1. Die älteren Entwicklungen

Im Bereich des bekennenden Rechts ist die schon in Kap. V, Ziff. 2, angeschnittene Thematik wieder aufzunehmen. Dort, wie in Kap. X, Ziff. 3, ist sichtbar geworden, daß das hier gemeinte Geschehen, indem es sich zwischen dem einzelnen und der Gemeinde vollzieht, von vornherein von zwei Seiten her gesehen werden kann, von zwei entgegengesetzten Ausgangspunkten sich entwickelt. Es ist Bußzucht der Gemeinde von der einen, Versöhnungsverlangen von der anderen Seite.

Bußzucht und geistliche Gerichtsbarkeit begegnen uns zuerst in Matth. 18, 15 ff. Der dort beschriebene und vorgeschriebene Vorgang ist nicht nur in einer folgerichtigen Steigerung aufgebaut, sondern zugleich qualitativ verschieden, zweigleisig, wie auch später das Bußwesen überhaupt. Zunächst geht es um die brüderliche Vermahnung. Sie setzt voraus, daß der Vermahnende Anlaß zur Vermahnung hat. Trotzdem wird sich unter vier Augen die Sache auch insoweit richtigstellen, als der Vorhalt nicht voll berechtigt ist. Aber insoweit steht die Zugehörigkeit zur Gemeinde noch nicht zur Erörterung. Ein weiteres Moment ist nicht direkt ausgesprochen: erweist sich der Bruder der Vermahnung zugänglich, so hat der Mahnende es damit gut sein zu lassen: er hat ihm zu vergeben. Der Vorgang wiederholt sich in grundsätzlich gleichem Sinne unter Zuziehung mehrerer. Erst mit der Inanspruchnahme der Gemeinde, die ihrerseits, was ebenfalls nicht ausdrücklich gesagt wird, die Klage in etwa richtigzustellen hätte, gerät das Ganze auf ein anderes Gleis. Hilft alles nichts, so kann und soll der Ausschluß erfolgen. Wer dem Bruder sich verschließt, verschließt sich dem Herrn.

Während Matth. 18 die geistliche Gerichtsbarkeit der Gemeinde ordnet und beschreibt, wird die Gewalt zu binden und zu lösen, die wir gewohnt sind als Schlüsselgewalt zu bezeichnen, lediglich verliehen und ihre Ausübung — wenn wir von charismatischen Heilungen absehen — nicht deutlich.

Dagegen tritt uns die Schlüsselgewalt alsbald in den paulinischen Schriften in konkreter Anwendung entgegen. Wie schon in der Interpretation rechtlicher Sätze dargestellt worden ist1, fordert Paulus in der Form des „dekretalen Jussiv” (Käsemann) brieflich von der korinthischen Gemeinde den Ausschluß des Blutschänders. Diese autoritative Entscheidung des Apostels fordert die Gemeinde so, daß sie sich selbst durch Ungehorsam verurteilen würde. Sie ist auch nicht lediglich für den Fall der Unbußfertigkeit des Schuldigen angedroht, sondern wird

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unkonditional verfügt. Es ist ein formelles Verfahren: in der Versammlung vor dem Forum der Gemeinde hat der Ausschluß vor sich zu gehen. Der Apostel und die Gemeinde handeln zusammen, so daß durch ihr Zusammenwirken der Geist, d.h. der anwesenden Herr selber handelt2. Es wird auch nicht erst beraten, sondern die Gemeinde akklamiert lediglich dem prophetisch-apostolischen Wort. Der Sinn der verhängten Ausschließung aber ist nicht der geistliche Tod des Sünders. Er wird wohl vom Gnadenbereich des Christusleibes durch diesen Akt geschieden, aber dem Bereich des Zornes Gottes, seinem Gericht übergeben, der sein begonnenes Werk zu seinem Heile vollenden möge. Hier wird auch nicht auf Klage eines einzelnen vorgegangen, sondern der Apostel handelt von Amts wegen. Die Exkommunikation ist die gleiche. Das Urteil des Apostels erschöpft sich auch nicht in seinem Spruch. Er ist durch einen förmlichen Akt der Übergabe an den Satan zu vollstrecken.

Diese früheste und expliziteste Anwendung der Schlüsselgewalt durch Paulus schließt die moderne Mißdeutung aus, als wolle die Kirche in einem fragwürdigen, dogmatischen oder moralischen Urteil dem Sünder das ewige Heil absprechen und versperren, ihn lieblos und pharisäisch von sich stoßen und damit zugleich das eschatologische Urteil Gottes negativ vorwegnehmen. Und doch geschieht ohne Zweifel nach der Auffassung des Apostels durch diesen Akt der Exkommunikation eine sehr reale Scheidung und Ausscheidung aus dem Bereich der Gnade in den Bereich des Zorns. Es geschieht etwas im Geiste, in Vollmacht und Vikariat Christi. Dieser dramatische Prozeß brauchte auch nicht in Szene gesetzt zu werden, wenn lediglich zu deklarieren wäre, daß der Täter sich selbst ausgeschlossen habe. Andererseits geht es gar nicht allein um diesen Sünder. Es entspringt vielmehr dieses Handelns aus der unbedingten Verpflichtung der Gemeinde zur Bewahrung ihrer Reinheit3. Sie selbst würde sich beflecken und abfallen, wenn sie solches duldete. Ebenso aber rechnet Paulus mit der Wiederaufnahme Gefallener, denen zurechtgeholfen werden soll. Die Alternative der Entscheidung, des Bindens und Lösens wird also durchaus praktisch. So auch Galater, Hebräer, Johannesbriefe und Apokalypse.

Der Unterschied zwischen unvergebbaren Sünden, die zum endgültigen Ausschluß führen, und vergebbaren Sünden ist also bereits im N.T. angelegt und entspringt nicht primär einem quantitativen Sündenbegriff. Er ist vielmehr durch den Gemeinschaftscharakter des neuen Aeons bedingt, durch den die Frage sich als solche nach der Zugehörigkeit stellt, und diese kann dann auch negativ beantwortet werden.

Es ist mir angesichts von 1. Kor. 5 unverständlich, wie man das Vorhandensein eines großen Bannes in der Kirche bestreiten kann4. „Den großen Bann, wie es der Papst nennt, halten wir für eine lauter weltliche Strafe, und gehet und Kirchendiener nichts an. Aber der kleine, das ist der rechte christliche Bann…”5. Wenn Vilmar einen „Bann”

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wünscht, durch den „die ewige Seligkeit entzogen wird”6, so wird aus beidem die geschichtliche Problematik sichtbar. In der Tat, eine Strafe mit metaphysischem Hintergrund kann der „große Bann” nicht sein, weder im Sinne des Katholizismus, noch im Sinne von Vilmar. Aber gerade wenn wir Käsemanns Auslegung folgen, widerstreitet der große Bann nicht dem universellen Heilswillen Gottes. Es wäre viel leichter, angenehmer, humaner, wenn man ihn aus der Schrift wegexegetisieren könnte. Was die katholische Kirche daraus gemacht hat, geht uns dabei gar nichts an. Man kann daraus auch nicht eine Erhöhung der Kirche machen, mit einem gewissen schaudernden Vergnügen, wie sehr es in der Kirche um Leben und Tod geht. Es ist eine Möglichkeit, an welche die Kirche nur mit Furcht und Zittern denken und herangehen kann, mit mindestens ebensoviel wie der, den es etwa betrifft. Sed absusus non tollit scripturam. Oder ist hier Paulus „nicht auf der Höhe des Evangelium”?

Die Gemeinde der Heiligen versteht sich durchaus nicht als sündlos, wie die geprägte Formel in 1. Joh. 1, 8 ff. klar zeigt. Sie muß sich reinigen lassen (V. 9), aber eben deshalb auch die erkannte Sünde und den offenbar gewordenen Sünder von sich tun. Dieses doppelte, eigentlich nur dialektisch verständliche Verhältnis wird mit der Gegenüberstellung von Innen und Außen nicht hinreichend, sondern nur teilweise und unvollkommen erfaßt.

Diese beiden Gegensätze — der zwischen vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden, und zwischen der Selbstreinigung der Gemeinde und der Selbstreinigung des Sünders vor der Gemeinde, machen seither einen großen Teil des Problems aus.

Das Sündenbekenntnis begegnet uns nunmehr in drei Formen:
1. Als Bekenntnis gegenüber einzelnen. Die unbetonte Ausdrucksweise in Jak. 5 „allelois” — anderen — deutet nicht mit Sicherheit auf die Gemeinde hin. Es geschieht wohl in der Gemeinde, aber nicht vor der Gemeinde. Hier erfolgt auch nicht Vergebungszuspruch, sondern Fürbitte.
2. Gemeinsames Sündenbekenntnis vor dem Abendmahl (Didaché 14). In dieser Haltung als der einzig möglichen begegnet die Gemeinde dem kommenden Herrn; indem sie ihm gegen sich bedingungslos Recht gibt, hat sie darin ihr einziges Recht als empfangenes. Hier ist eine Absolution nicht sinnvoll, jedenfalls nicht notwendig. Denn das Abendmahl selbst bewirkt Scheidung und Sündenvergebung. Das johanneische „tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen” ist die Haltung der Gemeinde, in der sie dem kommenden Herrn in der eschatologischen Begegnung des Heiligen Mahls gegenüberzutreten hat. 1. Joh. 1 klingt wie eine liturgische Form, in der dieses Bekenntnis ausgesprochen wird.
3. Als öffentliches Sündenbekenntnis vor der Gemeinde.

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Der Büßer hat überdies in Werken wie Fasten, Beten, Almosengeben die Echtheit seiner Bußgewinnung auszuweisen.

Überall treffen wir den Begriff des Bekennens (exhomologein), welcher sich an den Begriff der homologia des Bekenntnisses anschließt.

Akte der Schlüsselgewalt sehen wir in Gestalt von Exkommunikation und Rekonziliation regelmäßig im dritten Falle, ausnahmsweise im zweiten Falle, wenn Anlaß zur Versagung des Abendmahls besteht.

Das Bußverfahren ähnelt sehr stark dem Bußrecht personaler, gemeinschaftsbezogener Rechtsordnungen vor Ausbildung eines eigentlichen Strafrechts. In diesem Bußrecht steht der völlige, alle Beziehungen abbrechende Ausschluß hart neben relativ inadäquaten Leistungen des freien guten Willens zur Versöhnung und  Wiederherstellung der zerstörten Gemeinschaft. Es ist daran zu erinnern, daß diese für unsere Begriffe bestehende Inadäquatheit der Bußleistungen im Verhältnis zu dem existenziellen Charakter der Verfehlungen für rechtsgeschichtliche Zeiten nicht besteht, in denen gerade personenrechtliche Verhältnisse in Formen kontraktmäßig geordnet werden, die unseren Vorstellungen von „Unverfügbarkeit” widersprechen7. Die Leistungen sind so nicht das zweckhafte Mittel, sondern Substrat, Symbol der Versöhnung wie Bekundung des Unterwerfungs- und Versöhnungswillens.

Neben dem Verfahren der Gemeindebuße standen sehr verschiedene Formen der persönlichen Seelsorge und Seelenführung, deren Verhältnis zur Schlüsselgewalt der Gemeinde unklar und bestritten war. Dieses Bußverfahren8 ist nicht als Strafverfahren zu verstehen, auch nicht als ein pädagogisch ausgerichtetes, obwohl die Exkommunikation formal dem Strafbegriff (Rechtsnachteil als Folge von Verfehlungen) untergeordnet werden kann9.

So gesehen wäre dann die Rekonziliation Straferlaß unter der Voraussetzung besonders erwiesenen Wohlverhaltens. Aber obwohl das anathema in der konditionalen Form eines Strafgesetzes angedroht wird, paßt der Strafgedanke doch nicht hierher. Die Rekonziliation ist mehr als die Aufhebung der regelmäßigen Straffolge. Denn beides steht von vornherein im Binden und Lösen alternativ und damit gleichberechtigt, ja mit dem überwiegenden Ziel der Versöhnung nebeneinander. Es geht um eine Gemeinschaftsbeziehung; es ist wirkliches Bußverfahren. Es mag nun dahinstehen, ob sich ein solcher Schuldiger in Erwartung der Ausstoßung noch stellt und beigebracht werden kann. Sohm zitiert altkirchliche Vorschriften, nach denen der Todsünder (vor der Gemeinde) seine Sünde bekennen soll und dann unter einer ausdrücklichen Exkommunikationsformel ausgeschlossen werden soll. Sohm10 sieht als Rechtswirkung den Verlust der Taufgnade und die ewige Verdammnis in allgemeiner Auslegung des Bindens und Lösens, während Käsemann mit Recht den paulinischen Text mit seiner ganz anderen, das Heil nicht ausschließenden, sondern gerade auf es zielenden Intention heranzieht.

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Sohm versteht die Exkommunikation in Analogie zur liturgischen Deposition, der Amtsentkleidung als Sakrament, als sakramentalen Akt der potestas ordinis.

Wichtiger als dieser Anschauung, die sich nicht gehalten hat, ist die unzweifelhafte Tatsache, daß die Rekonziliation ein solcher Akt ist und als solcher ausgestaltet ist — im Gegensatz zu allen Formen der brüderlichen Vermahnung, bei denen die Frage der Gliedschaft — sozusagen in erster und zweiter Instanz — nicht zum Austrag kommt. Nicht jede Verfehlung führt zum Verlust der Gliedschaft, aber jede kann es, wenn hartnäckig auf ihr beharrt wird, und daneben gewisse schwere Sünden.

Die Rekonziliation als sakramentale Handlung umfaßt absolutorisches Gebet mit nachfolgender Handauflegung11; es ist einerseits intercedierende Fürbitte der Kirche, die ihrer Erhörung gewiß ist — andererseits exhibitive Handauflegung durch den Bischof, dieselbe geistverleihende Handauflegung, die auch bei der Taufe vollzogen wird (manuum impositio per poenitentiam), seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts nachweisbar12.

Beides, die brüderliche Zurechtweisung wie die Exkommunikation und Rekonziliation sind ganz personal, relational, gemeinschaftsbezogen aufgefaßt und gestaltet.

Es wird dann deutlich, daß der sakramentale Charakter der Absolution keine Schöpfung des Mittelalters ist, sondern sich folgerichtig aus dem sakramentalen Charakter der Taufe einerseits, der Kirche überhaupt andererseits ergab.

„Für die leichteren Vergehen sollte ursprünglich die tägliche Buße, wie sie Augustin gelehrt hat, eintreten und Vergebung erwerben. Die gleiche Gesinnung setzt die im 9. Jahrhundert üblich gewordene Offene Schuld voraus, die im Anschluß an die Predigt mit einer allgemeinen Beichtformel und nachfolgenden Absolution gehalten wird.”13

Es ist daran zu erinnern, daß die Privatbeichte als regelmäßige, pflichtmäßige kirchliche Ordnung dem Christen erst seit dem 9. Jahrhundert abverlangt wird und erst ab 1215 allgemeinverbindlich geworden ist. Die erwähnten Fälle des öffentlichen Einzelbekenntnisses und der Einzelabsolution in der alten Kirche scheiden sich jedoch nicht an der Frage der Öffentlichkeit. Praktisch mögen weit überwiegend die Fälle manifester schwerer Sünden jene Fälle gebildet haben: grundsätzlich jedoch ging es um die Schwere, welche eine Trennung von der Kirche als dem Leibe Christi erforderte und bedeutete. Daß das nicht unmöglich war, zeigt das biblische Beispiel von 1. Kor. 5. Die Kirche hat hier — unbeschadet der Schwierigkeit einer echten, ungesetzlichen Abgrenzung, unbeschadet der Unzulänglichkeit der Begriffsbildung — den Gegensatz, die Antinomie zwischen Sündhaftigkeit und konkreter Sünde durchgehalten. Sie hat weder gemeint rigoristisch die Gemeinde sündlos

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machen zu können, noch um der Sündhaftigkeit die konkrete Bedeutung der Sünde in ihrer Mitte aus dem Auge verloren und beiseitegestellt. Die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit, von forum externum und internum mußte gerade diese Frage verdecken, so gewiß — es sei wiederholt — es dabei oft und überwiegend um das Skandalon geht. Die Kirche aber als gottesdienstliche versammelte Gemeinde bekannte nach 1. Joh. 1 ihre Sünde. Im Introitus der Messe, im Mahlteil kehrt dieses Bekenntnis immer wieder. Es ist keine bloße Devotionsform. Es zeigt eine, schon von v.d. Leeuw14 mit Recht hervorgehobene Dialektik an: der Hauptmann von Kapernaum, der da sagt: „domine non sum dignus”, nimmt ihn doch auf, — die Gemeinde, die als die der „Heiligen” angesprochen wird: „das Heilige der Heiligen” antwortet bekennend: „Einer ist heilig, einer der Herr”. In diesem gemeinschäftlichen Bekenntnis hat die bußfertige Gemeinde Vergebungsgewißheit.

Daß auch die Gebotserfüllung in den Horizont des neuen Bundes getreten ist, tritt nun seit der Einführung der allgemeinen Priesterbeichte materialiter zurück. Der ganze Gedankenbereich der antiken philosophischen Ethik kann sich nun voll auswirken. Die so viel erörterte und angegriffene Vergesetzlichung ist dabei nicht das Primäre, sondern das Ergebnis der Herauslösung des ja fortgeltenden, nicht aufgehobenen Gesetzes aus seinem christologischen Horizont. Dadurch treten Gesetz und Eschatologie unter Überspringung des II. Artikels in direkten Bezug.

Wie im Meßvollzug15 die Gemeinde als aktiv handelnde im Bereich des liturgischen Rechts ausgefallen ist, so auch im Bußrecht, im bekennenden Recht, als Forum16 und als Bekenntnisgemeinschaft. In abstrakter, makelloser Idealität steht die Kirche da.

Die Privatisierung des Sündenbekenntnisses, welche schließlich in der Beichte vor Gott und der subjektiven Vergebungsgewißheit ausläuft, ist — nach der einen Seite wenigstens — das aus der Messe verdrängte Sündenbekenntnis, welches dort in der konkreten Communio die Sündenvergebung empfängt. Denn der allein handelnden Priester spricht zwar das „non sum dignus” nicht einfach für sich allein, aber er vermag doch den konkreten Bekenntnisakt der Gemeinde vikarierend nicht zu ersetzen. In der Pflichtbeichte fließt nun mehrererlei zusammen: das jetzt individualisierte Sündenbekenntnis der Gemeinde, die schweren Fälle der Gemeindezucht, die frühchristlich zur öffentlichen Bußzucht führen, die consolatio fratrum als Beratung und Seelenführung. Dabei bleibt der Gegensatz zwischen der außergemeindlichen und deshalb die Exkommunikationsfrage nicht berührenden, meistens monastischen und weitgehend charismatischen Seelsorge und der bischöflichen und parochialen Autorität mit ihrer Öffentlichkeit und abschließenden Verbindlichkeit bestehen. Dem Konflikt zwischen Pfarrseelsorge und

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Ordensseelsorge, der das ganze Mittelalter durchzieht, liegt nicht nur das Problem der gemeindlich-territorialen Gliederung und besonderer missionarischen Situationen zugrunde, sondern auch ein teilweise verschiedener Gegenstand. Die Ordnung von 1215 ist eine Einheitslösung, die alles dies in seiner Verschiedenheit unter ein Dach bringt, genau wie die Vielfalt der sakramentalen Kirche in die Konzeption und das Schema der sieben Sakramente zusammengefaßt ist. Diese gewaltsame, großartige Einheit ist von größter Wirksamkeit gewesen, setzt aber eine weitgehende Formalisierung und Entleerung des Meßvollzuges voraus und läßt die innere Ökonomie dieser sehr unterschiedlichen, in ihr vereinten Vorgänge bis zur Unkenntlichkeit zurücktreten. Alles ist jetzt Beichtjurisdiktion mit ausschließender Amtszuständigkeit. Es entsteht die amtsgängige Erforschung der Gewissen eines jeden mit strenger, individualisierten Offenbarungspflicht bei Vermeidung der Nichtigkeit der Absolution.

Die Reformation hebt jene Einheitslösung wieder auf. Roth muß, um sein Thema Privatbeichte und Schlüsselgewalt zu behandeln, für die einzelnen Reformatoren jeweils nebeneinander die verschiedenen Formen der Alleinbeichte, der consolatio, der offenen Schuld, der Privatbeichte abhandeln. Freilich ist der Bruch doch nicht so groß, wie die in die Augen fallende Abschaffung des Beichtzwangs annehmen läßt. Die Buße tritt jetzt sehr bestimmt, aber in neuer Weise in ein Verhältnis zum Abendmahl. Glaubensverhör und Absolution vor dem Abendmahl dienen dem würdigen Empfang, und zwar sowohl Einzelbeichte wie offene Schuld, dem Gottesdienst vorgeordnet oder als besonderer Akt eingeordnet. Das bedeutet trotz aller Zuordnung eine Trennung, weil nicht die im Verlauf des Abendmahls selbst sich vollziehende Bußakte, sondern ein besonderer, dem Abendmahl gegenüberstehender Akt entscheidend ist. In reformierten Kirchen kann sich das Verhältnis sogar beinahe umkehren: die Visitation und das Verhör der Familie am Tage vor dem Abendmahl gewinnt das hauptsächliche Gewicht; das Abendmahl wird zum Mittel der Gemeindezucht. Die offene Schuld und alle sonstigen Formen der Abendmahlsvorbereitung entspringen dem gleichen Glaubensinteresse, welches bei der Konfirmation die Frage der admissio in den Vordergrund stellt. Das ist um so bemerkenswerter, als es sich in einer Zeit und in einem Bereich vollzieht, in denen unzweifelhaft das Interesse an den Sakramenten im Verhältnis zum Predigtwort zurücktritt. Bei allem radikalen Glaubensernst ist diese Ordnung doch zugleich ein Zeichen, daß die Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit des Umgangs mit dem sakramentalen Bereich bereits mehr oder minder weit verlorengegangen ist oder zu gehen droht. So hat denn diese Ordnung nicht nur den Ernst gestärkt, sondern auch je länger je mehr dem rechten Gebrauch und Verständnis schwere, bit heute nicht überwundene Hindernisse bereitet.

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Die Auflösung der Pflichtbeichte ähnelt der Auflösung des Systems der sieben Sakramente: hier wie dort fehlt eine deutliche Zuordnung der einzelnen Formen. Sie werden komplex und mehrdeutig wie die Konfirmation. Meinhold fordert für heute die Neugestaltung der Beichte, „im Anschluß an die reformatorische Wiederherstellung der kirchlichen Schlüsselgewalt und in Erwägung ihrer geschichtlichen Voraussetzungen, in der sich unlösbar die Züge der mittelalterlichen und altkirchlichen Buße vereinigt haben”.17

Die darin enthaltene geschichtliche Diagnose hält einer näheren Untersuchung doch nicht ganz stand. Unzweifelhaft ist eine Rückwendung zur altkirchlichen Buße erfolgt — jedoch nur partiell. Auf der lutherischen Seite insofern, als es jetzt wieder im strengen Sinne um Wiederherstellung des Gottesverhältnisses, um Rekonziliation geht. Das ist die Frucht der echten Radikalisierung des Bußgedankens. Auf der anderen Seite hat wenigstens die ältere calvinische Gemeindezucht das Element der Selbstreinigung der Gemeinde der Heiligen deutlich festgehalten. Beides aber ist mit mittelalterlichen Elementen verknüpft, wobei diese sich in beide Konfessionen gleichsam aufgespalten, aufgeteilt haben. Die calvinische Bußzucht hat mit der hochmittelalterlichen gemeinsam, daß sie sich von Amts wegen auf alle bezieht. Beiden eignet ein rationaler und zwangsmäßiger Zug. Dieser ist mindestens doppeldeutig. Echte theologische Motive und säkularphilosophische Kräfte verschlingen sich. Die Gemeinsamkeit naturrechtlich-humanistischer Traditionen in beiden Kirchen nähert sich einer absoluten Ethik, auch unter theologisch-kirchlicher Verkleidung. Auf der lutherischen Seite fehlt dieser Zug sowohl nach der rigoristischen wie nach der humanistischen Seite. Aus der mittelalterlichen Tradition ist hier das Moment der sakramentalen Einzelbeichte wenigstens bis zum Ausgang der altlutherischen Orthodoxie festgehalten18.

Beiden aber fehlt der altkirchliche Horizont, auf den das Bußgeschehen bezogen ist, der Charakter der Kirche als sakramentaler Gemeinschaft. Absolution und Bußzucht vollziehen sich gewiß nur in und durch die Kirche. Aber die Glaubens- oder Erwählungsgewißheit des einzelnen drängt immer stärker in Richtung auf die Selbstgewißheit der (absoluten) Person zu. Heute sind nun vollends sowohl Privatbeichte wie effektive Gemeindezucht Postulate, Desideria, die nur mühsam und in Anfängen zu verwirklichen sind. Die absolute Person kann erst langsam überwunden werden. Sie wird freilich heute in ihrer Selbstgewißheit durch die Nichtobjektivierbarkeit der Urteile in neuer Weise auf den Nächsten und die Gemeinschaft angewiesen. Nur so kann sich vielleicht langsam die Spaltung zwischen einzelnem und Gemeinschaft schließen, die gerade im Bußproblem schmerzlich sichtbar wird.

Es wurde schon erwähnt, daß das frühe Bußwesen der Kirche die

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Kennzeichen des Bußrechts besitzt, wie es in allen frühen Sozialformen auftritt. Nicht Einwirkungen von außen, sondern der Zug ihrer eigenen Geschichte läßt auch die Kirche die Strafrechtsgeschichte mutatis mutandis durchmachen. Wie im Bereich des Kanons, des usus scripturae die Kirche die Probleme des modernen Verfassungsrechts vorbildet, so im Bußrecht die Probleme des modernen Strafrechts und Strafprozesses. Vorgreifend vollzieht die Kirche in ihrem eigenen Bereich den Übergang vom Bußrecht der Beilegung zum Strafrecht. Im Bußrecht wird der Mensch nach einer gemeinschaftsstörenden Verfehlung, indem er sich stellt und etwas entsprechendes tut, wieder in den Rechtsfrieden aufgenommen — es wird im extremen Fall aus dem Feind wieder ein Freund. Im Strafrecht geht es um bestimmte tatbestandsmäßige Verfehlungen, die nicht relational, sondern in sich eine Bedeutung haben und zu sühnen sind. Dieser Wandlung des materiellen Rechts entsprich auch der Übergang von der Beilegung zwischen den Beteiligten im Bußverfahren zum Amtsverfahren mit Offizialmaxime.

Das so per analogiam des Strafrechts entstehende Bußrecht ist nun ein ausgesprochenes Tatstrafrecht, welches wesentlich und im Schwerpunkt nicht den Täter, sondern die Tat ansieht. Die Sünde wird überwiegend auf die Einzeltat individualisiert, die denn auch in ihrer Summation lückenlos zu bekennen geboten wird. Jedes Tatstrafrecht aber setzt den freien Willen und eine grundsätzliche Unangreifbarkeit des Personkerns voraus, der vom Strafrecht sozusagen ausgespart wird. Die Strafgedanke spaltet sich dabei: die ewigen Strafen werden dem Absolvenden erlassen, da die Kirche dem Büßer die göttliche Verzeihung nicht vorenthalten kann. An die Vergebung der zeitlichen Strafe, also an das Geringere dagegen können sehr komplizierte Verpflichtungen geknüpft werden18a. Ebenso folgerichtig entwickelt sich eine komplizierte moraltheologische Kasuistik und eine nicht weniger komplizierte und immer unzulänglichere Psychologisierung. Die Kirche wird zum Mittler zwischen einer metaphysisch-objektiven Weltordnung auf der einen und der metaphysisch gesehenen Subjektivität des Menschen auf der anderen Seite. Die ausnahmslose Gültigkeit dieser metaphysisch-objektiven Ordnung nötigt, jedem Christen als jeweils einzelnem diese Vermittlung aufzuerlegen. Die Applanierung der verschiedenen Bekenntnissituationen zeigt hier ihren Hintergrund und Sinn.

Kasuistik und Psychologisierung mit ihrer gemeinsamen differenzierenden Tendenz treiben aber mit dem fortschreitenden Verlust einer gewissen ursprünglichen Unbefangenheit auf einen Zusammenbruch zu, der in dem Gewirr und sinnlosen Mißbrauch des spätmittelalterlichen Bußrechts und seiner Unglaubwürdigkeit gerade an der radikalen Gehorsams- und Glaubensbereitschaft des Mönches Luther sichtbar wird. Jetzt tritt die Täterschuld, die Totalität der Schuld, die Verfallenheit und Unfreiheit des Willens als befreiende Einsicht hervor, wodurch

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notwendig ebenso die komplementäre Einzeltat und Einzelschuld an Gewicht verliert.

Unzweifelhaft hat mit der Individualisierung und gleichzeitigen Generalisierung (beides gehört zusammen) der Buße in der Privatbeichte die Buße zugleich eine außerordentliche Radikalisierung durchgemacht. Alle fragwürdige Kasuistik, alle Mißbräuche und Entartungen dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Reformation diese Radikalisierung nicht eingeführt, sondern zuendegebracht und gesteigert hat. Die Reformation bricht mit dem (Tat-)Strafcharakter der Buße und faßt sie in ähnlicher Weise wie das Täterstrafrecht auf. Aber sie gerät hier in eine Grenzsituation. Sie lenkt von dem Gedanken der metaphysischen Sühne von Verfehlungen wieder auf den relationalen, die Gemeinschaft wiederherstellenden Charakter des Vorgangs zurück. Aber sie kann praktisch in die altkirchliche Situation nicht zurück und will es auch im Grunde nicht. Sie kann nicht ungeschehen machen, daß die Periode des Straf(buß)rechts hinter ihr liegt. Denn erst in diesem Zuge ist der Schuldbegriff durchgreifend voll ausgebildet. Er läßt sich aber, wie die Geschichte des Strafrechts heute deutlich zeigt, nur solange durchhalten, als eine reale Möglichkeit der Ausräumung der Schuld erfahren werden kann und geglaubt wird, solange Recht zugesprochen wird. Das ist nicht nur eine psychologische Frage, sondern ergibt sich aus der Sache. Schuld kann nur vorwerfen, wer zugleich Aufhebung der Schuld anbietet, aber grundsätzlich nur als Alternative von Annahme oder Ablehnung dieses Angebotes. Ein ohnehin bestehender Generalpardon macht jeden Schuldvorwurf gegenstandslos.

Im folgerichtigen Täterstrafrecht lösen sich Schuld und Strafe selbst auf: es gibt nur noch entweder Sicherungsmaßnahmen oder eine Resozialisierung an der Strafe vorbei, weil diese dabei in der Regel eher hinderlich ist. Wir wissen aber heute, daß Tatstrafrecht und Täterstrafrecht keine sich ausschließenden objektiven Wahrheiten über Tat und Täter, sondern einander ergänzenden Aspekte desselben Tatbestandes der Verfehlung sind. Wir legen unter Zurückstellung der determinierenden Elemente den Tatbestand als einzelnen und damit auf Freiheit aus, indem wir den Täter durch eine begrenzte Strafe auf Verantwortung, auf zu bewährende und zu ergreifende Freiheit ansprechen. Wir verwahren den gefährlichen Täter, indem wir seine Taten aus seiner Determination herleiten, weil überwiegende Gründe der Prognose uns nötigen, die ihm verbliebene Freiheit hintanzustellen19.

Aber es gibt wiederum Tatschuld nur, wenn die Tat über die bloße Haftung hinaus mit dem Täter zu tun hat — es gibt Täterschuld nur solange, als die Determination nicht vollkommen ist. Deshalb wird Schuld nur ausgeräumt, wo konkret (Gnaden-)Recht gesprochen, zugesprochen wird. Wenn der schuldige Täter durch die Vollstreckung des Strafurteils justifiziert wird, wieviel mehr der begnadigte Sünder durch den

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konkreten Zuspruch und Losspruch? Deshalb schließt die ganz andere Freiheit (als die verbliebene natürliche), die hier geschenkt wird, die Verantwortlichkeit und damit auch die natürliche Freiheit ein, nicht aus. Es gibt eine Radikalisierung der Buße, die in sich gegenstandslos wird und ins Leere führt — auch hier analog der strafrechtlichen Problematik. Deshalb ist die Absolution als konkreter und konstitutiver Akt so wesentlich, in dem die deklaratorische Verkündigung ins Fleisch kommt und kommen muß, um den Menschen zu erreichen. Überall bietet Gott diese Konkretion der Gemeinschaft an, welche eine rein interne, individualistische Rechtfertigungs- oder Existenzdialektik nicht erreicht, und nach der sie dürsten müßte.