben und sind dann der Kritik des anderen Faches ausgesetzt. Für die juristischen Bemühungen der Theologen liegt die Schwierigkeit an folgendem Punkte: sie sind versucht, sich auf eine wissenschaftlich ungeklärte Vulgärjurisprudenz und Rechtserfahrung zu stützen, welche keinesfalls ausreicht und welcher dann ständig zeitbedingte Vorurteile unterlaufen. Soweit diese Theologen aber die gegenwärtige Rechtslehre benutzen, um sich zu informieren, treffen sie auf eine Wissenschaft, die in ihrem geistigen Bestande im wesentlichen von Aufklärung und Idealismus bestimmt ist. Die Theologen wissen dann nicht zu scheiden, wie weit die Begriffe kategorial und wie weit sie geschichtsbedingt sind. Warum aber verhalten sich die Theologen so? Soweit sie sich auf ihre eigene wissenschaftlich nicht geklärte schlichte Beobachtung und Alltagserfahrung verlassen, liegt dem die Abneigung zugrunde, sich auf eine nähere Strukturuntersuchung einzulassen, welche in eine bestimmte Rechtsontologie und damit womöglich Metaphysik führt. Da ihnen die Konsequenzen einer solchen Übernahme zu bedenklich erscheinen, helfen sie sich dann in einer ungeklärten Mischung von bildhaft-uneigentlicher und sachlicher Verwendung der Rechtsbegriffe, ohne deren Gehalt bis zu Ende zu prüfen.

Der gleiche Ansatz setzt voraus, daß es einen vorgegebenen, nach Maßgabe näherer Feststellung durch die Juristen zu handhabenden Rechtsbegriff gebe. Ebenso wird nicht ernstlich in Frage gestellt, daß dies der von der gegenwärtigen Rechtswissenschaft dargebotene Begriff sei, der in das allgemeine Verständnis der Zeit und damit auch der Theologen übergegangen ist. Die geschichtlichen Wandlungen der Rechtswirklichkeit und erkenntnistheoretische Fragen treten gegenüber dieser Vorgegebenheit der Rechtsbegriffe zurück. Nach diesem Vorverständnis ist das Recht zweckhaft und nicht existenziell, weder für die Kirche noch für den Menschen.

Neben dieser Anschauung steht die Erörterung der traditionellen und

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eingeführten Generalbegriffe ius divinum, naturale, humanum und deren Begriffsgeschichte. Sie haben den Vorzug, daß sie das Eingehen auf konkrete Rechtsfragen nicht erfordern. Die eigentlichen rechtlichen Sachfragen des Kirchenrechts geraten so an den Rand oder werden nicht gestellt:
1. was im konkreten Handeln der Kirche rechtlich betrachtet geschieht (und deshalb legitimerweise geschehen kann und darf),
2. in welchem rechtsgeschichtlichen Zusammenhange die konkreten, geschichtlichen Formen des vorfindlichen Kirchenrechts — und damit auch unsere eigenen Lebensformen und Vorstellungen stehen.

Zur Beantwortung dieser Fragen ist es freilich notwendig, die in der Rechtssystematik sich ausdrückenden Strukturen des Rechts und Rechtsdenkens und seine geschichtliche Morphologie zu erheben. Diese Dinge sind mit der Begriffsgeschichte des Denkens über das Recht im allgemeinen keineswegs identisch und berühren sich mit ihr nur sehr teilweise. In der Abweisung dieser Fragestellungen trifft sich der Historismus der Ideen mit dem Positivismus: sie ergänzen sich in den Ergebnissen auf das Wirksamste — wenn auch aus entgegengesetzten Motiven.

Es ist freilich eine bedrängende Frage, ob dieser Differenz zwischen Ideengeschichte und Realgeschichte, aber auch zwischen Reflexion über und Leben in einem Bereich in der reformatorischen Theologie überhaupt zur Geltung und Beachtung gebracht werden kann. Der Satz von der ecclesia semper reformanda reicht nicht bis zur Methodenfrage — und es ist sehr die Frage, ob nicht die Reformation lediglich die philosophia perennis durch die philologia perennis ersetzt hat, die permanenten Aussagen durch die permanenten Methode der Aussage — trotz oder vielleicht sogar unter Einschluß der heutigen kirchensoziologischen Mode. Der Jurist, der im sozialen Gefüge lebt, es durchdenkt und mitgestaltet, wird dies besonders empfinden, weil er nicht versucht sein kann, von einem Nullpunkt des Denkens oder einem absoluten Punkt aus eine Art creatio ex nihilo zu vollziehen, zumal wenn er sich weigert, aus Gründen der Kompetenz die theologische Aussage um den Preis eines sacrificium intellectus für unantastbar zu betrachten.

Schließlich wird das Recht theologie und juristisch mit dem Gesetz gleichgesetzt, dem dann eine rechtlose Freiheit des Evangeliums gegenübersteht. Damit wird es oft geradezu zum negativen Mythos, zum Inbegriff des Gegensatzes zum freien Geist; mit seinem Eindringen beginnt immer der Verfall der Kirche. Damit verknüpft sich ein Sündenfallmythos der Kirchengeschichte, der ihr geschichtliches Selbstverständnis maßgebend beeinflußt hat.

Wir verdanken der Theologie Karl Barths die Scheidung der illegitimen Verbindung der evangelischen Theologie mit dem Idealismus. Das ist inzwischen eine kirchengeschichtliche Tatsache geworden. Das

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Gleiche ist bisher für das Gebiet des Kirchenrechts nicht vollzogen worden: auch dies ist eine nachwirkende Folge der Vorabwertung des Rechtes, die diesem Gebiet das Interesse der Theologie nimmt.

Wenn hier und an anderen Stellen bestimmte geschichtliche Typen des Rechtsdenkens dargestellt und verwendet werden, so ist zu bemerken, daß die Jurisprudenz selbst an diesen geistesgeschichtlichen Formationen ihres Bereiches verhältnismäßig wenig interessiert ist. Sie glaubt, mit mehr oder weniger Recht, jedenfalls auf weite Strecken für ihre eigene Aufgabe ohne eine Erfassung dieser Tatbestände auskommen zu können. Infolgedessen bietet sie der Theologie auch keine aufbereiteten Erkenntnisse dar, welche in deren Fragestellungen verwendbar wären. Bei dieser Lage der Jurisprudenz selbst ist es nicht verwunderlich, daß die Theologen hier ohne Orientierung bleiben müssen. Andererseits können gerade sie die Frage nach dem charismatischen Recht nicht wie die Juristen als rein historisch fallen lassen, da unzweifelhaft die Bibel in charismatisch-pneumatischen Kategorien und Strukturen redet und neuerdings Sätze pneumatischen Rechts exegetisch nachgewiesen worden sind1.

Es sind dies bisher Einzelstellen, während eine Gesamtinterpretation des Rechtshorizonts beider Testamente noch durchaus fehlt. Kann man von dieser Aufgabe weder die Exegese noch die Dogmatik entbinden, so könnte man im übrigen die Theologie immerhin damit weitgehend entschuldigen, daß ihr die Jurisprudenz aus Fremdheit und Uninteressiertheit die erforderliche Hilfe nicht leistet. Sucht man gerechterweise eine Überforderung der Theologie zu vermeiden, so kann man sie leider aus zwei Gründen doch nicht einfach freisprechen. Erstens verwendet sie auf soziale Strukturen nicht das gleiche Interesse, welches sie allen philologischen und begriffsgeschichtliche Fragen zubilligt. Zweitens aber urteilt die Theologie vermöge des Zusammenhangs theologischer und rechtlicher Probleme über Rechtsbegriffe und Rechtsvorgänge in dezidiertester Weise. Hierbei laufen nicht nur unvermeidliche, aber letztlich belanglose Irrtümer unter, sondern eine unzweifelhaft typische, regelmäßig wiederkehrende Verzerrung der juristischen Tatbestände tritt auf. Offenbar besteht ein theologisches Interesse an bestimmten Deutungen, die jedoch mit der Rechtswirklichkeit nicht übereinzubringen sind. Einzelne solche Verzerrungen werden auch in diesem Buche erörtert. Im ganzen kann dieses tiefbegründete Mißverhältnis zur Wirklichkeit des Rechtes zwar an seinen Symptomen aufgezeigt, aber nicht an ihnen berichtigt werden.

Dieser traditionelle falsche Rechtsbegriff kam in einem wissenschaftlichen Gespräch in folgenden präzisen Formulierungen zum Ausdruck:
1. Wo die Ordnung zur Regel wird, da ist sie Rechtsordnung.
2. Weltliches Recht kann nicht Sünden vergeben, ist kein Gnadenrecht, sondern soll das Böse nur eindämmen.

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Zu der ersteren Formel ist zu sagen:
Die systematisch wie historisch verschiedenen Formen des Rechtsdenkens, etwa das charismatische, das normative und das dezisionistische, stehen in einem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhange. Innerhalb dieses Zusammenhanges ist das normative Rechtsdenken trotz seiner breiten Ausdehnung grundsätzlich nur eine Teilerscheinung, von deren Merkmale nicht auf Begriff und Phänomen des Rechtes überhaupt geschlossen werden darf.

Die Generalisierung in der Regel ist keineswegs notwendig oder auch nur überwiegend: gerade die größten Rechtssysteme, die des römischen und des angelsächsischen Rechtes, sind in sehr hohem Grade Rechte der Präjudizien, in denen die vorangegangene Entscheidung zwar benutzt, aber nicht einfach abstrahiert in einer Regel verwendet wird.

In diesem Zusammenhang bedarf auch der Begriff des Gesetzes der Berichtigung. Das Gesetz ist immer und überall mit einer doppelten Folge, mit Verheißung und Drohung, mit Schutz und Strafe verknüpft. Das Gesetz als Ausfluß der Macht ist wie diese ambivalent: selbst der Teufel lockt und droht immer zugleich. Der Begriff der „Schwertgewalt” hat in der Theologie als Attribut des weltlichen Regiments die Verkennung dieser Tatsache befördert, während der Mann des weltlichen Gesetzes sehr viel besser weiß, daß das Gesetz nicht nur schreckenden, sondern vor allem auch bindende, integrierende Wirkung hat. Seit Rudolf Smends Integrationslehre sollte hierüber kein Zweifel mehr möglich sein. Smend hat gezeigt2, daß politisches Handeln gerade in der Form der Rechtsetzung und Gesetzgebung immer Gestaltung positiver Beziehungen zwischen Gruppen und Menschen, Balancierung ihrer Schwergewichtsverhältnisse und Kräfte darstellt, daß es auch Rechtspflichten zu bundesfreundlichem, förderlichem Verhalten geben kann. Er hat damit die dem Juristen geläufige, aber in der theologischen Lehre vom Gesetz nur schwer Eingang findende Erkenntnis erhärtet, daß Zwang und Erzwingbarkeit das Gesetz nicht konstituieren, sondern nur perficieren. Aus der theologischen Neigung, Recht und Gesetz wesentlich mit Strafurteil und Vollstreckungszwang gleichzusetzen, stammt dann die Gegenüberstellung dieses so mißverstandenen Gesetzes mit der rechtlosen Freiheit des Evangeliums. Verkennt man die grundsätzliche Ambivalenz des Gesetzes, so wird auch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium verzerrt: entweder fallen beide auseinander, indem auf der einen Seite eine falsche Selbstgesetzlichkeit des strengen Gesetzes dem Evangelium gegenübertritt, die beide nichts mehr miteinander zu tun haben — oder das Gesetz muß durch das Evangelium aufgehoben werden. Die Auslegung des Gesetzes auf den Zwang widerspricht gerade der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben und vom unfreien Willen: denn diese besagt, daß auch das spontane, psychologisch freie Handeln des Menschen als Handeln unter dem Gesetz

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seiner Eigenmacht und Selbstverfallenheit unfähig zu guten Werken coram deo ist.

Diese Auslegung des Gesetzesbegriffes ist ein Spiegelbild der verfassungsgeschichtlichen Situation des 16. Jahrhunderts, aus dessen Wurzelboden sich die reformatorische Theologie nicht loszulösen vermocht hat. Denn im Verfall des ständischen Dualismus, im allmählichen Aufstieg der absoluten Gewalt der Fürsten und Magistrate wird die Zustimmung der Stände entbehrlich: es ist gleichsam die bindende Seite des weltlichen Regimentes durch die vorgegebene Unterworfenheit vorweg abgegolten: die strenge, autoritative, schreckende tritt allein hervor. Dem entspricht der starke autoritative Zug, der das 16. bis 18. Jahrhundert bis zur barocken Übersteigerung des großen Landesvaters durchzieht. Seither ist das Gleichgewicht in der Gesetzeslehre nicht wieder hergestellt worden: denn den einen erschien das Festhalten an einseitig autoritativen Lebensformen als der rechte Gehorsam gegen das vom Evangelium her aufgehobene Gesetz — den anderen erschien die Aufhebung aller Heteronomie identisch mit der Verwirklichung des Evangeliums3.

Die Mißbildung des Rechtsbegriffs zeigt sich insbesondere in der Verschiebung, die in der Bedeutung des Begriffes „Gewalt” eingetreten ist. Gewalt ist ihrem ursprünglichen Sinne nach ebenfalls ambivalent, ist positive Gestaltungsbefugnis wie abweisende reale Macht, die den Störer dieser Ordnung ausschaltet. Beide Seiten treffen zusammen, ja die ordnende, gestaltende geht voran. Was hätte die Bewältigung des Chaos für einen Sinn, wenn nicht daraus Ordnung, Recht entstünde? Erst allmählich wird der Begriff der potestas auf die nackte vis vereinseitigt und mißverstanden. Im Begriff der Gewalt liegt ursprünglich ein Moment diskretionärer Gestaltungsfreiheit, eines Entscheidungsspielraumes: nachdem man sie auf die nachte physische Gewalt umgedeutet hat, aber sie nicht entbehren kann, versucht man ihre positive Seite durch die vorweggenommene Gesetzesregel zu binden, indem jetzt die Gewalt im positiven Sinne mit Gesetz und Regel gleichgesetzt wird. So treibt gerade die Spaltung des Gewaltbegriffs in die Gesetzlichkeit. Verrechtlichung und Entrechtlichung bedingen einander.

In Wahrheit lebt das Recht nicht vom Zwang, sondern von der positiven Bejahung, von der Anerkennung der Rechtsgemeinschaft. Gemeinhin haben fast alle Rechtsbrecher ein schlechtes Gewissen, welches sie den Organen der Ordnung gegenüber höchst unsicher macht und von vornherein in Nachteil setzt. Würde die Zahl der Rechtsbrecher sich von dem relativ geringen Normalstand auch nur verdoppeln, so würde die Gesamtrechtsordnung bereits schwer gefährdet werden. Die gleiche Zahl von Überzeugungstäter würde die Ordnung überhaupt aufheben. Aber eine solche Zahl von Überzeugungstäter ist schwerer zu finden und zu erzeugen, als man meint. Straftaten, die auf halber oder ganzer

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Überzeugung beruhen, wie Schmuggel, Wilderei und politische Delikte, sind überhaupt nur mit relativ beschränktem Erfolg zu bekämpfen.

So ist in der Tat das Recht ambivalent: es beruht auf Liebe und Furcht zugleich: auf der einfachen, schlichten Liebe zur Ordnung, die man auch als die eigene anerkennt, auf der Rechtlichkeit, die den Bereich des Nächsten wie den eigenen achtet und sich selbst zunahe tritt, wenn sie den anderen schädigt — ebenso aber auf Furcht vor Schande und Strafe.

Luther formuliert nicht ohne Grund im Katechismus: „Wir sollen Gott (ehr)furchten und lieben, daß wir seine Gebote halten”. Es ist also von vornherein der angebliche Gegensatz zwischen dem Reich der Liebe und dem Reich des Rechtes und Zwanges schief und falsch. Wir üben Rechte aus nicht nur, wenn wir unsere Kinder für Böses strafen, sondern auch darin, daß sie uns vertrauen und gehorsam in voller Selbstverständlichkeit in der Ordnung des väterlichen Hauses leben nach dem Willen der Eltern, wenn sich weder ihr Eigenwille noch der Wille anderer dazwischendrängt. Das fließt aus dem Rechtsstatus der Vaterschaft, der väterlichen und elterlichen „Gewalt”. Rechtsansprüche sind nicht weniger Rechtsansprüche, wenn sie freiwillig anerkannt, respektiert und erfüllt werden.

Der Staat als der Inbegriff der Statusrechte hat deswegen eine echte exousia im Sinne der Heiligen Schrift, wenn und soweit er dasselbe tut wie Gott im geoffenbarten Gesetz: wenn er nämlich sich selbst statuiert, seine Gebote zur Erhaltung des Menschen, seiner Bürger gibt, und denen, die sie halten, Schultz und Förderung verheißt, den Übertretern Strafe androht. Weil und soweit er dies tut, solange er ein schützender Herrschaftsverband ist, hat er die gleiche Struktur wie die Offenbarung Gottes im Gesetz und hat von daher auch seine Legitimität. Als solcher kann er nicht nur den negativen Gehorsam der Nicht-Übertretung, sondern die positive Loyalität verlangen, die eben gerade weder gesetzlich erzwingbar noch abschließend formulierbar ist.

In seiner Schrift „Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre”4 nimmt Johannes Heckel zu der Kritik Stellung, die seine Darstellung der Rechtslehre Luthers in der „Lex charitatis” gefunden hat, und umreißt noch einmal diese Position. An einer markanten Stelle heißt es:

„Das weltliche Regiment ist für den Christen nicht minder verpflichtend als für den Nichtchristen, aber aus einem anderen geistlichen Rechtstitel. Der Nichtchrist gehorcht dem weltlichen Regiment vermöge des von Gott über ihn verhängten Zwanges, der Christ aus der ihm von Christus geschenkten Freiheit.”5

Es ist offenkundig und braucht nach dem bereits Ausgeführten nicht noch einmal begründet zu werden, daß der Bürger keineswegs die Pflichten des Gesetzes gezwungen erfüllt. Heckel verzichtet darauf, diese falsche Ontologie des Staates zu berichtigen, weil sie das Widerlager

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zu einer theologischen Aussage über die Freiheit des Christen ist. Aber hier ist die Freiheit des Christen und die Unfreiheit des Menschen unter der Sünde umgedeutet in den innerweltlichen Gegensatz von innerer Freiheit und äußerem Zwang. Die Freiheit des Christen von amor sui wird zur Freiheit von äußerer Heteronomie. Der Mangel äußeren Zwanges — oder seine Nichtberechtigung — wird sowohl zum Bestimmungsgrund wie zum Erkenntnisgrund für diese Freiheit. Da aber der äußere Zwang ein besonderes konkretes und sichtbares Moment ist, so wird an ihm folgeweise negativ alles orientiert. So setzt die Verwechslung von Evangelium und Autonomie als unvermeidliches Mißverständnis ein.

Seither ist die Rechtslehre der Theologen in der Tiefe gespalten: von der Melanchthonischen Linie her kommt man in einen christlichen Humanismus, der in der Christologie Barths eine neue Ausbildung erfahren hat. Aus der Linie Luthers entstand eine Überbewertung der schreckenden und coercitiven Momente des Staates. Diese Verzerrung ist sehr schwer zu beheben. Dem entsprach dann eine weitreichende Spiritualisierung des Kirchenbegriffs, weil jede verbindliche und vollzugsfähige Entscheidung in die Nähe dieser falschen theologischen Wertung geriet6.

In der Anwendung auf das Kirchenrecht sind die Bekenntnisschriften dieser Linie nicht gefolgt. So spricht Art. XXVIII der Apologie „de potestate ecclesiastica” ausdrücklich davon, daß der christliche Bischof habe „Gewalt eines geistlichen Gerichtszwanges in der Kirchen, d.i. aus der Gemeine zu schließen diejenigen, so in öffentlichen Lastern funden worden”.

Was heißt dann die gleichzeitige Maxime für den Vollzug: „non vi, sed verbo”? Mit ihr wird zunächst sehr zu Recht die falsche Vermischung des weltlichen Regiments mit dem geistlichen abgewehrt, eine Front, die in den Bekenntnisschriften überall deutlich sichtbar wird — also vor allem die unmittelbare reichsrechtliche Wirksamkeit kirchenrechtlicher Akte oder deren Durchführung durch das weltliche Schwert. Aber diese negative Abgrenzung genügt nicht zum Verständnis. Sie kann sogar mit einem unzulänglichen argumentum ex abusu die Sache selbst verdecken. An wen wendet sich das allein zu handhabende Wort, das „Maulschwert”, wen spricht es an? Einmal diejenigen, die es betrifft und treffen soll, Irrlehrer und öffentliche Sünder. Es kann sein, daß sie sich daraufhin bekehren. Aber die dem geistlichen (bischöflichen) Amte vindizierte Kirchengewalt (Schlüsselgewalt) kann offenbar in ihrer Wirksamkeit nicht davon abhängen, daß diese Betroffenen sich dem Worte beugen. Gerade die Exkommunikation soll verbo, nicht vi erfolgen. Das verbum wendet sich an die Gemeinde. Sie soll den Gehorsam des Glaubens leisten, sich von falscher Lehre abkehren, den falschen Lehrern die Gemeinschaft aufsagen und sie an weiterer Wirksamkeit in der Gemeinde hindern. Wie sehr das — sogar im Streit um Gebäude und Geräte — praktisch werden kann, hat uns der Kirchenkampf deutlich

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genug wieder ins Bewußtsein gebracht. Das Entscheidende kann hier immer nur eben dieser so angesprochene Glaubensgehorsam leisten, nicht die durch andere Mittel erzwungene Ausschließung der Störer, so wünschenswert sie als solche sein mag. So hat Luther selbst durch die Macht des Predigtwortes und seine geistliche Autorität den Wittenberger Bildersturm gedämpft. „Verbo” heißt zugleich sachlich, daß nichts gefordert werden kann als das, was das Wort Gottes, nicht menschliche Willkür fordert.

Aber eben dies ist nun, so gewiß nicht weltliche, so doch geistliche Gewalt nach den Worten der Apologie, geistliche Gewalt in voller Konkretion, die Gefolgschaft und Anerkennung verlangt, weil Gewalt nie allein Zwang und Ausschließung, sondern immer etwas Doppeltes ist: Binden und Lösen, Einordnung durch Predigt und Sakrament und ebenso Ausscheidung, Trennung von und durch beides. Die Zersetzung des Gewaltbegriffes ist in diesem Wort noch nicht vorausgesetzt.

Zu dem zweiten Satz ist zu sagen, daß er die Form der Entscheidung und ihren Inhalt miteinander verwechselt. Im geistlichen Recht werden geistliche Dinge geistlich gerichtet, im weltlichen Recht weltliche Dinge weltlich. Der Rechtscharakter und deshalb Struktur und Form sind in beiden die gleichen. Denn das geistliche Recht spricht ebenso ab und spricht zu wie das weltliche. Wohl aber sind die Gegenstände verschieden. Im geistlichen Recht handelt es sich z.B. um Exkommunikation und Versöhnung. Im weltlichen Recht handelt es sich um eine positive Inpflichtnahme, um die Gewährung einer Rechtsstellung wie um Bestrafung und Ausstoßung. Auch das weltliche Recht dämmt nicht nur das Böse ein, sondern fördert, bindet und ordnet das, was in seinem Sinne gut ist, freilich nicht geistliche, sondern zeitliche Dinge, die nicht dem Heil, sondern dem Wohl und der Erhaltung der gefallenen Menschheit dienen. Die Bestreitung der Identität des Rechtscharakters wie der Struktur auf beiden Gebieten kann vom Inhalt her nicht begründet werden. Um wirklich nachzuweisen, daß der Inhalt, auch die Rechtsstruktur verändernd, beide unvergleichlich mache, bedürfte es einer sehr viel tieferen Argumentation, die aber regelmäßig gar nicht versucht wird (und auch nicht beigebracht werden kann). Daher steht diese These infolge des Verzichts auf diskutable Begründung im Verdacht, aus einer petitio principii zu stammen: weil Evangelium und Recht Gegensätze seien, deshalb müsse auch ihre (Rechts-)Struktur verschieden sein.

In seinen allgemeinen Ausführungen zum Kirchenrecht bemerkt Karl Barth7, daß die Bestimmungen des Kirchenrechts, weil auf dem Vertrauen in die geistliche Kompetenz der Fordernden und dem Glaubensgehorsam beruhend, grundsätzlich nicht erzwingbar seien, wie er meint, im Unterschied zu denen allen anderen Rechtes. Dieser Satz ist juristisch unzutreffend. Erzwingbar im strengen Sinne sind im Rechtsleben verhältnismäßig wenig Dinge. Ohne Umwege erzwingbar ist 1. nur die

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Duldung von Vollstreckungshandlungen, die jemand anders ausführt, bei denen also das Tun des Betroffenen selbst gerade ausscheidet. Das Recht hilft sich dadurch, daß es 2. entweder rechtsgeschäftliche Erklärungen, deren sich der Verpflichtete weigert, durch den Richterspruch ersetzt, 3. den Verpflichteten durch Strafen zu dem geforderten Handeln anhält. Gewisse besonders wesentliche, insbesondere personenrechtliche Akte, wie der Consens bei der Eheschließung, sind in sehr vielen Rechtsordnungen — wenn nicht überhaupt allgemein — von diesen drei Weisen der Erzwingung ausgenommen. Das Merkmal der Erzwingbarkeit ist also ein sehr vielschichtiges und problematisches. Es geht jedoch nicht um die positive Erzwingbarkeit, sondern um die Frage, ob die Nichterfüllung Sanktionen irgendwelcher Art nach sich zieht. Die Sanktionsfrage, nicht der Zwang, ist der Oberbegriff für alle hier auftauchenden Probleme. So heißt der Satz von Barth, richtiggestellt, daß die Sätze des Kirchenrechts sanktionslos seien. Daran ist natürlich richtig, das das Kirchenrecht gewisse Formen der Sanktion, wie die Ersetzung der Erklärung oder die zwangsweise Vornahme am Verpflichteten, aber auch die Erzwingungsstrafe ausschließt — denn alle Handlungen, die in der Kirche Sinn haben, haben diesen ihren Sinn nur unter der Voraussetzung der Freiheit. Das ergibt sich aber schon in weitgehender Analogie zum weltlichen Recht aus dem personenrechtlichen Charakter des Kirchenrechts. Aber sanktionslos ist das Kirchenrecht nun gerade wieder nicht.

Das geistliche Amt hat deshalb nicht nur das Rechts, sondern auch die Pflicht, den öffentlichen Irrlehrer aus der Gemeinde auszuschließen, ihm selbst die Teilnahme zu untersagen und den Glaubensgehorsam der Gemeinde in Anspruch zu nehmen, damit sie sich von jenem scheidet. Der in Apol. XXVIII genannte geistliche Gerichtszwang der Bischöfe ist die konkrete Sanktion des Bekenntnisrechts. Ebenso deutlich ist aber, daß etwa die ständige Vernachlässigung der kirchlichen Gemeinschaft oder grobe Verletzungen der Kirchenzucht zur Minderung oder zum zeitweiligen Verlust von kirchlichen Rechten führen können8.

Nun besteht durchaus Anlaß, das Problem der Erzwingbarkeit zu erörtern, weil das römische Kirchenrecht die disziplinäre Sanktion überschreitend ein kirchliches Strafrecht geschaffen hat, weil das Staatskirchentum aller Konfessionen ferner lange Zeit ohne Bedenken den sog. weltlichen Arm zur Vollstreckung kirchenrechtlicher Bestimmungen und Entscheidungen benutzt hat.

Das Kirchenrecht wird hier in einer Weise objektiviert betrachtet, daß es wie irgendeine andere Verpflichtung unter Vernachlässigung seines personenrechtlichen Charakters vollstreckt werden kann, also auch unabhängig von der Freiheit des Glaubens. Das altprotestantische Kirchenrecht beider Konfessionen hat mit anderer Begründung durch Zuweisung der Kirchenpolizei an die weltliche Gewalt und den Gedanken

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der „äußeren” Kultuseinheit praktisch weitgehend die gleichen Ergebnisse indirekt erzielt und gutgeheißen, welche die römische Lehre direkt anstrebte. Erst die Moderne hat Kirche un Staat so getrennt, daß diese Formen gegenstandslos geworden sind.

Die hier notwendige Grenzziehung hat nun aber Erzwingbarkeit und Sanktion ständig miteinander verwechseln lassen. Die Fixierung des Blicks auf den abusus romanus hat die schlichte, ja geradezu banal einfache Tatsache verdeckt, daß alles Recht in Zuordnung und Ausschließung unweigerlich ambivalent ist. So konnte die Kirche als rechtlos-spirituale civitas platonica verstanden werden und ihr Recht auf den Staat ablasten, zu dessen geistlichem Departement sie damit wurde. Wieviel fruchtlose Erörterungen hätte man sich durch konkrete Erwägung ersparen können! In Wahrheit hat nicht die theoretische Besinnung, sondern erst die faktische Trennung von Staat und Kirche und die Notwendigkeit für die Kirche, sich auf eine Füße zu stellen, diese einfachen Dinge wieder hervortreten lassen.

Es zeigt sich also, daß die beiden eingangs formulierten Sätze nicht nur je für sich unzutreffend sind, sondern gemeinsam von einem falschen Rechtsbegriff ausgehend sich wie Position und Negation verhalten. Die Gleichung Recht = Regel oder Gesetz, und die Beschränkung des Rechts auf die koerzitive Seite hängen eng zusammen. Denn die Regel ist Forderung, nicht Gabe, und das nur koerzitive Recht hat seine Ambivalenz, und mit ihr seine fruchtbare Ordnungskraft verloren. In beiden Vorstellungen ist die Einheit und Fülle des Rechtsbegriffs preisgegeben.

Nun sind jene Mißverständnisse zwar zentral, aber nicht die einzigen. Wie aus einer verborgenen Quelle gespeist erneuern sich überall und immer, beiläufig und unbefangen eigenartige Vorurteile und Fehlvorstellungen im Bereich des Rechts auf dem Felde der evangelischen Theologie8a.

Für die weitverbreitete Vorstellung von der „Juridifizierung” des Gottesverhältnisses ist H. Oestergaard-Nielsen in seiner Schrift „Scriptura sacra et viva vox”9 typisch: Er geht von der These aus, die „metaphysische” Theologie fasse die Gotteserkenntnis als ein Subjekt-Objekt-Verhältnis auf, „als ein sachliches Verhältnis, etwa wie das Verhältnis zwischen Richter und Angeklagtem sachlicher Art ist”. Er beschreibt10dieses Verhältnis wie folgt:

„In einem sachlichen rechtlichen Verhältnis ist die Person des Richters insofern untergeordnet, als die Rechtsprechung nicht die Herstellung eines persönlichen Verhältnisses zwischen Richter und Angeklagtem zum Ziel hat. Es genügt hier, wenn man die rechte Vorstellung vom Richter hat. Man braucht nur das Gesetz oder die Prinzipien zu kennen, nach denen gerichtet wird, so kann man sich selbst verurteilen oder freisprechen. Im Rechtsverhältnis ist der Richter anonym. Für den Angeklagten hat er keinen Namen, da ja hier nicht

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von einer personalen Beziehung die Rede ist. Es ist sinnlos etwa von meinem Richter zu sprechen. In der sachlichen Rechtsbeziehung ist das Gesetz nicht Ausdruck des persönlichen Willens des Richters. Das Gesetz ist nicht persönliches Gebot oder persönliches Befehl des Richters, sondern Ausdruck einer Norm, mit der sich der Angeklagte um seiner selbst willen in Übereinstimmung befinden muß. Sein Dasein und seine Rechtfertigung erhält der Angeklagte nicht von einer personalen Gemeinschaft mit dem Richter, sondern von der eigenen Selbstbezogenheit her, in der er in seinem Einverständnis mit dem Gesetz steht. Daher kann der Mensch in der Rechtsbezogenheit analog einem ,Ding’, einem notwendigen Sein betrachtet werden, das dank der Übereinstimmung mit seiner Norm im Verhältnis zu sich selber steht. Hier ist der Urteilsspruch keine schöpferische Handlung, sondern nur eine Konstatierung dessen, inwieweit ein Mensch sich im Einklang mit sich selbst und mit dem Gesetz befindet.
Doch ist der Angeklagte durch das Gesetz gebunden, so ist es der Richter in nicht geringerem Maße. Der Richter ist als Person machtlos, insofern als er nur das Urteil fällen kann, das das Gesetz bereits erteilt hat. Ist einem das Gesetz bekannt, so kennt man auch den Richter — doch, wie bereits erörtert, nicht durch seinen Namen, da ja ein objektives Sein keinen Namen haben kann. Der Richter hat als Richter sein Sein in der Selbstbezogenheit, in die ihn seine Übereinstimmung mit dem Gesetz stellt.”11

Offenbar geht der Verfasser davon aus,
1. daß er in der gegebenen Beschreibung das Wesentliche richterlicher Urteilsfindung unter dem Gesetz so dargestellt habe, daß diese sich zu allen Zeiten so abgespielt habe, und daß infolgedessen auch die Rechtslehre in den hier interessierenden Zusammenhängen nichts bedeutsames anderes auszusagen vermöchte,
2. daß die Gesetzesreligion im allgemeinen und die von ihm sog. „metaphysische” Theologie, also etwa die katholische und insbesondere scholastische Gesetzes- und Gnadenlehre wiederum im wesentlichen und im Endergebnis auf nichts anderes hinauslaufe als auf jene Schilderung.

a) Zunächst braucht schon die hier etwa gemeinte Gnadenlehre, eine Theologie mit deutlichem pelagianischen Einschlag, einem solchen metaphysich-apersonalen Gesetzesbegriff nicht zu bilden. Sie braucht lediglich12 zu behaupten, daß Gott sich selbst im Gesetze gebunden habe, so daß er auf diese Zusage behaftet werden kann. Nicht ein über und jenseits Gott und Mensch stehendes metaphysisches Gesetz, sondern Gottes eigenes Tun und seine eigene Gerechtigkeit und Treue bindet ihn dann. Erst in der Folge wird die Anschauung rationalisiert, indem sie im Sinne der Eindeutigkeit vergegenständlicht, aus dem Zusammenhang des Verhältnisses zweier Personen herausgelöst

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und damit parallel in einem logischen Vernunftzusammenhang von weitreichender Erkennbarkeit gestellt wird. Erst in einer sehr weiten Fortentwicklung der Konsequenz schlägt dann diese Anschauung als Einschränkung der Personalität und Souveränität Gottes in die Gotteslehre gleichsam zurück, in dann theologisch anfechtbare Aussagen.

b) Die Darstellung des Rechtsvorgangs verkennt, daß es einen Rechtsvollzug von solcher ausschließlichen „Sachlichkeit” noch niemals gegeben hat und aus systematischen Gründen auch gar nicht geben kan. Das Verhältnis von personaler, aktual-konkreter Entscheidung und durchhaltendem Sinngehalt kann keineswegs so gelöst werden, daß eines der Momente völlig ausscheidet. Eine radikal personale und aktuale Entscheidung könnte in jedem Einzelfall proteusartig verschieden hervortreten. Das würde aber in Wahrheit dem Richter das Gesetz einer ständigen Verwandlung aufnötigen, ihm nicht erlauben, sich auch in gewissem Umfange — und sogar erkennbar — gleichzubleiben, sich zu erkennen zu geben. Ebensowenig kann aber der Richterspruch exklusiv als rein sachlicher Vollzug eines für beide Teile vorherbestimmten Gesetzes verstanden werden. Der Spruch bedarf immer der Konkretion. Die Vorstellung Oestergaards setzt eine Gesetzestheorie voraus, wie sie nur kurze Zeit als rein spekulatives Postulat des Hochrationalismus im 18. Jahrhundert vertreten worden ist. Diese Lehre ist auch praktisch vollkommen undurchführbar. Auch im Spruch des Richters unter dem Gesetz ist immer der Richter als Person mit enthalten. Ebensowenig gibt es rein rechtlich ein abstrakt apersonales Gesetz: der Täter wird nicht im Namen des Gesetzes, sondern im Namen des Königs oder des Volkes verurteilt. Es kann auch gar nicht anders sein. Diese Konkretion aber ist nicht etwas, was der Richter gleichsam hinzutut, sondern der Vollzug selbst. Es ist bemerkenswert, daß der Spruch selbst als Zuspruch des Richters konstitutiven, schöpferischen, katalytischen Charakter besitzt. In jedem Richterspruch ist unausscheidbar ein personales, sachlich nicht ableitbares konstitutives Moment enthalten, und sei es nur im Spruch als solchem.
Wie die Lage des Richters ist auch die des Angeklagten falsch beschrieben. Ich kann mich eben nicht selbst verurteilen. Sich selbst richten tun nur Selbstmörder — und mit Recht hat die Kirche den Selbstmord als angemaßtes Selbstgericht verurteilt und als Sünde bewertet. Ich kann meine Schuld bekennen, aber dann keinesfalls die Strafe bemessen — nur wenn sie absolut bestimmt ist, was regelmäßig nicht der Fall ist. Selbst dann ist dieses Urteil gegen mich selbst nicht rechtens: das kann ihm nur der Spruch verleihen. Andere Täter leugnen verstockt und müssen überführt werden. Für beide aber ist der Spruch von der gleichen Bedeutung, nicht erst wegen der

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Vollstreckbarkeit des Urteils, viele leugnende Angeklagte geben nach der Katalyse des Urteils offen ihre Schuld zu. Die moderne rechtsstaatliche Theorie stellt bewust innerhalb dieses Gefüges das personale Moment im Gegensatz zu früheren Zeiten zurück. Ausscheiden kann sie es auch nicht.

c) Eine solche Beschreibung des Tatbestandes kann also niemals das sinnvolle Gegenbild zu der intendierten Darstellung des transjuristischen Gottesverhältnisses sein. Die Benutzung ideologischer Postulate des Hochrationalismus als ontologisches Gegenbild evangelischer Theologie führt nun aber auch diese Theologie selbst auf Abwege. Denn auf diese Weise wird für diese Welt, für diesen Äon eine im Subjekt-Objekt-Schema zu beschreibende konsequente Metaphysik gerechtfertigt und als deren beschreibbares Wesen legitimiert. Diese Welt verläuft unausweichlich in den Bahnen dieser metaphysischen Gesetzlichkeit. Das Gottesverhältnis vollzieht sich zwischen Personen außerhalb dessen in einer weltlosen Innerlichkeit. Diese Personen wirken auf jene metaphysisch geordnete Welt in einer Weise, die dann nur noch als supranaturale Durchbrechung verstanden werden kann. Gott und der im Gottesverhältnis freigewordene Christ werden als neue Subjekte diesem objektiven Zusammenhang vorangestellt und gleichsam vorgespannt, so daß das Subjekt-Objekt-Schema jetzt nicht mehr ein immanentes, sondern ein transzendentes ist. Das ist in der Konsequenz nicht viel anderes als eine mirakelhafte Durchbrechung der Weltgesetzlichkeit durch den Geist. Um eine solche Vorstellung von der Personalität des Gottesverhältnisses rein darstellen zu können, muß zunächst die Welt radikal versachlicht werden.

Es besteht der paradoxe Tatbestand, daß dieser reine Personalismus des Gottesverhältnisses entscheidend dazu beigetragen hat, eine wesentlich sachlich-funktionale Welt zu erzeugen, während zu Zeiten der Herrschaft des großen metaphysischen Systems der Scholastik das ganze Leben von einer prallen Fülle personaler Rechtsverhältnisse und Gestaltungen überschäumte. Man kann freilich nicht daraus den bekannten romantischen Umkehrschluß ziehen, man brauche sich nur der Metaphysik in die Arme zu werfen, um wieder in eine so lebendig personale Welt versetzt zu werden.

Im Recht besteht eine Dialektik zwischen Personalität und Inhaltlichkeit, Sinneinheit der Entscheidungen. So gewiß der Entscheidende souverän über der Lage steht, so gewiß drückt er doch eben seinen Willen, die von ihm gemeinte Entscheidung und damit Ordnung inhaltlich aus, und stellt eben dadurch die Beständigkeit und Treue dieser Entscheidung und seine Macht unter Beweis, macht sie auch in einer personalen Welt kund, die hören kann und gehorsam sein soll.

In der Geistesgeschichte des Rechts durchläuft die Lösung dieses Grundverhältnisses verschiedene Formen13:

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a) Im charismatischen Recht einer vergleichsweise offenen, durch vorentschiedene Gestaltungen noch nicht ausgefüllten und verstellten Welt liegen personale Kontingenz und Sachgehalt noch ungeschieden ohne durchgreifenden Gegensatz ineinander. Der Richter vollzieht die ihm vorgegebene göttliche Rechtsordnung und gestaltet sie zugleich konstitutiv vermöge seines Charismas. Er bindet sich auch immer nur für seine kurze Amtszeit durch sein Edictum (so der frühe römische Prätor), seinen Ausspruch, das Angebot von Klageformeln, auf welche er sich ansprechen lassen will. Aber er bindet noch nicht einmal den Amtsnachfolger des nächsten Jahres, der kraft seiner königlichen Vollgewalt tun mag, was er für richtig hält.
„Daß dieser ganze Urstand des Römischen Rechts nicht durch reflektierte Gesetzgebung künstlich geschaffen, sondern der Ausdruck eines ursprünglichen Volkslebens ist ..., bedarf keines Beweises. Die Darstellung der römischen Geschichtsschreiber, als ob Romulus und Numa alles Recht durch Gesetze neu geschaffen hätten, sogar auch solche Institute wie Ehe usw. ..., beruht auf der vulgären Vorstellung, daß ohne Gesetz kein Recht sei. Man schrieb danach einfach jede uralte Einrichtung in Rom dem einen oder anderen Könige zu ...”14
Die Gleichung von Recht und Gesetz ist also nicht nur eine Rationalisierung, sondern sehr früh geradezu ein Mythologoumenon, eine Rückeintragung in eine nicht mehr verstandene geschichtliche Situation, die nun, wie auch von Kaser dargestellt und seit langem bekannt, durch die Ungeschiedenheit von materiellem Recht und Prozeß gekennzeichnet ist15.

b) In der zweiten Stufe entsteht das traditionale Recht. Die bewährten Formeln werden als sachgerecht übernommen. Man greift aber auch auf die Vorentscheidungen zurück, um sich an ihnen zu orientieren. Da sie konkrete Entscheidungen, keine abstrakten Sätze, höchstens Proklamationen von Rechtsgedanken und Grundsätzen sind, so kommt in der Übernahme des Präjudiziums, der passiven Tradition die Besonderheit des neuen Falles stillschweigend in aller Freiheit hinein. Daß man trotzdem immer auch etwas Neues tut, kommt nicht zum Bewußtsein und ist doch gegeben. So kann man es auch ertrage, daß das so Übernommene ja auch einmal neu war. War es neu, so war es charismatische Weisheit, welche sich durch Bewährung erwiesen hat. Die Dialektik wird dadurch durchgehalten, daß man ihre Elemente nicht je für sich bis zu Ende denkt, was zu ihrer Sprengung führen müßte. Man entscheidet, wenn man so sagen will, nicht so sehr nach dem Präjudiz als solchem, sondern im Horizont der Präjudizien, im Geiste der Tradition, die sich in den einzelnen Präjudizien konkretisiert hat. Martin Heckel verzeichnet16 mit merklichen Mißfallen, daß die evangelische Kirchenrechtsjuristen des 16./17. Jahrhunderts sich meist auf ältere Autoritäten berufen statt rationale Erwägungen

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anzustellen. Der Gedanke scheint ihm fernzuliegen, daß dies keine Minusjurisprudenz, sondern einfach eine ältere Form des Rechtsdenkens, eine durchaus mögliche, auch fruchtbare, aber gewiß nicht absolut gültige ist, sowenig wie die uns selbstverständlich erscheinende. Auf das Präjudizienrecht folgt die Sammlung der Präjudizien und ihre gedankliche Ordnung und Verarbeitung unter Wahrung der Form des Präjudiziums.
Daran schließt sich bei weiterer Rationalisierung die systematische und nunmehr grundsätzlich abstrakt generalisierend gefaßte Gesetzesbildung an. Nun steht der Richter nicht neben und im tradierten Recht, sondern unter dem Gesetz. Aus durchaus vernünftigen Gründen wird versucht, die wesentlich als Willkür empfundene Personalität des Richters zu binden und auf alle Fälle in die zweite Linie zu stellen. Der Hochrationalismus, zu umfassenden Kodifikationen neigend, verbot sogar die bloße Kommentierung des Gesetzes, weil schon diese eine Trübung der in der Gesetzesregel evident gewordenen Vernunft bedeuten würde. Er zeigte damit an, daß dieses Gesetzlichkeit eine freie wertende Entscheidung und Gestaltung des Verhältnisses Richter-Recht war, die den Richter zurückdrängte, aber das Problem denkerisch nicht löste, weil es explizit denkerisch nicht zu lösen war, sondern immer nur historisch gestaltet und entschieden werden konnte. Tatsächlich waren diese Gesetze ohne die Fortbildung durch die Rechtsprechung auch unter der strengen Voraussetzung der Bindung des Richter überhaupt nicht lebensfähig. Was das Reichsgericht aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896/1900 gemacht hat, ist nicht nur bedeutsam und erstaunlich, sondern notwendig gewesen, sogar zum Ausgleich offenbarer Mangel. So hat es die Grundlagen für das Arbeitsrecht gelegt, d.h. zur Erfassung der Besonderheiten des industriellen Arbeitsverhältnisses, die mit den individualistischen Begriffen des klassischen Schuldrechts nicht zu erfassen waren.

c) Eine weitere Form des Verhältnisses Richter-Recht ist auch sodann die dezisionistische. Hat das Gesamtrechtssystem sich so ausgedehnt, daß in ihm schwer behebbare, aber auch nicht mehr erträgliche Widersprüche auftreten, ja vermag man Ungleichheiten und Antinomien in einem sehr fortgeschrittenen Rationalismus des Gleichheitsdenkens nicht mehr zu ertragen, so kann die aufgegebene Sinneinheit der Entscheidungen nicht mehr aus der folgerichtig ausgelegten Immanenz des rationalen Gesetzesinhalt, sondern nur noch aus ideologischen Momenten gewonnen werden, die metajuristisch dem Richter einen allgemeinen Interpretationshorizont darbieten, aber diesen ideologischen Horizont als erkennbare Sinn- und Zielbestimmung voraussetzen. Das erzeugt noch mehr Widersprüche, welche erträglich zu machen nur durch die angespannte Zielgerichtetheit versucht wird.

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Diese Entwicklung vollzieht sich auf zwei parallelen Ebenen — der des schlechthin judizialben Privatrechts und derjenigen des Staats- und Verfassungsrechts.

Auch das Kirchenrecht hat diese Entwicklung durchgemacht.
1. Charismatische Einzelentscheidungen, von denen begreiflicherweise nur wenige, wie die von Campenhausen und Käsemann bei Paulus erhobenen, literarisch sichtbar werden, die aber doch allmählich ein Gefüge von erkennbaren Grundsätzen hervortreten lassen. Es sind dies auch die Regeln, welche Harnack als Inhalt der sog. katholischen Konföderation vorkonstantinisch zusammengetragen hat17. Es ist dabei nicht entscheidend, ob er hier bis zu einem gewissen Grade vereinsrechtliche Eintragungen macht. Dieses Gefüge war bis zum konstantinischen Bund doch soweit ausgebildet18, daß überhaupt die Kirche als Partner eines solchen Verhältnisses in Betracht kam. Bei einem pneumatischen Anarchismus wäre das niemals möglich gewesen, auch nicht ohne gewisse allgemein gleichmäßig anerkannte Grundsätze, z.B. über die Stellung des Bischofsamtes.
2. Die ganz unsystematischen, aber doch aus einem Geiste erwachsenen kirchenrechtlichen Kanones der altkirchlichen Konzilien.
3. De kanonistische Summenliteratur des Hochmittelalters, von dem die bedeutendste das Decretum Gratiani ist, sowie zahlreiche weitere Teilentscheidungen und Einzelgesetze von Päpsten und Konzilien.
4. Die systematisch-abstrakte Kodifikation des CIC von 1917 für die lateinische Kirche und neuerdings der Codex orientalis für die Orientalisch-Unierten.
5. Der dezisionistische Abschluß im Unfehlbarkeitsdogma, welches grundsätzlich alle Widersprüche als in der päpstlichen Entscheidung aufgehoben anzusehen de fide nötigt.

Die griechische Kirche ist im zweiten Stadium bis heute verblieben und hat es der kirchlich nicht verbindlichen Kanonistik — die bei ihr nicht wie im Westen in die weltliche Autonomie der Jurisprudenz übergegangen ist — überlassen, die Zusammenhänge gedanklich herauszuarbeiten. Sie hat damit auch weitgehend darauf verzichtet, ihre kirchenrechtlichen Grundgedanken über ihren eigenen Lebensbereich hinaus verständlich zu machen und missionarisch wirksam werden zu lassen.

Die griechische wie die römische Kirche haben sich hier außerdem durch eine bewußte Zweigleisigkeit beweglich gehalten: die griechische durch die Unterscheidung zwischen strikter kanonischer Entscheidung und solcher „kat’oikonomian”, nach Billigkeit und Liebe zum Zwecke der Erbauung, — die lateinische durch das teilweise vernünftige, teilweise fatal mißbrauchliche Dispensationsrecht.

Wesentlich ist jedoch, daß der ältere kanonistische Gesetzesbegriff auf Durchbrechbarkeit angelegt ist: die Durchbrechung hebt jedoch die Regel nicht auf (vgl. die in Kap. III angeführten Bemerkungen von Grewe).

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Gegenüber einem solchen Gesetzesbegriff kann begreiflicherweise die dialektische Antithese von Gesetz und Freiheit nicht geltend gemacht werden, weil er in sich selbst dialektisch ist, oder anders gesagt, eine Freiheit einschließt, welche die sinnvolle Ausnahme zu erkennen vermag, ohne durch sie die Regel zerstören zu lassen. Wird aber die Dialektik von Gesetz und Freiheit auf das kanonische Recht angewendet, so muß entweder dieses Recht ein durch tausend Jahre bewahrtes Merkmal verloren haben — oder aber der Kritiker trägt selbst in dieses Recht einen ihm fremden Charakter der Undurchbrechbarkeit (analog zur naturwissenschaftlichen Kausalität) erst selbst hinein.

Das reformatorische Kirchenrecht hat durch Beseitigung der kanonistischen Tradition einen Bruch vollzogen und erlitten. Es wurden zwar — mit nicht immer zulänglichem Verständnis — apologetisch zahlreiche Grundsätze des älteren kanonischen Rechts in den Bekenntnisschriften ins Feld geführt. Luther war keineswegs der Meinung, das ganze ältere Kirchenrecht bis zur Urkirche wie ein moderner Liberaler über Bord zu werfen. Er begrenzte die Verwerfung sehr deutlich bis in die Zeiten des Umbruchs im Hochmittelalter, von dem hier schon gesprochen wurde. Entscheidender aber als der Umfang der verworfenen oder bewahrten Grundsätze war die Form der Fortentwicklung, da man aus einem Traditionszuge in Wahrheit gar nicht austreten, sondern nur die Richtung verändern kann. Nunmehr wurde das Evangelium selbst (nicht zum Gesetz im theologischen Sinne) zur geschriebenen Grundnorm, zur norma normans, auf welcher das Bekenntnis als norma normata erster Hand aufruhte. Das Kirchenrecht als norma normata agenda, als norma normata zweiter Hand schloß sich dahinter an. Schrift und Bekenntnis werden, durchaus im Stile und entsprechend der Entwicklung des modernen Staatsdenkens zur Verfassungsgrundnorm (um auch hier das unausrottbar mißverständliche Wort „Gesetzt” zu vermeiden). Diese Grundnorm freilich enthielt für die ungeübten Augen der Theologen verhältnismäßig sehr wenige leidlich klare und nicht unbegrenzt bestreitbare Richtsätze. Mit dieser Nachordnung des Kirchenrechts hinter die Glaubensnorm wurde nur die römische Vorordnung derselben umgekehrt, aber nicht das Ineinander von beiden gewonnen. Es ist ja gerade die Schwäche und der Fehler des römischen Kirchenrechts, daß in ihm, ganz entgegen dem äußeren Bilde, dem eigenen Selbstverständnis und der protestantischen Kritik, Kirche und Recht in der Tiefe spiritualistisch gespalten sind. Damit verlor aber der Rechtsbegriff nunmehr endgültig die Dimension der Existenzialität.

In der Folge gewann das protestantische Kirchenrecht weit überwiegend und kennzeichnend die Rechtsstruktur des Verwaltungsrechts mit allen seinen Merkmalen — wie Zweckhaftigkeit, fließender Charakter, geringer materieller Rechtsgehalt und erst recht geringe Rechtskraft, außer auf dem Wege der faktischen Entscheidung und des Zeitablaufs.

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Die verhängnisvolle Verwechslung von guter Verwaltung und guter Politik in Preußen-Deutschland hat auch hier ihren geistlichen Grund. Die Vorbildwirkung des Kirchenrechts, welche an ihrer Stelle durchaus besteht, aber nicht als solche gewollt werden kann, hat sich hier überwiegend negativ gezeigt. Die Reformation hat den Rechtscharakter der Kirche nicht aufgehoben — das ist gar nicht möglich —, sondern nur unbewußt ihre Rechtsstruktur in einer zeitgeschichtlich bedingten Weise verändert.

Die Verkennung dieser Tatsache gehört zum Tatbestand selbst. Diesem Verwaltungsrechtstypus entspringt und entspricht auch das funktionale Amtsdenken. Diese Konzeption entspricht sehr weitgehend der Verfassungslage des absoluten Fürstenstaates, wo unter der Voraussetzung unbegrenzter und unangefochtener Souveränität es um ein Höchstmaß pfleglicher Verwaltung geht, und von wo aus ein hohes Ethos der Sachlichkeit und Uneigennützigkeit entfaltet wird, wo aber den Verwaltenden scheinbar die politische Frage der Integration, des Bestandes, der rechtlichen Fortbildung abgenommen ist. Diese Konstruktion ist deshalb ein seltsames Rumpfstück ohne Kopf und Beine — Verwaltungsrecht ohne geklärte Verfassungslage und ohne judizielles Element. Eben darin ist sie nun einfach obsolet. nicht allein die einsetzende Mitwirkung der Verwalteten an der Verwaltung (immer mutatis mutandis verstanden), sondern auch das Hervortreten des judiziellen Elementes als Lehr- und Bekenntnisentscheidung zeigt, daß ohne geklärte Verfassungslage einerseits, ohne echte Organe geistlicher Entscheidung auf die Länge und grundsätzlich Verwaltung nicht zu führen ist. Die juristische Unfruchtbarkeit und der Traditionalismus, der alle wesentlichen Fragen bis zum jüngsten Tage im klassischen 16. Jahrhundert schon vorentschieden sieht, hat jenen Immobilismus und jene Entscheidungslosigkeit herbeigeführt, aus welcher dann ein zielloser Aktualismus immer wieder herausbricht.

Mit der Funktionsstellung der Verwaltung ist nun vollends das Verhältnis von Person und Norm in keiner Weise grundsätzlich geklärt und weitergebildet.

Zu der Bedeutung der drei geschichtlichen Typen des Rechtsdenkens: des charismatischen, des normativen, des dezisionistischen kann naturgemäß derjenige keine Stellung nehmen, der unbefangen einen der Typen, insbesondere den normativen, als den alleinigen ansieht. Da andererseits das dezistionistische Rechtsdenken das Scheitern des normativen Rechtsdenkens an der Norm voraussetzt, sieht die normative Jurisprudenz nicht ohne ein gewisses Recht in ihm eine Destruktionserscheinung, verkennt aber andererseits, daß hier eine echte und bedeutsame Situation des Rechtsdenkens gegeben ist, welche sich durchaus nicht auf die Erscheinungen des Nationalsozialismus („konkretes Ordnungsdenken”) beschränken und mit ihm verdammen läßt, sondern

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sich etwa auch in dem Übergang vom Rechtsstaat zum Justizstaat bemerkbar macht.

Zu dem Material des Problems gehört jene Tatsache, daß jene drei Typen in einem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang stehen. Das charismatische Rechtsdenken, als das ursprüngliche und erkennbare, weit mehr umfassend als Mythus und Magie, geht in einem klar beschreibbaren Prozeß in das normative über und dieses zersetzt sich in relativ späten Zeiten, insbesondere in der Gegenwart, in das dezisionistische. Das charismatische Rechtsdenken ist praenormativ, das dezisionistische postnormativ. Die relativ große Ausdehnung des normativen Denkens im Bereich der literarisch übersehbaren Geschichte, seine eigene Tendenz zur expliziten Definition, Systembildung und Rationalität hat begreiflicherweise zu seiner grundsätzlichen Überschätzung wesentlich beigetragen. Den dezisionistische Aktualismus andererseits hat mit dem charismatischen Typus historisch wie sachlich grundsätzlich nicht mehr gemein als der normative — jeder von beiden hat einen anderen Anknüpfungspunkt. Die Strukturen dieses Dezisionismus sind in Theologie und Jurisprudenz einander durchaus analog. Weil er andererseits antinormativ ist, spielt er sich gern auf den Charismatiker heraus.

Der Wandel der Typen und Denkstrukturen umschließt zugleich die Identität des Problems: es sind Denkstrukturen des Rechtsproblems als eines geschichtlichen. Dieses Problem wurde bereits früher als das Verhältnis von schöpferischer Personalität und inhaltlich-sachlicher Sinneinheit, und deshalb auch von konstitutivem und deklaratorischem Handeln beschrieben. Dieses vorgegebene Problem wird in allen drei Typen verschiedenartig zu lösen unternommen.

Die Fragen, welche uns die morphologischen Wandlungen des Kirchenrechts selbst (nicht zu verwechseln mit den sog. außertheologischen Faktoren) stellt, sehen die Kirchenrechtslehren der vorfindlichen Kirchen nicht, weil sie ihre jeweils besondere Rechtsform unkritisch absolut setzen, sei es in der einmalig gewonnenen Form, sei es in der Jeweiligkeit ihrer Entwicklung. Beide Anschauungsweisen nehmen das Problem des Formwandels nicht in sich auf.

1. Das Kirchenrecht macht eine morphologische Entwicklung durch, welche in der Wandlung vom Realismus zum Spiritualismus sehr große Ähnlichkeit mit der Entwicklung des weltlichen Rechts hat.
Sie entstammt einer gemeinsamen Entwicklung des Wirklichkeitsverständnisses, welche in einem ganz wesentlichen, ja entscheidenden, aber nicht eindeutig abgrenzbaren Maße von der Geschichte der Kirche selbst bestimmt ist. Kirchenrecht und weltliches Recht gehen auf lange Strecke parallel, wobei oft ein gewisser Vorsprung und Antrieb auf der einen Seite des Kirchenrechts festgestellt, aber nicht ohne weiteres eine durchgängige Praecession des Kirchenrechts behauptet werden kann.

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2. Die von rechtlichen Gehalten nicht zu trennenden Aussagen der Heiligen Schrift selbst entsprechen morphologisch den realistischen Rechtsformen früher Gemeinschaften19, obwohl sie inmitten der relativ späten Rechtsformen der zivilisierten und rationalisierten Spätantike entstanden sind. In ihnen wird ein neuer geschichtlicher Ansatz sichtbar. Eben dieser Ansatz erweist sich durch die Kraft der Umbildung des gesamten Wirklichkeitsverständnisses, und zwar gerade durch die einzigartige Verbindung von sakramentaler Praesenz und eschatologischer Zukunft. Sobald Sakrament und Eschatologie in Gestaltung und Verständnis sinnwidrig in Gegensatz geraten, versiegt diese Kraft.

3. Im Laufe der Entwicklung, in voller Breite aber vor allem im Bereich der lateinischen Kirche des zweiten Jahrtausends geht der pneumatisch-realistische Charakter des kirchlichen Frührechts zugunsten spiritualistischer und deshalb zugleich normativistischer Formen verloren, denen auch das kanonische Recht der gegenwärtigen römischen Kirche überwiegend zuzurechnen ist. Konkret drückt sich das darin aus, daß 1. der Vorgangscharakter des Rechts zugunsten thetischer Setzung preisgegeben, 2. der Dualismus von Entscheidung und Vollzug zerspalten und gesondert entwickelt oder preisgegeben wird, 3. die Dimension der Gemeinschaft, der Communikation verloren geht.

Diese Tatsachen sind solange unerkennbar, als die Theologen im Gegensatz zur Praxis der Exegese des biblischen Kerygmas soziologisch-formgeschichtliche Probleme für die Rechtsgestalt der Kirche nicht in voller Breite aufnehmen und infolge Verwendung idealistisch geprägter Rechtsbegriffe und der dadurch bedingten Verkennung und Verzeichnung der Morphologie des Rechtes auch nicht aufnehmen können.

Die strenge Sachfrage ist, ob der uns erkennbare Vollgehalt der biblischen Botschaft auf dem Gebiete des Kirchenrechts in anderen Formen als denen des pneumatischen Realismus dargestellt und festgehalten werden kann — die Gegenfrage, wieweit diese Formen uns zugänglich und vollziehbar sind. Es ist, wie an anderen Stellen schon hervortrat, das Problem der Entmythologisierung — der Existenzialität und Geschichtlichkeit — auf dem Gebiete des Kirchenrechts. Daß die spiritualistischen Formen der abendländischen Kirche (Neukatholizismus und Protestantismus) der Frage nicht standhalten, wird bereits in den gezeigten Grundstrukturen unabweislich sichtbar. Wollen wir uns nicht in einer Sackgasse festfahren, so müssen wir uns zunächst der rechten Erkenntnis des pneumatisch-realen Kirchenrechts zuwenden und es als geschichtliches Faktum selbst werten, daß solche jahrhundertelang verschütteten Erkenntnisse heute wieder möglich werden. Wir sind, wie Spengler und Toynbee gesagt haben, unseren Großvätern näher als unseren Vätern.

Der Dezisionismus bedeutet eine offene Aporie. Er kann eine

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Sinneinheit der Entscheidungen nur noch gewaltsam durch eine Ideologisierung herstellen oder vielmehr vortäuschen. Auf der anderen Seite wird die personale Existenz in die vollendete Diskontinuität der reinen Jeweiligkeit und Aktualität aufgelöst. Die sachlichen Bezüge der vielberedeten „Welt” werden unerreichbar. Mensch und Recht gehen in dieser Sackgasse miteinander zugrunde. Aber sowenig die Geschichte mit einer Hegelschen Synthesis innerweltlich positiv zu Ende geht, sowenig mit der Aporie des Dezisionismus negativ. Gerade die noch nicht bewältigte, nicht einfach einsichtige Gegenwart enthält Elemente des Lebens und der Erkenntnis, die das bisherige transzendieren. In ihr zeichnen sich sehr wohl erste Ansätze eines neuen Verständnisses ab. Die Begriffe der Rolle, des Vorgangs, der Relation, der Repräsentation und Institution führen methodisch und sachlich weiter. Eine Darstellung die das Problem und Phänomen des Kirchenrechts anfaßt, muß also zwei Bedingungen erfüllen:
1. Ihr Verständnis des Rechts muß frei sein von den geschilderten Vorentscheidungen; sie muß mit der Möglichkeit rechnen, daß etwa im Bereich der frühen Kirche Rechtsvorstellungen vorhanden waren, die mit den Begriffen der gegenwärtigen Rechtslehre nicht zu erfassen sind; die Kirche lebt über die geistesgeschichtlichen Epochen hinaus als identische Größe kraft der Einheit und Dauer des ihr verheißenen Geistes. Hier wird die Rechtswissenschaft so, wie sie vorfindlich ist, selbst am wenigsten helfen können. Man muß entschlossen sein, jeden ihrer Begriffe, jede ihrer Aussagen erst auf ihre geistesgeschichtliche Herkunft zu prüfen.
2. Eine solche Lehre kann deshalb auch nicht an die Stelle der bisherigen expliziten Definition neue zu setzen versuchen. Sie wird überall nach dem Sitz im Leben und danach zu fragen haben, was geschieht und was zu geschehen hat.

Es geht deshalb darum, ein dem geistlichen Charakter der Kirche entsprechendes Rechtsverständnis aus dem Leben der Kirche selbst zu entwickeln.

Der Gewinnung dieses Rechtsverständnisses hat Karl Barth mit der Kennzeichnung des Kirchenrechts als liturgisches und bekennendes Recht bereits die Wege gewiesen. Ist das Geschehen in der Kirche geschehende Gnade, so sind wir damit rückverwiesen auf die Rechtsstruktur der Gnade20, die ihrerseits instituierenden Charakter hat. Dies nötigt uns zu einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen und das Problem der Institution überhaupt.

Der hier beschriebene Vorgang der Zurückdrängung der Gabestrukturen im Rechtsdenken — eine völlige Ausscheidung ist gar nicht möglich! — ist ohne Zweifel ein Prozeß der Säkularisation. Dieser Prozeß ist als geschichtlicher irreversibel. Er hat eine Notwendigkeit in sich, er kann nicht einfach als Abfall verstanden und mit einem negativen

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Vorzeichen versehen werden, als handele es sich um die Verfehlung einer aufgegebenen sittlichen Entscheidung — zumal dieser Vorgang selbst in einer nicht leicht zu beschreibenden Weise eine Wirkung des Christentums selbst ist. Aber ebenso wenig verdient er irgendeine Idealisierung. Er kann nicht als ein „Zu-sich-selbst-Kommen” des Menschen, als Überwindung des Magischen und Mythischen verstanden werden. Die Religionsphilosophie von Aufklärung und Idealismus kann nicht — mit entsprechender Anwendung auf die Rechtslehre — stillschweigend zum christlichen Dogma gemacht werden. Säkularisation und Säkularismus sind zweierlei. Man muß vor allem wissen, was beide enthalten, bedeuten — und kosten. Die in der Säkularisation enthaltene Funktionalisierung und Ethisierung bedeutet eine entschiedene Zurückdrängung gerade der personalen Rechtsformen und Bezüge. Eben darum kann unter der Herrschaft dieses Denkens von „Personalismus” nicht wohl die Rede sein, oder nur unter der Voraussetzung, daß diese Person außerrechtlich, von Mitmenschlichkeit, Welt und allem Vorgegebenen getrennt und abgelöst vorgestellt wird — gestellt auf ein rein innerliches, spirituales Gottesverhältnis im Sinne des „Gott und die Seele — sonst nichts” Augustins. Aber eben dies konnte nach Luthers Meinung und Absicht nicht sein. Deutlich spricht Johannes Heckel es aus:

„Für Luther war das juristische Element theologisch nicht nur unschädlich, sondern notwendig. Erst mit seiner Hilfe gelingt es, die religiöse Grundposition des Christentums, den Gegensatz von Gesetz und Gnade, von lex und Evangelium herauszuarbeiten, und erst das Recht ermöglicht, auf dieser Grundlage das Verhältnis von Gott und Mensch eindeutig zu bestimmen.”21

Das heißt aber: existenziale Interpretation ist — aus sachlichen wie hermeneutischen Gründen — stets Rechtsinterpretation. Man lese darauf hin das ganze NT, nicht allein die Rechtsgleichnisse. Man verstehe und prüfe von daher das Handeln der Kirche. Neu ist existenziale (Rechts-)Interpretation jedenfalls nicht, neu ist nur der Übergang von materiellen Rechtsverhältnissen (Kind, Braut, Erbe) auf das formelle Prozeßrechtsverhältnis der Entscheidung.

Was hier für den II. Artikel mit solcher Grundsätzlichkeit gilt, gilt auch für den III.